Die massiven Mobilitätsbeschränkungen in der Schengen-Zone, die die EU-Staaten infolge der Corona-Pandemie verhängt haben, sollen ab Mitte Juni aufgehoben werden. Wenn in der Zeit danach keine zweite Infektionswelle ausbricht, kann unter deutscher Ratspräsidentschaft der Ausstieg aus allen verbliebenen Binnengrenzkontrollen gelingen. Die Reform der Schengen-Verordnung, die seit der Migrationskrise überfällig ist, kann neu angestoßen werden. Der Zusammenhang zwischen sicheren Außengrenzen und interner Freizügigkeit ist spätestens seit diesem Frühjahr neu zu bewerten. Zudem müssen gesundheitlich begründete Personenkontrollen besser abgestimmt werden. Es dürfte jedoch schwerer werden, für den kommenden EU-Pakt für Migration und Asyl einen Kompromiss zu finden. Der Zugang zu Asylverfahren ist trotz der nationalen Verantwortung für die öffentliche Gesundheit unbedingt zu gewährleisten.
Im Februar 2020, als Italien wegen der Covid-19-Pandemie die ersten innerstaatlichen Mobilitätsbeschränkungen verhängte, verwarf die EU-Kommission noch die Einführung von Kontrollen in der Schengen-Zone. Sie agierte damit im Einklang mit den damals unzureichenden Risikobewertungen des Covid-Ausbruchs in den anderen Mitgliedstaaten. Auch galt seitens der Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Empfehlung, internationale Grenzen trotz einer Pandemiegefahr offen zu halten.
Als sich jedoch im März – befeuert durch Skitourismus in den Alpen – eine schnelle europaweite Verbreitung des Virus abzeichnete und die Überlastung des italienischen Gesundheitssystems dramatische Ausmaße erreichte, verkündeten 15 EU-Staaten sowie die Schengen-Mitglieder Island, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz Grenzschließungen. Diese einseitigen nationalen Abwehrmaßnahmen zogen gravierende wirtschaftliche und soziale Verwerfungen nach sich, vor allem im Bereich der grenzüberschreitenden Versorgung mit medizinischen Gütern und der Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte und Pendler. Es war anfangs nicht klar, wie einschneidend und anhaltend die Einschränkungen der Personenfreizügigkeit und des freien Warenverkehrs sein müssten und ob der Binnenmarkt dieser Belastungsprobe gewachsen wäre.
Einige wirtschaftliche Kosten und zwischenstaatliche Abstimmungsprobleme konnten nach kurzer Zeit gedämpft bzw. entschärft werden. So einigte sich der Europäische Rat Mitte März auf einen allgemeinen Einreisestopp an den europäischen Außengrenzen, um Umgehungsbewegungen innerhalb der Schengen-Zone zu vermeiden. Kurz darauf gelang es auf Vorschlag der Kommission, sogenannte »grüne Spuren« einzurichten, um einen möglichst reibungslosen grenzüberschreitenden Warenverkehr aufrechtzuerhalten. Auch die Mahnung der Kommission an die Mitgliedstaaten, keine innereuropäischen Exportbeschränkungen zu erlassen oder knappe medizinische Güter kompetitiv aufzukaufen, wurde beherzigt.
Ebenso verständigten sich die Mitgliedstaaten darauf, in kritischen Sektoren den grenzüberschreitenden Verkehr von Arbeitskräften zuzulassen sowie allen EU-Bürgern die Heimreise zu erlauben, selbst wenn sie dabei andere Mitgliedstaaten mit geschlossenen Grenzen auf dem Landweg durchqueren müssen. Schließlich wurde Mitte April ein koordiniertes weltweites Rückholprogramm für nahezu 600 000 europäische Staatsbürger abgeschlossen. 10 Prozent der dabei anfallenden Kosten wurden direkt über den EU-Katastrophenschutzmechanismus finanziert.
Insofern greift die vielfach verbreitete Aussage zu kurz, die EU hätte in der ersten Phase der Covid-Krise versagt. Die Regierungen der Mitgliedstaaten wandten sich nicht grundsätzlich vom Recht auf Freizügigkeit ab und bemühten sich im europäischen Dialog um Schadensbegrenzung. Gleichwohl bieten die EU- und Schengen-Mitgliedstaaten nach wie vor ein stark uneinheitliches Bild, was die Zulässigkeit innerstaatlicher wie internationaler Mobilität betrifft. Unter diesen Bedingungen besteht für die Schengen-Zone und den Binnenmarkt die Gefahr, dass sich die Fragmentierung der Personen- und Warenströme verfestigen könnte.
