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Frankreichs disruptive Zeitenwende

Paris und Berlin stellen sich sicherheitspolitisch neu auf – die bilateralen Divergenzen nehmen zu

SWP-Aktuell 2024/A 23, 15.04.2024, 8 Seiten

doi:10.18449/2024A23

Forschungsgebiete

Die russische Vollinvasion in der Ukraine ab dem 24. Februar 2022 hat die franzö­sische Sicherheitspolitik nicht so fundamental erschüttert wie die deutsche. Frankreich sieht sich in seinen bisherigen Zielen bestätigt, vor allem darin, die strategische Souveränität Europas zu stärken. Es hat aber in vielen Berei­chen nachgesteuert, um seine Ambitionen unter veränderten Rahmenbedingungen weiterzuverfolgen. Zu dieser sicherheitspolitischen Zielkontinuität bei einer bemerkenswerten Mittel- und Kursanpassung gehören Frankreichs nun aktive Unterstützung für die EU- und Nato-Erweiterung und sein stärkeres Nato-Engagement. Damit ließen sich teilweise auch Irritationen europäischer Partner ausräumen, die Präsident Macron 2022 mit seinen Äußerungen über ein notwendiges Zugehen auf Russland hervor­gerufen hatte. Die inhalt­lichen Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich bleiben jedoch bestehen und haben sich teils verschärft, was die bilaterale Koopera­tion erschwert.

In einer Rede am 2. März 2022 beschrieb Präsident Emmanuel Macron den russischen Überfall auf die Ukraine als »Epochen­wechsel«. Doch trotz dieses fundamentalen Bruchs sieht Frankreich sich in seinen zen­tralen strategischen, haushaltspolitischen und militärischen Ansätzen bestätigt.

Zielkontinuität: Europäische Souveränität stärken

So hatte Paris bereits in seiner »Revue Stra­tégique« von 2017 (einer Art nationale Sicherheitsstrategie) und deren Aktualisierung von 2021 die Notwendigkeit festgestellt, sich auf zwischenstaatliche Konflikte mit hoher Intensität vorzubereiten. Die Investitionen in seine nukleare Abschreckung hat Frankreich stets aufrechterhalten, unter anderem mit der Begründung, es müsse einen Konflikt mit einer Großmacht abschrecken können.

Zudem investiert Paris traditionell in die Einsatzfähigkeit seiner Streitkräfte. Zwar führte auch hier der Spardruck zu Lücken, etwa bei Luftverteidigung und Munition. Aber insgesamt sind Zustand und Einsatzbereitschaft im Falle Frankreichs besser als bei den meisten anderen Streitkräften Euro­pas, deren Fähigkeiten infolge von Kosten­druck und fehlendem Bedrohungsgefühl beschnitten wurden. Ferner sind Frankreichs Kräfte seit Jahren kampferprobt, etwa aufgrund ihrer Einsätze in Mali von 2013 bis 2022 oder im Irak seit 2014.

Die russische Vollinvasion 2022 in der Ukraine hat die Ziele der französischen Sicherheitspolitik nicht geändert, sondern bestätigt: Das Leitmotiv europäischer Souve­ränität, das Macron seit seinem Amtsantritt 2017 verfolgt, gewann aus seiner Sicht so­gar an Dringlichkeit. Angestrebt wird ein Europa, das politisch, technologisch, wirt­schaftlich und militärisch seine Interessen offensiv und eigenständig vertritt und seine Umgebung gestaltet (siehe SWP-Studie 4/2021).

Damit ist Frankreich eine Ausnahme, denn für viele Europäer hat der russische Überfall 2022 die zentrale Rolle der Nato (und der USA) für die Verteidigung des Kon­tinents unterstrichen und die nachgeordnete Rolle der EU bestätigt. Paris er­kennt zwar an, dass die USA kurz- und mittel­fristig für Europas Sicherheit unverzichtbar sind, und fokussiert auch auf die Nato. Doch inves­tiert Frankreich bewusst schon jetzt – im Unterschied zu vielen Partnern – in ent­sprechende Strukturen und Politi­ken der EU. Langfristig wird aus Pariser Sicht eine eigenständige europäische Vertei­digung umso notwendiger. Erstens bestätigt Russ­lands Krieg französische Annahmen über die eingeschränkte Handlungsfähigkeit der Europäer, da er deren politische und militä­rische Abhängigkeit von den USA und die eigenen Defizite von Aufklärung bis Logis­tik offenlegt. Zweitens unterstreicht der Krieg damit, dass ein handlungsfähiges Europa notwendig ist, eben weil das strate­gische Umfeld instabiler und schwieriger wird.

