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EU-Erweiterung: Geopolitik trifft auf Integrationspolitik

Die Kommission will der Erweiterungsdoktrin gradualistische Elemente beimischen

SWP-Aktuell 2023/A 63, 12.12.2023, 8 Seiten

doi:10.18449/2023A63v02

Forschungsgebiete

Sollte der Europäische Rat im Dezember oder später grünes Licht dafür geben, EU-Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und Moldau zu eröffnen, dann geht es nicht mehr nur um symbolische Solidarität mit einem von Russland überfallenen bzw. be­drohten Nachbarn. Vielmehr beginnt im Schatten des Krieges ein neues Kapitel der Erweiterungspolitik. Nach der Türkei und den sechs Ländern des Westlichen Balkans bildet Osteuropa mit der Ukraine, Moldau und Georgien den dritten Erweiterungsraum. Spätestens seit Russlands Vollinvasion in der Ukraine versteht Brüssel unter Erweiterung die Expansion in strategisch wichtige Räume. Geopolitische Forderungen nach schnellen Beitritten nagen dabei an der konservativen Erweiterungsdoktrin – nach der es weder Rabatte auf die Kopenhagener Kriterien für eine EU-Mitgliedschaft geben darf noch Abkürzungen auf dem Weg zur Aufnahme. Hinzu kommt, dass die Beitrittsfragen bald in die Fährnisse der Kriegsdiplomatie geraten könnten, wenn es um dauerhafte Sicherheit für die Nachkriegs-Ukraine gehen wird. Die Europäische Kommission greift nun Ideen auf, wie neue Mitglieder schrittweise integriert werden könnten. Damit versucht sie, dem Dilemma zwischen Geo- und Integrationspolitik auszuweichen.

Im November 2023 hat die Kommission ein von ihr als historisch bezeichnetes Erwei­terungspaket vorgelegt, das zehn Berichte über Stand und Fortschritte der Beitritts­aspiranten auf ihrem Weg in die EU um­fasst. Zeitgleich veröffentlichte sie den Wachstumsplan für den Westlichen Bal­kan. Kom­mission und Rat sehen in der Erweiterung einen Eckstein der neuen Block­bildung, die zu einem Europa ohne Grau­zonen führt. Diese Logik diktiert der EU – auch als Sig­nal an Russland – ein hohes Tempo. Doch Geschwindigkeit und Tiefe der Reformen in den Beitrittsländern halten damit nicht Schritt, was grosso modo für alle zehn Be­werber gilt.

Bei ihren Empfehlungen musste die Kommission verschiedene Gesichtspunkte berücksichtigen:

  • das Interesse der EU-Akteure an mög­lichst objektiver Beschreibung der länderspezifischen Lage und der Fortschritte im Lichte der Kopenhagener Beitritts­kriterien,

  • die politische Botschaft an Reformkräfte und Zivilgesellschaften in den zehn Län­dern, dass ihre Fortschritte gesehen wer­den und sich der Einsatz dafür lohnt, die EU sich aber nicht von Fassadenkosmetik der Regierungen täuschen lässt, und

  • den Umstand, dass manche der 27 EU-Staaten als Advokaten für den einen oder anderen Kandidaten auftreten oder ihre Verhandlungsmacht für sonstige Ziele nutzen, muss der Rat doch jeden Schritt im Erweiterungsprozess einstimmig be­schließen.

Mit dieser Gemengelage ist zu erklären, dass es Diskrepanzen und Ungereimtheiten zwischen einigen empirischen Befunden und den Brüsseler Schlussfolgerungen gibt. Denn die Kommission hat viel Rabatt gege­ben, wobei der russische Angriffskrieg als großer Beschleuniger wirkt. Im Juni 2022 wurde der Kandidatenstatus rasch an die Ukraine und Moldau vergeben, was eine gleichgerichtete Entscheidung für Bosnien-Herzegowina im Dezember des Jahres nach sich zog. Dabei würden insbesondere Bei­trittsverhandlungen mit Kyjiw unter großer Unsicherheit beginnen. Sie dürften sich hinziehen, sollten sie mit einem mäßigen Vorbereitungsstand eröffnet werden. Ein vorzeitiger Beitritt käme nur um den Preis vieler und langer Übergangsregelungen in Frage; möglich wären dabei sogar permanente Ausnahmen von den Pflichten und gegebenenfalls den Rechten einer Mitgliedschaft. Die EU von heute denkt aber weni­ger an das Ende des Erweiterungsprozesses als daran, ihn in Gang zu halten.