Gründe für die anhaltende Divergenz
Die Differenzen in den noch bestehenden Beschränkungen speisen sich offensichtlich nicht nur aus der unterschiedlichen geographischen Konzentration des Infektionsgeschehens, sondern aus divergenten politischen Einschätzungen zum Umgang mit dem Virus. Es ist nicht abschließend geklärt, ob beispielsweise Schweden mit seiner alternativen Strategie der Offenheit gescheitert ist oder wie konsequent die nationalen »Lockdowns« ausfallen mussten. Die EU verfügt jedenfalls im Bereich der öffentlichen Gesundheit – im Gegensatz zum Agrarsektor – nicht über die rechtliche Kompetenz, verbindliche Anordnungen für eine einheitliche Seuchenkontrolle zu verhängen. Die Vor- und Nachteile einer dezentralen Organisation werden bereits beim Blick auf Deutschland sichtbar. Während einerseits die regional unterschiedlichen Ansätze bei den Kontaktsperren kritisiert werden, zeigt sich andererseits, dass Vielfältigkeit und die Berücksichtigung individueller lokaler Umstände eine große Stärke bei der Eindämmung des Virus sind.
Ebenso wenig kann der Einwand, dass Grenzkontrollen kein effektives Instrument zur Pandemie-Bekämpfung sind, eine gemeinsame politische Linie in der EU begründen. Unter den vorliegenden Voraussetzungen einer direkten Übertragung von Mensch zu Mensch und des Fehlens eines Impfstoffs ist der Öffentlichkeit kaum zu vermitteln, dass massive Restriktionen der lokalen Bewegungsfreiheit erlassen werden, gleichzeitig jedoch die grenzüberschreitende Mobilität kaum angetastet wird. Der Nationalstaat ist immer noch der primäre Bezugsrahmen, an den Bürger ihre Schutzerwartungen richten, in dem sie aber auch aushandeln, welche Gefahren gesamtgesellschaftlich oder durch den Einzelnen zu tragen sind. Ohne die Tatsache einer globalen Risikogesellschaft zu verkennen, die durch die Covid-Pandemie nochmals verdeutlicht wurde, muss das Risikomanagement internationaler Organisationen, einschließlich der EU, primär auf nationalen und lokalen Strukturen aufbauen. Dies gilt etwa bei der Verfolgung von Infektionsketten, die deutlich schlechter in grenzüberschreitenden Zusammenhängen funktioniert.
Selbst wenn das europäische Recht im Regelfall enge Vorgaben für Grenzkontrollen macht, können in dem sensiblen Bereich der öffentlichen Gesundheit derzeit nur EU-weite Empfehlungen gerechtfertigt sein. Die politische Verantwortung und demokratische Legitimierung für Grundrechtseingriffe verbleiben wie auch die Risiken, die mit Lockerungen verbunden sind, auf der nationalen oder regionalen Ebene. Scharfe proeuropäische Appelle helfen angesichts der anhaltend hohen Unsicherheit nicht weiter.
Ein Sommer der Öffnung
Diese Erkenntnis erklärt auch den zurückhaltenden Tenor der Mitteilungen, mit denen die Kommission Mitte Mai Empfehlungen vorlegte, wie die Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten schrittweise geöffnet werden könnten. Entscheidend dafür sollen das regionale Epidemie-Geschehen sein sowie die Kapazitäten des Gesundheitssystems im Hinblick auf die Erkennung von Infektionswegen, die Registrierung von Infektionszahlen (bspw. über Covid-Tests) und die Bewältigung schwerer Krankheitsverläufe (Zahl der verfügbaren Intensivbetten etc.) sein. Die Daten zu diesen Parametern sollen in allen EU-Staaten mit Unterstützung des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) gesammelt und bewertet werden. Diverse Maßnahmen zur Arbeitssicherheit und zur Kontaktminimierung sollen die wachsende Bewegungsfreiheit absichern.
