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Menschenrechtsdialog mit arabischen Staaten

Argumentationsmuster autoritärer Regime als Herausforderung für eine wertegeleitete Außenpolitik

SWP-Aktuell 2023/A 45, 30.06.2023, 7 Seiten

doi:10.18449/2023A45

Forschungsgebiete

Bei den Regierungen arabischer Staaten trifft Deutschland auf Ablehnung, wenn es darum wirbt, die Menschenrechte zu achten. Sofern sich die Adressaten nicht voll­ständig dem Dialog verweigern, stützen sie sich zumeist auf vier Argumentations­muster, um entsprechende Forderungen abzuwehren: (1) Die Menschenrechtslage im eigenen Land verbessere sich bereits, doch benötige dieser Prozess noch Zeit; (2) Anliegen wie wirtschaftliche Entwicklung und Terrorismusbekämpfung hätten Vorrang gegenüber bürgerlichen Rechten; (3) Menschenrechte seien ein westliches Konstrukt und ignorierten die kulturellen Eigenheiten der angesprochenen Gesell­schaften; (4) westliche Menschenrechtspolitik sei geprägt von Doppelmoral. Deutsche Offizielle sollten diese Einwände kennen und ihnen proaktiv begegnen, wenn sie sich in den Dialog über Menschenrechte begeben. Vor allem mit den Vorwürfen von Kulturimperialismus und Doppelmoral sollte die Bundesregierung sich auch inhalt­lich auseinandersetzen, denn in der Bevölkerung arabischer Länder sind sie weit verbreitet. Um ihnen entgegenzutreten, sollten der universale Anspruch von Men­schenrechten gerade im Rahmen einer feministischen Außenpolitik stärker heraus­gestellt, mögliche konkurrierende Eigeninteressen klarer benannt und der Dialog über Menschenrechte mit konkreten Maßnahmen unterlegt werden.

Es ist schlecht bestellt um die Menschen­rechte im Nahen Osten und in Nordafrika. Diese Schlussfolgerung ergibt sich nicht nur aus den einschlägigen Berichten von Organisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch. Im aktuellen »Freedom in the World«-Report der US-amerikanischen Nichtregierungsorganisa­tion Freedom House werden 16 der 22 Mitglieder der Arabischen Liga als unfrei und die restlichen sechs als nur partiell frei eingestuft. Im Index des V-Dem-Instituts schneidet die Region hinsichtlich der bür­gerlichen Freiheiten weltweit am schlech­testen ab. Und auch der jüngste Bericht von Reporter ohne Grenzen zeichnet ein düste­res Bild: Unter den 31 Schlusslichtern auf der Rangliste der Pressefreiheit finden sich gleich zehn Länder des Nahen und Mittle­ren Ostens, in fast allen anderen wird die Lage als »schwierig« bewertet – Tendenz fallend.

Diese anhaltend prekäre Menschen­rechtslage ist für Deutschland eine Heraus­forderung angesichts des eigenen An­spruchs einer wertegeleiteten Außenpolitik. An einem konstruktiven, ergebnisorientier­ten Dialog über Menschenrechte sind die poli­tischen Führungen in der Region indes kaum interessiert. Gleichzeitig schränken anderweitige Interessen die Bereitschaft und Fähigkeit Deutschlands ein, hier gezielt Druck auszuüben. Die Staaten der Region gewinnen spätestens seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine als Energie­liefe­ranten an Gewicht; sie werden zuneh­mend als potentielle Partner bei der Bewältigung irregulärer Migration wahrgenommen und steigerten zuletzt durch substantielle Kooperationen mit deutschen Unterneh­men, vor allem im Infrastrukturbereich, ihre wirtschaftspolitische Bedeutung. Vor diesem Hintergrund treten sie westlicher Menschenrechtspolitik immer häufiger selbstbewusst entgegen. Der Bundesregie­rung wurde das einmal mehr im Februar dieses Jahres vor Augen geführt, als die Beauftragte für Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe eine geplante Reise nach Ägypten absagen musste. Kairo hatte ihr brüsk zu verstehen gegeben, dass ihr Be­such derzeit nicht erwünscht sei.

Diese komplette Dialogverweigerung ist zwar kein Novum, aber auch keineswegs der Regelfall. Vielmehr lassen sich vier Argumentationsmuster erkennen, die sei­tens arabischer Regierungen in Gesprä­chen über Menschenrechte bemüht werden – in verschiedenen Kombinationen und dabei nicht immer konsistent.