Die vier Top-Empfehlungen der Kommission

Vier Länder sollen im Beitrittsprozess ein Feld vorrücken: Moldau, die Ukraine, Geor­gien und Bosnien-Herzegowina. Bei ihnen haben die Reformauflagen von 2022 als Anreiz gewirkt, so die Sicht der Kommis­sion. Ihr zufolge hat die Ukraine vier von sieben, Moldau wiederum sechs von neun der geforderten Schritte erfüllt. Deshalb empfiehlt die Kommission, mit diesen bei­den Ländern Beitrittsverhandlungen zu er­öffnen, und zwar ohne Vorbedingungen. Allerdings soll der Rat den jeweiligen Ver­handlungsrahmen erst verabschieden, wenn Kyjiw und Chişinău die noch ausste­henden Reformen umgesetzt haben. Diese betreffen allesamt fundamentale Anforderungen an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Für März 2024 hat die Kommission angekündigt, dem Rat darüber zu berichten. Das heißt, die ersten Regierungskonferenzen mit Moldau und der Ukraine könn­ten schon im kommenden Frühjahr statt­finden – nach Abschluss eines sehr schnel­len Screenings zum Stand der Angleichung an den rechtlichen Acquis.

Die Kommission empfiehlt zudem, Geor­gien den Kandidatenstatus zu verlei­hen, sofern das Land alle zwölf der aufge­stellten Prioritäten erfüllt. Bislang gelten nur drei davon als voll umgesetzt (siehe SWP-Aktuell 58/2023). Für Bosnien-Herzegowina rät die Kommission, Beitrittsverhandlungen zu er­öffnen, wenn – so der sehr grundsätzliche Vorbehalt – der nötige Grad der Ent­spre­chung mit den Beitrittskriterien er­reicht sein wird. Das Land hat bis­her ledig­lich erste Schritte getan, um die 14 Schlüs­sel­prioritäten zu erfüllen, die ihm der Rat im Dezember 2022 auferlegt hat. Dennoch ist die Kommission der Ansicht, dass der Kan­didatenstatus für Bosnien-Her­zegowina eine positive Dynamik ausgelöst habe und nicht das ganze Land in Mithaftung für die »sezes­­­sionistischen und autori­tären Maß­nahmen« in der Republika Srpska zu neh­men sei. Mit einer aktualisierten Einschätzung will die Kommission im März 2024 aufwarten.

Beitrittshindernisse

Russlands Angriffskrieg gibt der Erweiterung neuen Auftrieb, beseitigt aber nicht die Beitrittshindernisse, die weitgehend die­selben sind wie vor Februar 2022. Die Kom­mission hat eingehend bewertet, wie es in den sechs Westbalkan-Ländern (WB‑6) und in der Ukraine, Moldau und Georgien um Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Außen­beziehungen bestellt ist. Daraus ergibt sich ein Ranking, bei dem die Ukraine vor Alba­nien an der Spitze steht, Serbien und Ko­so­vo hingegen am unteren Ende ran­gieren.

Cluster 1: »Wesentliche Elemente«

Gemeinsamer Nenner aller Kommissions­berichte ist, dass gravierende Defizite beste­hen, die Anforderungen der EU aus Clus­ter 1 zu erfüllen. Dieses Themenbündel um­fasst »Wesentliche Elemente« (fundamen­tals); es geht dabei um die rechtsstaatliche und politische Ordnung der Länder und damit um ihre Verfassungswirklichkeit. Cluster 1 enthält fünf Verhandlungskapitel. Die beiden wichtigsten betreffen »Justiz und Grundrechte« (Kapitel 23) sowie »Recht, Freiheit und Sicherheit« (Kapitel 24). Sie haben in Grundsatz wie Detail einen engen Bezug zu den politischen und wirtschaft­lichen Kriterien von Kopenhagen – verlan­gen also demokratische Institutionen und eine funktionsfähige öffentliche Verwaltung, Rechtsstaatlichkeit sowie eine intakte Marktwirtschaft, die dem Wettbewerbsdruck im Binnenmarkt standhält.