Dabei verweist Frankreich traditionell auch auf Herausforderungen, die jenseits von Russland liegen. Für Paris ist der US-Fokus auf den systemischen Konflikt mit China ein dauerhafter Trend. Die Wahlen 2024 könnten eine weniger transatlantisch orientierte, selektiver und transaktionaler handelnde US-Regierung an die Macht brin­gen, die weniger als bisher zur europäischen Sicherheit beiträgt oder sich gegen europäische Ziele positioniert. Aus franzö­sischer Sicht geht es nicht darum, die Nato zu ersetzen. Vielmehr sollen die europäischen Beiträge im Bündnis steigen, was im Sinne der von Washington geforderten Las­tenverteilung und einer größeren Handlungsfähigkeit Europas wäre. Paris hofft, dass der russische Krieg die anderen Euro­päer von dieser Notwendigkeit überzeugt. Doch selbst wenn viele Staaten das Ziel prinzipiell teilen, scheint dessen konkrete Umsetzung oftmals nur geringe Priorität zu haben (auch Deutschlands Nationale Sicher­heitsstrategie bleibt hier vage). Oder es kommt dabei zu Zielkonflikten, etwa wenn es darum geht, entweder Fähigkeitslücken schnell durch nichteuropäische Ausrüstung zu schließen oder langfristig in europäische Unternehmen zu investieren und so die eigene industrielle Souveränität zu stärken.

Folglich dominiert das Thema strategische Souveränität die EU-Politik Frankreichs. Dies zeigte sich etwa in der franzö­sischen Ratspräsidentschaft 2022, als die EU‑Staaten auf Pariser Initiative hin die Kommission und die Europäische Verteidigungsagentur beauftragten, Initiativen zur Stärkung der europäischen Verteidigungsfähigkeiten zu entwickeln (als Teil der »Ver­sailles-Agenda«). Die daraus hervorgegangenen Instrumente sollen die verteidigungstechnologische und ‑industrielle Basis Europas (EDTIB) fördern, den europäischen Markt defragmentieren, Synergien zwi­schen den EU-Staaten entwickeln und die Produk­tionskapazitäten verbessern.

Aus dieser Perspektive ist Frankreichs Kritik daran nachvollziehbar, dass viele EU-Staaten den seit Russlands Überfall gestiege­nen Bedarf ihrer Streitkräfte mit nichteuropäischen Beschaffungen deckten, anstatt in Europa zu kaufen oder in europäische Pro­jekte zu investieren. Dies betraf etwa die Entscheidung Polens für koreanische Aus­rüstung im Land- und Luftbereich, ebenso Deutschlands Beschaffung amerikanischer und israelischer Luftverteidigungssysteme (Patriot, Arrow 3). Die meisten Mitglied­staaten missbilligten Frankreichs EU-Fokus als dogmatisch und kontraproduktiv. Sie wären bereit gewesen, etwa bei Munitionskäufen das Ziel »europäischer Souveränität« vorübergehend hintanzustellen. Angesichts der dramatischen Lage in der Ukraine ist die französische Position Anfang 2024 flexi­bler geworden. Paris unterstützt nun Initia­tiven, in deren Rahmen die Europäer außer­halb Europas produzierte Munition beschaf­fen wollen, und akzeptiert, dass in der EU gemeinsame Schulden aufgenommen wer­den, um Kyjiw dauerhaft zu unterstützen.

Politische Anpassungen

Frankreich blieb zwar bei den bisherigen Zielen, veränderte jedoch seinen Kurs, um sie unter den neuen Rahmenbedingungen weiterverfolgen zu können. Diese Anpassungen erfolgten weitgehend routiniert, waren aber oft nicht mit den Partnern ab­gestimmt.