So vernünftig diese Empfehlungen allgemein erscheinen, so fraglich ist ihr europäischer Mehrwert, wenn keine eindeutigeren Messgrößen (ähnlich dem innerdeutschen Kompromiss zur Obergrenze von 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner, ab der erneut Mobilitätsbeschränkungen in Kraft treten) vereinbart werden können. Aus Sorge vor einer zweiten Infektionswelle kann die EU ebenso wenig einen festen Zeitrahmen für Grenzöffnungen vorgeben.
Unter den EU-Mitgliedstaaten zeichnet sich aber die eindeutige Tendenz ab, dem wirtschaftlichen Interesse vieler Regierungen an einer Wiederankurbelung des Tourismus zu entsprechen. Die verbleibenden zwischenstaatlichen Spannungen über den Umgang mit dem Infektionsgeschehen können voraussichtlich in den kommenden Wochen überwunden werden.
Italien hat, getrieben durch Debatten zwischen den Regionen, bereits ab dem 3. Juni seine Grenzen zu anderen EU-Mitgliedstaaten geöffnet. Die Anrainerstaaten schlossen sich diesem Schritt nicht unmittelbar an, auch wenn Deutschland, Österreich und die Schweiz bereits im Mai erste Lockerungen im jeweiligen grenzüberschreitenden Verkehr vereinbart hatten. Auch die skandinavischen Staaten einigten sich auf die Aufhebung ihrer gegenseitigen Grenzkontrollen, schlossen Schweden jedoch davon aus.
Deutschland erklärte jedoch, ab Mitte Juni seine flächendeckende Reisewarnung aufzuheben und aus allen anderen EU- und Schengen-Staaten Einreisen ohne »triftigen« Grund zuzulassen. Fast alle anderen EU- und Schengen-Mitgliedstaaten orientieren sich an dieser Zielmarke. In der Regel hatten sie im März Binnengrenzkontrollen für drei Monate bis Ende Mai angekündigt und diese, wenn überhaupt, seither nur kurzfristig fortgesetzt. Frankreich hatte im März vorsorglich umfassende Covid-bedingte Kontrollen bis Oktober vorgesehen, will sich nun aber den Öffnungen ab Mitte Juni anschließen. Spanien (Anfang Juli) und Norwegen (bis Mitte August) wollen leicht zeitversetzt nachziehen. Vor diesem Hintergrund entschied der Rat der EU-Innenminister am 5. Juni, das allgemeine Einreiseverbot an den EU-Außengrenzen vorläufig nur bis Anfang Juli zu verlängern.
Im Fall einer nachhaltigen Eindämmung der Infektionsraten wird im Hochsommer die Schengen-Zone somit wieder weitestgehend offen sein. Dieser Schritt sollte zugleich mit einer Aufhebung allgemeiner Quarantäne-Bestimmungen nach der Einreise verbunden werden, da ansonsten kein allgemeiner Tourismus möglich ist. Allerdings behalten sich nationale Behörden vor, gesundheitliche Nachkontrollen bei eingereisten Personen durchzuführen.
Die EU-Kommission achtet bei allen nationalen Entscheidungen zur Aufhebung von Mobilitätsbeschränkungen auf das Prinzip der Nicht-Diskriminierung. Eine Vorzugsbehandlung zwischen Staaten, die sich nahestehen, wie sie im Mai unter den baltischen Staaten im Gespräch war, soll vermieden werden. Die Warnung von Vize-Kommissionspräsident Margaritis Schinas vor der Herausbildung neuer »Mini-Schengen« hat sich seither jedoch nicht bewahrheitet.
Unter diesen Gegebenheiten können ab Herbst weitere Reformen des Schengen-Regimes in den Blick rücken. Klingt die Pandemie tatsächlich nachhaltig ab, sollte der nationale Handlungsspielraum wieder zugunsten des gemeinsamen EU-Rechtsrahmens begrenzt werden.
