Unabhängig vom Ausgang stellt das britische Referendum die Fragen nach der Zukunft der EU mit dramatischen Nachdruck. Nicolai von Ondarza erläutert die Handlungsoptionen für die deutsche Europapolitik.
Kurz gesagt, 22.06.2016 ForschungsgebieteNicolai von Ondarza
Unabhängig vom Ausgang stellt das britische Referendum die Fragen nach der Zukunft der EU mit dramatischen Nachdruck. Nicolai von Ondarza erläutert die Handlungsoptionen für die deutsche Europapolitik.
Am 23. Juni werden die britischen Bürger entscheiden, ob das Land Mitglied der Europäischen Union (EU) bleibt. Den Wahlkampf in dieser historischen Entscheidung haben europäische Spitzenpolitiker fast ausschließlich den Briten selbst überlassen – weder Kommissionspräsident Juncker, EU-Ratspräsident Tusk oder Bundeskanzlerin Merkel haben sich jenseits des Wunsches, die Briten mögen in der EU bleiben, direkt an das britische Volk gewandt. Umso mehr wird die Meinungsäußerung der Briten über das Projekt Europäische Union in Brüssel und den nationalen Hauptstädten widerhallen. Beide möglichen Antworten stellen die EU und die deutsche Europapolitik vor große strategische Herausforderungen.
Auch ein Verbleib ist kein Sieg der europäischen Idee
Sollten die Briten für einen Verbleib in der EU stimmen, dürfte die Erleichterung in Europa zunächst groß sein. Ein enthusiastisches Bekenntnis zur weiteren Entwicklung der EU wäre dies jedoch nicht. Denn erstens wirbt Premier David Cameron, Hauptfürsprecher des Verbleibs, ausdrücklich mit dem Sonderstatus Großbritanniens in der EU. Mehrwert der europäischen Integration bleibt für die EU-Befürworter im Vereinigten Königreich vor allem der Binnenmarkt, und nur so lange das Land dem Euro, dem Schengenraum und weiteren Integrationsprojekten fernbleiben kann.
Zweitens tritt mit einem Votum für den Verbleib die Vereinbarung von Februar 2016 in Kraft, in der Cameron eine »neue Regelung für das Vereinigte Königreich in der EU« ausgehandelt hat. Ihre Umsetzung würde die Weichen für die EU neu stellen. Großbritannien bekäme zugesichert, dass es sich dauerhaft nicht mehr an der weiteren EU-Integration beteiligt, und neue Sonderrechte für Nicht-Eurostaaten oder eine »Notbremse« für Sozialleistungen an EU-Arbeitnehmer würden die EU weiter fragmentieren. Zudem drohen weitere harte Verhandlungen, weil die vage Vereinbarung in vielen Detailfragen erst noch in Gesetzgebung umgesetzt werden muss. Hier wird die britische Regierung auf schnelle Umsetzung pochen.
Zuletzt beantwortet aber weder das mit den Briten ausgehandelte Reformpaket noch ihr Verbleib die weiteren drängenden Fragen der EU nach der Zukunft der Eurozone, dem Schengenraum oder dem Umgang mit EU-skeptischen Parteien in anderen EU-Staaten.
Vier strategische Fragen nach einem Austrittsvotum
Vor noch härteren strategischen Entscheidungen steht die deutsche Europapolitik jedoch im Falle eines Austrittsvotums. Führende Politiker in Deutschland und der EU fürchten nach einem Brexit negative wirtschaftliche Effekte und einen Dominoeffekt mit Austrittsreferenden in weiteren Ländern der EU. Wenig Beachtung findet dabei aber bisher in der öffentlichen Debatte, dass sowohl die wirtschaftlichen als auch die politischen Konsequenzen in der EU maßgeblich von den strategischen Entscheidungen nach dem 24. Juni abhängen. Vorrangig diese vier Fragen muss die deutsche Europapolitik dann beantworten:
Erstens, wie in der Übergangszeit mit Großbritannien in der EU umgegangen werden soll. Nach Art. 50 EUV wird ein Austritt erst vollzogen, wenn ein Austrittsvertrag in Kraft tritt, in dem die Übergangsbestimmungen geregelt werden, oder eine Frist von zwei Jahren nach Bekundung des Austrittwunschs abgelaufen bzw. nicht verlängert worden ist. In dieser Zeit behält Großbritannien alle seine Stimm- und Vetorechte, könnte die EU also erheblich blockieren. Hier ist ein Gentlemen’s Agreement für die nächsten Jahre notwendig.
