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Internationale Zertifikate in der EU-Klimapolitik: Alte Konflikte, neue Herausforderungen

SWP-Aktuell 2025/A 27, 05.06.2025, 7 Seiten

doi:10.18449/2025A27

Forschungsgebiete

In den Diskussionen, die auf EU-Ebene über das neue Emissionsminderungsziel für 2040 geführt werden, rückte zuletzt die Rolle internationaler Zertifikate in den Fokus. Die Diskussionen gewinnen auch deshalb an Dynamik, weil die Bundesregierung ihre Unterstützung für das Ziel, die Emissionen um netto 90 Prozent gegenüber dem Wert von 1990 zu mindern, an die Bedingung knüpft, bis zu drei Prozent der Zielvorgabe mittels internationaler Zertifikate aus Partnerländern zu erfüllen. Wie das Ziel konkret ausgestaltet werden soll und was daraus für die europäischen Politik­instrumente folgt, wird in den bevorstehenden EU-Gesetzgebungsprozessen Anlass für Konflikte sein. Trotz offener Fragen zur Qualität, Zusätzlichkeit und Verfügbarkeit der Zertifikate ist eine frühzeitige Debatte über ihre möglichen Funktionen sinn­voll – um Politikinstrumente gegebenenfalls weiterzuentwickeln und spätere Korrek­turen zu ermöglichen. Zielführend wäre es, den Einsatz internationaler Zerti­fikate auf dauerhafte CO2-Entnahmetechnologien zu konzentrieren, die in der EU selbst nur begrenzt skalierbar sind. Internationale CO2-Entnahme-Zertifikate könnten als Aus­gleich von Restemissionen nicht nur einen Beitrag zur Bewältigung der noch bevorstehenden Herausforderungen auf dem Weg zu Treibhausgasneutralität leisten; die Etablierung einer institutionalisierten Nachfrage nach qualitativ hochwertigen Ent­nahmemethoden würde zugleich eine wichtige Grundlage für das Erreichen netto-negativer Emissionen schaffen.

Die vergleichsweise frühen und umfang­reichen Fortschritte beim Ausbau erneuer­barer Energien in Teilen Europas haben über die vergangenen Jahrzehnte das Selbst­bild der Europäischen Union und Deutschlands als klimapolitische Vorreiter gestärkt. Etwa fünf Jahre nach der Neuausrichtung der Klimapolitik auf Netto-Null-Treibhaus­gasemissionen als Ziel treten in der kon­kreten Umsetzung Themen und Konflikte in den Vordergrund, die in der vorherigen Ziel­architektur (80–95% Emissionsreduktion bis 2050) kaum eine Rolle spielten und deren Behandlung auf später verschoben werden konnte. Zwanzig Jahre vor dem Zieljahr, das sich Deutschland für die Errei­chung von Treibhausgasneutralität gesetzt hat (25 Jahre auf EU-Ebene), gilt es Stra­tegien für die »letzten Meter« zu finden, die auf dem Weg zur Treibhausgasneutralität zusätzlich zu drastischen Emissionsreduktionen noch zu absolvieren sind. Neben einer Klärung, wie mit kritisch diskutierten Technologien wie Carbon Management umgegangen werden soll, ist dabei auch die Frage zu beantworten, welche Rolle inter­nationale Zertifikate spielen sollen.

In Sachen Carbon Management wurde in den letzten zwei bis drei Jahren eine politi­sche Kehrtwende vollzogen. Bis dahin wur­den insbesondere in Deutschland der Ein­satz von CCS (Abscheidung und Spei­cherung von CO2) und CCU (CO2-Nutzung) und die CO2-Entnahme (Carbon Dioxide Removal, CDR) als Strategien zum Umgang mit schwer vermeidbaren Emissionen (CCS/CCU) bzw. Restemissionen (CDR) igno­riert und werden seither überaus kontrovers diskutiert. Erst nachdem Ergebnisse zahlreicher Netto-Null-Modellierungen vor­lagen und Industrie und Wissenschaft Druck machten, wurde das Thema wieder promi­nent auf die politische Tagesordnung gesetzt. Heute zählt Deutschland zu jenen Ländern in der EU, die eine Auseinandersetzung mit diesem Thema und Unterstützung für diese Technologien aktiv vorantreiben.