Alte Konflikte der Schengen-Zone
Allerdings stellen politische Vorbehalte gegenüber offenen Grenzen ein ungelöstes Problem dar (vgl. SWP-Aktuell 53/2018). Norwegen, Schweden, Dänemark, Frankreich, Deutschland und Österreich führen seit Ende 2015 Kontrollen an Abschnitten ihrer Binnengrenzen durch. Auf praktischer Ebene sind diese Sicherheitsmaßnahmen immer weniger wahrnehmbar geworden. Deutschland überwacht in der Regel nur zwei Grenzübergänge zu Österreich. Die rechtliche Debatte über diese Maßnahmen indes ist davon unberührt. Die sechs Staaten bestehen in regelmäßigen Stellungnahmen an die EU-Kommission auf der Position, dass Schwächen des EU-Außengrenzschutzes oder terroristische Bedrohungen solche Binnengrenzkontrollen rechtfertigen. Nach aktuellem Stand sollen diese bis mindestens November 2020 fortgesetzt werden.
Die Artikel 25 bis 28 der Schengen-Verordnungen sehen vor, dass die Mitgliedstaaten aufgrund besonderer Sicherheitserfordernisse, wie etwa aktuell in der Covid-Krise, den grenzüberschreitenden Verkehr für bis zu sechs Monate einschränken können. Halbjährliche »Kettenverlängerungen« dieser Maßnahme sind zwar nicht explizit verboten, aber eindeutig nicht vorgesehen. Dies leitet sich aus der erst 2013 eingeführten Bestimmung (Art. 29) ab, dass Binnengrenzkontrollen für bis zu zwei Jahre erlaubt sind, wenn der EU-Ministerrat eine systematische Gefährdung der gesamten Schengen-Zone feststellt. Dieser Mechanismus war Ende 2017 ausgeschöpft. Seither sind die irreguläre Zuwanderung und die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus deutlich rückläufig, so dass das Fristende für Binnengrenzkontrollen auch inhaltlich gerechtfertigt ist.
In der vergangenen Legislaturperiode scheiterte eine Reform der Schengen-Verordnung, mit der eindeutige Zeitobergrenzen definiert und die Kriterien zur Beurteilung der Verhältnismäßigkeit von Binnengrenzkontrollen verschärft werden sollten. Ende 2019 setzte das neue EU-Parlament einen Sonderausschuss zu Schengen ein, um unter anderem diese Fragen auf der Agenda zu halten.
Die Erfahrungen der Covid-Krise könnten die Debatte in eine neue Richtung lenken. Im Fall schwer prognostizierbarer Gesundheitsgefahren erscheint es fragwürdig, feste Fristen für Mobilitätsbeschränkungen vorzugeben. Die nationale Verantwortung für die öffentliche Ordnung, die auch die Abwehr schwerwiegender Gesundheitsgefahren einschließt, kann nicht rein zeitlich eingehegt werden. Das notfallbedingte Abweichen vom regulären Schengen-Regime sollte allerdings so kurz und zielgerichtet wie möglich sein.
Insofern ist es unverhältnismäßig, nationale Ausnahmeregelungen für Binnengrenzkontrollen über mehrere Jahre aufrechtzuerhalten, wenn keine konkrete und außergewöhnliche Gefahrenlage über diesen Zeitraum besteht. Zwar sind die sechs kontrollierenden Staaten mit einer kontinuierlichen sogenannten sekundären Migration von Asylantragstellern aus Erstankunftsländern konfrontiert, was institutionelle und rechtliche Reformen der Schengen-Zone begründen kann. Die derzeit noch stattfindende irreguläre Zuwanderung stellt aber eindeutig keine Gefährdung der öffentlichen Ordnung dieser Länder dar.
Angesichts der harten Zurückdrängung von Personen, die die türkisch-griechische Landgrenze ab Februar irregulär überschreiten wollten, oder der stetig verschärften Einschränkungen der Seenotrettung auf dem Mittelmeer kann die Aufhebung von Binnengrenzkontrollen ebenso wenig plausibel davon abhängig gemacht werden, dass zuerst ein rigoroserer EU-Außengrenzschutz durchgesetzt werden müsse.
Asyl und irreguläre Migration
Die Covid-Krise könnte somit ein Gelegenheitsfenster darstellen und die Chance bieten, die politischen Positionen der Mitgliedstaaten zu Asyl und irregulärer Migration aufzubrechen. Während den EU-Staaten ab 2015 vor allem daran gelegen war, die irreguläre Zuwanderung zu beschränken, rückt nun der Wert offener Grenzen wieder stärker in den Vordergrund. Auch wurde in der Krise der wirtschaftliche Beitrag ausländischer Arbeitskräfte sichtbar, einschließlich der irregulär eingereisten Migranten. Italien etwa verabschiedete ein Dekret, das illegal beschäftigten Drittstaatsangehörigen Wege zu einer Arbeitserlaubnis eröffnet.