Neue Russland-Politik

Traditionell verfolgte Frankreich gegenüber Russland eine kooperativ-pragmatische Politik. Diese war – anders als die deutsche »Modernisierungspartnerschaft« mit Mos­kau – weniger von Reformhoffnungen ge­leitet als von der realpolitischen Überzeugung, dass Europa ein stabiles Verhältnis zu der Atommacht in seiner Nachbarschaft benötige. Doch aus Sicht vieler Partner, wie etwa Polen, verschloss Frankreich zu lange die Augen vor den Entwicklungen in Russ­land. Die Irritation war daher groß, als Macron im August 2019 Präsident Putin in seiner südfranzösischen Sommerresidenz empfing, eine Wiederaufnahme des bilate­ralen Dialogs ankündigte und vom Neubau einer »Sicherheits- und Vertrauensarchitektur zwischen der EU und Russland« sprach. Im Juni 2021, als der Kreml bereits Truppen an der Grenze zur Ukraine massierte, rief Paris (zusammen mit Berlin) dazu auf, »Räume für den Dialog mit Moskau« zu schaffen. Nach der Invasion im Februar 2022 schockierte Macron viele Partner, als er Verhandlungen mit Russland forderte, ohne diesen Appell genauer zu er­läutern.

Mittlerweile erkennt Frankreich an, dass seine Russland-Politik gescheitert ist. Als Grundlage des neuen Kurses gilt die Rede, die Macron Ende Mai 2023 in Bratislava hielt. Darin entschuldigte er sich für die früheren Fehleinschätzungen und schloss eine schnelle Rückkehr zur Normalität mit Russland aus. Seit Kriegsbeginn 2022 änder­te sich seine Rhetorik – von »Russland darf nicht gedemütigt werden« (Juni 2022) über »Russland darf nicht siegen« (Februar 2023) bis zu »die Niederlage Russlands ist uner­lässlich« (Februar 2024). Macron entwickelte sich dabei vom Bremser zum Treiber. An­fang 2024 forderte er aus Sorge vor einem russischen Sieg einen »strategischen Ruck« in Europa. Die Unterstützung für die Ukrai­ne müsse verstärkt und Moskau wie Kyjiw gleichermaßen signalisiert werden, dass die­ser Beistand langfristig und verlässlich sei.

Der Wandel in Paris beruht vor allem auf der Erkenntnis, dass Russland systematisch revisionistisch handelt und nicht nur die Souveränität der Ukraine in Frage stellt, sondern auch die europäische Sicherheitsordnung, die nukleare Ordnung und inter­nationale Regeln bedroht. Schließlich hat Moskau trotz mehrmaliger Vorstöße Mac­rons und anderer weder vor der Invasion noch danach Interesse gezeigt, diesen Krieg zu beenden. Russland eskaliert vielmehr, droht nuklear, insistiert auf seinem militä­rischen Sieg und lehnt Kompromisse ab. Aus Macrons Sicht hat sich der Kreml zu einem »methodischen Akteur der Destabilisierung« entwickelt, der europäische Inter­essen bedroht, etwa durch Desinformation und Cyberangriffe. Der Krieg gegen die Ukraine, dessen Ausgang für Europa »exis­tentiell« sei, lasse sich daher nicht kurz­fristig stoppen, sondern müsse gewonnen werden.

Frankreich hat sein Vorgehen deshalb sukzessive verändert. Zunächst suchte es Russland vor allem durch Sanktionen und Energieabkopplung zu schwächen und die Ukraine politisch (auch mittels EU- und Nato-Integration), wirtschaftlich und militä­risch zu unterstützen. Nun geht Paris wei­ter, weil es angesichts der dramatischen Kriegslage den bisherigen Ansatz als nicht mehr ausreichend ansieht. Frankreich will die Unterstützung nicht nur erhöhen, son­dern auch in der Natur verändern. Auf der Pariser Ukraine-Konferenz im Februar 2024 haben sich 27 Staaten geei­nigt, die Ukraine noch weitgehender zu unterstützen. Erstens wollen sie Maßnahmen, die bislang in Nato-Staaten erfolgen, in die Ukraine verlegen, etwa Ausbildung oder Waffenproduktion; zweitens ließen sich Aufgaben wie Minen­räumung übernehmen, damit die ukrainischen Streitkräfte sich auf ihren Kernauftrag konzentrieren könnten. Macron schloss auch die Entsendung westlicher Bodentrup­pen nicht aus. Dabei ginge es zunächst nicht um Kampfeinsätze, selbst wenn diese nicht auszuschließen wären, sondern um Unter­stützungsleistungen. Während einige Län­der, vor allem Deutschland, den Vorschlag möglicher Bodentruppen ablehnten, unter­stützten ihn zahlreiche andere – etwa Polen, die baltischen Staaten, Finnland, Nor­wegen und die Niederlande. Gleichzeitig erinnerte Paris daran, dass Europa langfris­tig mit einem reformierten Russland wieder zu­sammenarbeiten müsse, insbesondere im Bereich nuklearer Rüstungskontrolle.