Die gegenüber (potentiellen) Kandidaten angemahnten Reformschritte und Prioritäten liegen in diesem Feld. So betreffen etwa die 14 Schlüsselprioritäten für Bosnien-Her­zegowina vor allem die Funktionsfähigkeit der staatlichen Institutionen, Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung, Medienfreiheit und Migrationsmanagement. Bei Georgien geht es um fast alles. Auf der lan­gen Liste stehen hier die Bekämpfung von Desinformation und ausländischer Manipu­lation, die Sicherung eines freien, fairen und kompetitiven Wahlprozesses für 2024 und der Abschluss entsprechender Ge­setzes­reformen, die Minderung politischer Polari­sierung und eine inklusivere Legisla­tiv­arbeit im Parlament, die Stärkung parla­mentari­scher Kontrollrechte auch gegenüber Sicher­heitsorganen, die Unabhängigkeit staatlicher Institutionen wie von Notenbank oder Wahlbehörden, die Imple­mentierung der Justizreform inklusive des Kampfs gegen Korruption, die Umsetzung des De-Oligar­chisierungsprogramms, Verbesserungen zum Schutz von Menschenrechten und Medienfreiheit sowie den Ein­bezug der Zivilgesellschaft in politische Prozesse.

Insofern setzt die 2020 reformierte Erweiterungsmethode treffsicher an den neuralgischen Punkten an. Cluster 1 wird demgemäß als Erstes eröffnet und zuletzt geschlossen. Die Kommission zerlegt dabei Kapitel 23 und 24 in Interim-Benchmarks, also Zwischenziele oder Meilensteine. Denn es geht ja um tiefgreifende strukturelle Ver­änderungen und einen Verhaltenswandel von Personen und Institutionen, was nur systematisch und nicht in kurzer Frist zu erreichen ist. Es bedarf dazu einer breiten Unter­stützung durch die politischen Partei­en, einer professionellen Verwaltung und einer unabhängigen Justiz, die Normen durchsetzt. Wo korrupte Eliten faktisch den Staat vereinnahmen, gibt es erhebliche Pro­bleme bei Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit. Eine scharfe innenpolitische Pola­risierung, wie sie die Kommission im Falle Georgiens und etwa Montenegros kritisierte, steht nicht nur effizien­ter Regierungsführung entgegen. Sie ver­stärkt auch in der Bevöl­kerung den Anse­hensverlust von Exekutive, Parlament und Parteien.

Die EU ist gerade seitens zivilgesellschaftlicher Akteure und pro-europäischer Oppo­sitionspolitiker dem Vorwurf ausgesetzt, autokratische Regierungen über Gebühr aufgewertet und so bei Einheimischen er­heblich an Glaubwürdigkeit eingebüßt zu haben. Geopolitische Erwägungen drohen Defizite bei der Regierungsführung und den »fundamentals« auszustechen oder in den Hintergrund zu drängen. Nur im Fall der Türkei hat die EU sichtbare Konsequenzen aus einer autoritären Wende gezogen, die Verhandlungen jedoch weder formal sus­pendiert noch gar abgebrochen, sondern nur eingefroren. Spürbare Sanktionen im Sinne der Umkehrbarkeit des Verhandlungsprozesses – wie das Zurückhalten von Finanztransfers – hat die EU in kei­nem der beklagten Fälle verhängt. Das gilt ebenso für Serbien, von dem Brüssel erwar­tet, das Reform- und Anpassungstempo generell zu verbessern, auch hinsichtlich des Justizwesens, der Bekämpfung von Kor­ruption, organisierter Kriminalität und Geldwäsche, der Achtung der Medienfreiheit sowie der Strafverfolgung von Kriegs­verbrechern. Da die Regierung in Belgrad die Nähe zu Moskau sucht, zieht sie mit der EU auch nicht an einem Strang, wenn es darum geht, Desinformation und Informationsmanipulation durch Russland oder China entgegenzuwirken.

GASP und bilaterale Konflikte

Die EU folgt dem Anspruch, als geopolitischer Akteur zu handeln und in der inter­nationalen Politik geschlossen aufzutreten. Damit geht einher, dass sie der Angleichung von Beitrittskandidaten an den Acquis in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) erhöhten Wert beimisst. Denn sie erwartet von neuen wie alten Mit­gliedern, untereinander solidarisch zu sein (Art. 32 EUV) und die GASP im Geiste der Loyalität zu unterstützen (Art. 24 [3] EUV). Der Hauptindikator dafür ist, ob sich die Bewerber relevanten Positionierungen aus Brüssel anschließen – also den Stellungnahmen des Hohen Vertreters im Namen der Union und den Beschlüssen des Rats, nicht zuletzt Sanktionen gegen Russland betreffend.

