Aufgrund seiner strategischen Weite und der Möglichkeiten zu verdecktem Agieren ist der maritime Raum zum wichtigsten Schauplatz globaler Großmachtrivalität geworden. Im Schatten dieser Auseinandersetzung und des russischen Angriffskrieges in der Ukraine ist die Ostsee in den Fokus geopolitischer Interessen und Konflikte geraten. Ausdruck dessen sind vermehrt auftretende hybride Aktivitäten, von Sabotageakten bis hin zum Einsatz unbekannter Drohnen. Vor allem den westlichen Staaten des Ostseeraums führt all dies ihre Abhängigkeit von fossilen Ressourcen, kritischer maritimer Infrastruktur und sicheren Handelswegen vor Augen. Als Antwort auf den Krieg in der Ukraine und russische Marineaktivitäten in der Ostsee haben Anrainerstaaten ihre Militärs in erhöhte Bereitschaft versetzt. Inmitten dieser krisenhaften Lage verharren Nato-Verbündete und zukünftige Alliierte in einem überflüssigen Streit über Kräftedispositive, neue Strukturen und Führungsrollen. Von der deutschen »Zeitenwende« ist daher im Ostseeraum kaum etwas zu spüren.
Während des Ost-West Konflikts wurde die Ostsee vom Warschauer Pakt als Meer des Friedens bezeichnet. In der eigenen Auslegung beinhaltete diese Beschreibung einen »Mare clausum«-Anspruch, der geopolitisch auf der Ostsee als dem Ursprungsmeer sowjetischen Seemachtstrebens beruhte. De facto war die Ostsee geteilt in das vom Warschauer Pakt kontrollierte Gebiet östlich der Insel Fehmarn und das von der Nato kontrollierte Gebiet westlich von Fehmarn bis zum Skagerrak. Dänemark, die Bundesrepublik Deutschland und Norwegen sicherten die Ostseezugänge.
Darüber hinaus gab es mit den beiden bündnisfreien Staaten Schweden und Finnland ein Gebiet in der Ostsee, das geostrategische Relevanz für die Kontrolle der wesentlichen Seeverbindungslinien in einem vom Warschauer Pakt dominierten Raum besaß. Deshalb hätte es Ziel einer sowjetischen Aggression werden können, war aber in den Verteidigungsplänen der Nato nicht explizit berücksichtigt worden. Aufgrund ihrer Erfahrungen mit der Sowjetunion stellten beide Staaten jedoch frühzeitig kampfstarke Streitkräfte mit Konzepten der nationalen Mobilmachung und einer gesamtgesellschaftlichen Sicherheitsvorsorge auf, um Abschreckung und Resilienz zu gewährleisten. Der geografische Raum der östlichen Ostsee, an den Schweden und Finnland grenzen, bildete für den Fall einer militärischen Konfrontation ein militärstrategisches Einfallstor für das Vordringen hinter den Eisernen Vorhang des Ost-West-Konflikts.
Das geteilte Deutschland und damit auch die angrenzende Ostsee war dagegen die potentielle Frontlinie einer militärischen Eskalation zwischen dem Warschauer Pakt und der Nato. In der Ostsee verfügte die Sowjetunion zusammen mit Polen und der DDR über eine zahlenmäßige maritime Dominanz mit ihren U-Booten, Zerstörern, Korvetten, schnellen Patrouillenbooten, amphibischen Mitteln und Minenlegern. Die Seestreitkräfte der Nato konzentrierten sich auf Schließung und Kontrolle der Ostseezugänge bis zu den dänischen Straßen, also bis zum Öresund sowie zum Kleinen und Großen Belt. In der Ostsee verfügte die Allianz über rund 50 Flugkörperschnellboote, ebenso viele Minenräum- und Minenlegeboote, 28 kleinere konventionelle U‑Boote, zahlreiche Küstenbatterien und ungefähr 100 Kampfflugzeuge, die auf Seekriegsführung spezialisiert waren. Die Nato glaubte der Überlegenheit des War-schauer Paktes im Falle einer Auseinandersetzung kaum etwas entgegensetzen zu können. Daher wurde eine sowjetische Besetzung großer Teile des dänischen, südnorwegischen und norddeutschen Territoriums in den ersten Tagen eines möglichen Konflikts erwartet.
