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EU-Grenzsicherung in Zeiten der Pandemie

Die Wiederherstellung des Schengen-Regimes unter den Vorzeichen alter Interessenkonflikte und neuer Anforderungen für den Gesundheitsschutz

SWP-Aktuell 2020/A 45, 10.06.2020, 8 Seiten

doi:10.18449/2020A45

Forschungsgebiete

Die massiven Mobilitätsbeschränkungen in der Schengen-Zone, die die EU-Staaten infolge der Corona-Pandemie verhängt haben, sollen ab Mitte Juni aufgehoben werden. Wenn in der Zeit danach keine zweite Infektionswelle ausbricht, kann unter deutscher Ratspräsidentschaft der Ausstieg aus allen verbliebenen Binnengrenzkontrollen ge­lingen. Die Reform der Schengen-Verordnung, die seit der Migrationskrise überfällig ist, kann neu angestoßen werden. Der Zusammenhang zwischen sicheren Außen­gren­zen und interner Freizügigkeit ist spätestens seit diesem Frühjahr neu zu bewer­ten. Zudem müssen gesundheitlich begründete Personenkontrollen besser abgestimmt werden. Es dürfte jedoch schwerer werden, für den kommenden EU-Pakt für Migra­tion und Asyl einen Kompromiss zu finden. Der Zugang zu Asylverfahren ist trotz der nationalen Verantwortung für die öffentliche Gesundheit unbedingt zu gewährleisten.

Im Februar 2020, als Italien wegen der Covid-19-Pandemie die ersten innerstaat­lichen Mobilitätsbeschränkungen verhäng­te, verwarf die EU-Kommission noch die Einführung von Kontrollen in der Schen­gen-Zone. Sie agierte damit im Einklang mit den damals unzureichenden Risikobewer­tungen des Covid-Ausbruchs in den ande­ren Mitgliedstaaten. Auch galt seitens der Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Empfehlung, internationale Grenzen trotz einer Pandemiegefahr offen zu halten.

Als sich jedoch im März – befeuert durch Skitourismus in den Alpen – eine schnelle europaweite Verbreitung des Virus abzeich­nete und die Überlastung des italienischen Gesundheitssystems dramatische Ausmaße erreichte, verkündeten 15 EU-Staaten sowie die Schengen-Mitglieder Island, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz Grenzschließungen. Diese einseitigen nationalen Abwehrmaßnahmen zogen gravierende wirt­schaftliche und soziale Ver­werfungen nach sich, vor allem im Be­reich der grenz­über­schreitenden Versorgung mit medizinischen Gütern und der Beschäftigung auslän­discher Arbeitskräfte und Pend­ler. Es war anfangs nicht klar, wie einschneidend und anhal­tend die Einschränkungen der Per­sonen­freizügigkeit und des freien Waren­verkehrs sein müssten und ob der Binnenmarkt die­ser Belastungsprobe gewachsen wäre.

Einige wirtschaftliche Kosten und zwischenstaatliche Abstimmungsprobleme konnten nach kurzer Zeit gedämpft bzw. entschärft werden. So einigte sich der Euro­päische Rat Mitte März auf einen allgemeinen Einreisestopp an den europäischen Außengrenzen, um Umgehungsbewegungen innerhalb der Schengen-Zone zu ver­meiden. Kurz darauf gelang es auf Vor­schlag der Kommission, sogenannte »grüne Spuren« einzurichten, um einen möglichst reibungslosen grenzüberschreitenden Warenverkehr aufrechtzuerhalten. Auch die Mahnung der Kommission an die Mit­gliedstaaten, keine innereuropäischen Exportbeschränkungen zu erlassen oder knappe medizinische Güter kompetitiv aufzukaufen, wurde beherzigt.

Ebenso verständigten sich die Mitgliedstaaten darauf, in kritischen Sektoren den grenzüberschreitenden Verkehr von Arbeits­kräften zuzulassen sowie allen EU-Bürgern die Heimreise zu erlauben, selbst wenn sie dabei andere Mitgliedstaaten mit geschlossenen Grenzen auf dem Landweg durchqueren müssen. Schließlich wurde Mitte April ein koordiniertes weltweites Rückholprogramm für nahezu 600 000 europäische Staatsbürger abgeschlossen. 10 Prozent der dabei anfallenden Kosten wurden direkt über den EU-Katastrophenschutzmechanis­mus finanziert.

