Direkt zum Seiteninhalt springen

Nationalismus und die Studierendenproteste in Serbien

Kurz gesagt, 23.07.2025 Forschungsgebiete

Seit Monaten demonstrieren Studierende in Serbien gegen die Regierung. Die Proteste sind vielfältig – und voller historischer Bezüge. Sie als nationalistisch einzuordnen, wird ihrer gesellschaftlichen und politischen Komplexität jedoch nicht gerecht, meint Marina Vulović.

Seit dem Einsturz des Vordachs am Bahnhof von Novi Sad im November 2024 protestieren Studierende in Serbien gegen das autoritäre System der regierenden Partei SNS und des Staatsoberhauptes Aleksandar Vučić. Sie sehen ihn als Hauptverantwortlichen für die Verfestigung dieses Systems. Die Bewegung ist von Beginn an sehr heterogen. Die Regierung bezeichnete sie in regierungsnahen Medien abwechselnd als westlich gesteuerte »Farbrevolution«, als anarchistisch, totalitaristisch oder terroristisch. Zugleich wird versucht, die Studierenden durch nationalistische Zuschreibungen in der EU zu diskreditieren. Dieser Vorwurf erhielt neue Nahrung, nachdem beim Protest am 28. Juni viele nationalistische Reden zu hören waren. Was steckt dahinter?

Die Bedeutung des 28. Juni für das serbische Nationalverständnis

Der 28. Juni (Veitstag, »Vidovdan« auf Serbisch) ist ein symbolträchtiger Tag für das serbische Nationalverständnis. An diesem Tag fand die Schlacht am Amselfeld im Mittelalter statt, ein zentrales Ereignis für die serbische Identität, das den Bezug zum Kosovo als historisch und emotional aufgeladenen Ort unterstreicht. Während des Protests griffen viele Reden diese Symbolik auf. Darüber hinaus hat der Tag auch eine staatstragende Bedeutung. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde am 28. Juni die Vidovdan-Verfassung verabschiedet, die die Gründung des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen besiegelte. Interessanterweise wurde am selben Datum, im Jahr 2001, der ehemalige Präsident Serbiens, Slobodan Milošević, an den Internationalen Strafgerichtshof ausgeliefert, wo er zuvor wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt worden war. Für historisch informierte Beobachtende war es daher nicht überraschend, dass nationalistische Stimmen zu Wort kamen.

Nationalismus und Demokratie: Eine komplexe Beziehung

Die nationalistischen Äußerungen innerhalb der Bewegung lassen sich durch mehrere Faktoren erklären. Zum einen versucht die Bewegung, nationale Symbole wie die serbische Flagge neu zu besetzen, um sie so der Vereinnahmung durch Vučić und die SNS zu entziehen. Diese stellen sich nämlich als einzige Kraft für Serbiens »wahre« Interessen dar und diffamieren andere als Verräter:innen. Zum anderen gibt es strategische Gründe: Die jüngere Geschichte Serbiens zeigt, dass kein Regimewechsel vom Autoritarismus zur Demokratie ohne die Nationalist:innen möglich war. So etwa beim Sturz Miloševićs, nach dem mit Vojislav Koštunica ein Politiker mit nationalistischen Überzeugungen erster prodemokratischer Präsident wurde.

Obwohl die aktuelle Bewegung laut repräsentativen Umfragen mit 43,6 Prozent weiterhin die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich hat – im Vergleich zu 33,5 Prozent Unterstützung für die Regierung – verliert sie an Rückhalt bei 22,9 Prozent Unentschlossenen. Genau diese Bevölkerungsgruppen versucht die Bewegung durch nationalistische Diskurse zu erreichen.

Aktuelle Umfragen zeigen jedoch, dass der Nationalismus nicht die tragende Ideologie der aktuellen Proteste ist. Die Mehrheit der serbischen Jugend bewertet die 1990er Jahre und die damit verbundenen nationalistischen Narrative negativ. Sie empfindet das Erbe dieser Zeit als belastend. Zwar möchte die Mehrheit die Wahrheit über die Kriege erfahren, aufgrund des sozialen Drucks und anderer struktureller Probleme hat sie jedoch Angst vor einer Infragestellung der Vergangenheit.

Auch die Beteiligung von Studierenden aus dem Sandžak – einer überwiegend muslimischen Region, die sich ethnisch-politisch eher Bosnien-Herzegowina zuordnet – weist darauf hin, dass der Nationalismus nicht überwiegt. Diese Studierenden tragen bei den Protesten ebenso serbische Flaggen wie diejenigen, die sich als ethnische Serb:innen definieren.

Anti-Autoritarismus als gemeinsamer Nenner

Trotz der Heterogenität der Bewegung ist der Anti-Autoritarismus weiterhin der gemeinsame Nenner. Dieser beinhaltet Anti-Korruption und demokratische Institutionen, wofür sich die Bewegung seit November 2024 einsetzt. Jede heterogene Bewegung benötigt einen minimalen Konsens zur Organisation. Dieser kann ideologisch vielfältig unterfüttert sein und sowohl pro-europäische, universelle als auch nationalistische, partikularistische Anforderungen enthalten. Dies ist sowohl in der politischen Theorie als auch in der Praxis belegt.

Laut Umfragen halten 46,9 Prozent der Bevölkerung die Demokratie für die beste Regierungsform. Nur 24,3 Prozent befürworten das »Regieren mit eiserner Hand«. Die Studierendenbewegung sollte daher nicht als rein nationalistisch abgestempelt werden, sondern als Ausdruck breiterer demokratischer Bestrebungen. Deutschland und andere EU-Länder sollten die Bewegung klarer unterstützen, anstatt weiterhin auf Vučićs Politik zu setzen. 

Dr. Marina Vulović ist Gastwissenschaftlerin in der Forschungsgruppe EU / Europa und akademische Mitarbeiterin an der Universität Potsdam.