Zustimmung zur EU‑Erweiterung

Eine weitere Anpassung besteht darin, dass Paris die Erweiterung der EU nicht länger blockiert, sondern nun vorantreibt. Frank­reich war hier traditionell zurückhaltend. Noch 2019 stoppte es die Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien und verlangte, zuerst eine EU-Reform um­zusetzen – aus Sorge, eine erweiterte Union wäre andernfalls handlungsunfähig.

Der Wandel begann 2022. Unter französischer EU-Ratspräsidentschaft erhielten die Ukraine und Moldau damals die Beitrittsperspektive. In seiner Bratislava-Rede for­derte Macron, den EU-Beitritt aller Kandi­daten »so schnell wie möglich« zu vollziehen. Dies schien nun geopolitisch notwen­dig angesichts der russischen Vollinvasion, des damit verbundenen Angriffs auf die europäische Ordnung und weiterer Expan­sions- und Destabilisierungsversuche durch Russland und andere Akteure in Europas Nachbarschaft. Die EU-Erweiterung er­schien Paris als probates Mittel, um den Balkan, die Ukraine, Moldau und Georgien zu stabilisieren und so Europa zu stärken. Die Kandidaten und die EU-Partner begrüß­ten diesen Kurswechsel zunächst mit Arg­wohn. Dabei litt die Glaubwürdigkeit von Frankreichs neuer Position auch unter dessen unilateraler Initiative, eine »Europäische Politische Gemeinschaft« (EPG) außer­halb der EU zu gründen. Viele unterstützten das Format nur wenig, weil sie darin eher einen Abstellraum für die Kandidaten als ein geopolitisches Kooperationsinstrument sahen.

Für den Nato-Beitritt der Ukraine

Neu ist auch Frankreichs Ja zu einem Nato-Beitritt der Ukraine. Noch 2008 blockierten Paris und Berlin eine Aufnahme Kyjiws. Dieser Kurswechsel folgt derselben Logik wie die französische Unterstützung für eine EU-Erweiterung. Eine souveräne und siche­re Ukraine ist aus Pariser Sicht ent­schei­dend für die Sicherheit und Stabilität Euro­pas. Zudem sieht Frankreich die innere Entwicklung der Ukraine zwingend mit ihrer externen Sicherheit verknüpft – ohne äußeren Rahmen drohen Wiederaufbau und Reformprozesse demnach zu schei­tern, wodurch die Ukraine zu einem Faktor der Instabilität würde. Genauso sind EU- und Nato-Beitritt sequentiell verknüpft. Eine EU-Mitgliedschaft würde der Ukraine Schutz über Artikel 42.7 des EU-Vertrags gewähren. Diesen Schutz können die Euro­päer jedoch aktuell nicht garantieren; dazu ist momentan nur die Nato mit amerikanischer Unterstützung in der Lage. Ein EU-Beitritt kann also erst erfolgen, wenn für die Ukraine das Beistandsversprechen der Nato gilt oder die Europäer in der Lage sind, sich ohne Hilfe der USA zu verteidigen.

Paris erkennt an, dass ein ukrainischer Nato-Beitritt mit Kosten und Risiken ver­bunden wäre. Für Frankreich überwiegen jedoch die strategischen Vorteile. Auf dem Nato-Gipfel 2023 hat es daher zusammen mit anderen Alliierten eine Beitrittseinladung an die Ukraine befürwortet und sich so von den USA und Deutschland distanziert. Dieser Ansatz zeigte sich auch in der bilateralen Sicherheitsvereinbarung zwi­schen Paris und Kyjiw, die im Februar 2024 abgeschlossen wurde und für zehn Jahre oder bis zum Nato-Beitritt des Landes gilt.