Insofern greift die vielfach verbreitete Aussage zu kurz, die EU hätte in der ersten Phase der Covid-Krise versagt. Die Regierun­gen der Mitgliedstaaten wandten sich nicht grundsätzlich vom Recht auf Freizügigkeit ab und bemühten sich im europäischen Dialog um Schadensbegrenzung. Gleichwohl bieten die EU- und Schengen-Mitglied­staaten nach wie vor ein stark uneinheit­liches Bild, was die Zulässigkeit innerstaatlicher wie internationaler Mobilität betrifft. Unter diesen Bedingungen besteht für die Schengen-Zone und den Binnenmarkt die Gefahr, dass sich die Fragmentierung der Personen- und Warenströme verfestigen könnte.

Gründe für die anhaltende Divergenz

Die Differenzen in den noch bestehenden Beschränkungen speisen sich offensichtlich nicht nur aus der unterschiedlichen geo­graphischen Konzentration des Infektionsgeschehens, sondern aus divergenten poli­tischen Einschätzungen zum Umgang mit dem Virus. Es ist nicht abschließend geklärt, ob beispielsweise Schweden mit seiner alternativen Strategie der Offenheit geschei­tert ist oder wie konsequent die nationalen »Lockdowns« ausfallen mussten. Die EU ver­fügt jedenfalls im Bereich der öffentlichen Gesundheit – im Gegensatz zum Agrar­sektor – nicht über die rechtliche Kom­petenz, verbindliche Anordnungen für eine ein­heit­liche Seuchenkontrolle zu verhängen. Die Vor- und Nachteile einer dezentralen Orga­nisation werden bereits beim Blick auf Deutschland sichtbar. Während einer­seits die regional unterschiedlichen Ansätze bei den Kontaktsperren kritisiert werden, zeigt sich andererseits, dass Vielfältigkeit und die Berücksichtigung individueller lokaler Umstände eine große Stärke bei der Eindämmung des Virus sind.

Ebenso wenig kann der Einwand, dass Grenzkontrollen kein effektives Instrument zur Pandemie-Bekämpfung sind, eine ge­meinsame politische Linie in der EU begrün­den. Unter den vorliegenden Voraussetzun­gen einer direkten Übertragung von Mensch zu Mensch und des Fehlens eines Impfstoffs ist der Öffentlichkeit kaum zu vermitteln, dass massive Restriktionen der lokalen Bewegungsfreiheit erlassen werden, gleich­zeitig jedoch die grenzüberschreitende Mobi­lität kaum angetastet wird. Der Nationalstaat ist immer noch der primäre Bezugsrahmen, an den Bürger ihre Schutz­erwar­tungen richten, in dem sie aber auch aus­handeln, welche Gefahren gesamtgesell­schaftlich oder durch den Einzelnen zu tra­gen sind. Ohne die Tatsache einer globalen Risikogesellschaft zu verkennen, die durch die Covid-Pandemie nochmals verdeutlicht wurde, muss das Risikomanagement inter­nationaler Organisationen, ein­schließlich der EU, primär auf nationalen und lokalen Strukturen auf­bauen. Dies gilt etwa bei der Verfolgung von Infektionsketten, die deut­lich schlechter in grenzüberschreitenden Zusammenhängen funktioniert.

Selbst wenn das europäische Recht im Regelfall enge Vorgaben für Grenzkontrollen macht, können in dem sensiblen Be­reich der öffentlichen Gesundheit derzeit nur EU-weite Empfehlungen gerechtfertigt sein. Die politische Verantwortung und demokratische Legitimierung für Grundrechtseingriffe verbleiben wie auch die Risi­ken, die mit Lockerungen verbunden sind, auf der nationalen oder regionalen Ebene. Scharfe proeuropäische Appelle helfen an­gesichts der anhaltend hohen Unsicherheit nicht weiter.

Ein Sommer der Öffnung

Diese Erkenntnis erklärt auch den zurückhaltenden Tenor der Mitteilungen, mit denen die Kommission Mitte Mai Empfehlungen vorlegte, wie die Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten schrittweise geöffnet werden könnten. Entscheidend dafür sollen das regionale Epidemie-Geschehen sein so­wie die Kapazitäten des Gesundheits­systems im Hinblick auf die Erkennung von Infek­tionswegen, die Registrierung von Infek­tions­zahlen (bspw. über Covid-Tests) und die Bewäl­tigung schwerer Krankheits­verläufe (Zahl der verfügbaren Intensiv­betten etc.) sein. Die Daten zu diesen Para­metern sollen in allen EU-Staaten mit Unterstützung des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) gesammelt und bewer­tet werden. Diverse Maßnahmen zur Arbeits­sicherheit und zur Kontaktminimierung sollen die wachsende Bewegungsfreiheit absichern.