Insgesamt betrachtet droht allerdings eine weitere Verschärfung der Lage von Schutzsuchenden. Internationale Organisationen und Nichtregierungsorganisationen mahnen, dass die Covid-Krise nicht dazu führen dürfe, das Recht auf Asyl grundsätzlich zu verweigern. Der Appell richtet sich primär, aber bei weitem nicht ausschließlich an die südeuropäischen Erstankunftsländer. So erklärten Italien und Malta im März, dass ihre Häfen aufgrund der Covid-Pandemie nicht mehr als sicher gelten könnten und somit die Anlandung von Schutzsuchenden nicht angemessen wäre.
Dass man stattdessen Personen, die in den internationalen Gewässern des Mittelmeers gerettet wurden, direkt nach Libyen zurückführt, kann derzeit noch weniger als in den Jahren zuvor gerechtfertigt werden. Milizen sollen erst Ende Mai 30 Insassen eines Lagers mit irregulären Migrantinnen und Migranten erschossen haben. Libyen wird nicht nur von einer seit Monaten eskalierenden militärischen Gewalt beherrscht (vgl. SWP Comment 25/2020), es stehen dort auch so gut wie keine medizinischen Kapazitäten zur Epidemiekontrolle zur Verfügung.
Die EU-Kommission ist selbst an vielen Maßnahmen beteiligt, die die Migrationskontrolle in die europäische Nachbarschaft verlagern. Noch Anfang März lobte Ursula von der Leyen das Vorgehen Griechenlands, seine Landgrenze zur Türkei rigoros abzuschotten. In Anbetracht der weitergehenden Grenzschließungen aufgrund der Covid-Krise hat die Kommission ihre Position inzwischen aber partiell korrigiert. Sie weist nun offensiver auf das in der EU-Grundrechtecharta verankerte Recht auf Asyl hin. Lediglich prozedurale Einschränkungen und Verzögerungen bei der Antragstellung seien vertretbar.
Sollten zentrale Bestimmungen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems auch nach dem Abklingen der ersten Phase der Covid-Krise nicht eingehalten werden, sind neue Vertragsverletzungsverfahren denkbar. Die erfahrungsgemäß dazu erforderlichen Zeitspannen werden den praktischen Herausforderungen allerdings schwerlich gerecht. Erst im April zum Beispiel kam der EuGH zu dem Urteil, dass alle Mitgliedstaaten die einmaligen EU-Beschlüsse aus dem Jahr 2015 zur Verteilung von Schutzsuchenden hätten umsetzen müssen.
Entscheidend bleibt also, wie die Mitgliedstaaten ihre jüngsten Erfahrungen mit einseitigen Sicherheitsmaßnahmen und Grenzschließungen bewerten. Schon die vergangenen Jahre haben die zersetzende Dynamik einer »beggar-thy-neighbour«-Politik gezeigt, also die Folgen der Bemühungen, die Kosten oder vermeintlichen Lasten der irregulären Zuwanderung auf andere Staaten abzuwälzen, ohne insgesamt zur Problembewältigung beizutragen. So kommt es beispielsweise, dass immer wieder über wenige Dutzend oder Hunderte Personen, die von NGOs oder anderen Schiffen auf dem Meer aufgegriffen wurden, lähmende zwischenstaatliche Verhandlungen geführt werden.
Die Covid-Krise hat weltweit zu einer Unterbindung von Wanderungsbewegungen aller Art geführt. Doch schon in wenigen Monaten ist aufgrund vielfältiger sozio-ökonomischer Verwerfungen und möglicher neuer Konfliktdynamiken wieder mit einem deutlichen Anstieg von Vertreibungen und irregulärer Zuwanderung zu rechnen. So war beispielsweise bereits vor dem Covid-Ausbruch die Lage von Geflüchteten in der Türkei (vgl. SWP-Aktuell 22/2020) oder im Libanon sehr prekär. Die innerstaatlichen Krisen dieser Aufnahmeländer haben sich seither massiv verschärft. Der Bedarf an einem gemeinschaftlichen, belastbaren Umgang mit irregulärer Zuwanderung und einer gemeinschaftlichen Gewährleistung von Asyl für Schutzbedürftige ist deshalb so dringend wie je zuvor. Diese Erkenntnis und die in der Covid-Krise zahlreichen Appelle für mehr europäische Solidarität reichen aber voraussichtlich nicht aus.