Musterschüler sind hier den aktuellen Kommissionsberichten zufolge Montenegro, Albanien, Nordmazedonien und Kosovo, die sich 2022/23 zu hundert Prozent an die GASP anglichen. Die Ukraine tat dies immerhin zu 93 Prozent, Bosnien-Herzego­wina zu 98 Prozent und Moldau bei steigen­der Tendenz zu 78 Prozent. Dagegen schloss sich Serbien wie auch Georgien nur etwa zur Hälfte (51 bzw. 43 Prozent) den europäischen Standpunkten an, und bei der Türkei ge­schah dies sogar nur zu einem Bruchteil (10 Prozent). Ankara verstärkt konsequent den langjährigen Trend einer Entfremdung und politischen Loslösung von der EU. Die Alignment-Quote Georgiens spiegelt seine Balancepolitik gegenüber Russland wider. Und Serbien pflegt seit Jahren, teils in pro­vozierender Weise, parallel zu den Beitritts­verhandlungen intensive Beziehungen zu Russland und China. Unter Präsident Alek­sandar Vučić richtet Belgrad seine Innen- wie Außenpolitik weder umfassend noch konsistent auf eine EU-Mitgliedschaft aus. Als einziges der Westbalkan-Länder hat Ser­bien sich nicht den Brüsseler Sanktionen gegen Russland angeschlossen.

Die heraufziehende Blockbildung in Europa verlangt aus Sicht der EU auch von neuen Mitgliedern, dass sie die Ausgestaltung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) mittragen und unterstützen, ebenso den beabsichtigten Ausbau der Kooperation zwischen EU und Nato. Wie der Fall Türkei zeigt, können auch Nato-Mitglieder in strategischen Fra­gen und bei Krisenreaktionen Positionen einnehmen, die von denen der EU abweichen oder ihnen zuwiderlaufen. Aber die Kongruenz von EU- und Nato-Zugehörigkeit wäre mehr denn je ein Beitrag zur Sicher­heit der Außengrenzen der Union und zur Verteidigungsfähigkeit von Mitgliedstaaten. Die Union allein kann das nicht leisten. Albanien, Montenegro und Nordmaze­donien sind bereits im Atlantischen Bünd­nis. Bei den drei osteuropäischen Ländern, von denen die Ukraine und Georgien er­klärtermaßen in die Nato streben, liegt das Zögern auf Seiten der Allianz und vieler ihrer euro­päischen Mitglieder. Die Kom­mission geht mittlerweile in ihren Berich­ten systematischer auf Formen der Zusam­menarbeit mit der Nato ein, trotz möglicher Vorbehalte der paktunabhängigen EU-Län­der Irland, Österreich, Malta und Zypern.

Die G7-Staaten werden mit Blick auf die Ukraine möglicherweise schon 2024 und noch vor den US-Präsidentschaftswahlen konkretisieren, wie und in welchem Zeit­horizont sie bilaterale oder abgestimmte Sicherheitszusagen für das Land abgeben werden. Daraus könnten sich explizite Er­wartungen und Forderungen an die EU ergeben, was einen Beitritt der Ukraine be­trifft. Das brächte die EU schnell in Zug­zwang. Sie sollte – vertreten durch zent­rale Mitglieder wie Frankreich, Deutschland, Polen und gegebenenfalls auch Italien – versuchen, ihre Stimme, ihre Interessen und Sicherheitsangebote diplomatisch ein­zubringen. Unter den 27 wären dazu zügig Orientierungsgespräche zu führen, denn es dürften sich im Europäischen Rat zunächst heterogene Positionen abzeichnen.

Die Sicherheitslage in der Ukraine kann angesichts der umkämpften, durch Russ­land besetzten und teils illegal einverleibten Gebiete über längere Zeit prekär blei­ben. Georgien mit den abtrünnigen Gebie­ten Abchasien und Südossetien sowie Mol­dau mit Transnistrien üben ebenfalls nicht die Kontrolle über ihr gesamtes Staatsgebiet aus, mit dem sie der EU beitreten wollen. Der Verweis auf den Fall Zypern, das trotz der faktischen Teilung der Insel (!) aufgenommen wurde, wird der sicherheitspolitisch brisanten Lage der drei osteuropäischen Länder nicht gerecht.