Die wesentliche strategische Engstelle war aus sowjetischer Sicht ein Gebiet in und um Südnorwegen. Dort verliefen die Seeverbindungslinien zu den Operations- und Wirkungsräumen der strategischen Einheiten des Warschauer Paktes, und dort befanden sich die Zugänge für russische Schiffe und U-Boote der Ostseeflotte und der Nordflotte zum Nordatlantik, zur Nordsee und zur Ostsee. In diesem Gebiet fürchtete man einen Eingriff der Nato in die russischen Seeverbindungslinien.
Die neue geostrategische Lage
Die geostrategische Realität hat sich in den letzten Jahren fundamental gewandelt. Gründe dafür sind die Folgen des Zusammenbruchs der Sowjetunion und des Warschauer Pakts, die russische Außen- und Sicherheitspolitik der neoimperialen Interessens- und Einflusssphären, die sich in der anhaltenden Aggression in der Ukraine manifestiert, und der beabsichtigte Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands. In der neuen Lage sind Ostsee und Nordsee ein Teil des größeren arktisch-nordatlantischen Raumes, dem auch das Schwarze Meer als Operationsgebiet zuzurechnen ist. Aus russischer Sicht ist dieser Raum Bestandteil seiner Strategie gegenüber Europa, mit der Moskau einen Wirtschafts- und Sicherheitsraum vom Atlantik bis zum Pazifik etablieren und darin eine zentrale und kontrollierende Position einnehmen will. Für die ost- und nordeuropäischen Länder hingegen handelt es sich um die Region, in der sie sich mit ständiger Bedrohung und wiederkehrenden Provokationen konfrontiert sehen.
Mit Schwedens und Finnlands Beitritt zur Nato wird die Ostsee – abgesehen von den beiden Gebieten um Kaliningrad und Sankt Petersburg – von Nato-Mitgliedstaaten umgeben sein. Das im Jahr 2022 mit der Veröffentlichung der neuen russischen Marinedoktrin erneut proklamierte Ziel der Etablierung einer russischen Seemacht wäre in dieser strategisch wichtigen Region nicht realisierbar. War Norwegen während des Ost-West-Konflikts aus Sicht der Sowjetunion ein potentielles Bindeglied zwischen geostrategisch wichtigen Bezugspunkten, ist dies in russischer Perspektive heute die Region der baltischen Staaten, vom Finnischen Meerbusen bis zum Suwalki-Korridor. Das schließt die schwedische Insel Gotland und die dänische Insel Bornholm ein. In der Region verlaufen vitale Seeverbindungslinien, und die Kontrolle dieses Raums wird in einer nicht mehr auszuschließenden Konfrontation eine militärische Priorität für alle Beteiligten sein. Diese Bedeutung wurde zuletzt für die breite Öffentlichkeit sichtbar, als Anfang Januar 2022 zunächst drei russische Landungsschiffe der Nordflotte in die Ostsee einliefen und in Kaliningrad nachversorgt wurden. Aufgetankt und ausgerüstet, bewegten sie sich während der folgenden Tage mit drei weiteren Landungsschiffen der Ostseeflotte im Seegebiet zwischen Kaliningrad und Gotland. Schweden war deshalb derart alarmiert, dass es auf der Insel unverzüglich seine militärische Präsenz erhöhte, die es bis heute weiter ausgebaut und verstetigt hat. Nach einigen Tagen verließen die sechs Landungsschiffe die Ostsee und fuhren via Ärmelkanal und Mittelmeer ins Schwarze Meer, um die russischen Seestreitkräfte dort in Vorbereitung des anstehenden Angriffs auf die Ukraine zu verstärken.