Eine ganz ähnliche Entwicklung zeichnet sich beim Thema internationaler Zer­tifikate im Rahmen von Artikel 6 des Pari­ser Abkommens ab. 2015 einigten sich dessen Unterzeichner in Artikel 6 darauf, einen Rahmen für internationale Kooperationen und den Handel von zertifizierten Klimaschutzprojekten zu schaffen, die teil­weise auf die nationalen Ziele angerechnet werden können. Nach langen Verhandlungen konnten sich die Staaten erst in den letzten Jahren auf die genaue Ausgestaltung einigen. Spätestens seit der Klima­konferenz in Baku im November 2024 (COP29) gelten die wichtigsten strukturellen Aspekte aber als geklärt. Im Anschluss dar­an verständigten sich die Parteien CDU, CSU und SPD in ihrem Koalitionsvertrag darauf, diese Zertifikate in dem noch zu beschließenden EU-Emissionsminderungs­ziel für das Jahr 2040 und im Europäischen Emissionshandel (EU-ETS) berücksichtigen zu wollen. Damit haben sie eine EU-weite Debatte angestoßen, in der die deutsche Position unter anderem in Frankreich und Polen Unterstützung findet.

Alte Konflikte und neue politische Lage

Kompensationsmechanismen galten in der Klimapolitik lange Zeit als nicht zielführend und schienen die eigenen klimapoliti­schen Ambitionen zu untergraben. Diese Einschätzung sah sich durch die negativen Erfahrungen mit den unter dem Kyoto-Pro­tokoll ausgegebenen Zertifikaten bestätigt, die teilweise in den EU-Emissionshandel integriert waren. In dieser Zeit kamen qua­litativ schlechte Zertifikate ans Licht und wurden Betrugsfälle aufgedeckt. Auch wegen der daran anknüpfenden kritischen Diskussionen schreibt etwa das Europäische Klimaschutzgesetz (Verordnung 2021/1119) vor, dass die Minderungsziele für 2030 (Netto-Reduktion von 55 Prozent gegenüber 1990) und für 2050 (Treibhausgasneutralität) innerhalb der EU erreicht werden müs­sen. Doch in der aktuellen politischen Lage, in der Entscheidungsträger:innen in beson­derem Maße auf die Krise der europäischen Industrie und ihrer Wettbewerbsfähigkeit fokussiert sind, erleben internationale Zer­tifikate als Element der EU-Klimapolitik eine Renaissance, unter dem Schlagwort der »Flexibilisierung« und mit dem Argument, »Europa kann das Klima nicht allein retten«.

Die zugrundeliegenden Motive sind viel­schichtig: Einerseits treiben Akteure die Debatte voran, die das Ziel verfolgen, die klimapolitischen Ambitionen abzuschwächen, oder die versuchen, durch das Schü­ren von Unsicherheit die Glaubwürdigkeit der EU-Klimapolitik zu untergraben. An­dererseits gibt es Akteure, die Artikel 6 als Möglichkeit begreifen, die bestehende klimapolitische Architektur gegen weit­reichendere Reformen und Abschwächungen abzusichern – indem sie Raum für neue Flexibilitäten schafft, die imstande sind, Allianzen zu stabilisieren, die sich in der aktuellen Lage schrittweise aufzulösen drohen. Ob die aktuelle Debatte über Arti­kel-6-Zertifikate am Ende aber zu einer Stabilisierung oder Schwächung der Klima­politik führen wird, ist derzeit völlig offen. An­gesichts der großen politischen Aufmerksamkeit stellt sich gleichwohl die zen­trale Frage: Bietet die Öffnung für inter­nationale Kompensationen die Chance, die letzte Wegstrecke zur Klimaneutralität vorzubereiten und auch kosteneffizienter hinter sich zu bringen – oder dient die aktuelle Diskussion vor allem als Strategie, grund­legenden Fragen und Konflikten aus dem Weg zu gehen? Ein Blick auf die Pro­zesse rund um das EU-2040-Ziel und auf die Her­ausforderungen und Chancen, die mit den Artikel-6-Zertifikaten verbunden sind, kann helfen, die Debatte und die darin ver­tretenen Positionen einzuordnen.