Menschenrechte als Zukunfts­versprechen

»Ich möchte die Welt nur daran erinnern, dass die amerikanischen Frauen lange war­ten mussten, um ihr Wahlrecht zu erhal­ten. Wir brauchen also Zeit.« So antwortete 2016 der saudische Kronprinz Muhammad Bin Salman, als er in einem Interview nach der Stellung von Frauen im Königreich gefragt wurde. Er folgte damit einem er­probten Argumentationsmuster, das regionale Autokraten schon vor den Um­brüchen des sogenannten Arabischen Frühlings gerne bemüht hatten. Der Wert von Menschenrechten wird hier nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Vielmehr werden sie als langfristiges Ziel dargestellt, das im Sinne einer nachholenden Entwick­lung nur schrittweise zu erreichen sei und daher Zeit benötige. Dieses Narrativ erweist sich als besonders effektiv, um externe Kritik abzuwehren, da es Missstände teil­weise anerkennt, politische Verantwortung aber zumindest relativiert, indem auf die Vorlaufzeit von Reformen, auf technische Hürden oder strukturelle Kapazitätsdefizite verwiesen wird.

Tatsächlich lassen sich nicht alle Men­schenrechte über Nacht durchsetzen. Aller­dings liegen gerade politische Freiheits­rechte in der Hand der jeweiligen Regime. Ob etwa inhaftierte Frauenrechtlerinnen in Saudi-Arabien freigelassen werden, ent­scheidet allein das Königshaus. Statt aber Fakten zu schaffen, simuliert man oftmals Reformbereitschaft, indem Institutionen wie nationale Menschenrechtsräte geschaf­fen oder staatliche Strategiepapiere ver­öffentlicht werden. Dazu gehört auch, internationale wie regionale Menschen­rechtsvereinbarungen zu unterzeichnen, die kaum Wirkung erzielen, weil es an Überwachungs- und Durchsetzungsmecha-nismen fehlt.

Zukunftsversprechen über Menschen­rechte sind primär nach außen gerichtet. Sie finden sich kaum in offiziellen arabisch­sprachigen Diskursen wieder, weder in Regierungserklärungen noch in staatsnahen Medien. Denn es bedeutet ein gewisses Maß an Selbsterniedrigung gegenüber externen Kritikerinnen und Kritikern, eigene Ent­wicklungsdefizite einzuräumen. Eine solche Haltung bricht mit dem Selbstbild von Unabhängigkeit und Stärke, wie es innenpolitisch als Teil populistischer und nationalistischer Herrschaftsdiskurse ge­pflegt wird.

Selektiver Umgang mit Menschen­rechten

»Man darf die Menschenrechte nicht so eng fassen […]. Wenn Sie keine Schulbildung erhalten, kein Dach über dem Kopf haben, wenn Sie keinen Job finden, keine Hoff­nung auf eine Zukunft haben, dann werden Ihre Menschenrechte verletzt«, so 2015 der ägyptische Präsident Abdel Fatah al-Sisi. Er antwortete damit auf Vorwürfe von Men­schenrechtsorganisationen, unter seiner Herrschaft habe sich die staatliche Repres­sion im Vergleich zu seinen Vorgängern noch verschärft. Sozioökonomische Ent­wicklung und wirtschaftliche Teilhabe er­scheinen hier als vorrangig. Mit diesen Anliegen wird gleichsam aufgewogen, dass der Staat die physische Integrität der Bevöl­kerung, identitätsbezogene Menschenrechte oder den Minderheitenschutz verletzt. Dies ist ein weiteres gängiges Argumentations­muster regionaler Entscheidungsträger, das auch im innenpolitischen Diskurs oft ver­wendet wird.

Zugrunde liegt dieser Argumentation ein selektiver Umgang mit den einzelnen Elementen eines an sich ganzheitlichen Menschenrechtskonzepts. Dabei werden vom jeweiligen Regime nur bestimmte Ziele als erstrebenswert dargestellt bzw. öffent­lich überhaupt thematisiert. Jene Bestand­teile des Menschenrechtskanons, die sich zu Imagezwecken und politischer Mobilisie­rung ausschlachten lassen, werden über­höht und gegebenenfalls durch Renten­verteilung auch ökonomisch bedient. Ande­re Rechtsansprüche wiederum, welche die autoritäre Herrschaft bedrohen könnten – etwa die Wahrung von Rede- und Ver­sammlungsfreiheit –, werden bei diesem »cherry-picking« marginalisiert oder gleich ganz außen vorgelassen.

