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Strategische Vorausschau: Krisen rechtzeitig erkennen, um handeln zu können

Kurz gesagt, 22.05.2025 Forschungsgebiete

Strategische Vorausschau soll der Bundesregierung helfen, besser auf unerwartete Entwicklungen in der Zukunft vorbereitet zu sein. Doch politisches Kalkül und diplomatische Zwänge erschweren offene Analysen. Wichtig sind Unabhängigkeit und Relevanz, meint Lars Brozus.

Mit dem Nationalen Sicherheitsrat entsteht im Bundeskanzleramt ein neues Gremium. Zu seinen Aufgaben zählt, sich mit zukünftigen Herausforderungen auf internationaler Ebene zu befassen. Ein Instrument spielt dabei eine zentrale Rolle: die strategische Vorausschau. Sie berücksichtigt über den Horizont aktueller Lagebewertungen hinaus künftige Entwicklungen.

Große Aufmerksamkeit dürfte dem transatlantischen Verhältnis zukommen, denn seit dem Amtsantritt der zweiten Trump-Administration ist das Vertrauen der europäischen Verbündeten der USA in die Verlässlichkeit der amerikanischen Außenpolitik tief erschüttert. Die Frage steht im Raum: Was wären die Folgen, wenn sich die USA von der NATO abwenden würden? Regierungsvertreter tun sich jedoch schwer, solche heiklen, aber vorstellbaren Szenarien zu kommentieren – insbesondere dann, wenn sie befreundete oder mächtige Staaten betreffen. Auf entsprechende Nachfragen von Medien erfolgt oft eine ausweichende Antwort: Man wolle nichts herbeireden oder gar spekulieren.

Diese Zurückhaltung ist aus diplomatischer Sicht nachvollziehbar. Die Auseinandersetzung mit hypothetischen Entwicklungen in anderen Staaten kann als Einmischung gewertet werden, wenn sie offen kommuniziert wird. Solche Spannungen möchte man in Berlin und Brüssel angesichts der ohnehin belasteten Beziehungen zu Washington vermeiden.

Denken, was nicht gesagt werden soll

Doch das Ausblenden brisanter Entwicklungen birgt Risiken: Wenn etwas Unerwartetes eintritt, ist die Krise plötzlich da. Denkbare Beispiele wären ein Wahlerfolg des Rassemblement National bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich, eine chinesische Invasion Taiwans oder Massenproteste in Russland, die das Putin-Regime erschüttern. Gerade wegen der Brisanz solcher Szenarien scheut die Politik deren öffentliche Diskussion – aus Sorge vor politischem Schaden.

Daraus ergibt sich die wichtigste Anforderung an die strategische Vorausschau: Sie muss sowohl unabhängig als auch politisch relevant sein, um den erhofften Mehrwert zu liefern – eine frühzeitige Auseinandersetzung mit politisch heiklen Entwicklungen, so dass hinreichend Zeit für die Vorbereitung auf solche Eventualitäten bleibt.

Unabhängigkeit bedeutet vor allem, hypothetische Entwicklungen unvoreingenommen und ohne Rücksicht auf politische Tabus analysieren zu können. Diese Bedingung spricht gegen eine enge Anbindung strategischer Vorausschau an den neuen Sicherheitsrat. Denn als integraler Bestandteil der Regierung unterliegt er den gleichen Restriktionen wie Ministerien und Behörden. Zudem würden hohe Sicherheitsanforderungen die Öffnung gegenüber nichtstaatlichen Akteuren erschweren. Relevante Zukunftsentwicklungen, die sich oft auf gesellschaftlicher Ebene abzeichnen, könnten leicht übersehen werden. Und Fachkenntnisse aus der Wissenschaft würden womöglich ungenutzt bleiben.

Demgegenüber ist eine regierungsunabhängige Einrichtung besser geeignet, fundierte Zukunftsanalysen frei von politischen Bedenken zu erarbeiten. Wissenschaftliche und gesellschaftliche Partizipation ließe sich einfacher gewährleisten. Für die Bundesregierung hätte ein solcher Ansatz auch diplomatische Vorteile: Kritik aus dem Ausland an Befunden ließe sich der Wind aus den Segeln nehmen. So könnte die Bundesregierung bedenkliche Entwicklungen im Blick behalten, ohne sich zu sehr zu exponieren.

Die Kehrseite der Unabhängigkeit ist das Risiko geringer politischer Relevanz. Eine Möglichkeit, dem entgegenzuwirken, ist ein enger personeller Austausch zwischen Zukunftsanalyse einerseits und operativer Politik andererseits. Das bringt unterschiedliche Wissensstände, Fragestellungen und Herangehensweisen in Kontakt und würde konzeptionelle wie operative Anstöße für zukunftsorientiertes Regierungshandeln geben. Schließlich wäre die Anbindung an den Bundestag eine wertvolle Absicherung der Relevanz einer solchen Einrichtung. Strategische Vorausschau sollte also an der Schnittstelle zwischen Bundesregierung, Bundestag, Wissenschaft und Gesellschaft angesiedelt werden.

Die schlechte Vorbereitung auf viele Krisen der vergangenen Jahrzehnte verdeutlicht die Notwendigkeit strategischer Vorausschau. Die Herausforderung für den neuen Sicherheitsrat besteht darin, ihre Erkenntnisse in die politische Entscheidungsfindung einzubeziehen, ohne sie politisch zu vereinnahmen.

Dr. Lars Brozus ist stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe Globale Fragen.