2040-Ziel: internationale Erwar­tungen und EU-interne Konflikte

Eine wichtige Gelegenheit zur Gestaltung der nächsten Phase der europäischen Klima­politik ist die Festlegung eines Emissionsminderungsziels für das Jahr 2040. Der politische Prozess wurde unter anderem von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen deutlich verzögert. Sowohl diese Verzögerung als auch die neue Aufmerksamkeit für die internationalen Zertifikate als Flexibilisierungsoption sind Ausdruck einer veränderten politischen Lage, in der Klimapolitik unter neuem Rechtfertigungsdruck steht. Gleich­zeitig drängt die Zeit, ein 2040-Ziel formal zu beschließen, und dies aus mindestens zwei Gründen:

Erstens war bislang vorgesehen, das 2040-Ziel als Bezugsgröße für die Ableitung des nationalen Klimaschutzbeitrags (NDC) der EU zu nutzen – ein­schließlich eines Zwischenziels für 2035. Die offizielle Frist zur Einreichung des NDC ist jedoch bereits im Februar 2025 verstrichen (siehe SWP-Aktuell 17/2024) – eine Einigung auf das 2040-Ziel und ein daraus resultierender NDC noch vor der COP30 im November 2025 in Belém würde einen politischen Kraftakt erfordern. Denn dazu bräuchte es nicht nur einen raschen Konsens unter den Mitgliedstaaten sowohl für das 2040-Ziel als auch für den NDC, sondern möglicherweise auch prozedurale Kreativität; so könnte etwa der Einfluss des Europäischen Parlaments faktisch begrenzt und der Prozess dadurch beschleunigt werden. Ob die Verbindung zwischen dem 2040-Ziel und einem Zwi­schen­ziel für 2035 aufrechterhalten werden kann, ist sowohl politisch als auch proze­dural fraglich. Auch eine Aufhebung der Verbindung könnte das rechtzeitige Einrei­chen eines NDC vor der COP30 erleichtern.

Die eingetretene Verzögerung im EU-Pro­zess wird auf internationaler Ebene genau beobachtet. Als langjährige Verfechterin der Vorstellung, dass prozedurale Gover­nance-Mechanismen ein wichtiges Element des Pariser Abkommens sind, untergräbt die EU gerade ihren eigenen Führungs­anspruch. Zu erwarten ist, dass die EU-internen Blockaden und das Ignorieren der vorgesehenen Fristen andere Staaten dazu veranlassen, Fristen in den UN-Prozessen in Zukunft noch weniger ernst zu nehmen.

Zweitens baut die Fortschreibung aller wichtigen klimapolitischen Instrumente in der EU – der Emissionshandelssysteme I/II (EU-ETS), der Lastenteilungsverordnung (Effort Sharing Regulation, ESR) sowie der Verordnung für Landnutzung, Landnutzungs­änderungen und Forstwirtschaft (Land Use, Land-use change and Forestry, LULUCF) notwendigerweise auf dem Beschluss des Ambitionsniveaus für 2040 auf. Eine wei­tere Verzögerung des Ziel-Prozesses, inklu­sive der Unsicherheiten über die mögliche Rolle internationaler Zertifikate, verschiebt die zeitaufwendigen Gesetzgebungsprozesse, die für die Überarbeitung der Politikinstru­ment erforderlich sind, zeitlich weiter nach hinten. Angesichts der deutlich knapperen Mehrheiten im Europäischen Parlament und der fluiden Mehrheiten im Rat könnte es sein, dass es nicht gelingt, alle Dossiers vor den EU-Wahlen im Jahr 2029 abzuschließen. Die Folge wären große Unsicherheiten bis kurz vor dem Start der neuen Handels- und Zielzeiträume ab 2031.

Internationale Zertifikate in der nächsten Phase der EU-Klimapolitik

Wichtige Impulse für die Debatte über das 2040-Ziel kamen zuletzt aus Deutschland: Die prominente Erwähnung dieses Ziels im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung hat für neue Dynamik in den Brüsse­ler Vorverhandlungen gesorgt. Bemerkenswert ist nicht nur, dass sich mit Deutschland ein großer und einflussreicher Mit­gliedstaat zur Unterstützung eines Netto-90 %-Ziels an sich bekennt, von Bedeutung sind auch die im Koalitionsvertrag vermerk­ten Konditionalitäten. Besonders im Fokus steht die geplante Nutzung von Artikel-6-Zertifikaten: Bis zu drei Prozentpunkte des 2040-Ziels sollen durch »zertifizierte und permanente Projekte […] in außereuro­päischen Partnerländern zur wirtschaftlich tragbaren Reduzierung von Restemissionen« gedeckt werden können. Obwohl sich diese Diskussion seit längerem abzeichnete, haben viele Akteure sie weitgehend igno­riert – oft mit Verweis auf das Europäische Klimaschutzgesetz, das die schon bestehenden Ziele für 2030 und 2050 auf die EU beschränkte (siehe oben).