In Südosteuropa sind viele Konflikte um Außengrenzen, Gebiete und ethnische Zu­gehörigkeiten in und zwischen (potentiellen) Kandidatenländern bislang nicht ausge­räumt. Notorisch sind die bilateralen Strei­tigkeiten, die EU-Mitglieder mit Bewerbern austragen und die den Prozess blockieren. Angesichts solcher Reibereien, die ein ge­wisses Potential für gewaltsame Eskalationen und Zwischenfälle besitzen, ist der Westbalkan noch immer eine Region der Instabilität und des brüchigen Friedens. Die EU – nebst Nato, den USA und den Ver­einten Nationen – wird dauerhaft in An­spruch genommen, damit die Lage kontrol­lierbar bleibt, siehe die KFOR-Truppen an der Grenze zwischen Kosovo und Serbien und die EUFOR in Bosnien-Herzegowina.

Serbien und Kosovo sehen die Verhandlungen mit Brüssel bzw. die Beitrittsperspektive bisher nicht als ausreichend star­ken Anreiz, um ihre Beziehungen konsequent zu normalisieren. Sie und andere der WB‑6 spekulieren auf die neue geopolitische Wachsamkeit der EU gegenüber Riva­len auf dem Balkan – China, Russland –, und sie erinnern daran, dass sie seit 2003 eine Beitrittsperspektive haben, die vor allem deshalb noch nicht umgesetzt sei, weil es der EU an politischem Willen fehle. Die EU betont hingegen die mangelnde Beitrittsreife der Länder, reagiert aber auf diese recht fruchtlose Debatte mit einer gewissen Offenheit für Innovationen in der Erweiterungspolitik.

Neuer Gradualismus in der Erweiterungsmethode

In den meisten Ländern des Westbalkans ist damit – anders als in Moldau und selbst unter Kriegsbedingungen in der Ukra­ine – wenig Momentum für Reformen zu erken­nen. Dagegen entwickelt die EU ihre Erwei­terungsmethode inkrementell weiter. Zwar wollte die Kommission ihre Empfehlungen an den Rat zum Vorrücken der vier Länder nicht dadurch gefährden, dass sie in ihrer Mitteilung auch gleich noch nahelegt, wie sich die Verhandlungen beschleunigen ließen (geschehen könnte dies etwa, indem man die Einstimmigkeitserfordernis für Zwischenschritte abschafft). Doch gibt es bereits Ansatzpunkte für Neuerungen. Rich­tungsweisend ist hier zunächst die Ein­stiegs­formel für eine gradualistische Er­weiterungspolitik, wie sie den Schlussfolgerungen des Europäischen Rats von Juni 2022 zu entnehmen ist. Dort ist die Rede davon, »die schrittweise Integration zwi­schen der Euro­päischen Union und der Region [dem West­balkan] bereits während des Erweiterungsprozesses auf umkehrbare und leis­tungs­orientierte Weise weiter voranzubringen«.

Durch solche Zwischenschritte würde ein neuer Gradualismus eingeleitet, mit dem Fortschritte unmittelbar belohnt würden. Im Kern geht es darum, vor dem förmlichen Beitritt eines Landes dessen politische Asso­ziierung und wirtschaftliche Integration möglichst weit voranzutreiben. Dafür bie­ten die vertieften Assoziierungsabkommen (AA/DCFTA) mit der Ukraine, Moldau und Georgien die weitestgehende Grund­lage. So erwähnt etwa das Abkommen mit der Ukraine in Artikel 1(d) das Ziel einer abge­stuften Integration in den EU-Binnenmarkt, ebenso die unterschiedlichen Maßnahmen zur Rechtsübernahme, die in einigen Sek­toren den Mechanismen des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) ähnlich sind.

Die Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen (SAA) mit den sechs Westbalkan-Ländern stammen aus den 2000er Jahren und sind von engerem Zuschnitt als die AA/DCFTA. Insofern ist auch der neue Wachs­tumsplan für den Westbalkan mit seinen vier Pfeilern eine sinnvolle Ergänzung.

Pfeiler 1: Die EU bietet an, den Binnenmarkt für die WB‑6 selektiv und schrittweise zu öffnen. Diese würden die Regelungen dann gleichzeitig untereinander gewähren. Betroffen wären hier laut Vorschlag der Kommission sieben Prioritäten, wobei die WB‑6 aufgerufen sind, ihre eigenen Präfe­renzen zu nennen: (1) der Warenhandel zur Angleichung an die horizontalen Produktstandards der EU und die verbesserte Koo­peration bei Zollabfertigung und Steuern; (2) die Freizügigkeit für Arbeitnehmer (zu­nächst nur die Anerkennung von Berufs- und Qualifizierungsabschlüssen betreffend) und Dienstleistungen (in den Sparten Tou­rismus und E-Commerce); (3) die Erleichterung des Straßentransports (gemeinsame Transit-Konvention und Zugang zu Infor­ma­tionssystemen); (4) die Beteiligung am SEPA-Zahlungsverkehr, (5) die Integration in den Energiemarkt (Elektrizität) und in die Dekarbonisierungsstrategie für die Wirtschaft; (6) der digitale Binnenmarkt (reduzierte Roaming-Gebühren, Cyber­sicherheit-Kooperation) und (7) die Integra­tion in Lieferketten für Industrieprodukte, beginnend mit erneuerbaren Rohstoff-Wertschöpfungsketten.