So haben einige Regierungen insbeson­dere das Profilierungspotential erkannt, das darin liegt, Frauen- und Gleichstellungs­rechte zu institutionalisieren. Jordanien er­klärte Männer und Frauen vor dem Gesetz als gleichberechtigt, Marokko ratifizierte das Fakultativprotokoll zum Übereinkom­men der Vereinten Nationen zur Beseiti­gung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW). Oman wiederum etablierte öffentlichkeitswirksam eine Hotline für Fälle häuslicher Gewalt, ohne jedoch solide Mechanismen wie Schutzräume oder recht­lichen Beistand zu schaffen, mit denen sich Betroffene unterstützen ließen. Saudi-Arabien führte im März 2022 sein erstes Personenstandsgesetz ein, das die politische Führung seither als großen Sieg für Frauen­rechte preist. Gleichzeitig hapert es – wenn auch unterschiedlich stark – in allen vier Ländern an der Umsetzung. Vor allem aber kritisieren Menschenrechts­organisationen, das punktuelle Engagement der Regierungen überdecke gravierende Missstände bei der Wahrung ganz basaler Rechte wie physische Unversehrtheit, faire Gerichtsverfahren oder Bewegungsfreiheit.

Auf die Spitze getrieben wird die selek­tive Betonung von Menschenrechten bei der Terrorismusbekämpfung. Diese wurde vom ägyptischen Präsidenten sogar zu einem »neuen Menschenrecht« erklärt. Tatsächlich geht es dabei in Ägypten, aber auch in anderen Ländern der Region nicht in erster Linie um den Schutz der Bevölkerung, son­dern um die Rechtfertigung exzessiver polizeistaatlicher Repression.

Vorwurf des Kulturimperialismus

»Wir sind nicht kolonialisiert, wir sind ein unabhängiges, souveränes Land, und wir wissen genau, was wir tun«, erwiderte Tunesiens Präsident Kais Saied im Februar 2023 auf US-amerikanische und deutsche Kritik an der sich verschlechternden Men­schenrechtssituation in seinem Land. Die­sem Argumentationsmuster zufolge sind Menschenrechte Ausdruck eines neuen westlichen »Werte-Imperialismus«, der in Kontinuität zur historischen Kolonialpolitik Europas steht. Sie dienen demnach dazu, Regierungen und Gesellschaften der arabi­schen Welt moralisch abzuwerten. Hinter der externen Kritik stünden neokoloniale Ambitionen sowie islamophobe und rassistische Motive. Was früher die mission civilisatrice gewesen sei, so der Vorwurf, seien heute vermeintlich universell gelten­de Menschenrechtsnormen. Sie würden herangezogen, um die Konditionierung sicherheits- und wirtschaftspolitischer Zu­sammenarbeit, die Einmischung in innere Angelegenheiten und im Extremfall militä­rische Interventionen zu rechtfertigen.

Dieses Argumentationsmuster ist kon­frontativer und war lange Zeit vor allem bei Paria-Regimen zu finden. Es erlebt derzeit aber ein überregionales Comeback – ins­besondere dort, wo Nationalismus und Populismus zur Legitimation autoritärer Herrschaft mobilisiert werden, wie etwa in Ägypten, Tunesien und Saudi-Arabien.

Gleichzeitig sind antikoloniale Rahmun­gen aber auch auf gesellschaftlicher Ebene überaus populär. Dies gilt nicht nur für islamistische oder nationalistische Kreise, deren politische Programmatik bzw. Staats­visionen ohnehin oft vom Motiv eines »eige­nen Weges« in die Moderne geprägt sind (etwa auf Basis islamischer Dogmen oder eines Gesellschaftsvertrags, der nationale Sicherheit und gesellschaftliche Homoge­nität gegenüber individuellen Freiheits- und Gleichheitsrechten priorisiert). Auch in zivilgesellschaftlichen Kreisen, die im vergangenen Jahrzehnt federführend daran beteiligt waren, antiautoritären Protest in der Region zu mobilisieren, äußert sich teils massive Kritik an der als interventio­nistisch und wenig kontextsensibel emp­fundenen Menschenrechts- und Werte­politik des Westens.