Sobald der Vorschlag der Kommission veröffentlicht und das ordentliche Gesetz­gebungsverfahren eingeleitet worden ist, rückt die Frage in den Mittelpunkt, wie das 2040-Ziel auf EU-Ebene konkret ausgestaltet werden soll. Für die bevorstehende Debatte sind dabei zwei Elemente besonders rele­vant, die oftmals als »Flexibilisierungs«-Optionen diskutiert werden. Erstens geht es darum, ob und in welchem Umfang die internationalen Zertifikate zur Zielerreichung genutzt werden dürfen. Zweitens um die Rolle von CO2-Entnahme und die Frage, ob deren Beitrag zur Zielerreichung be­grenzt wird. In den zu erwartenden Diskus­sionen im Gesetzgebungsprozess fungieren exemplarische Zieldesigns als Gravitationspunkte für die Positionierungen (siehe Tabelle 1, S. 5), zwischen denen auch Kom­promissoptionen denkbar sind.

Der Europäische Wissenschaftliche Bei­rat zum Klimawandel (ESABCC) empfiehlt für das 2040-Ziel eine Trennung zwischen Bruttoreduktionen und CO2-Entnahmen. Anders als der deutsche Koalitionsvertrag fordert der ESABCC allerdings, dass 90 bis 95 % Emissionsreduktionen innerhalb der EU erreicht werden sollten. Damit positioniert er sich gegen Artikel 6 als Flexibilisierungsoption und stellt sich gegen die auf­kommende Debatte, ob es zulässig sein soll, ein 90 %-Ziel anteilig mit internationalen Zertifikaten zu erreichen.

Wenn internationale Zertifikate in das Zieldesign integriert werden sollen, würde ein klar getrenntes Ziel die klarsten poli­tischen Signale aussenden. Mit Blick auf die CO2-Entnahme und internationale Zerti­fikate sind die exakten Zielwerte weniger entscheidend. Wichtiger ist die klare Tren­nung von der Bruttoreduktion, um eine quantifizierte Nachfrage nach CO2-Ent­nahme und Artikel-6-Zertifikaten zu insti­tutionalisieren. Dies hätte Einfluss auf diese zwei Bereiche, in denen Investitionssicherheit essenziell ist, bislang aber fehlt. Aller­dings würde eine sehr detaillierte Ziel­vorgabe umfassende politische Aushandlungsprozesse und Kompromisse erfordern. Der hohe Zeitdruck und die angespannte klimapolitische Lage sprechen dafür, auch die anderen Varianten ernsthaft in die stra­tegischen Planungen aufzunehmen und Folgen zu antizipieren. Insbesondere die knapperen Mehrheiten könnten Anlass da­für sein, dass weitere Konkretisierungen vor­erst ausbleiben und auf die nachgelagerten Gesetzgebungsprozesse verschoben werden.

Darüber hinaus steht im Rahmen des Gesetzgebungsprozesses zur Ergänzung des 2040-Ziels im Europäischen Klimaschutz­gesetz zu erwarten, dass versucht wird, wei­tergehende Veränderungen in der Verord­nung umzusetzen. Mitgliedstaaten und Interessenvertreter, die skeptisch gegenüber dem Ambitionslevel des Klimaschutzgesetzes eingestellt sind, dürften sich beispielsweise dafür einsetzen, auch das Zieldesign für 2050 zu überarbeiten. Eine solche Ini­tiative – etwa um internationale Zertifi­kate auch für das 2050-Ziel zu berücksichtigen – wäre im aktuellen politischen Klima wenig überraschend. Gleichwohl wäre diese Änderung nicht nur innerhalb der EU um­stritten, sondern auch mit Blick auf das Pariser Abkommen heikel: Denn Artikel 6 sieht vor, die Zertifikate lediglich für Ambi­tionssteigerungen zu nutzen. Ein möglicher Aus­weg könnte darin bestehen, ein kon­kreteres Ziel für Netto-Negativ-Emissionen nach 2050 zu beschließen, dessen bisherige For­mulierung noch viele Fragen offenlässt.

