In Reaktion auf die russische Aggression in der Ukraine besinnt sich die NATO wieder auf die Bündnisverteidigung. Darüber darf das Krisenmanagement nicht aus dem Blick geraten. Claudia Major über neue Herausforderungen und die Reformen, derer es bedarf, um sie zu meistern.
Kurz gesagt, 02.09.2014 ForschungsgebieteClaudia Major
In Reaktion auf die russische Aggression in der Ukraine besinnt sich die NATO wieder auf die Bündnisverteidigung. Darüber darf das Krisenmanagement nicht aus dem Blick geraten. Claudia Major über neue Herausforderungen und die Reformen, derer es bedarf, um sie zu meistern.
Als Antwort auf die Aggression Russlands in der Ukraine will die NATO ihre östlichen Mitgliedstaaten besser schützen. Dies ist Ausdruck einer Rückbesinnung auf die Bündnisverteidigung, die schon seit dem Frühjahr zu beobachten ist. Die Allianz muss somit zum ersten Mal in ihrer Geschichte zwei Aufgaben gleichzeitig bewältigen: Bündnisverteidigung und Krisenmanagement. Um diesen Spagat meistern zu können, müssen die Staats- und Regierungschefs das Bündnis grundlegend neu ausrichten, wenn sie sich am 4. und 5. September zum NATO-Gipfel in Wales treffen.
Zwar sieht das Strategische Konzept der NATO von 2010 drei ebenbürtige Aufgaben vor: kollektive Verteidigung, Krisenmanagement und kooperative Sicherheit, also die Zusammenarbeit mit Staaten und Organisationen außerhalb der NATO. Doch in der Realität dominierte in den vergangenen Jahren das Krisenmanagement. Insbesondere der Einsatz in Afghanistan prägte das strategische Denken in der NATO und die Entscheidungen darüber, wie die NATO-Staaten ihre Soldaten ausrüsten und ausbilden.
Das änderte sich schlagartig, als sich zeigte, dass Russland willens und in der Lage ist, in Europa gewaltsam Grenzen zu verändern, und damit die NATO veranlasste, ihren Wesenskern zu stärken: die Fähigkeit zum gegenseitigen militärischen Beistand. Am sicheren Schutz durch die NATO sollten weder Gegner noch die eigenen Mitglieder zweifeln. Die bisher ergriffenen Maßnahmen zur Rückversicherung der osteuropäischen Mitglieder, wie etwa zusätzliche Marineeinsätze, verstärkte Luftüberwachung und die Verlegung von Soldaten nach Osteuropa, reichen dafür nicht aus. Nun muss die NATO bei der Bündnisverteidigung Hausaufgaben nachholen, die sie in den vergangenen Jahren vernachlässigt hat.
Doch so bedrohlich die Ukrainekrise ist, sie ist nur ein Ereignis entlang des Krisenbogens, der mittlerweile von Osteuropa über den Mittleren Osten bis in den Maghreb reicht und der die NATO-Staaten mit der gesamten Bandbreite an Risiken von zwischenstaatlichem Krieg über instabile Staaten bis hin zu Terrorismus und Piraterie konfrontiert. Daran werden nicht zuletzt die Staaten erinnern, die von diesen Entwicklungen an der Südflanke der NATO direkt betroffen sind, wie derzeit die Türkei und Frankreich. Die NATO-Staaten stehen damit vor der Aufgabe, eine neue Balance zu schaffen, die die Bündnisverteidigung stärkt, ohne das Krisenmanagement zu schwächen. Zusätzlich müssen sie die Kooperation mit Staaten und Organisationen außerhalb der NATO vorantreiben, denn auch sie ist notwendig für Stabilität und Sicherheit.
