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Stromkrise: Deutschland muss seiner Verantwortung in Europa gerecht werden

Kurz gesagt, 14.09.2022 Forschungsgebiete

Die Energiekrise in Europa spitzt sich zu. Das gefährdet die Wirtschaft, Solidarität und geopolitische Autonomie. Deutschland sollte seine zögerliche Haltung aufgeben und nebst Kapazitätsausbau eine Reform des EU-Strommarkts aktiv gestalten, meinen Dawud Ansari und Jacopo Maria Pepe.

Der deutsche Strompreis hat selbst Extremszenarien überholt. In der öffentlichen Debatte steht insbesondere das europäische Strommarktdesign in der Kritik. Es sieht einen einheitlichen Strompreis vor, vorgegeben durch den teuersten Anbieter im aktuellen Strommix – häufig Gaskraftwerke. Somit überträgt sich der momentan sehr hohe Gaspreis auf den Strompreis, obwohl die durchschnittlichen Stromerzeugungskosten dank anderer Technologien nur bedingt gestiegen sind. Nur mit drastischen Maßnahmen können Deutschland und die EU verheerende Folgen für Haushalte und Industrie, ihre geopolitische Handlungsfähigkeit und den nationalen wie europäischen Zusammenhalt noch abwenden.

Markteingriffe nötig, aber nicht hinreichend

Das von der Bundesregierung beschlossene Entlastungspaket III sieht direkte Strommarkteingriffe vor: Nutzern wird ein Basisstromverbrauch subventioniert, finanziert durch Gewinnabschöpfungen bei den profitabelsten Unternehmen, meist Solar- und Windstromproduzenten. Solche kurzfristigen Markteingriffe, welche auch der EU-Energieministerrat verhandelt, sind essenziell, damit Strom für Haushalte und vor allem Unternehmen bezahlbar bleibt.

Makroökonomisch wie auch geopolitisch ist ein starker Industriestandort mit sicherer und bezahlbarer Energieversorgung ein übergeordnetes Interesse. Europäische Wertschöpfungsketten sind eng verflochten und das potenzielle Ausmaß einer anhaltenden Stromkrise auf Wohlstand und internationale Handlungsfähigkeit ist enorm. In Zeiten erhöhten Systemwettbewerbs und geopolitischer Verwerfungen bedarf es einer starken Industrie, um technologische Standards zu setzen sowie geoökonomisch zunehmend durchlässige Wirtschafträume in der direkten Nachbarschaft anzubinden und zu stabilisieren.

Die unkontrollierten Preise motivieren zwar theoretisch den Ausbau erneuerbarer Energien und stromsparender Produktion. In der Realität jedoch benötigen die grüne Produktionstransformation und die Entwicklung klimafreundlicher Technologien genau die Industrie, die gerade aufs Spiel gesetzt wird. Markteingriffe bringen kurzfristig soziale und ökonomische Stabilisierung. Letztlich kann aber nur eine Erhöhung des Angebots Entspannung bringen. Deutschlands Weigerung, technologieneutral alle Erzeugungsmöglichkeiten auszuschöpfen, birgt das Risiko einer Deindustrialisierung und erodiert die europäische Solidarität.

Ausbau der Erzeugungskapazitäten dient europäischer Solidarität

Als der Gasmangel absehbar wurde, bat die Bundesregierung die EU-Mitgliedstaaten um Solidarität. Deutschland nutzt aktuell bestehende Flüssiggashäfen und Pipelinekapazitäten in Holland, Belgien und Skandinavien, um seine Gasspeicher zu füllen – und bald auch in Frankreich. Abgesehen von Einsparungen und dem Bau von Flüssiggasterminals kann Deutschland hier kaum unterstützen, wohl aber im Strommarkt: In Frankreich sind Kraftwerkskapazitäten ausgefallen; auch anderswo sind Kraftwerke durch niedrige Flussstände eingeschränkt.

Kurzfristig müsste daher nebst Braunkohlekraftwerken vor allem der Weiterbetrieb deutscher Kernkraftwerke selbstverständlich sein. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz versagt letzteres jedoch entgegen der eigens in Auftrag gegebenen Empfehlungen der deutschen Übertragungsnetzbetreiber. Auch wenn der Beitrag der Kernkraftwerke im Winter auf nur fünf Terrawattstunden geschätzt wird, hat das Thema eine massive Symbolwirkung im europäischen Ausland: Es forciert das Narrativ, Deutschland fordere die Hilfe anderer ein, sei jedoch nicht bereit, seine eigenen Befindlichkeiten für das Gemeinwohl außen vor zu lassen. Das Zögern der Bundesregierung spielt auch Russland in die Karten, das auf eine Spaltung Europas und Aufstände der Bevölkerung setzt. Einen Vorgeschmack auf Letzteres bietet Tschechien, wo jüngste Massendemonstrationen infolge der Energiepreise den Rücktritt der Regierung gefordert haben und Generalstreiks angekündigt wurden.

Auch beim Kapazitätszubau muss Deutschland Bürokratie und Kleinstaaterei endlich überwinden. Flüssiggasterminalbau und Corona-Politik haben eindrucksvoll gezeigt, dass Projekte schnell umgesetzt werden können – politischer Wille vorausgesetzt. Sondergenehmigungen für Windkraftanlagen und das Streichen von Abstandsreglungen sollten höchste Priorität bekommen. Die mittelfristige Anbahnung von Gas-Fracking könnte Abhängigkeiten schlagartig vermindern und eine Brücke zu blauem Wasserstoff schlagen. Auch würde sie europäischen Partnern signalisieren, dass Deutschland ernsthaft an der Stabilisierung der Lage mitwirkt.

Diskussion zur Strommarktreform rasch und unbefangen anstoßen

Doch es geht nicht nur um ad-hoc-Preisstabilisierung. Viele Strommarktökonomen wehren sich vehement gegen Marktreformen; sie berufen sich auf notwendige Anreize für den Zubau erneuerbarer Energien, welche das aktuelle System durch hohe Gewinnmargen schafft. Dies vermögen aber auch andere Ansätze, beispielsweise feste, technologiespezifische Einspeisetarife. Sie waren bereits Bestandteil des Erneuerbare-Energien-Gesetzes und könnten durch eine zentrale europäische Behörde vorgegeben werden, was auch Resilienz böte. Weiterhin schieben Verteidiger des bestehenden Marktdesigns die angebliche Natürlichkeit des Preisbildungsmechanismus und eine damit verbundene Markteffizienz vor. Der Strommarkt und dessen Preise sind aber nicht frei und natürlich, sondern ein hochkomplexes regulatorisches Konstrukt, basierend auf einer historisch ausgehandelten Linie zwischen staatlicher Verwaltung und privatem Handeln.

Letztlich wurde der europäische Strommarkt in einer anderen Zeit und für andere Bedingungen entwickelt; eine Perspektive, die auch die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vertritt und daher Reformen ankündigte. Nicht nur technoökonomische, sondern vor allem auch (geo-)politische Imperative müssen Entscheidungen leiten, denn die Verhältnisse zwischen Renationalisierung und Zentralisierung, Liberalisierung und Lenkung sowie Markt und Versorgungssicherheit müssen neu tariert werden. Die Linie zwischen Staat und Markt – Wesen und Bestand des seit fast 20 Jahren liberalisierten Strommarktes – darf kein Dogma sein und muss entsprechend der Ziele und Gegebenheiten zur Debatte stehen. Diese Debatte sollte Deutschland proaktiv vorantreiben.