Die Ursachen für diesen zunächst wider­sinnig anmutenden Antagonismus liegen auch darin, dass sich westliche Menschen­rechtsforderungen gegenüber arabischen Regimen in der Zeit nach dem »Arabischen Frühling« faktisch kaum in handfestem Schutz ebenjener zivilgesellschaftlichen Milieus niedergeschlagen haben. Größere Exposition erwies sich dabei als zweischnei­diges Schwert. So erleben marginalisierte und bedrohte Akteure, etwa LGBTIQ-Communitys, Vertreter und Vertreterinnen religiöser Minderheiten oder Frauenrechts­initiativen, zwar immer wieder, dass sie zu hochrangigen Gesprächen eingeladen wer­den und ihre Anliegen in die außenpoliti­schen Strategiepapiere westlicher Staaten einfließen. Zugleich aber sind sie durch diese symbolische Aufwertung einem er­höhten Repressionsrisiko ausgesetzt.

Vorwurf der Doppelmoral

»Verzeihen Sie mir, wenn ich an der Inten­tion der europäischen Länder zweifle, die in den letzten zehn Jahren tatenlos zugesehen haben, wie Migranten, die vor Konflikten, Verwüstung und Armut flohen, auf dem Grund des Mittelmeers ertranken.« So kom­mentierte 2022 die katarische Künstle­rin Ghada Al Khater die Kritik aus Europa an der Menschenrechtssituation in ihrem Land, dem Austragungsort der damaligen Fußballweltmeisterschaft.

Der Vorwurf doppelter Standards und einer selektiven Wahrnehmung von Men­schenrechtsverletzungen wird zwar auch von arabischen Regierungsvertretern gerne bemüht, er ist aber vor allem in den Zivil­gesellschaften der Region äußerst verbrei­tet. Er speist sich, neben der europäischen Migrationspolitik und der offensichtlichen Missachtung von Menschen- und Völker­rechtsnormen an Europas Außengrenzen, zumal beim Umgang mit Geflüchteten im Mittelmeer, vor allem aus drei Entwick­lungen.

Erstens ist seit einigen Jahren ein welt­weiter Autokratisierungstrend zu verzeich­nen, der sowohl eine Konsolidierung auto­ritärer als auch eine Erosion demokrati­scher Systeme umfasst. Letzteres untergräbt die vermeintliche moralische Überlegenheit westlicher Staaten bei der Debatte über Menschenrechte, da sie nun selbst zuneh­mend um den Erhalt etwa bürgerlicher Frei­heiten ringen.

Zweitens offenbart die entschlossene Reaktion auf die russische Aggression gegen die Ukraine, wie Europa Kriegsverbrechen unterschiedlich begegnet. Auf arabischer Seite wird es als inkonsistent wahrgenom­men, wenn Europa im Falle des Ukraine-Krieges Geflüchtete aufnimmt, Straftäter juristisch verfolgt, russische Verbrechen sanktioniert und Moskaus rechtswidrige Besatzungspolitik anprangert, während bei schweren Menschenrechtsverstößen im Zuge militärischer Konflikte in Jemen, Libyen oder zuletzt Sudan ähnlich hand­feste Konsequenzen ausbleiben.

Drittens herrscht in weiten Teilen der arabischen Bevölkerungen Unverständnis über das Verhalten westlicher Staaten im Nahostkonflikt, vor allem hinsichtlich der israelischen Besetzung des Westjordan­landes. Aus dieser Sicht reagieren westliche Regierungen auf Menschen- und Völker­rechtsverletzungen der israelischen Seite viel zu verhalten, indem sie sich meist auf Appelle zu beidseitiger Deeskalation be­schränkten. Diese Zurückhaltung wird mit proaktiveren Schritten etwa gegen Russland oder den Iran kontrastiert und dann als Beleg dafür herangezogen, dass der Westen bei seinem Einstehen für Menschenrechte faktisch mit zweierlei Maß messe.