So vernünftig diese Empfehlungen all­gemein erscheinen, so fraglich ist ihr euro­päischer Mehrwert, wenn keine eindeutigeren Messgrößen (ähnlich dem innerdeutschen Kompromiss zur Obergrenze von 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner, ab der erneut Mobilitätsbeschränkungen in Kraft treten) vereinbart werden können. Aus Sorge vor einer zweiten Infektionswelle kann die EU ebenso wenig einen festen Zeitrahmen für Grenzöffnungen vorgeben.

Unter den EU-Mitgliedstaaten zeichnet sich aber die eindeutige Tendenz ab, dem wirt­schaftlichen Interesse vieler Regierungen an einer Wiederankurbelung des Touris­mus zu entsprechen. Die verbleibenden zwischenstaatlichen Spannungen über den Umgang mit dem Infektionsgeschehen können vor­aussichtlich in den kommenden Wochen überwunden werden.

Italien hat, getrieben durch Debatten zwischen den Regionen, bereits ab dem 3. Juni seine Grenzen zu anderen EU-Mit­gliedstaaten geöffnet. Die Anrainerstaaten schlossen sich diesem Schritt nicht unmit­tel­bar an, auch wenn Deutschland, Österreich und die Schweiz bereits im Mai erste Locke­rungen im jeweiligen grenzüberschreitenden Verkehr vereinbart hatten. Auch die skandinavischen Staaten einigten sich auf die Aufhebung ihrer gegenseitigen Grenz­kontrollen, schlossen Schweden jedoch davon aus.

Deutschland erklärte jedoch, ab Mitte Juni seine flächendeckende Reisewarnung aufzuheben und aus allen anderen EU- und Schengen-Staaten Einreisen ohne »triftigen« Grund zuzulassen. Fast alle anderen EU- und Schengen-Mitgliedstaaten orientieren sich an dieser Zielmarke. In der Regel hatten sie im März Binnengrenzkontrollen für drei Monate bis Ende Mai angekündigt und diese, wenn überhaupt, seither nur kurzfristig fortgesetzt. Frank­reich hatte im März vorsorglich umfassende Covid-beding­te Kontrollen bis Oktober vorgesehen, will sich nun aber den Öffnungen ab Mitte Juni anschließen. Spanien (Anfang Juli) und Norwegen (bis Mitte August) wollen leicht zeitversetzt nachziehen. Vor diesem Hinter­grund entschied der Rat der EU-Innenminis­ter am 5. Juni, das allgemeine Einreise­verbot an den EU-Außengrenzen vorläufig nur bis Anfang Juli zu verlängern.

Im Fall einer nachhaltigen Eindämmung der Infektionsraten wird im Hochsommer die Schengen-Zone somit wieder weitest­gehend offen sein. Dieser Schritt sollte zu­gleich mit einer Aufhebung allgemeiner Quarantäne-Bestimmungen nach der Ein­reise verbunden werden, da ansonsten kein allgemeiner Tourismus möglich ist. Aller­dings behalten sich nationale Behörden vor, gesundheitliche Nachkontrollen bei ein­gereisten Personen durchzuführen.

Die EU-Kommission achtet bei allen nationalen Entscheidungen zur Aufhebung von Mobilitätsbeschränkungen auf das Prin­zip der Nicht-Diskriminierung. Eine Vor­zugs­behandlung zwischen Staaten, die sich nahestehen, wie sie im Mai unter den balti­schen Staaten im Gespräch war, soll vermie­den werden. Die Warnung von Vize-Kom­mis­sionspräsident Margaritis Schinas vor der Herausbildung neuer »Mini-Schen­gen« hat sich seither jedoch nicht bewahrheitet.

Unter diesen Gegebenheiten können ab Herbst weitere Reformen des Schengen-Regimes in den Blick rücken. Klingt die Pan­demie tatsächlich nachhaltig ab, sollte der nationale Handlungsspielraum wieder zugunsten des gemeinsamen EU-Rechts­rahmens begrenzt werden.