Sobald Schweden und Finnland der Nato beigetreten sind, können die Streitkräfte der Allianz die wichtigen Seewege in der Ostsee leichter überwachen und kontrollieren. Die baltischen Staaten sowie Bornholm und Gotland in der zentralen Ostsee werden aus strategischer Sicht für den russischen Zugang und die Verbindung zur Exklave Kaliningrad immer wichtiger. Gotland wird die potentielle Kontrolle des Ostseeraums durch die Nato erleichtern, während Kaliningrad für Russland zur Belastung wird. Ein Land, dessen Flotte keinen freien Zugang zu den eigenen Stützpunkten und Seeverbindungslinien hat, kann keine Seemacht sein. Nach dem Seerechtsübereinkommen der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation (IMO), einer Unterorganisation der Vereinten Nationen, hat Russland legitime Rechte, die lebenswichtigen Seeverbindungslinien in der Ostsee zu seinen Gebieten zu nutzen. Im Falle eines bewaffneten Konflikts könnte sich das dramatisch ändern. Die Nato hätte einen großen Hebel in der Hand, um die russische Exklave Kaliningrad und den wirtschaftlich essentiellen Zugang zu Sankt Petersburg durch Blockaden und militärische Operationen zu erschweren oder diese Seeverbindungen sogar für russische Nutzung zu sperren. Der Seeweg endet nicht in Sankt Petersburg, sondern setzt sich über Flüsse, Seen und Kanäle nach Süden ins russische Kernland, nach Norden zum Weißen Meer fort. Der Sankt Petersburg passierende maritime Güterverkehr umfasst jährlich über 300 Millionen Tonnen. In den letzten Monaten probte Russland, kleinere Kriegsschiffe, ausgerüstet mit durchsetzungsfähigen Abstandswaffen wie dem Flugkörper Kalibr, über diese inneren Wasserwege von der Ostsee ins Weiße Meer zu verlegen. Den erfolgreichen Abschluss der Übung bildete der scharfe Schuss mit einem Kalibr-Marschflugkörper.
Diese Übungen dienen auch zum Erhalt der eigenen Bewegungsfreiheit, wenn der Ostseeraum durch die Ausdehnung der Nato immer mehr eingehegt wird. Ähnlich verhält es sich mit den Vorwärtsverteidigungs- und Angriffsfähigkeiten, die Moskau mit modernen Waffensystemen in und um Kaliningrad und Sankt Petersburg aufgebaut hat. Schwedens und Finnlands Beitritt zur Nato würden es der Allianz erlauben, ihre Fähigkeiten um bessere Aufklärungsmittel sowie defensive und offensive Waffensysteme zu erweitern.
Regionales Konfliktpotential
Neben dem bevorstehenden Beitritt Schwedens und Finnlands zur Nato können weitere Entwicklungen und Konstellationen in der Ostseeregion eine Eskalation zwischen Nato-Staaten und Russland begünstigen:
-
Die Sanktionen des Westens gegen Russland schränken den Transitverkehr von Waren nach Kaliningrad und Sankt Petersburg ein.
-
Die anhaltende und stetig wachsende militärische Unterstützung des Westens für die Ukraine wird auch über die baltischen Staaten koordiniert und gefördert.
-
Nach wie vor sind die baltischen Staaten vom russischen Energienetz abhängig.
-
Entlang der estnischen und polnischen Grenze sind immer mehr Grenzverletzungen durch Russland zu verzeichnen, nämlich durch Militärflugzeuge, Kriegsschiffe und fehlgeleitete Geschosse aufgrund des Krieges in der Ukraine.
-
Zu beobachten sind zahlreiche hybride Aktivitäten, vom Auftauchen von Drohnen entlang kritischer ziviler und militärischer Infrastruktur bis hin zu Sabotageakten wie dem Nord-Stream-Vorfall.
-
Die Nato passt ihre Pläne und Maßnahmen zur Versicherung ihrer östlichen und nördlichen Verbündeten an und stärkt ihre Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeiten in diesen Regionen.
-
Die USA stationieren weitere Waffensysteme in der Region und weiten die bilaterale Kooperation unter anderem mit Norwegen aus. Künftig kann die US-Luftwaffe die Flugplätze von Rygge und Sola bei Oslo sowie Stavanger nutzen, um den Schiffsverkehr an den Zugängen zur Ostsee zu überwachen.
In der Summe lassen solche und andere Maßnahmen eine potentielle horizontale Konflikteskalation als realistisches Szenario erscheinen, also die Verlagerung eines bestehenden Konfliktes in einen anderen geografischen Raum. Wegen der geostrategischen Zusammenhänge könnte der gesamte Bereich vom arktisch-nordatlantischen Raum bis hin zur Ostsee gleichermaßen betroffen sein.