Pfeiler 2: Erwartet wird so ein zusätzlicher Anschub für die wirtschaftliche Integration basierend auf EU-Regeln und Standards im Gemeinsamen Regionalen Markt, der 2020 im Rahmen des Berliner Prozesses vereinbart wurde. Dafür gibt es bereits einen Aktionsplan und mit CEFTA, dem Mittel­euro­päi­schen Freihandelsabkommen, eine Governance-Struktur, die man nutzen kann.

Pfeiler 3: Regierungsführung und Rechtsstaatlichkeit sollen verbessert werden, nicht zuletzt da­mit ein günstigeres Umfeld für Wachstum und wirtschaftliche Reformen entsteht.

Pfeiler 4: Wirtschaftliche Reformen und die Staatshaushalte will die EU mit zusätz­lich 6 Milliarden Euro (ein Drittel davon nicht rückzahlbare Zuschüsse, zwei Drittel Kredite) über vier Jahre verteilt unterstützen. Ähnlich wie beim Europäischen Semester für EU-Mitglieder sollen die WB‑6 ihre eigene Reformagenda vorlegen. Die nationalen Wirtschaftsreformprogramme (ERP) und die Fortschrittsberichte der Kom­mission könnten dafür den Ausgangspunkt bilden. Die Kommission ist also bestrebt, Finanzinstrumente und Anreize zu verzah­nen, damit sich verbindlichere und ziel­gerichtetere Reformen anstoßen lassen. Die Mittel will sie länderweise vergeben, und zwar zusätzlich zu den thematisch über das Instrument für Heranführungshilfe bereit­gestellten IPA-III-Mitteln. Hier dürfte aber der Rat mitentscheiden wollen. Das Geld soll in enger Taktung alle sechs Monate ver­ausgabt werden, sofern vorab definierte Konditionen erfüllt sind. Die Bundesregierung dürfte begrüßen, dass der Wachstumsplan es ermöglicht, Synergien mit dem von ihr angestoßenen Berliner Prozess zu schaffen, und ebenso mit der Klimapartnerschaft Deutschland-Westbalkan, die von deutscher Seite bis 2030 mit 1,5 Milliarden Euro finanziert wird.

Das Volumen des Wachstumsplans, das die Kommission in die aktuellen Beratungen über den EU-Haushalt bis 2027 einbrin­gen will, reicht keinesfalls an den Umfang der Kohäsionsmittel für Mitglieder heran. An diesen Beträgen orientieren sich die Balkanländer aber schon jetzt, weshalb sie immer unzufrieden mit den Angeboten sind. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf liegt in den WB‑6 derzeit zwischen 30 und 50 Prozent des EU-Durchschnitts (nach Kaufkraftparität). Relative Armut und gerin­ge Wettbewerbsfähigkeit der eigenen Wirt­schaft machen es plausibel, dass die Länder ihre Märkte für EU-Anbieter nicht reziprok öffnen wollen und darauf setzen, Anpassungen durch größere Transferzahlungen der EU abzufedern. Dies und die an­spruchs­vollen rechtlichen wie technischen Prob­leme bei der stufenweisen Öffnung zum Binnenmarkt oder gar einer Teil­habe daran werden einer Integration unter­halb der Mit­gliedschaft Grenzen setzen. Auch eine am EWR orientierte Alternative müsste als Zwischen- oder Endstufe durch eine starke Kohäsionskomponente ergänzt wer­den.

Für die politische Assoziierung erprobt die EU schon seit den 1990er Jahren Betei­ligungsformen, die auf eine Frühsozialisierung künftiger Mitglieder zielen, darunter strukturierte Dialoge und erweiterte (infor­melle) Ratssitzungen. Sehr viel weitergehend wäre es, Zwischenschritte auch zu institutionalisieren – wie mit einer »Part­nerschaft für die Erweiterung« oder einem »Europäischen Politik- und Wirtschaftsraum« vorgeschlagen wurde, beides in An­lehnung an den EWR. Dies wäre auch ein Sicherheitsnetz, sollten Beitrittsverhandlungen stillstehen oder gar scheitern.