Die EU-Kommission wollte bereits Anfang April einen neuen Pakt für Asyl und Migration vorstellen, um die jahrelange politische Blockade zu überwinden und zu einem krisenfesteren, belastbareren europäischen System der Lastenteilung zu gelangen. Dazu kam es wegen des Covid-Ausbruchs nicht. Die Präsentation wird nun parallel zu den Aufhebungen der Binnengrenzkontrollen im Juni erwartet.
Ein zentrales Element dieses Paktes soll der Ausbau von Grenzverfahren in »kontrollierten« oder geschlossenen Einrichtungen sein. Dort soll eine zügige Vorprüfung von Asylanträgen stattfinden, um dann entweder unmittelbar Rückführungen oder die Verteilung auf andere EU-Mitgliedstaaten einzuleiten, wo dann ein vollständiges Asylverfahren durchzuführen wäre. Die katastrophalen Bedingungen auf den griechischen Inseln verdeutlichen, dass neue Erstankunftslager mit größter Sorgfalt geplant werden müssen und zudem den Gesundheitsschutz gewährleisten müssen.
Nicht nur aufgrund solcher Anforderungen wird der neue Pakt für Migration und Asyl stark umstritten bleiben. Diejenigen Staaten, die sich bisher grundsätzlich gegen eine verpflichtende Verteilung von Asylsuchenden gestellt haben, müssen kaum mehr Kompromissbereitschaft an den Tag legen. Vielmehr stärkt die aktuelle Krise ihre taktische Verhandlungsposition. Die Drohung, dass Staaten, die sich nicht an der EU-Asylpolitik beteiligen wollen, den vollen Zugang zu den Vorzügen der Schengen-Zone verlieren könnten, hat sich schon in den vergangenen Jahren nicht konkretisiert. Beim Wiederaufbau nach der Covid-Krise kommt den osteuropäischen Staaten eine gewichtige Rolle zu, da sie sowohl allen gesamteuropäischen Finanzpaketen zustimmen müssen als auch mit vergleichsweise geringen wirtschaftlichen Schäden durch die vergangenen Monate gekommen sind. Gerade für Deutschland erscheinen weitere Verwerfungen der grenzüberschreitenden Liefer- und Fertigungsketten nicht verkraftbar. Somit ist kaum vorstellbar, dass die Wiederherstellung der Freizügigkeit und der Offenheit der Schengen-Zone von der Solidarität in Asylfragen abhängig gemacht werden kann.
Auf absehbare Zeit müssen deshalb andere EU-Staaten und das Europäische Parlament eine sehr flexible Beteiligung an der Lastenteilung im Europäischen Asylsystem zulassen. Umso wichtiger ist es, allgemein verbindliche Grundsätze und Standards des Asylrechts zu wahren und krisenbedingte Ausnahmen tatsächlich zu beenden. Dies gilt insbesondere für die Möglichkeit, einen Schutzantrag an den EU-Außengrenzen stellen zu können.
Grenzkontrollen und Gesundheitsschutz
Unabhängig von der politisch vorrangigen Diskussion zur europäischen Asyl- und Migrationspolitik kann ab Herbst ein neues Reformfeld für das Schengen-Regime eröffnet werden. Die Schengen-Verordnung erwähnt in ihrer derzeitigen Fassung Gefahren für die öffentliche Gesundheit nur am Rande. So kann etwa die Einreise von Drittstaatsangehörigen aus Gründen des öffentlichen Gesundheitsschutzes untersagt werden (Art. 6 (1)). Auch können Nicht-EU-Bürger zu diesem Zweck systematischen Kontrollen unterzogen werden (Art. 8 (3)). EU-Bürger und langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige können zudem auf nicht-systematischer Basis an den EU-Außengrenzen überprüft werden, auch unter dem Aspekt des Schutzes der öffentlichen Gesundheit (Art. 8 (2)). Dies darf aber nicht zur Verweigerung der Heimreise führen.