Unterstützung für die Ukraine

So stark Frankreichs rhetorische Bekenntnisse sind, stehen sie doch in Widerspruch zu seiner im europäischen Vergleich nur geringen Unterstützung für die Ukraine. Dem Kieler Institut für Weltwirtschaft zu­folge liegt Frankreich bei der militärischen, finanziellen und humanitären Hilfe weit hinter den USA, Deutschland und Großbritannien. 2024 wird die militärische Unter­stützung aus Paris 3 Milliarden Euro betra­gen, also weniger als halb so viel wie die von Deutschland mit 7,5 Milliarden Euro. Paris nennt dafür drei Hauptgründe. Ers­tens wird auf Verpflichtungen in anderen Regionen verwiesen, etwa in Afrika und im Indo-Pazifik (wo französische Überseegebiete liegen). Frankreich müsse daher einsatz­fähig bleiben und dürfe keine großen Lücken in seine Ausrüstung reißen. Dies gelte – zweitens – auch mit Blick auf Europas Verteidigung, zumal hier andere Länder bereits Einschnitte in Kauf nähmen. Drittens verfügt Frankreich nur über wenig schwere Waffensysteme in großer Anzahl, weil sein Fokus bisher auf Terrorismus­bekämpfung in der Sahelzone lag. Letztlich entschied die Regierung, keine weiteren Defizite in der eigenen Ausrüstung zu riskie­ren. Dieser Beschluss ist jedoch auch in Paris umstritten. Frankreich betont in­des, dass es hochwertige Systeme an die Ukraine liefert, darunter Marschflugkörper vom Typ SCALP-EG, die Schläge in der Tiefe erlauben. Ferner führt Paris zusammen mit den USA die Fähigkeitskoalition »Artillerie« für die Ukra­ine, mit Deutschland jene zu »Luftverteidigung«. Eine »Koalition für Tief­schlagfähigkeiten« hat Paris angekündigt. Frankreich beteiligt sich zudem an der Aus­bildungsmission EUMAM Ukraine und bil­det auch bilateral aus.

Um die Ukraine dauerhaft zu unterstützen (und den eigenen Verteidigungssektor zu fördern), will Paris die Logik der Mate­rialüberlassung überwinden und die ukrai­nische Armee direkt an die französische Industrie anbinden. So haben im September 2023 französische und ukrainische Rüs­tungsunternehmen 16 Verträge unterzeich­net. Auch die bilaterale Sicherheitsvereinbarung von 2024 umfasst industrielle Zu­sammenarbeit. Dennoch schwächt der geringe Umfang der bisherigen Unterstützung die Glaubwürdigkeit der französischen Rheto­rik.

Nachdenken über Abschreckung

Der Krieg in der Ukraine hat für Paris den Stellenwert der nuklearen Abschreckung bestätigt, zugleich aber auch das Nachdenken über deren Zukunft intensiviert. Frank­reich sieht dabei zwei Herausforderungen. Erstens versucht Russland demnach, die nukleare Ordnung zu verändern. Es droht mit dem Einsatz von Atomwaffen und will so auch die völkerrechtwidrige Annexion ukrainischer Gebiete absichern. Moskau setzt seine Nuklearwaffen also nicht mehr nur zum Erhalt der bestehenden Ordnung ein, sondern will unter ihrem Schutz Gren­zen und die Sicherheitsordnung in Europa verändern. Zweitens besteht aus Pariser Sicht das Risiko, dass die USA lang­fristig die Abschreckung in der Nato nicht mehr auf­rechterhalten, etwa wenn Anfang 2025 ein potentiell weniger an Europa interessierter Präsident ins Weiße Haus einzieht.

Paris überlegt daher umso dringlicher, welche Anpassungen erforderlich sind, um Europas Souveränität zu bewahren, und welche Rolle französische Atomwaffen da­bei spielen können. Deshalb hat Frankreich den Austausch mit Partnern zu nuklearen Themen intensiviert. Dabei geht es sowohl um die notwendige Reaktion der Europäer auf die sich verändernde nukleare Ordnung als auch um den Beitrag der französischen Abschreckung zu Europas Verteidigung. Macron hat mehrmals wiederholt, dass Frankreichs vitale Interessen (die von sei­nen Atomwaffen geschützt werden sollen) eine europäische Dimension hätten, ohne Letztere jedoch zu erläutern. Paris hat auch verdeutlicht, dass es den US-Nuklear­schirm nicht ersetzen wolle, seine Entschei­dungs­gewalt nicht teilen werde und keine Finan­zierung erwarte. Es geht also nicht darum, eine erweiterte Abschreckung nach US-Modell aufzubauen. Das Ziel der von Frank­reich initiierten Gespräche bleibt aber vage.