Alte Konflikte der Schengen-Zone

Allerdings stellen politische Vorbehalte gegenüber offenen Grenzen ein ungelöstes Problem dar (vgl. SWP-Aktuell 53/2018). Norwegen, Schweden, Dänemark, Frankreich, Deutschland und Österreich führen seit Ende 2015 Kontrollen an Abschnitten ihrer Binnengrenzen durch. Auf praktischer Ebene sind diese Sicherheitsmaßnahmen immer weniger wahrnehmbar geworden. Deutschland überwacht in der Regel nur zwei Grenzübergänge zu Österreich. Die rechtliche Debatte über diese Maßnahmen indes ist davon unberührt. Die sechs Staaten bestehen in regelmäßigen Stellung­nahmen an die EU-Kommission auf der Position, dass Schwächen des EU-Außen­grenzschutzes oder terroristische Bedrohungen solche Binnengrenzkontrollen rechtfertigen. Nach aktuellem Stand sollen diese bis mindestens November 2020 fort­gesetzt werden.

Die Artikel 25 bis 28 der Schengen-Ver­ord­nungen sehen vor, dass die Mitgliedstaaten aufgrund besonderer Sicherheitserfordernisse, wie etwa aktuell in der Covid-Krise, den grenzüberschreitenden Ver­kehr für bis zu sechs Monate einschränken kön­nen. Halbjährliche »Kettenverlängerungen« dieser Maßnahme sind zwar nicht ex­plizit verboten, aber eindeutig nicht vor­gesehen. Dies leitet sich aus der erst 2013 eingeführten Bestimmung (Art. 29) ab, dass Binnengrenzkontrollen für bis zu zwei Jahre er­laubt sind, wenn der EU-Ministerrat eine systematische Gefährdung der gesam­ten Schengen-Zone feststellt. Dieser Mecha­nis­mus war Ende 2017 ausgeschöpft. Seither sind die irreguläre Zuwanderung und die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus deutlich rückläufig, so dass das Fristende für Binnengrenzkontrollen auch inhaltlich gerechtfertigt ist.

In der vergangenen Legislaturperiode scheiterte eine Reform der Schengen-Ver­ordnung, mit der eindeutige Zeitobergrenzen definiert und die Kriterien zur Beurtei­lung der Verhältnismäßigkeit von Binnengrenzkontrollen verschärft werden sollten. Ende 2019 setzte das neue EU-Parlament einen Sonderausschuss zu Schengen ein, um unter ande­rem diese Fragen auf der Agenda zu halten.

Die Erfahrungen der Covid-Krise könnten die Debatte in eine neue Richtung lenken. Im Fall schwer prognostizierbarer Gesundheitsgefahren erscheint es fragwürdig, feste Fristen für Mobilitäts­beschränkungen vor­zugeben. Die nationale Verantwortung für die öffentliche Ordnung, die auch die Ab­wehr schwerwiegender Gesundheitsgefahren einschließt, kann nicht rein zeitlich eingehegt werden. Das notfallbedingte Ab­weichen vom regulären Schengen-Regime sollte allerdings so kurz und zielgerichtet wie möglich sein.

Insofern ist es unverhältnismäßig, natio­nale Ausnahmeregelungen für Binnengrenz­kontrollen über mehrere Jahre aufrecht­zuerhalten, wenn keine konkrete und außergewöhnliche Gefahrenlage über die­sen Zeitraum besteht. Zwar sind die sechs kontrollierenden Staaten mit einer kontinu­ierlichen sogenannten sekundären Migra­tion von Asylantragstellern aus Erst­ankunfts­ländern konfrontiert, was institutionelle und rechtliche Reformen der Schengen-Zone begründen kann. Die derzeit noch stattfindende irreguläre Zuwanderung stellt aber eindeutig keine Gefährdung der öffent­lichen Ordnung dieser Länder dar.

Angesichts der harten Zurückdrängung von Personen, die die türkisch-griechische Landgrenze ab Februar irregulär überschrei­ten wollten, oder der stetig verschärften Einschränkungen der Seenotrettung auf dem Mittelmeer kann die Aufhebung von Binnengrenzkontrollen ebenso wenig plausibel davon abhängig gemacht werden, dass zuerst ein rigoroserer EU-Außen­grenz­schutz durchgesetzt werden müsse.