Der maritime Raum wird konfliktträchtiger und instabiler
Der maritime Raum ist mit am stärksten von den Veränderungen im Sicherheitsumfeld der letzten Jahre betroffen. Immer mehr verschwimmen die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit, während Aspekte hinzukommen, die bisher kaum aus sicherheitspolitischem Blickwinkel betrachtet wurden. Dazu zählen unter anderem Fragen der Energiesicherheit, Schutz der Handels- und Wirtschaftsstandorte, transnationale Kriminalität, Sabotage oder zielgerichtete Beeinflussung von Gesellschaften im Informations- und Cyberraum. In diesem Kontext ist der maritime Raum instabiler und anfälliger für hybride Bedrohungen geworden. Mindestens sieben Faktoren kennzeichnen diese Entwicklung:
(1) Maritime Räume bilden Schauplätze eines geopolitischen Wettbewerbs. Global ist die Konkurrenz zwischen den USA, China und Russland bestimmend. Regional sind weitere Machtwettstreite zu beobachten, zum Beispiel zwischen der Türkei und Russland im Schwarzen Meer und Nahen Osten oder zwischen der Türkei, Griechenland und Israel im östlichen Mittelmeer, verbunden mit zunehmender Militarisierung. Zugleich bietet das maritime Umfeld eine strategische Tiefe jenseits der Hoheitsgewässer und einen Bereich unter der Wasseroberfläche, der selbst mit modernster Satellitenaufklärung nur schwer zu überwachen ist.
(2) Ungelöste Territorialstreitigkeiten und Gebietsansprüche im Mittelmeer, im Pazifik oder in der Arktis markieren eine Entwicklung zunehmend umstrittener Räume und damit vom Mare liberum hin zum Mare clausum. So kollidiert etwa die Vorstellung vom freien und offenen Indo-Pazifik mit Pekings Gebietsansprüchen im Südchinesischen Meer.
(3) Maritime Räume sind Verbindungsräume für illegale grenzüberschreitende Aktivitäten, zum Beispiel Drogenhandel, illegale Migration, Waffenhandel und Terrorismus.
(4) Im maritimen Raum wächst die Konkurrenz um den Zugang zu großen, teils unerschlossenen Ressourcen und ihre Nutzung. Vor allem geht es um Erdöl, Erdgas und Metalle der Seltenen Erden, aber auch Wasserkraft als regenerative Energiequelle oder entsalztes Meerwasser in Zeiten schwindender Trinkwasserressourcen.
(5) Die Folgen des Klimawandels sind im maritimen Raum besonders gravierend. Der Meeresspiegel steigt, Land- und Meereis gehen zurück, der Permafrost taut, und das Meerwasser erwärmt sich. Letzteres zieht Veränderungen in der Meeresbiologie und die Verschmutzung der Süßwasserressourcen nach sich.
(6) Lebenswichtige Seeverbindungs-, Transport- und Kommunikationswege werden fragiler. Beispiele sind die Blockade des Suezkanals durch das havarierte Containerschiff Ever Given im März 2021 sowie die Unterbrechung der weltweiten Getreidelieferungen durch die russische Invasion in der Ukraine.
(7) Die Abhängigkeit von kritischen Infrastrukturen etwa in den Bereichen Energie und Kommunikation tritt im maritimen Raum deutlich zutage. Schlagendes Beispiel sind die Angriffe auf Nord Stream 1 und 2.
Im Ostseeraum lassen sich derzeit mindestens vier dieser Faktoren identifizieren, nämlich die Bedrohung kritischer maritimer Infrastruktur, die potentielle Störung vitaler Seeverbindungswege, die wachsende und teilweise provokative Präsenz militärischer Einheiten sowie die Auswirkungen des Klimawandels auf die Meeresbiologie.
Die Destabilisierung der maritimen Räume entlang dieser Faktoren hat unmittelbare Folgen für Staaten und Gesellschaften und deren Funktionieren. Betroffen sind auch Staaten ohne direkten Zugang zur offenen See. Wirtschaftliche Verflechtungen sind die Hauptursache für weitreichende und grenzüberschreitende Auswirkungen destabilisierender Aktivitäten. Daher sollte die Ostsee nicht nur als Randmeer, sondern als größerer geopolitischer Raum verstanden werden, der eng mit angrenzenden Räumen und Regionen verbunden ist. Aus globaler geostrategischer Perspektive lässt sich sogar eine Parallelität zwischen vielen Regionen und Konflikten erkennen. Von der Arktis über den Nordatlantik, die Ostsee und Osteuropa bis nach Südostasien werden politische, wirtschaftliche und militärische Instrumente angewandt, um die genannten Faktoren im Sinne eigener Interessen zu nutzen.