Militärische Anpassungen

Auch im militärischen Bereich gab es An­passungen. So hat Paris sein Nato-Engage­ment verstärkt und neue Schwerpunkte im Verteidigungshaushalt gesetzt.

Stärkeres Nato-Engagement

Frankreich hat seine Aktivitäten im Bünd­nis bereits seit Annexion der Krim 2014 intensiviert. Seitdem stellt Paris größere Beiträge, etwa im Rahmen der »enhanced Forward Presence« (eFP) im Baltikum. Aus Sicht vieler Alliierter waren diese Bemühungen zunächst wenig glaubwürdig, ver­folgte Paris doch eine pro-russische Politik und warb für Europas Souveränität, die oft als Abkehr von den USA (miss)verstanden wird.

Seit Februar 2022 hat Frankreich seine Beiträge nochmals gesteigert. Unmittelbar nach der russischen Vollinvasion verstärkte es die eigene Präsenz an der Nato-Grenze. Es verlängerte seine Truppenentsendung nach Estland (mit etwa 300 Soldaten), zog die Beteiligung am schon länger geplanten »Baltic Air Policing« vor und führte die schnelle Nato-Eingreiftruppe VJTF Ende Februar 2022 nach Rumänien. Frankreich verlegte dorthin Soldaten und schwere Waf­fensysteme wie Leclerc-Kampfpanzer und das Luftverteidigungssystem Mamba und übernahm die Führung der neuen multinationalen Battlegroup mit nun etwa 1.500 Soldaten. Die Einheit soll ggf. rasch auf Bri­gadestärke aufwachsen können. Die Her­ausforderungen dieses auf Dauer ange­leg­ten Einsatzes sind groß. Die Soldaten be­reiten sich nicht mehr auf Operationen in Gebieten wie dem Sahel vor, sondern auf Einsätze in Osteuropa, was eine andere regionalspezifische Ausbildung und Aus­stattung erfordert. Der starke Aufwuchs der Nato-Beiträge, die nun die umfangreichsten Einsätze Frankreichs bilden, geht einher mit einer drastischen Reduzierung der französischen Präsenz in Afrika. Die Nato wird damit strukturgebend für Politiken, Einsätze und Ausbildung.

Investitionen in die Streitkräfte

Der russische Krieg hat in Frankreich den Trend steigender Verteidigungsausgaben bestätigt. Diese nahmen seit Mitte der 2010er Jahre stetig zu – infolge der dama­ligen Terroranschläge in Frankreich und zur Unterstützung seiner Sahel-Einsätze. Mit dem militärischen Planungsgesetz (LPM) 2019–2025 sollten die Streitkräfte wieder aufgebaut und die Ausgaben in Richtung von 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts konsolidiert werden.

Mit dem neuen LPM, das Paris demons­trativ von 2024 auf 2023 vorgezogen hat, soll vor allem bei Investitionen, Modernisierung und Ausrüstung nachgesteuert wer­den. Das Gesetz sieht für den Zeitraum von 2024 bis 2030 die Summe von 413 Milliar­den Euro vor. Dabei unterscheidet sich das neue LPM vom bisherigen in doppelter Hin­sicht. Erstens steigen die Ausgaben um ca. 40 Prozent. Zweitens verschiebt sich der Fokus hin zu mehr Investitionen in den Bereichen neue Technologien und Innova­tion, Cyber sowie Weltraum. Während der Schwerpunkt bislang auf Auslandseinsätzen und Terrorbekämpfung lag, richtet er sich nun auf den Schutz der Souveränität, insbesondere durch nukleare Abschreckung, Raketenabwehr, Drohnenfähigkeiten und Spezialkräfte. Ferner will Paris die Entschei­dungs- und Produktionsprozesse in der Rüstungsindustrie beschleunigen, um bes­ser reagieren und Lücken schneller füllen zu können. Paris plant auch, die Zahl der Reservisten zu erhöhen – von heute 40.000 auf 80.000 (2030) und 105.000 (2035).

Folgen für die deutsch-französischen Beziehungen

Frankreich hat also bei genereller Zielkontinuität umfassende Kursänderungen veran­lasst, um sich im neuen Kontext zu positio­nieren. Dies geschah bislang weitgehend reibungslos. Allerdings wächst innenpolitisch die Kritik an Macrons zunehmend har­tem Russland-Kurs – von dem er indes kaum abrücken wird.