Asyl und irreguläre Migration

Die Covid-Krise könnte somit ein Gelegenheitsfenster darstellen und die Chance bie­ten, die politischen Positionen der Mitgliedstaaten zu Asyl und irregulärer Migration aufzubrechen. Während den EU-Staaten ab 2015 vor allem daran gelegen war, die irreguläre Zuwanderung zu beschränken, rückt nun der Wert offener Grenzen wieder stärker in den Vordergrund. Auch wurde in der Krise der wirtschaftliche Beitrag aus­län­discher Arbeitskräfte sichtbar, einschließlich der irregulär eingereisten Migranten. Italien etwa verabschiedete ein Dekret, das illegal beschäftigten Drittstaatsangehörigen Wege zu einer Arbeitserlaubnis eröffnet.

Insgesamt betrachtet droht allerdings eine weitere Verschärfung der Lage von Schutzsuchenden. Internationale Organisationen und Nichtregierungsorganisationen mahnen, dass die Covid-Krise nicht dazu führen dürfe, das Recht auf Asyl grundsätzlich zu verweigern. Der Appell richtet sich primär, aber bei weitem nicht ausschließlich an die südeuropäischen Erstankunftsländer. So erklärten Italien und Malta im März, dass ihre Häfen aufgrund der Covid-Pandemie nicht mehr als sicher gelten könnten und somit die Anlandung von Schutzsuchenden nicht angemessen wäre.

Dass man stattdessen Personen, die in den internationalen Gewässern des Mittelmeers gerettet wurden, direkt nach Libyen zurück­führt, kann derzeit noch weniger als in den Jahren zuvor gerechtfertigt werden. Milizen sollen erst Ende Mai 30 Insassen eines Lagers mit irregulären Migrantinnen und Migranten erschossen haben. Libyen wird nicht nur von einer seit Monaten eska­lieren­den militärischen Gewalt beherrscht (vgl. SWP Comment 25/2020), es stehen dort auch so gut wie keine medizinischen Kapazitäten zur Epidemiekontrolle zur Verfügung.

Die EU-Kommission ist selbst an vielen Maßnahmen beteiligt, die die Migrationskontrolle in die europäische Nachbarschaft verlagern. Noch Anfang März lobte Ursula von der Leyen das Vorgehen Griechenlands, seine Landgrenze zur Türkei rigoros ab­zuschot­ten. In Anbetracht der weitergehenden Grenzschließungen aufgrund der Covid-Krise hat die Kommission ihre Position in­zwischen aber partiell korrigiert. Sie weist nun offensiver auf das in der EU-Grund­rechtecharta verankerte Recht auf Asyl hin. Lediglich prozedurale Einschränkungen und Verzögerungen bei der Antragstellung seien vertretbar.

Sollten zentrale Bestimmungen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems auch nach dem Abklingen der ersten Phase der Covid-Krise nicht eingehalten werden, sind neue Vertragsverletzungsverfahren denkbar. Die erfahrungsgemäß dazu erfor­derlichen Zeitspannen werden den prak­tischen Herausforderungen allerdings schwer­lich gerecht. Erst im April zum Beispiel kam der EuGH zu dem Urteil, dass alle Mitgliedstaaten die einmaligen EU-Be­schlüsse aus dem Jahr 2015 zur Verteilung von Schutzsuchenden hätten umsetzen müssen.

Entscheidend bleibt also, wie die Mitglied­staaten ihre jüngsten Erfahrungen mit ein­seitigen Sicherheitsmaßnahmen und Grenz­schließungen bewerten. Schon die vergan­ge­nen Jahre haben die zersetzende Dyna­mik einer »beggar-thy-neighbour«-Politik ge­zeigt, also die Folgen der Bemühun­gen, die Kosten oder vermeintlichen Lasten der ir­regulären Zuwanderung auf andere Staa­ten abzuwälzen, ohne insgesamt zur Pro­blem­bewältigung beizutragen. So kommt es bei­spielsweise, dass immer wieder über wenige Dutzend oder Hunderte Personen, die von NGOs oder anderen Schiffen auf dem Meer aufgegriffen wurden, lähmende zwischenstaatliche Verhandlungen geführt werden.

Die Covid-Krise hat weltweit zu einer Unterbindung von Wanderungsbewegungen aller Art geführt. Doch schon in weni­gen Monaten ist aufgrund vielfältiger sozio-ökonomischer Verwerfungen und möglicher neuer Konfliktdynamiken wieder mit einem deutlichen Anstieg von Vertreibungen und irregulärer Zuwanderung zu rechnen. So war beispielsweise bereits vor dem Covid-Ausbruch die Lage von Geflüchteten in der Türkei (vgl. SWP-Aktuell 22/2020) oder im Libanon sehr prekär. Die innerstaatlichen Krisen dieser Aufnahmeländer haben sich seither massiv verschärft. Der Bedarf an einem gemeinschaftlichen, belastbaren Umgang mit irregulärer Zuwanderung und einer gemeinschaftlichen Gewährleistung von Asyl für Schutzbedürftige ist deshalb so dringend wie je zuvor. Diese Erkenntnis und die in der Covid-Krise zahlreichen Appelle für mehr europäische Solidarität reichen aber voraussichtlich nicht aus.