Tabelle 1

Optionen für das 2040-Zieldesign

Zieldesign

Netto-Ziel ohne weitere Festlegungen

Kombination aus Brutto­reduktion und »zusätzlichen Maßnahmen«

Getrennte Ziele mit quanti­fizierten Teilkomponenten

Beispielwerte

  • Netto: 90 %

  • Bruttoreduktion: 80 %

  • zusätzliche Maßnahmen: 10 %

  • Bruttoreduktion: 80 /83 %

  • CO2-Entnahme: 7 %

  • (Internationale
    Zertifikate: 3 %)

Erläuterung

Ein Netto-Ziel, bei dem weder eine Bruttoreduktion, CO-Entnahme noch internatio­nale Zertifikate festgelegt wären, würde den Druck zur Bruttoreduktion vermindern. Politische Konflikte würden auf die Instrumentenebene verschoben.

Eine festgelegte Bruttoreduk­tion würde durch eine Zusatz­kategorie ergänzt, die CO2-Entnahme und internationale Zertifikate umfasst. Diese Option schafft Transparenz bei der Bruttoreduktion, hält die genauen Anteile von CO2-Entnahme und internatio­nalen Zertifikaten aber offen.

Ein getrenntes Ziel, mit sepa­raten Festlegungen für Brutto­reduktion und CO-Entnahme (ggf. aufgeteilt nach sektorieller Zuordnung). Außerdem könnte ein weitere Trennung von internationalen Zertifikaten vorgenommen werden. Erfordert hohen Abstimmungs­bedarf, mit verzögernder Wir­kung auf den Gesetzgebungs­prozess.

Grundlegende Herausforderung: Zusätzlichkeit

Abgesehen von der zu klärenden Frage, wie internationale Zertifikate im Zieldesign berücksichtigt werden sollen, ist mit der Nutzung von Artikel-6-Zertifikaten eine zweite zentrale Herausforderung verbunden: die Zusätzlichkeit der durchgeführten Projekte. Mit dem Pariser Abkommen hat sich die Ausgangslage für die Option inter­nationaler Kompensationen grundlegend verändert. Anders als unter dem Kyoto-Protokoll, in dem nur für Industrieländer verpflichtende Reduktionsziele galten, sind nun alle Vertragsstaaten verpflichtet, natio­nale Klimaschutzbeiträge (NDCs) einzurei­chen. Das verändert das Verhältnis zwischen Staaten, die Zertifikate kaufen, und denjeni­gen, in denen zertifizierte Projekte umgesetzt werden (host countries): Wenn Zertifikate aus einem Gastgeberland auf die Zielerreichung eines Käuferlands angerechnet werden (als sogenannte Internationally Transferred Miti­gation Outcomes, ITMOs oder als A6.4ERs), besteht das Risiko, dass die Erreichung bzw. die Ambitionen der Klimaziele des Gastgeberlands untergraben werden (»overselling«).

Zwar sollen solche Zielkonflikte durch Methodologien, Transparenzvorgaben und Anrechnungsregeln entschärft werden. Doch gerade angesichts des wachsenden politischen Drucks auf Industriestaaten, ihre Klimaziele einzuhalten, erscheint es nicht ratsam, allein auf die Wirksamkeit dieser Maßnahmen zu vertrauen. Die Nach­frage nach Artikel-6-Zertifikaten in der Ziel­architektur der EU zu institutionalisieren würde den Anreiz und Druck erhöhen, Methodologien und Projekte so auszugestalten, dass sie schon frühzeitig eine hohe Zahl von Zertifikaten zur Verfügung stel­len. Das würde sich negativ auf die Qualität der Projekte inklusive ihrer Zusätzlichkeit auswirken und ein »overselling« der Gast­geberländer provozieren.

Warum die Debatte trotzdem wichtig ist

Trotz dieser Risiken ist es klimapolitisch sinn­voll und strategisch geboten, die Debatte jetzt zu führen – und nicht erst Mitte der 2030er Jahre, wenn die Zeit für ein schrittweises Vorgehen und Korrekturen fehlt. Dafür sprechen drei Argumente:

Erstens: Reformen auf EU-Ebene brauchen Jahre – sowohl in der Gesetzgebung als auch bei der Umsetzung und der Ent­faltung von Anreizen. Eine frühzeitige Dis­kussion erlaubt einen geordneten Aufbau von Governance-Strukturen und die Er­arbeitung von Qualitätsstandards, inklusive Mechanismen und Zeitpuffer zur Nachjustierung im Falle von Fehlentwicklungen.