Verstärkte Spannungen

In den Beziehungen zwischen Paris und Berlin führt es zu neuen Konflikten, dass Frankreichs zügige Anpassung und die deutsche »Zeitenwende« aufeinandertreffen. Nicht nur bestehen zwischen beiden Ländern die altbekannten strukturellen Unterschiede – das politische System und ihre internationalen Ambitionen betreffend, das jeweilige Modell der Rüstungs­industrie und das parlamentarische Mit­spracherecht in Deutschland etwa bei Be­schaffungen. Hinzu kommen neue Koope­rationshindernisse. Internationale und verteidigungspolitische Fragen sind in Paris traditionell eine »domaine réservé« des Präsidenten, doch seit Macrons Amtsantritt 2017 hat sich diese Machtkonzentration weiter verstärkt. So haben Außen- und Verteidigungsminister (aktuell Stéphane Séjourné und Sébastien Lecornu) anders als ihre deutschen Amtskollegen nur wenig politischen Gestaltungsraum. Die zentralen Entscheidungen trifft das Präsidialamt, was die Kooperation auf Ministerebene er­schwert. Aufgrund der Hyperpräsidentialisierung in Paris beeinflusst das Verhältnis zwischen Staatspräsident und Bundeskanzler den bilateralen Austausch besonders stark. Funktioniert dieser Draht nicht gut, können die institutionellen Beziehungen das kaum ausgleichen.

Frankreich erscheint aus Berliner Perspektive oft als schwieriger, koordinationsunwilliger und kaum berechenbarer Akteur. Seine Positionen unterscheiden sich häufig von den deutschen, etwa mit Blick auf den Nato-Beitritt der Ukraine. Französische Initiativen – wie jene für die EPG – irritieren als Alleingänge und wirken dis­ruptiv. Macron hält ein solches Vorgehen für notwendig, um Lösungen zu ermög­lichen, verschreckt damit jedoch Partner. Seine unabgestimmte Aussage von Februar 2024, die Entsendung westlicher Boden­trup­pen in die Ukraine nicht auszuschließen, hat Europa mehr gespalten als geeint. Paris scheint oft an Grundsatzpositionen – wie der strategischen Souveränität – fest­zuhalten und weniger an pragmatischer Problemlösung interessiert zu sein.

Aber auch aus französischer Sicht gestaltet sich die Kooperation schwierig. Paris begrüßte es ausdrücklich, als der Kanzler im Bundestag die Zeitenwende ausrief, zu­mal er in seiner damaligen Rede für Euro­pas strategische Souveränität warb. Bald jedoch gab es Kritik, dass Deutschland die geopolitische Dringlichkeit nicht ausreichend erkannt habe und zu langsam agiere. Für Paris ist die deutsche Zeitenwende bislang vor allem national und transatlantisch, weniger deutsch-französisch und europäisch. Zentrale Entscheidungen traf Berlin in Absprache mit den USA, etwa im Januar 2023 zur Lieferung von Kampfpanzern an die Ukraine, und teils gegen den Rest der Europäer, siehe die zurückhaltende Position von Washington und Berlin zum Nato-Beitritt der Ukraine. Europäische Ini­tiativen fehlen hingegen. Im industriellen Bereich kritisiert Paris den Ansatz der Ber­liner Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR) von 2023, bei der Beschaffung auf schnell verfügbare, oft nichteuropäische Produkte zu setzen, statt in neue europäische und damit in die EDTIB zu investieren. Für Paris ist dies eine kurzsichtige Strate­gie, die Europas langfristige Ziele, die EDTIB zu stärken und eigene Abhängigkeiten zu reduzieren, opfert. Auch die teils heftig ausgetragenen Differenzen innerhalb der Berliner Koalition erschweren aus Pariser Sicht die Zusammenarbeit.