Dabei ist eine solche Kritik keineswegs nur taktischer Natur. Für die autoritären arabischen Re­gime mag die palästinen­sische Besatzungs­erfahrung eine bloße Spielkarte sein, um diskursive Punktsiege gegenüber dem Westen zu erzielen und die eigene Binnenlegitimation zu stärken. Für große Teile der arabischen Bevölkerungen ist die emotionale Bedeutung des Leids in Palästina aber hoch und die geäußerte Solidarität ehrlich. Tatsächlich sind bei der Kritik westlicher Doppelmoral sogar jene Aktivistinnen und Aktivisten wortführend, die sich seit Jahren am konsequentesten dafür einsetzen, in arabischen Ländern Menschenrechtsverstöße aufzuklären und universelle Freiheits- und Gleichheitsrechte zu gewähren. So stehen etwa nahezu alle Menschenrechts-NGOs in der Region hinter der gegen Israel gerichteten BDS (Boycott, Divestment, Sanctions)-Bewegung, die vor allem in Deutschland stark verurteilt wird. Letzteres zementiert ebenso wie die Verbote palästinensischer Solidaritätskundgebun­gen aufgrund von Antisemitismusvorwür­fen in besonderem Maße das Bild, der Wes­ten folge bei der Kritik an Menschenrechts­verletzungen sowie der Gewährung von Versammlungs- und Redefreiheit doppelten Standards.

Schlussfolgerungen für den Menschenrechtsdialog

Es ist grundsätzlich wenig erfolgverspre­chend, gegenüber autoritären Regimen auf Dialog als alleiniges Instrument von Men­schenrechtspolitik zu setzen. Denn die mehr oder weniger systematische Verlet­zung von Menschenrechten ist für ihre Herrschaftssicherung unerlässlich. Allein die Kraft des Arguments dürfte sie kaum dazu bewegen, die entsprechende Situation in ihren Ländern zu verbessern. Umso wich­tiger ist es daher, dass der Dialog nicht überwiegend in Hinterzimmern oder iso­liert, etwa durch Menschenrechtsbeauf­trag­te oder die Sonderbeauftragten für einzelne Konfliktherde, geführt wird, sondern öffent­lich und als Teil von Public Diplomacy.

Was die hier dargestellten Argumenta­tionsmuster angeht, sollte sich die Bundes­regierung insbesondere mit den Vorwürfen des Kulturimperialismus und der Doppel­moral auseinandersetzen. Sie sind auch in den Bevölkerungen der arabischen Staaten weit verbreitet (anders als die Behauptung, die Umsetzung von Menschenrechten sei lediglich eine Frage der Zeit, und anders als die Rechtfertigung einschlägiger Defizite durch Hierarchisierung und Selektion).

Der Vorwurf des Kulturimperialismus wird auch deshalb von Teilen der arabi­schen Zivilgesellschaft aufgegriffen, weil sich dort der Eindruck verfestigt hat, der Schwerpunkt westlicher Menschen­rechts­politik liege nicht mehr auf körperlicher Unversehrtheit und sozioökonomischem Wohlergehen, sondern auf identitätspoliti­schen Themen, der Förderung von Frauen- und LGBTQI-Rechten sowie den Rechten religiöser Minderheiten – Anliegen, die teils auch in der dortigen Bevölkerung abgelehnt werden. Dass Menschenrechts­fragen in eine dezidiert feministisch orien­tierte Außen- und Entwicklungspolitik eingebettet werden, dürfte das Bild einer spezifischen Akzentsetzung noch verstär­ken. Deutschland wird in der Region zu­nehmend als Akteur wahrgenommen, der Minderheitenrechte in den Vordergrund rückt. Zudem wird das Konzept feministi­scher Außen- und Entwicklungspolitik selbst von einigen Partnern in der Men­schenrechtscommunity arabischer Länder skeptisch gesehen. Sie befürchten, die öffentliche Aufmerksamkeit werde dadurch auf Minderheiten und marginalisierte Gruppen gelenkt, denen so zusätzliche Ge­fahren erwachsen könnten, ohne dass dies durch wirksame Schutzmechanismen abgefedert würde.

Solche möglichen Effekte sollten sich deutsche Entscheidungsträger ebenso be­wusst machen wie die Tatsache, dass arabi­sche Regime das Potential des feministi­schen Ansatzes erkannt haben, von ande­ren Menschenrechtsdefiziten abzulenken, indem Frauenrechte vordergründig gestärkt werden. Im wechselseitigen Dialog sollte daher weniger das kontroverse Label als vielmehr der konkrete Anspruch universa­ler Menschenrechte akzentuiert werden.

Gleichzeitig gilt es, kulturrelativistischen Argumentationsmustern entschieden ent­gegenzutreten, selbst dann, wenn diese von Teilen der zumeist hochpolarisierten Bevölkerung geteilt werden. Es ist richtig, dass in Nahost und Nordafrika bisweilen starke Unterstützung für autoritäre Regime und auch deren Repressionspolitik sicht­bar ist – insbesondere dort, wo Rechte­einschränkungen religiöse, ethnische, poli­tische oder sexuelle Minderheiten treffen. Dissens gegenüber dem autoritären Trend ist nicht zuletzt deshalb kaum noch hörbar, weil kritische Stimmen vielerorts aufgrund von Repression oder Angst vor Konsequen­zen verstummt sind.