Insgesamt bleibt es dabei, dass die EU auf Marktzugang und Transfers als Hebel setzt, um dazu beizutragen, dass sich die »funda­mentals« und die wirtschaftliche Lage von Bewerbern verbessern. Dabei konkurrieren die WB‑6 untereinander und gegenüber der Ukraine und Moldau um Aufmerksamkeit, Ressourcen und politische Unterstützung, was in einigen Westbalkan-Staaten konse­quentere Reformen anstacheln könnte.

Verhandlungsrahmen und Beitrittsmanagement

Einstiegspunkte für eine »abgestufte Inte­gration« in die EU bieten auch die bilateralen Verhandlungsrahmen. Dort legt die EU fest, wie sie verhandeln will, also etwa nach dem Benchmarking-System. Letzteres wol­len manche ganz abschaffen, andere zu­mindest nicht mehr der Einstimmigkeit unterwerfen, damit die Abläufe beschleunigt werden. Besonders interessant ist aller­dings, ob die Mitgliedstaaten Übergangs­regelungen nur befristet oder dauerhaft ins Auge fassen und gegebenenfalls ganze Poli­tikfelder – zum Beispiel die Gemeinsame Agrarpolitik – davon aussparen wollen. Denn permanente Ausnahmen sind etwas anderes als unterschiedliche Geschwindigkeiten wie etwa beim Beitritt zur Schengen- oder Eurozone. Schon im Verhandlungsrahmen mit der Türkei hatte die EU dauer­hafte Ausnahmen als Option genannt. Das wäre dann die Teilmitgliedschaft durch die Hintertür.

Die Aufnahme in die EU beruht auf einem völkerrechtlichen Abkommen der EU-Staaten mit einem einzelnen Beitrittskandidaten. Auch die Verhandlungen wer­den mit gutem Grund nicht multilateral geführt. Allerdings hat die EU in der Ver­gangenheit bei größerem Antragsaufkommen mehrere Länder zum selben Zeitpunkt aufgenommen, unter anderem weil es da­mit erleichtert wird, die Verträge nach Artikel 49 EUV anzupassen und die natio­nalen Ratifizierungsprozesse durchzuführen. Die EU kann indes auch Anreize setzen – wie jetzt mit dem Wachstumsplan –, damit die Länder untereinander bereits einen Kooperations- und Integrationsgrad erreichen, der ihnen erstens nützt und zweitens das Risiko reduziert, dass ihre wechselseitigen Streitigkeiten nach einem Beitritt die EU belasten. Das spräche dafür, beitrittsreife Länder im Zweifel zurück­zustellen, bis etwa alle sechs Westbalkan-Länder so weit sind. Außerdem würde das den Anpassungsdruck auf Seiten der EU erhöhen, zumindest was die Reform ihrer Institutionen angeht.

Reformunwillige Mitgliedstaaten hin­gegen wollen genau ein solches »Big Bang«-Szenario verhindern. Ihnen wäre es lieber, über einen längeren Zeitraum hinweg klei­nere Länder nacheinander aufnehmen, so dass der Anpassungsbedarf für die Europäi­schen Verträge minimal wäre. Die WB‑6 haben zusammen nur rund 17 Millionen Einwohner. Die Schlüsselfrage ist in jeder Hinsicht die Aufnahme der Ukraine, wozu die 27 allenfalls einen fragilen Konsens ge­funden haben. Erst sie würde den Big Bang wirklich groß machen. Kyjiws rascher Bei­tritt bis 2030 käme einer geopolitisch be­dingten Notaufnahme gleich, mit der die Kopen­hagener Kriterien und deren integra­tions­politische Logik übertrumpft würden. Das würde dann tiefgreifendere Änderungen verlangen, als sie etwa aktuell eine deutsch-französische Expertengruppe vorschlägt.

Das größere Europa und die Grenzen der Erweiterungspolitik

Im größeren Europa ist die Ukraine de facto bereits Teil der westlichen Sicherheitsordnung geworden. Sie ist kein Pufferstaat mehr. Zwar gibt es noch immer Grauzonen, wie den Südkaukasus mit Armenien und Georgien (trotz Tiflis’ Beziehungen zur Nato), die Schwarzmeerregion und auch Serbien. Aber diese Räume schrumpfen. Europa ist auf dem Weg zu einer Konstellation, in der sich ein euro-atlantischer Block im »Westen« und ein russisch-weißrussi­scher Block im Osten gegenüberstehen. Politisch, wirtschaftlich und sicherheitspolitisch strebt die EU eine fast vollständige Ab­kopplung von Russland an, um es zu isolie­ren und seinen Einfluss einzudämmen.