Zweitens: Ein aktives Engagement der EU bei der Umsetzung von Artikel 6 ist ein wichtiges politisches Signal zur Stärkung der Prozesse, die mit der Klimarahmen­konvention (UNFCCC) zusammenhängen. Gerade in einer Phase geopolitischer Span­nungen und wachsender Skepsis gegenüber multilateralen Mechanismen – beispielhaft dafür etwa der Rückzug der USA – kann die EU hier ihre gestaltende Rolle bei­behalten. Zudem spielt der internationale Handel mit Emissionsgutschriften für viele Länder des Globalen Südens eine zentrale Rolle, die immer wichtiger werden, wenn es gilt, die UNFCCC weiterzuentwickeln.

Drittens: Die Debatte über Artikel 6 bie­tet die Chance, sich aktiv mit dem Thema Rest­emissionen zu befassen. Dabei muss Artikel 6 nicht auf die Funktion eines klas­sischen Kompensationsmechanismus zur Abschwächung der heimischen Ambitionen reduziert werden. Vielmehr kann er – durch geeignete Konditionalitäten – der Technologieförderung dienen: etwa für den globalen Hochlauf von Technologien zur dauer­haften CO2-Entnahme wie Direct Air Carbon Capture and Storage (DACCS), die in der EU selbst nur eingeschränkt wirtschaftlich realisierbar sind.

Würden gezielt dauerhafte CO2-Ent­nahmeprojekte in Partnerländern fokussiert, hätte dies mehrere Vorteile: Die Zu­sätzlichkeit dieser Projekte wäre offensichtlich, aufwendige Nachweissysteme und ‑pro­zesse wie etwa bei (Wieder-)Aufforstungs­projekten könnten infolgedessen entfallen. Die Technologien ließen sich insbesondere dort besser umsetzen, wo erneuerbare Ener­gie reichlich verfügbar ist. Allerdings müsste dafür Sorgen getragen werden, dass mög­liche negative Auswirkungen von CO2-Spei­cherungen und anderer nötiger Infrastruk­tur auf die lokalen Bevölkerungen ausge­schlossen werden. Derartige Positivlisten für bestimmte Arten von Projekten sind bei der Nutzung internationaler Zertifikate kein neuer Ansatz, sondern haben sich bereits bei früheren Mechanismen bewährt und kön­nen wichtige Lenkungswirkungen entfalten.

Wenn die diskutierten 3 Prozent als Menge interpretiert würden, die für die dauerhafte CO2-Entnahme in Partner­ländern gilt, könnte die EU die Chance ergreifen, eine Nachfrage zu schaffen und dadurch den entstehenden Markt und die Qualitätsstandards maßgeblich mitzugestalten. Damit würde sie einen klaren Gegenpol zu den Zertifikaten mit geringer Quali­tät setzen, die in den Markt drängen. Zu­dem ließen sich dauerhafte CDR-Zertifikate deutlich einfacher in europäische Instrumen­te integrieren, als dies bei nicht-dauer­haften Entnahmemethoden der Fall ist (etwa in der Landnutzung). Letztere müss­ten mit hohem bürokratischem Aufwand gegen Reversibilität abgesichert werden. Eine engere Interpretation, bei der man sich auf dauerhafte CO2-Entnahme beschränkt, würde deshalb auch die Stabilität und Glaub­würdigkeit der Politikinstrumente eher stützen können als eine weite Interpreta­tion, nach der alle Arten von Zertifikaten zugelassen werden.