Es liegt jedoch eine gewisse Widersprüchlichkeit darin, dass Paris mehr deut­sches Engagement einfordert, dieses aber zugleich als Konkurrenz wahrnimmt. Den deutschen Anspruch, die stärkste konven­tionelle Armee Europas aufzubauen, ver­steht Paris auch als implizites Infragestellen des eigenen Führungsanspruchs. Mittlerweile sorgt die Berliner Zeitenwende in Paris eher für Skepsis als für Motivation zur Zusammenarbeit. Beide Seiten sehen sich durch den Krieg in der Ukraine in ihren divergierenden Grundannahmen bestätigt. Aus deutscher Sicht hat sich bewahrheitet, dass die USA – mehr noch als die Nato – der zentrale Akteur für Europas und Deutschlands Sicherheit sind und dass die EU nur »komplementäre Beiträge leistet« (VPR). Für Frankreich hingegen zeigte sich umso mehr, dass Europa rasch eigenständiger werden muss. Rhetorisch bekennen sich zwar beide Länder zur Souveränität des Kontinents. Doch während Paris versucht, diesen Anspruch etwa durch Initiativen und Politiken der EU (wie deren Strategie zur Rüstungsindustrie) zu verwirklichen, bleibt Deutschland hier seit 2022 vage (etwa in den VPR). Konzeptionell sieht Berlin sich in der Nato verankert.

Zudem scheint es in Deutschland und Frankreich an gegenseitigem Verständnis, bilateralen Reflexen und Kompromissbe­reitschaft zu mangeln. Konsultationen über den russischen Angriffskrieg führen selten zu gemeinsamem Handeln, wie nationale Entscheidungen über Waffenlieferungen zeigen. Initiativen starten ohne Absprache und irritieren wechselweise die Partner, ob es um die EPG, die European Sky Shield Initiative oder das Thema Bodentruppen geht. In der Praxis scheint die Zusammenarbeit oft auf Symbole reduziert zu sein, wie den Einsatz der deutsch-französischen Brigade an der Ostflanke. An Gesten und Dialogstrukturen mangelt es nicht, wohl aber an einem übergeordneten politischen Projekt und greifbaren Ambitionen. Diese Probleme wirken sich auch auf Europa aus. Denn wenn Paris und Berlin sich nicht einig sind, gelingt wenig Fortschritt auf EU‑Ebene. Vielmehr droht eine politische Fragmentierung, die Europa schwächt.

Neuer Anlauf

Der geplante Staatsbesuch von Macron in Deutschland Ende Mai 2024 könnte eine positive Dynamik schaffen, die dabei hilft, die anstehenden Reformprojekte vor allem in EU und Nato zu gestalten. Dabei sollten Paris und Berlin ihre Partner aus Mittel- und Osteuropa früher und enger einbinden, wie schon beim Außenministertreffen im Februar und auf dem Gipfel im Weimar-Format von Mitte März.

Entscheidend für die Wiederbelebung eines Kooperationsreflexes ist die Bereitschaft, die bilateralen Probleme zu bearbei­ten. Dazu gehört das Verständnis für Ziele, Handlungsmaximen und Verfahren des Partners. Zu oft blickt man in Paris und Ber­lin auf den anderen, ohne seine konzeptio­nellen, verfassungsrechtlichen und indus­triellen Besonderheiten zu berücksichtigen, was zu Missverständnissen und Ärger führt. Ziel sollte sein, die Reproduktion von Ste­reotypen zu verhindern und zu einer reibungsloseren Zusammenarbeit zu fin­den. In Anlehnung an die erfolgreiche deutsch-französische Expertengruppe zur EU-Reform wäre denkbar, ein Team mit der Überarbeitung von Kooperationsstrukturen (wie dem Deutsch-Französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrat) und gemeinsamen Leitmotiven zu beauftragen. Eine insti­tutionelle Verbesserung allein setzt keine positive Dynamik in Gang, kann aber dazu beitragen, die aktuelle – und eine poten­tielle zukünftige – Personalisierung der Beziehungen zu überwinden.

Sicherheitspolitisch sollten sich Paris und Berlin dar­auf konzentrieren, die euro­päische Souve­ränität im Verteidigungs­bereich weiterzuentwickeln. Konkret könn­ten sie Hand­lungsoptionen für den Fall ent­werfen, dass die USA ihre Rolle in Europa reduzieren. Dabei wären drei Ziele zentral: erstens der Aufbau konventioneller Fähig­keiten im europäischen Pfeiler der Nato, orientiert an künftigen Konfliktszenarien; zweitens eine Verständigung über die Zu­kunft der nukle­aren Abschreckung in Euro­pa und Frank­reichs Rolle dabei; drit­tens die Erarbeitung einer Zielvorstellung, wie die europäische Rüstungslandschaft 2030 aus­sehen soll und wie sie erreicht wird.

Sven Arnold ist Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Dr. Claudia Major ist Leiterin der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.

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