Die EU-Kommission wollte bereits Anfang April einen neuen Pakt für Asyl und Migration vorstellen, um die jahrelange politische Blockade zu überwinden und zu einem krisenfesteren, belastbareren euro­päischen System der Lastenteilung zu ge­langen. Dazu kam es wegen des Covid-Aus­bruchs nicht. Die Präsentation wird nun parallel zu den Aufhebungen der Binnengrenzkontrollen im Juni erwartet.

Ein zentrales Element dieses Paktes soll der Ausbau von Grenzverfahren in »kontrol­lierten« oder geschlossenen Einrichtungen sein. Dort soll eine zügige Vorprüfung von Asylanträgen stattfinden, um dann entweder unmittelbar Rückführungen oder die Ver­teilung auf andere EU-Mitgliedstaaten ein­zuleiten, wo dann ein vollständiges Asyl­verfahren durchzuführen wäre. Die kata­strophalen Bedingungen auf den griechi­schen Inseln verdeutlichen, dass neue Erst­ankunftslager mit größter Sorgfalt geplant werden müssen und zudem den Gesundheitsschutz gewährleisten müssen.

Nicht nur aufgrund solcher Anforderungen wird der neue Pakt für Migration und Asyl stark umstritten bleiben. Diejenigen Staaten, die sich bisher grundsätzlich gegen eine verpflichtende Verteilung von Asyl­suchenden gestellt haben, müssen kaum mehr Kompromissbereitschaft an den Tag legen. Vielmehr stärkt die aktuelle Krise ihre taktische Verhandlungsposition. Die Drohung, dass Staaten, die sich nicht an der EU-Asylpolitik beteiligen wollen, den vollen Zugang zu den Vorzügen der Schengen-Zone verlieren könnten, hat sich schon in den vergangenen Jahren nicht konkretisiert. Beim Wiederaufbau nach der Covid-Krise kommt den osteuropäischen Staaten eine gewichtige Rolle zu, da sie sowohl allen gesamteuropäischen Finanzpaketen zustim­men müssen als auch mit vergleichsweise geringen wirtschaftlichen Schäden durch die vergangenen Monate gekommen sind. Gerade für Deutschland erscheinen weitere Verwerfungen der grenzüberschreitenden Liefer- und Fertigungsketten nicht verkraftbar. Somit ist kaum vorstellbar, dass die Wiederherstellung der Freizügigkeit und der Offenheit der Schen­gen-Zone von der Solidarität in Asylfragen abhängig gemacht werden kann.

Auf absehbare Zeit müssen deshalb ande­re EU-Staaten und das Europäische Parla­ment eine sehr flexible Beteiligung an der Lastenteilung im Europäischen Asylsystem zulassen. Umso wichtiger ist es, allgemein verbindliche Grundsätze und Standards des Asylrechts zu wahren und krisenbedingte Ausnahmen tatsächlich zu beenden. Dies gilt insbesondere für die Möglichkeit, einen Schutzantrag an den EU-Außengrenzen stel­len zu können.

Grenzkontrollen und Gesundheitsschutz

Unabhängig von der politisch vorrangigen Diskussion zur europäischen Asyl- und Migrationspolitik kann ab Herbst ein neues Reformfeld für das Schengen-Regime eröff­net werden. Die Schengen-Verordnung er­wähnt in ihrer derzeitigen Fassung Gefah­ren für die öffentliche Gesundheit nur am Rande. So kann etwa die Einreise von Dritt­staatsangehörigen aus Gründen des öffent­lichen Gesundheitsschutzes untersagt wer­den (Art. 6 (1)). Auch können Nicht-EU-Bür­ger zu diesem Zweck systematischen Kon­trollen unterzogen werden (Art. 8 (3)). EU-Bürger und langfristig aufenthalts­berechtig­te Drittstaatsangehörige können zudem auf nicht-systematischer Basis an den EU-Außen­grenzen überprüft werden, auch unter dem Aspekt des Schutzes der öffentlichen Gesundheit (Art. 8 (2)). Dies darf aber nicht zur Verweigerung der Heim­reise führen.