Kritische maritime Infrastruktur im Ostseeraum
Von den oben erwähnten vier Faktoren sind es im Ostseeraum vor allem die kritische maritime Infrastruktur im Meer und an den Küsten sowie die Seeverbindungslinien, die Anlass zur Sorge geben. In Deutschland sind (maritime) kritische Infrastrukturen bisher am wenigsten in staatliche Sicherheitskonzepte und ‑maßnahmen eingebunden, da sie überwiegend privat betrieben werden. Infrastrukturen sind unverzichtbare Lebensadern moderner, leistungsfähiger Gesellschaften. Das betonte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg im Dezember 2022 in Berlin, als er die deutsch-norwegische Initiative lobte, die im Rahmen der Allianz die Sicherheit unter Wasser, vor allem der kritischen Infrastruktur dort, verbessern soll. Seit den ersten russischen U‑Boot-Aktivitäten 2015 spielte in militärischen Planungen die Verwundbarkeit der alliierten Nationen durch ihre extraterritoriale maritime Infrastruktur eine wichtige Rolle. Das schließt die Gefahr ein, dass externe Mächte diese Infrastruktur unter Kontrolle bringen, zur Unterwanderung bestehender Sicherheitskonzepte nutzen und damit einzelne Nationen oder gar die Allianz im Ganzen destabilisieren. Damit wird kritische Infrastruktur verteidigungsrelevant und zum Gegenstand militärischer Planungen oder Schutzbedürfnisse. Die jüngsten Sabotageakte und Zerstörungen haben dafür gesorgt, dass das Thema nun auch auf der politischen Agenda gelandet ist und öffentlich diskutiert wird. In ihrem neuen strategischen Konzept vom Juni 2022 stellt die Nato die Handlungen staatlicher Akteure, zum Beispiel Chinas, und die Gefahren für die langfristige Sicherheit der Mitglieder des Bündnisses durch externe Einflussnahme in einen Zusammenhang. So heißt es dort, die Volksrepublik strebe »die Kontrolle über technologische und industrielle Schlüsselsektoren, kritische Infrastrukturen sowie strategische Materialien und Lieferketten an«.
Innere und äußere Sicherheit zu gewährleisten hängt zunehmend voneinander ab. Neue Bedrohungen durch staatliche Akteure richten sich gegen Energieversorgung, Handelswege und Wirtschaftsressourcen. Als Element einer Gesamtstrategie bereiten solche Bedrohungen konventionelle militärische Aktivitäten vor oder ergänzen sie teilweise. Daher muss die militärische Verteidigungsplanung diese für die nationale Sicherheit und Wohlfahrt entscheidenden Aspekte berücksichtigen.
Schon vor dem russischen Angriff auf die Ukraine haben außerdem Aktivitäten zugenommen, die sich nur schwer zuordnen lassen. Dazu zählen die Beeinflussung von Gruppen und Meinungen im Informationsraum, der Einsatz von Drohnen entlang kritischer militärischer und maritimer Infrastruktur, die Zuspitzung der rhetorischen Eskalation seitens der russischen Führung gegenüber dem Westen sowie Versuche, die europäische Energiesicherheit zu schwächen und so die Bevölkerung zu verunsichern. Es liegt also mittlerweile klar auf der Hand, dass Energiesicherheit, Wirtschaftspolitik sowie Cyber- und Informationsaktivitäten sich immer stärker mit gesamtstaatlicher und militärischer Sicherheit verschränken.
Das psychologische Hauptziel solcher Aktivitäten besteht darin, die westeuropäischen Gesellschaften zu verängstigen, zu verunsichern oder gar Staaten zu destabilisieren. Beispiele dafür sind die Zerstörung norwegischer Unterwasserkabel und Sensoren, Drohnenflüge über schwedischen Atomkraftwerken, norwegischen Militäreinrichtungen und Energieinfrastrukturen sowie deutschen Truppenübungsplätzen oder die Sabotage von Nord Stream 1 und 2.
Die Attacken auf diese beiden Pipelines haben zwar vor Augen geführt, wie verwundbar die Meeresgebiete und die kritischen Infrastrukturen dort sind. Impulse für engere Zusammenarbeit zwischen den Partnern und Verbündeten im Ostseeraum sind daraus aber nicht entstanden.