In der Freizügigkeitsrichtlinie (2004/38/EG), die auch für EU-Bürger derjenigen Staaten gilt, die nicht Vollmitglieder der Schengen-Zone sind, finden sich einige ergänzende Angaben (Art. 27 & 29): Gesundheitskontrollen können demnach wegen des begründeten Verdachts einer Gefährdung der öffentlichen Gesundheit bis zu drei Monaten nach der Einreise durchgeführt werden. Flächendeckende Grenzschließungen und polizeiliche Maßnahmen sind von dieser Bestimmung nicht gedeckt. Sie bildet vielmehr die Basis für ein Regime der gezielten Kontaktverfolgung durch Gesundheitsbehörden.
Neuere EU-Akteure wie das ECDC werden in der Freizügigkeitsrichtlinie von 2004 noch nicht erwähnt. Das ECDC verfügt bisher über recht geringe Mittel und hängt in seiner Arbeit davon ab, dass ihm die Mitgliedstaaten Informationen liefern. Die Leistungen des ECDC– die Erstellung einer Übersicht über das europäische Infektionsgeschehen und die Vereinheitlichung der disparaten nationalen Daten – könnten dennoch besser genutzt werden.
Die Primärkompetenz der Mitgliedstaaten würde nicht beschnitten, wenn das Zusammenspiel von innereuropäischen Personenkontrollen und öffentlichem Gesundheitsschutz genauer ausgestaltet würde. Bislang liegen nur unverbindliche und zumeist kritische Einschätzungen des ECDC zu der Frage vor, ob Instrumente wie etwa Gesundheitsfragebögen, Fiebermessungen oder »Immunitätspässe« bei der Einreise in die EU sinnvollerweise zum Einsatz kommen sollten. Nationale Entscheidungen für oder gegen solche Instrumente werden bestimmen, wie Bürger und Drittstaatsangehörige das grenzüberschreitende Reisen in der Schengen-Zone demnächst erleben werden.
Grundsätzlich ist zu klären, ob verlässlich auf eine Covid-Infektion getestet werden kann und welche Kapazitäten den Schengen-Staaten für Gesundheitsüberprüfungen an ihren Außengrenzen zur Verfügung stehen. Intern gibt es zum Beispiel Überlegungen, das System für eine elektronische Einreisegenehmigung (ETIAS) für visabefreite Reisende, dass bereits 2021 für die Schengen-Zone eingeführt werden soll, stärker als ursprünglich geplant für diesen Zweck einzubinden. Entsprechende Prüfungen würden etwa für alle Staatsbürger aus Nord- und Südamerika zum Tragen kommen, wo die Covid-Pandemie derzeit besonders heftig wütet. Letztlich kann es aber bei ETIAS, wenn das System den Betrieb aufnimmt, wie bei klassischen Visavergabeverfahren nur um eine persönliche Selbstauskunft und Eingruppierung der Antragsteller nach Risikoländern gehen.
Auch die EU-Grenzagentur Frontex, bei der ETIAS angesiedelt ist, wird ihre gesamte Arbeit und Risikobewertung stärker an Kriterien der öffentlichen Gesundheit ausrichten müssen. Erst Ende 2019 wurde eine erneute, weitreichende Reform der Agentur beschlossen, deren Umsetzung sehr große Herausforderungen mit sich bringt (vgl. SWP-Aktuell 66/2019). Fragen der öffentlichen Gesundheit sind hierbei noch unterbelichtet. Erste Ansätze zur Integration der Gesundheitsversorgung von Schutzsuchenden in regionale Krisenpläne wurden seit 2017 nicht substantiell weiterentwickelt. Die öffentliche Gesundheit sollte aber spätestens dann zu einem zentralen Faktor werden, wenn Frontex gemäß der neuen Verordnung verstärkt Rückführungen in eigener Verantwortung durchführt. Die voraussichtliche Aufhebung des allgemeinen EU-Einreisestopps bedeutet nicht, dass die gesundheitliche Lage in Drittstaaten zu vernachlässigen wäre.