Zweitens müssen die EU-Staaten die Frage beantworten, wie sie wirtschaftlich in Zukunft mit Großbritannien umgehen wollen. Das Kronjuwel der europäischen Integration ist der Binnenmarkt – Deutschland und die anderen EU-Staaten werden hier abwägen müssen, inwieweit die EU durch eine harte Verhandlungslinie gegenüber Großbritannien die Kosten des Austritts erhöhen möchte, um den Zusammenhalt in der EU zu sichern. Als Faustregel gilt, je schwieriger der Zugang der Briten zum Binnenmarkt wird, umso größer sind die wirtschaftlichen Konsequenzen für das Vereinigte Königreich, aber auch seine Partner in der EU. Für Deutschland etwa ist Großbritannien der drittgrößte Exportmarkt. In Abwägung empfiehlt sich daher aus deutscher Sicht, mit den Briten über den zukünftigen Zugang zum Binnenmarkt zu verhandeln, hierfür aber auf harten Konditionen zu bestehen, wie sie beispielsweise Norwegen oder die Schweiz erfüllen. Konkret: Zugang zum Binnenmarkt nur bei Umsetzung der von der EU gesetzten Regeln für den gemeinsamen Markt, einschließlich der Akzeptanz der Personenfreizügigkeit.
Dann stellt sich drittens die Frage der politischen Abfolge in den Austrittsverhandlungen. Art. 50 EUV lässt offen, ob mit dem Austrittsvertrag gleichzeitig auch die zukünftigen wirtschaftlichen Beziehungen mit Großbritannien geregelt werden oder nur die Übergangsbestimmungen. Bei separaten Verhandlungen könnte Großbritannien die EU wesentlich schneller verlassen, für die möglicherweise mehrjährige Phase zwischen vollständigem Austritt und Einigung über zukünftige wirtschaftliche Beziehungen droht jedoch ein ökonomischer Schock. Diese Variante hat daher ein großes Abschreckungspotential gegenüber Großbritannien, aber auch mittelfristige wirtschaftliche Nachteile für die restliche EU. Aus deutscher Sicht spricht daher vieles dafür, die Verhandlungen zunächst parallel zu beginnen, aber eine Trennung von Austrittsvertrag und zukünftigen wirtschaftlichen Beziehungen zumindest in der Hinterhand zu halten.
Zuletzt stellt ein Brexit-Votum auch die Frage nach der Zukunft der EU neu. Die Briten würden zeigen, dass die Mitgliedschaft in der EU umkehrbar ist und die auch in vielen anderen Staaten wachsende EU-Skepsis auf den Punkt bringen. Weltweit wird man daher genau darauf schauen, in welcher Form sich die nationalen Regierungen und EU-Institutionen nach einem Brexit-Votum zum Zusammenhalt in der EU bekennen. Eine Initiative für mehr Integration wäre hier mit Sicherheit das falsche Zeichen – die EU würde eine euroskeptische Gegenreaktion provozieren und sich als taub gegenüber dem britischen Warnschuss zeigen. Nötig wäre vielmehr, das Funktionieren der EU in kritischen Bereichen – der Eurozone, dem Schengenraum, dem Binnenmarkt – auf Basis der bestehenden Verträge zu verbessern, um zumindest den Bürgerinnen und Bürgern in den anderen EU-Staaten zu zeigen, welchen Mehrwert die Union für sie bringt.
Der Text ist auch bei EurActiv.de erschienen.
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