»Zeitenwende« im Ostseeraum
Drei Tage nach Beginn des russischen Einmarsches in der Ukraine hielt Bundeskanzler Olaf Scholz im Deutschen Bundestag seine »Zeitenwende«-Rede. Seitdem hat die Bundesregierung immer wieder den Anspruch geäußert, Deutschland zu einer führenden Militärmacht im Bündnis auszubauen und gleichzeitig Verantwortung für die Nato im Ostseeraum zu übernehmen, indem es bestimmte regionale Kommandoelemente oder Hauptquartiere zur Verfügung stellt.
Im maritimen Bereich soll es nach dem Wunsch der Bundesregierung ein deutsch geführtes regionales maritimes Hauptquartier geben. Ein solches Kommandoelement wurde der Nato bereits im November 2020 unter dem Titel Baltic Maritime Coordination Function angeboten. Diese Koordinierungsfunktion sollte damals einen Rahmen für regionale Aktivitäten im Frieden und in sich anbahnenden Krisen bieten. Im Konflikt- und Kriegsfall sollte diese dann, basierend auf der bisherigen Führungsstruktur, an eines der drei streitkräftegemeinsamen Nato-Hauptquartiere übergeben werden. Eine politische Entscheidung des Bündnisses über das Angebot wurde aber bis heute nicht getroffen.
Laut einem neuen deutschen Vorschlag soll das maritime Hauptquartier die militärische Führung über Seestreitkräfte in Frieden, Krise und Krieg übernehmen. Da die Frage der Führungsrolle nach wie vor nicht beantwortet ist, wird eine Entscheidung wahrscheinlich nicht so bald fallen. Darüber hinaus überprüft die Nato ihre Kommandostruktur auf der Grundlage des neuen Sicherheitsumfelds und der erforderlichen Anpassungen. Dies könnte zusätzliche Reibungen hervorrufen, wenn gemäß dem neuen Streitkräftemodell der Allianz bestimmte Zuständigkeiten in Frieden und Krieg häufiger regional an nationale Einheiten oder bi- und minilaterale Kooperationen delegiert werden sollen.
Derzeit scheint jedoch ein Richtungsstreit innerhalb der Allianz und ihrer Partner über die Führungsrolle an der Nordflanke und der Ostsee sowie über die regionale Ausgestaltung der militärischen Beiträge die Umsetzung der Entscheidungen des Madrider Gipfeltreffens zu behindern. So hat etwa die Joint Expeditionary Force (JEF) unter britischem Kommando den Anspruch, die Verantwortung und Führung an der Nordflanke der Nato und in der Ostsee zu übernehmen. Dafür stellt das Vereinigte Königreich einen nationalen Führungsrahmen und, sofern vorhanden, Waffensysteme zur Verfügung. Von den neun weiteren Ländern, die sich an der JEF beteiligen, wird erwartet, dass sie ihre Fähigkeiten einbringen. Für viele Teilnehmerstaaten gilt die JEF als ein Dach, unter dem sie Zugang zu bestimmten schweren militärischen Fähigkeiten haben, die auch deutliche strategische Signalwirkung entfalten. Dazu gehören etwa amphibische Landeplattformen, Hubschrauberträger oder sogar Flugzeugträger und andere große Kriegsschiffe. In den letzten Jahren war die JEF aber nicht in der Lage, eine nennenswerte Anzahl von Plattformen und Einheiten zusammenzubringen, ausgenommen für kurze Zeiträume bei bestimmten Schlüsselübungen. Ihren Anspruch haben die Regierungschefs der JEF-Nationen am 19. Dezember 2022 auf einem Treffen in Riga neu belebt. Im Laufe des Jahres 2023 soll dazu ein Strategiepapier für die kommenden zehn Jahre erarbeitet werden. Bereits 2023 will die JEF mit der Großübung JEF Warrior an der Nordflanke und im Ostseeraum ihre Relevanz und Geschlossenheit demonstrieren. Gleichzeitig jedoch breitet sich die Diskussion aus, ob das Vereinigte Königreich seine Nato-Zusagen überhaupt noch einhalten kann.