Es bedarf einer weitreichenden Militärreform
Konkret heißt das, dass die NATO neue militärische Pläne erarbeiten muss, wie sie ihre östlichen Mitglieder im Notfall verteidigen will. Ferner sollte sie dafür sorgen, dass sie in einem solchen Fall schneller handeln kann. Hierfür plant sie, Ausrüstungslager in Osteuropa aufzubauen. Zudem soll die schnelle Eingreiftruppe der NATO, die NATO Response Force, umgebaut werden. Doch das reicht nicht. Die Staaten müssen auch ihre chronischen Defizite beim Transport sowie jene bei der Aufklärung abbauen, also bei der Beschaffung und Auswertung von Informationen über potenzielle oder tatsächliche Gegner und deren Streitkräfte. Davon wird auch das Krisenmanagement profitieren.
Die Armeen müssen heute wieder auf den Verteidigungsfall vorbereitet sein, nicht nur auf Stabilisierungseinsätze wie in Afghanistan. Im Falle Deutschlands bedeutet das zum Beispiel, dass nicht nur zwei der acht deutschen Brigaden für Einsätze zur Bündnisverteidigung ausgerüstet und trainiert sein sollten, sondern alle Teile der Streitkräfte.
Schließlich muss die NATO ihr militärisches Denken modernisieren, etwa das Konzept der Abschreckung. Im Kalten Krieg konnte die NATO ihre Gegner mit konventionellen und atomaren Waffen abschrecken, doch die sicherheitspolitischen Bedingungen haben sich verändert. So muss sich die NATO auf Szenarien einstellen, wie sie heute in der Ukraine beobachtet werden können, die sich durch die sogenannte hybride oder irreguläre Kriegsführung auszeichnen: dort sickern Soldaten ohne Hoheitsabzeichen in das Land ein, flankiert von Spezialkräften sowie von professioneller Informationskriegsführung und massiven Cyberangriffen. Konventionelle Truppen übernehmen neue Aufgaben: die bis zu 40.000 Soldaten, die Russland an der ukrainischen Grenze postiert hat, sind vor allem Drohkulisse, Schild und Versorgungspunkt für die unkonventionellen Kräfte, die in der Ukraine kämpfen.
Auf die Geschlossenheit der Mitgliedstaaten kommt es an
Ein Schlüsselelement für die Neuausrichtung der NATO ist ihr sogenannter Readiness Action Plan, den die Staats- und Regierungschefs auf dem Gipfel Ende der Woche beschließen wollen. Viele der Maßnahmen, die er enthält, etwa eine neue schnelle Eingreiftruppe, würden dem Krisenmanagement und der Verteidigung nutzen. Für die Umsetzung dieser Reformen werden die Mitgliedstaaten auch Mehrausgaben akzeptieren müssen, etwa für neue Ausrüstung, Übungen oder Ausrüstungslager. Die anstehende NATO-Reform entscheidet nicht nur – wie schon oft – über das Überleben der Organisation. Sie ist entscheidend für die Sicherheit Europas.
Höchstes Gut und wichtigste Voraussetzung dafür, dass die NATO überhaupt effizient handeln kann, bleibt jedoch die Geschlossenheit ihrer Mitglieder. Öffentliche Streitereien über Prioritäten oder Gelder schwächen die Glaubwürdigkeit der Allianz und damit letztendlich ihre Handlungsfähigkeit.
Dieses »Kurz gesagt« ist auch bei Euractiv.de erschienen.
Deutschland sollte das Bündnis zu mehr Effizienz anregen
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Die Ukraine-Krise zwingt die NATO, sich in wichtigen Fragen strategisch neu auszurichten. Markus Kaim zu den Prioritäten, die im Verhältnis zu den osteuropäischen Mitgliedstaaten, zur Ukraine und zu Russland nun gesetzt werden sollten.
Mit der Ankündigung, eine Milliarde US-Dollar in die Sicherheit Europas zu investieren, will Obama vor allem die Osteuropäer beruhigen. Eine Veränderung der verteidigungspolitischen Prioritäten der USA ist nicht zu erwarten.