Das Szenario der Blockbildung bringt die Nato und die USA in eine Schlüsselposition als primäre (und einzige) Garanten für harte Sicherheit. Mit ihnen muss die EU engste strategische Abstimmung finden, will sie in ihrer östlichen Nachbarschaft eine ord­nungspolitische Rolle spielen. Sie kann nicht allein auf den Erweiterungsprozess setzen, um zu Sicherheit, Prosperität und Demokratisierung beizutragen. Ihre außen- und sicherheitspolitischen Möglichkeiten muss die EU jetzt voll ausschöpfen, ja unter dem Druck der neuen äußeren Bedrohungen und Anforderungen weiterentwickeln. Nur so kann sie auf Dauer die diplomatische und militärische Unterstützung auf­rechterhalten, die sie Kyjiw zukommen lässt. Es reicht nicht, die nationalen Vertei­digungshaushalte aufzustocken. Wie der Kosovo-Krieg 1999 ein Impuls für die Euro­päische Sicherheits- und Verteidigungs­politik (ESVP) war, so müsste heute die GSVP ausgebaut werden – in Bereichen wie rüs­tungsindustrieller Kooperation, Beschaffungswesen, Abschreckungsfähigkeiten und Interoperabilität.

Die Nato hat auf dem Gipfel von Vilnius im Juli 2023 den Nato-Ukraine-Rat als stra­tegisches Format ins Leben gerufen, weil es auch bei der Allianz nicht den schnellen und direkten Weg zur Mitgliedschaft gibt. Mit den AA/DCFTA hat die EU ein Rückgrat für die wirtschaftliche und politische Inte­gration der Ukraine geschaffen. Sie kann die institutionelle Struktur der Abkommen nutzen, um den sicherheitspolitischen und strategischen Dialog mit Kyjiw substantiell zu führen. Es spricht einiges dafür, die Ukraine aufgrund der komplexen und un­wägbaren Sicherheitslage als Sonderfall zu sehen, sie aber voll in den Erweiterungsprozess einzugliedern. Dieser wird ergänzt durch Wiederaufbauhilfe in einer beson­deren Größenordnung sowie dauerhafte Waffenhilfe und militärische Kooperation.

Der zweite, anders gelagerte Sonderfall bleibt wohl die Türkei. Das zeigt auch der Lagebericht von Kommission und Hohem Vertreter zu den bilateralen Beziehungen vom 29. November 2023. Ankara agiert inzwischen zu autonom und souveränistisch, als dass es sich auf absehbare Zeit den asymmetrischen Spielregeln von Beitrittsverhandlungen unterwerfen und Mitglied einer Union werden wollte, die auf Teilung von Souveränität basiert. Insbesondere akzeptiert die Türkei nicht den Konvergenzdruck in außen- und sicherheitspolitischen Fragen, auch was den alten Zypern-Konflikt betrifft.

Die Westbalkan-Länder profitieren von der Dringlichkeit, mit der die EU gegen­wärtig Erweiterungsfragen behandelt. Der neue Gradualismus gibt beiden Seiten mehr Flexibilität und stellt die effektiven Fort­schritte bei der Integration in den Vordergrund, nicht das Ziel einer schnellen Mit­gliedschaft aus geopolitischen Gründen.

Die Bundesregierung sollte den Ansatz schrittweiser Integration der WB‑6 aktiv mitgestalten. Aber die Erweiterungspolitik darf nicht mit Aufgaben und Erwartungen überfrachtet werden. Sie ist kein Ersatz für Außen- und Sicherheitspolitik, insbesondere nicht im Fall der drei osteuropäischen Länder. Die GASP/GSVP muss für eine sehr lange Konfrontation mit Russland aufgestellt werden. Motor müssten dabei die großen Mitgliedstaaten sein, und der Weg führt über die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit. Darüber hinaus sollte Deutschland die Zusammenarbeit in der europäischen Quad, also mit Frankreich, Polen und Großbritannien, intensivieren.

Dr. Barbara Lippert ist die Forschungsdirektorin der SWP und Mitglied der Institutsleitung.

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