Der künftige Beitritt Schwedens und Finnlands zur Nato, die beide auch Mitglieder der JEF sind, unterstreicht ein weiteres Mal das Thema regionale Zusammenarbeit und Führung. Durch den Beitritt verlängert sich zwar die gemeinsame Grenze mit Russland um etwa 1.340 km, aber zugleich bietet sich die Möglichkeit, die russischen A2/AD-Fähigkeiten im subarktischen Raum durch Nato-eigene Verteidigungs- und Wirksysteme erheblich einzuschränken. In Vorbereitung der anstehenden Nato-Mitgliedschaft möchten die skandinavischen Länder ihre Verteidigungskooperation im Rahmen der Nordic Defence Cooperation (NORDEFCO) ebenfalls neu beleben und intensivieren. Im Zentrum der revitalisierten NORDEFCO sollen neben dem Ausbau gemeinsamer Fähigkeiten und Strukturen vor allem die gemeinsame Verteidigungsplanung sowie die Vorbereitung zur Durchführung gemeinsamer Operationen stehen. Die Übung Cold Response, bisher von Norwegen geplant und geführt, soll 2024 in eine Großübung mit dem Titel Nordic Response umgewandelt werden, welche die skandinavischen Staaten gemeinsam ausrichten. Gleichzeitig soll sich diese Übung in eine Serie ineinander übergehender Großübungen der Nato für das Jahr 2024 entlang der Nordflanke bis zur Ostsee einfügen.
Als weiterer Ostseeanrainer und Alliierter schlägt Polen derweil seinen eigenen Weg ein. Der Anspruch lautet, Polens Streitkräfte zur stärksten europäischen Armee auszubauen. In bilateraler Kooperation mit den Vereinigten Staaten werden dazu neue Fähigkeiten angeschafft, Strukturen und Verbände eingerichtet sowie der Umfang der auf polnischem Boden stationierten Streitkräfte erhöht. Kann die Regierung in Warschau diese Ambitionen und deren Finanzierung über die kommenden Wahlen hinweg aufrechterhalten, würden die polnischen Landstreitkräfte mittelfristig wohl zu den größten und bestausgestatteten Heereskräften der europäischen Alliierten avancieren. Im maritimen Raum dagegen ist keine ähnlich ehrgeizige Modernisierung und Neuaufstellung erkennbar, auch wenn der Anspruch auf die regionale Führungsrolle in der Ostsee unverändert fortbesteht.
Die Nato hat auf dem Madrider Gipfel den Weg dafür geebnet, ihre Abschreckungs- und Verteidigungsbemühungen im Ostseeraum mit Truppen und Fähigkeiten zu verstärken. Die größte Herausforderung für die Umsetzung bildet zurzeit der Führungsstreit zwischen den Verbündeten. Wenn Deutschland die Führung übernähme und das regionale maritime Hauptquartier etablierte, hätte dies zwei Effekte: Das immer wieder geäußerte Bekenntnis, größere Verantwortung im Bündnis zu übernehmen und mehr zur Lastenteilung beizutragen, könnte mit Inhalt gefüllt werden. Zugleich würde Deutschland seine außenpolitischen Ziele konsequent verfolgen. Der proklamierten »Zeitenwende« würden Taten folgen.
Unabhängig davon, ob Deutschland sich mit seinem Angebot für eine regionale maritime Führungsrolle durchsetzt oder nicht, bleibt der Kern der Herausforderung für die Streitkräfte im Ostseeraum aktuell: nämlich die Grundlage dafür zu schaffen, dass die laufende bilaterale und multilaterale Zusammenarbeit gebündelt und effektiv genutzt werden kann. Dabei geht es in erster Linie um die Interoperabilität aus technischer Sicht. Grundlegend ist zum Beispiel, ein gemeinsames Netz zu nutzen, um Informationen und Lageberichte auszutauschen – auch als geheim eingestufte, wenn die beteiligten Nationen es wollen –, mit einer direkten Anbindung an die Nato. Dies erfordert keine weiteren Großprojekte und keine großen Sonderbudgets.