In der Freizügigkeitsrichtlinie (2004/38/EG), die auch für EU-Bürger der­jenigen Staaten gilt, die nicht Vollmitglie­der der Schengen-Zone sind, finden sich einige ergänzende Angaben (Art. 27 & 29): Gesundheitskontrollen können dem­nach wegen des begründeten Verdachts einer Gefährdung der öffentlichen Gesundheit bis zu drei Monaten nach der Einreise durch­geführt werden. Flächendeckende Grenzschließun­gen und polizeiliche Maßnahmen sind von dieser Bestimmung nicht gedeckt. Sie bildet vielmehr die Basis für ein Regime der gezielten Kontaktverfolgung durch Gesund­heitsbehörden.

Neuere EU-Akteure wie das ECDC werden in der Freizügigkeitsrichtlinie von 2004 noch nicht erwähnt. Das ECDC verfügt bisher über recht geringe Mittel und hängt in seiner Arbeit davon ab, dass ihm die Mit­gliedstaaten Informationen liefern. Die Leistungen des ECDC– die Erstellung einer Übersicht über das europäische Infektionsgeschehen und die Vereinheitlichung der disparaten nationalen Daten – könnten dennoch besser genutzt werden.

Die Pri­mär­kompetenz der Mitglied­staaten würde nicht beschnitten, wenn das Zusammenspiel von innereuropäischen Personen­kontrollen und öffentlichem Gesundheitsschutz genauer ausgestaltet würde. Bislang liegen nur unverbindliche und zumeist kritische Einschätzungen des ECDC zu der Frage vor, ob Instrumente wie etwa Gesund­heitsfragebögen, Fieber­messungen oder »Immunitätspässe« bei der Einreise in die EU sinnvollerweise zum Ein­satz kommen sollten. Nationale Entscheidungen für oder gegen solche Instrumente werden bestimmen, wie Bürger und Dritt­staatsangehörige das grenzüberschreitende Reisen in der Schengen-Zone demnächst erleben werden.

Grundsätzlich ist zu klären, ob verlässlich auf eine Covid-Infektion getestet wer­den kann und welche Kapazitäten den Schengen-Staaten für Gesundheitsüberprüfungen an ihren Außengrenzen zur Ver­fügung stehen. Intern gibt es zum Beispiel Überlegungen, das System für eine elek­tronische Einreisegenehmigung (ETIAS) für visa­befreite Reisende, dass bereits 2021 für die Schen­gen-Zone eingeführt werden soll, stärker als ursprünglich geplant für diesen Zweck ein­zubinden. Entsprechende Prü­fungen würden etwa für alle Staatsbürger aus Nord- und Südamerika zum Tragen kommen, wo die Covid-Pandemie derzeit besonders heftig wütet. Letztlich kann es aber bei ETIAS, wenn das System den Be­trieb aufnimmt, wie bei klassischen Visa­vergabeverfahren nur um eine persönliche Selbstauskunft und Eingruppierung der Antragsteller nach Risikoländern gehen.

Auch die EU-Grenzagentur Frontex, bei der ETIAS angesiedelt ist, wird ihre gesamte Arbeit und Risikobewertung stärker an Kri­terien der öffentlichen Gesundheit ausrich­ten müssen. Erst Ende 2019 wurde eine erneute, weitreichende Reform der Agentur beschlossen, deren Umsetzung sehr große Herausforderungen mit sich bringt (vgl. SWP-Aktuell 66/2019). Fragen der öffent­lichen Gesundheit sind hierbei noch unter­belichtet. Erste Ansätze zur Integration der Gesundheitsversorgung von Schutzsuchenden in regio­nale Krisenpläne wurden seit 2017 nicht substantiell weiterentwickelt. Die öffentliche Gesundheit sollte aber spä­testens dann zu einem zentralen Faktor werden, wenn Frontex gemäß der neuen Verordnung verstärkt Rückführungen in eigener Verantwortung durchführt. Die voraussichtliche Aufhebung des allgemeinen EU-Einreisestopps bedeutet nicht, dass die gesundheitliche Lage in Drittstaaten zu vernachlässigen wäre.