Grundsätzlich dürfen autoritäre Stim­mungen nicht wegweisend für werte­gelei­tete Außenpolitik sein, die auf dem univer­salistischen Anspruch von Menschenrech­ten fußt. Vielmehr muss dieser Anspruch proaktiv verteidigt werden. Dies kann durch Verweis darauf geschehen, dass Men­schenrechtsnormen keineswegs ein west­liches Konstrukt sind, sondern eine völker­rechtliche Verpflichtung darstellen, welche die angesprochenen Akteure selbst einge­gangen sind. Im Übrigen zeigen Umfragen, dass der Wunsch nach rechtsstaatlich ver­ankerten, demokratischen Normen und Gesetzen, nach der Beendigung staatlicher Gewalt und Willkür sowie nach Achtung der Menschen- und Bürgerrechte in der Region stark ausgeprägt ist – auch wenn Vertreter dortiger Regime gelegentlich das Gegenteil behaupten.

Der Vorwurf der Doppelmoral gründet vor allem auf wahrgenommenen Inkon­sis­tenzen deutscher Menschenrechtspolitik. Beklagt werden ein Missverhältnis zwischen dem propagierten menschenrechtspoliti­schen Anspruch und der tatsächlichen Poli­tik, die mangelnde Folgerichtigkeit, wenn es darum geht, auf entsprechende Defizite in der Region und darüber hinaus zu rea­gieren, sowie eine unterschiedliche Wahr­nehmung, Gewichtung und Ahndung von Menschenrechtsverletzungen einzelner Staaten. Dass etwa trotz einschlägiger Miss­stände weiterhin Rüstungsgeschäfte mit autoritären Regimen betrieben werden, ist für viele Mitglieder der dortigen Zivilgesell­schaft wenig nachvollziehbar. Dass milliar­denschwere Wirtschaftskooperationen nur in Ausnahmefällen und nie öffentlich daran geknüpft werden, dass Menschen­rechte konkret verbessert und etwa ein­zelne Aktivistinnen und Aktivisten aus der Haft entlassen werden, unterminiert das Narrativ von wertegeleiteter Außenpolitik – sowohl bei den Regimen als auch in der Bevölkerung der Region. Und dass im Nahostkonflikt Menschenrechtsverletzun­gen im Rahmen der israelischen Besat­zungspolitik unzureichend benannt und sanktioniert werden, nehmen viele Men­schen in den arabischen Staaten als große Ungerechtigkeit wahr.

Der Vorwurf der Doppelmoral ist be­sonders schwerwiegend, weil er die Glaub­würdigkeit deutscher Menschenrechts­politik in Frage stellt. Allein auf diskursi­ver Ebene lässt sich diesem Vorwurf nicht begegnen. Zwar kann es helfen, wenn Deutschland sich ein Stück weit ehrlich macht und offen kommuniziert, welche anderweitigen Interessen und Erwägungen einem resoluteren Einsatz für Menschen­rechte gegebenenfalls entgegenstehen. Zudem kann die Ernsthaftigkeit des An­liegens unterstrichen werden, wenn ent­sprechende Appelle nicht nur im Rahmen institutionalisierter Formate, sondern auf allen Gesprächsebenen erfolgen. Dabei sollte Kritik weniger pauschal geäußert als vielmehr auf konkrete Missstände bezogen werden.

Doch letztlich ist Glaubwürdigkeit im Menschenrechtsdialog nicht allein durch Worte zu erreichen – es bedarf auch Taten. So ist es zwar wichtig, Probleme anzusprechen und deren Beseitigung ein­zufordern. Letztlich hängt der Erfolg des Dialogs aber maßgeblich davon ab, inwie­weit die Bundesregierung bereit ist, andere Politikziele dem Einsatz für Menschen­rechte unterzuordnen und die Wahrung von Menschenrechtsstandards ressort­übergreifend zu priorisieren.

Dr. Jannis Grimm ist Konfliktforscher an der Freien Universität Berlin. Dort leitet er die Nachwuchsforschungs­gruppe »Radical Spaces« am INTERACT Zentrum für Interdisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung. Dr. Stephan Roll ist Leiter der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2023

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