Die (vorerst) letzten Meter

Rund zwanzig Jahre vor dem angestrebten Erreichen der Zielmarke von Netto-Null-Emissionen in Deutschland (und etwa 25 Jahre vor jenem in der EU) ist der richtige Zeitpunkt, um die klimapolitischen Instru­mente auf die vorerst letzten Meter aus­zurichten. Mit Blick auf diese Phase sind unweigerlich politisch unbequeme Ent­scheidungen zu treffen. Themen, die lange ignoriert wurden – wie Carbon Management oder internationale Zertifikate –, rücken zusehends ins Zentrum der klima­politischen Debatte. In diesem Zusammenhang stehen weitreichende Entscheidungen an. Je nachdem, wie sie ausfallen, kann die bisherige klimapolitische Architektur aus­gehöhlt werden, die bevorstehenden Refor­men können aber auch die bestehenden In­strumente absichern. Der politische Druck dürfte jedenfalls in den kommenden Jahren nicht abnehmen – im Gegenteil. Die Fest­legung des 2040-Ziels und seine Ausgestaltung sowie das Folgeprogramm zur Umset­zung werden hier wegweisend sein. Zwei übergeordnete Empfehlungen lassen sich für die nächsten Schritte der Bundes­regierung in den bevorstehenden Gesetz­gebungsprozessen formulieren:

Robuste Instrumente sind wichtiger als Ziele

Die Konzentration auf robuste, krisenfeste Politikinstrumente sollte die itende Maxime bei den kommenden Reformen sein. Minde­rungsziele haben in der Klimapolitik wich­tige Funktionen: Sie setzen Ambitionssignale für die Wirtschaft und internationale Part­ner und sie dienen als Orientierungspunkte, an den sich Fortschritte beim Klimaschutz messen lassen. Doch ob das 2040-Ziel oder das Netto-Null-Ziel im vorgesehenen Jahr tonnengenau erreicht wird, ist langfristig gesehen weniger entscheidend als die Frage, ob die klimapolitischen Instrumente robust und imstande sind, die Wirksamkeit von Anreizen zur Emissionsminderung auch in Phasen politischer Prioritätenverschiebun­gen aufrechtzuerhalten.

Gerade in der Diskussion über Artikel 6 stellt sich folgende strategische Frage: Hilft eine Integration unter dem Narrativ der »Fle­xibilisierung« in den ETS, wie sie im Koali­tionsvertrag anvisiert ist, das Instrument tat­sächlich zu stabilisieren und zukunfts­tauglich zu machen? Lautet die Antwort »ja«, sollte die Einbeziehung in Betracht ge­zogen und in kommenden Gesetzgebungs­prozessen eingeleitet werden. Genauso mög­lich ist aber, dass die aktuellen Vorschläge eher der Logik einer inkrementellen Anpas­sung folgen, die politischem Druck nachgibt und dabei unbequemen Grundsatzfragen ausweicht. In diesem Fall besteht das Risi­ko, dass versucht wird, politische Konflikte vor allem durch technokratische Überfor­mung und immer kompliziertere Instru­mente zu lösen, was diese wiederum mittel­fristig angreifbar macht. Eine breit geführte Debatte über mögliche Alternativen zur ETS-Einbettung würde helfen, blinde Flecken zu vermeiden und insgesamt die Resilienz klimapolitischer Architektur zu stärken.

Netto-Null: Übergang zu einer neuen Phase der Klimapolitik

Was vielen mit dem Erreichen von Netto-Null als letztes Etappenziel der Klimapolitik erscheint, läutet nur eine neue Phase ein. So­wohl das deutsche als auch das europäische Klimaschutzgesetz halten schon jetzt fest, dass nach der Treibhausgasneutralität netto-negative Emissionen angestrebt werden sollen. Auch diese Phase ist bereits heute mitzudenken. Nicht zuletzt weil dieses Ziel in manchen Sektoren schon früher erreicht werden müsste. Die für ein Netto-Negativ-Ziel zusätzlich zur drastischen Emissions­reduktion erforderlichen Technologien zur dauerhaften CO2-Entnahme sind auf früh­zeitige verlässliche Nachfragesignale an­gewiesen. Eine strategische Nutzung von Artikel 6 kann genau dazu einen wichtigen Beitrag leisten. Das Institutionalisieren einer Nachfrage im Zieldesign würde Tech­nologien fördern, die in der EU auf abseh­bare Zeit nicht realisierbar, zur Erreichung von Netto-Null- und Netto-Negativ-Zielen aber unerlässlich sind.

Dr. Felix Schenuit ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe EU / Europa im Projekt »Hochskalieren von CO-Entnahme (UPTAKE)«

Dieses Werk ist lizenziert unter CC BY 4.0

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DOI: DOI: 10.18449/2025A27