»Zeitenwende« europäisch abstimmen
Aufgrund der Beschlüsse des Madrider Nato-Gipfels im Juni 2022 ist Deutschland erstmals verpflichtet, eine eigene Verteidigungsplanung zu erstellen. Diese muss die Fähigkeiten, Kräfte und Maßnahmen im Falle der Landes- und Bündnisverteidigung im Frieden, in sich entwickelnden Krisen und im Krieg auflisten. Dazu gehört mindestens auch der Schutz identifizierter verbündeter und verteidigungsrelevanter kritischer Infrastrukturen – von bestimmten Seewegen, Häfen, Datenkabeln, Pipelines bis hin zu Offshore-Anlagen im eigenen Hoheitsgebiet (und wegen deutscher gesetzlicher Bestimmungen auch in der erweiterten Wirtschaftszone). Ein weitergehender Ansatz würde auch den Beitrag umfassen, der auf Hoher See zum Schutz kritischer Infrastrukturen geleistet werden kann – sei es bilateral bis multilateral, sei es zur Unterstützung einzelner Verbündeter in ihren Hoheitsgewässern. Letzteres hat die Deutsche Marine bereits Ende Oktober 2022 praktiziert: Drei deutsche Fregatten mit Fähigkeiten zur Lagebilderstellung über und unter Wasser wurden in Norwegen eingesetzt, um die kritische maritime Infrastruktur dort zu schützen, besonders die Gas- und Ölplattformen.
Ein weiterer vielversprechender Ansatz ist der gemeinsame deutsch-dänische Aktionsplan vom August 2022, der die Aspekte maritimer Sicherheit und Zusammenarbeit in Ost- und Nordsee einschließt. Das starke Interesse vor allem der dänischen Seite an bilateraler Kooperation könnte kurzfristig Handlungsoptionen eröffnen, um wahrnehmbare Fortschritte in Schlüsselbereichen zu erzielen und damit entsprechende politische Botschaften hinsichtlich der »Zeitenwende« zu setzen. Dazu gehören die Einrichtung des regionalen maritimen Hauptquartiers in Rostock, die Verbesserung der Lagebilder und die verstärkte Präsenz auf See.
Ein besseres maritimes Situationsbewusstsein wird auch durch die deutsch-britisch-norwegische Zusammenarbeit im arktisch-nordatlantischen Raum möglich sein, sobald deren Streitkräfte vollständig mit einer neuen Generation von Seefernaufklärungsflugzeugen – der Boeing P-8A Poseidon – ausgerüstet sind. Boeing lieferte das erste Flugzeug dieses Typs im November 2021 an Norwegen. Dies ist nicht nur im Hinblick auf Russland wichtig, sondern auch angesichts künftiger maritimer Aktivitäten Chinas im arktisch-nordatlantischen Raum. Die »Zeitenwende« nähme allerdings eine fatale Fehlentwicklung, wenn auf deutscher Seite künftig nicht mehr, sondern weniger Seefernaufklärungsflugzeuge zur Verfügung ständen. Bislang ist vorgesehen, nur noch fünf statt der bisherigen acht Flugzeuge zu erwerben, und das, obwohl eigentlich weit mehr Aufklärer für dieses Gebiet erforderlich wären.
Vor diesem Hintergrund sollten Deutschland und seine Verbündeten im erweiterten Ostseeraum eine ständige Präsenz in der Nord- und Ostsee anstreben. Dazu sollten sie Einheiten der Länder in einer gemeinsamen Anstrengung rotieren lassen, vorzugsweise unter Leitung eines regionalen maritimen Hauptquartiers. Zweck dieser Bemühungen wäre, das Lagebild und das maritime Situationsbewusstsein zu verbessern, kritische maritime Infrastruktur zu schützen, die Seewege zu sichern und eine notwendige Abschreckung aufrechtzuerhalten.
Göran Swistek ist Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
Dr. Michael Paul ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2023
Alle Rechte vorbehalten
Das Aktuell gibt die Auffassung der Autoren wieder.
SWP-Aktuells werden intern einem Begutachtungsverfahren, einem Faktencheck und einem Lektorat unterzogen. Weitere Informationen zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP-Website unter https://www. swp-berlin.org/ueber-uns/ qualitaetssicherung/
SWP
Stiftung Wissenschaft und Politik
Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit
Ludwigkirchplatz 3–4
10719 Berlin
Telefon +49 30 880 07-0
Fax +49 30 880 07-100
www.swp-berlin.org
swp@swp-berlin.org
ISSN (Print) 1611-6364
ISSN (Online) 2747-5018
DOI: 10.18449/2023A06