Von der Aussicht, ob es in den kommenden zwei Jahren einen Impfstoff gibt und dieser global verteilt werden kann, wird es letztlich abhängen, ob der internationale Reiseverkehr wiederaufgenommen werden kann. Auch wenn die WHO Grenzkontrollen zur Pandemie-Bekämpfung kritisch sieht, ist es mittlerweile wahrscheinlich, dass sich technische Maßnahmen wie Fiebermessungen an Flughäfen etablieren werden. Die Vereinigten Staaten planen dafür zum Beispiel aktuell Verfahren mit privaten Betreibern. Die EU hat zu diesem Punkt bisher keine eindeutige Position formuliert. Da die EU nach China als zweite große Plattform für die globale Verbreitung des Covid-Virus diente, könnte über weitere Möglichkeiten von Ausreisekontrollen nachgedacht werden, um Drittstaaten den Weg zu einer Grenzöffnung zu erleichtern.
Ausblick und Empfehlungen
Das voraussichtliche Ende des EU-Einreisestopps wird von umfassenden Lockerungen innerhalb der ganzen Schengen-Zone begleitet werden. Nationale Kompetenzen für die öffentliche Gesundheit und eine nachhaltige Einhegung der Covid-Infektionen haben zwar Vorrang vor der Wiederherstellung der uneingeschränkten EU-Freizügigkeit. Wenn aber ab diesem Sommer nur noch lokale Ausbruchsherde zu bewältigen sind, bietet sich unter deutscher Ratspräsidentschaft ein Gelegenheitsfenster zum Ausstieg aus allen verbliebenen Einschränkungen. Dieser Ausstieg sollte sich explizit auch auf diejenigen Binnengrenzkontrollen erstrecken, die seit der Migrationskrise von 2015 von sechs Staaten, einschließlich Deutschland, aufrechterhalten werden.
Damit würde ein politisches Signal für den Wert und die Krisenfestigkeit der Schengen-Zone gesetzt. Zusätzlich würde dieser Schritt die Konferenz zur Zukunft Europas unterstützen, die nun ab September beginnen soll. EU-Bürger schätzen die Bewegungsfreiheit als besonders wichtige Errungenschaft, gerade jetzt nach den erlebten Einschränkungen.
Die Grundsatzkonflikte in der EU-Migrations- und Asylpolitik, die inhaltlich wie politisch eng mit der Grenzsicherung und Freizügigkeit verknüpft sind, werden sich jedoch in den kommenden Monaten nicht entschärfen. Der zentrale Streitpunkt, wie die Asylantragsteller innerhalb der EU zu verteilen sind, kann wohl nur in freiwilligen Koalitionen umgangen werden. Aufnahmezentren und Vorabprüfungen in Grenznähe werden unter den Anforderungen des Gesundheitsschutzes noch schwieriger zu realisieren sein. Bevor neue Ansätze für ein krisenfesteres europäisches Asylsystem verfolgt werden, müssen unbedingt die verbleibenden Zugangsmöglichkeiten für Schutzsuchende erhalten bleiben. Dies gilt für alle EU- und Schengen-Staaten.
Ab Herbst sollte die Reform des Schengen-Kodex angestoßen werden. Jenseits von festen Zeitvorgaben gilt es, die Koordination zwischen den Schengen-Staaten zu verbessern. Beispielsweise könnte der EU-Mechanismus für das »integrierte politische Krisenmanagement« auf Grundlage der Solidaritätsklausel (Art. 222 AEUV) systematischer genutzt werden. Vor allem sollte die Verhältnismäßigkeit von andauernden Binnengrenzkontrollen akkurater überprüft werden. Der Dialog zwischen der EU-Kommission und den von nationalen Maßnahmen betroffenen Nachbarstaaten könnte strukturierter und stärker verpflichtend werden.
Schließlich müssen sich die Mitgliedstaaten darüber abstimmen, welche Verfahren oder Instrumente für gesundheitsbedingte Personenkontrollen genutzt werden sollen. Das ECDC könnte eine größere Rolle erhalten und in der EU-Freizügigkeitsrichtlinie erwähnt werden. Auch Frontex muss seinen Aufgabenbereich in Richtung des Schutzes der Gesundheit von Geflüchteten und der eigenen Kräfte erweitern.
Die Covid-Krise könnte somit dazu genutzt werden, den gemeinsamen Rechtsrahmen und den europäischen Wert der Freizügigkeit für Unionsbürger zu stärken.
Dr. Raphael Bossong ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe EU / Europa
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ISSN 1611-6364
doi: 10.18449/2020A45