Von der Aussicht, ob es in den kommenden zwei Jahren einen Impfstoff gibt und dieser global verteilt werden kann, wird es letztlich abhängen, ob der internationale Reiseverkehr wiederaufgenommen werden kann. Auch wenn die WHO Grenzkontrollen zur Pandemie-Bekämpfung kritisch sieht, ist es mittlerweile wahrscheinlich, dass sich technische Maßnahmen wie Fieber­messungen an Flughäfen etablieren wer­den. Die Vereinigten Staaten planen dafür zum Beispiel aktuell Verfahren mit pri­vaten Betreibern. Die EU hat zu diesem Punkt bisher keine eindeutige Position formuliert. Da die EU nach China als zweite große Plattform für die globale Verbreitung des Covid-Virus diente, könnte über weitere Möglichkeiten von Ausreisekontrollen nach­gedacht werden, um Drittstaaten den Weg zu einer Grenzöffnung zu erleichtern.

Ausblick und Empfehlungen

Das voraussichtliche Ende des EU-Einreise­stopps wird von umfassenden Lockerungen innerhalb der ganzen Schengen-Zone beglei­tet werden. Nationale Kompetenzen für die öffentliche Gesundheit und eine nachhal­tige Einhegung der Covid-Infektionen haben zwar Vorrang vor der Wiederherstellung der uneingeschränkten EU-Freizügigkeit. Wenn aber ab diesem Sommer nur noch lokale Ausbruchsherde zu bewältigen sind, bietet sich unter deutscher Ratspräsidentschaft ein Gelegenheitsfenster zum Ausstieg aus allen verbliebenen Einschränkungen. Dieser Ausstieg sollte sich explizit auch auf diejenigen Binnengrenzkontrollen er­strecken, die seit der Migrationskrise von 2015 von sechs Staaten, einschließlich Deutschland, aufrechterhalten werden.

Damit würde ein politisches Signal für den Wert und die Krisenfestigkeit der Schengen-Zone gesetzt. Zusätzlich würde dieser Schritt die Konferenz zur Zukunft Europas unterstützen, die nun ab September beginnen soll. EU-Bürger schätzen die Bewegungsfreiheit als besonders wichtige Errungenschaft, gerade jetzt nach den er­lebten Einschränkungen.

Die Grundsatzkonflikte in der EU-Migrations- und Asylpolitik, die inhaltlich wie politisch eng mit der Grenzsicherung und Freizügigkeit verknüpft sind, werden sich jedoch in den kommenden Monaten nicht entschärfen. Der zentrale Streitpunkt, wie die Asylantragsteller innerhalb der EU zu verteilen sind, kann wohl nur in freiwil­ligen Koalitionen umgangen werden. Auf­nahmezentren und Vorabprüfungen in Grenznähe werden unter den Anforderungen des Gesundheitsschutzes noch schwie­riger zu realisieren sein. Bevor neue An­sätze für ein krisenfesteres europäisches Asyl­system verfolgt werden, müssen unbedingt die verbleibenden Zugangsmöglichkeiten für Schutzsuchende erhalten bleiben. Dies gilt für alle EU- und Schengen-Staaten.

Ab Herbst sollte die Reform des Schengen-Kodex angestoßen werden. Jenseits von festen Zeitvorgaben gilt es, die Koordination zwischen den Schengen-Staaten zu verbes­sern. Beispielsweise könnte der EU-Mecha­nismus für das »integrierte politische Krisen­management« auf Grund­lage der Solidaritätsklausel (Art. 222 AEUV) systematischer genutzt werden. Vor allem sollte die Ver­hältnismäßigkeit von andauernden Binnen­grenzkontrollen akkurater überprüft wer­den. Der Dialog zwischen der EU-Kommis­sion und den von nationalen Maßnahmen be­trof­fenen Nachbarstaaten könnte struk­turierter und stärker verpflichtend werden.

Schließlich müssen sich die Mitgliedstaaten darüber abstimmen, welche Verfahren oder Instrumente für gesundheitsbedingte Personenkontrollen genutzt werden sollen. Das ECDC könnte eine größere Rolle erhal­ten und in der EU-Freizügigkeitsrichtlinie erwähnt werden. Auch Frontex muss seinen Aufgabenbereich in Richtung des Schutzes der Gesundheit von Geflüchteten und der eigenen Kräfte erweitern.

Die Covid-Krise könnte somit dazu ge­nutzt werden, den gemeinsamen Rechtsrahmen und den europäischen Wert der Freizügigkeit für Unionsbürger zu stärken.

Dr. Raphael Bossong ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe EU / Europa

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020

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ISSN 1611-6364