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Die Außen- und Europapolitik des Georgischen Traums im Kontext von Russlands Krieg gegen die Ukraine

Grenzen des Pragmatismus

SWP-Aktuell 2023/A 58, 23.11.2023, 8 Seiten

doi:10.18449/2023A58

Forschungsgebiete

Der außenpolitische Ansatz der georgischen Regierungspartei – eine pragmatische Politik vis-à-vis Moskau bei Fortführung des Kurses euroatlantischer Inte­gration –, stößt im Kontext von Russlands Vollinvasion der Ukraine an seine Grenzen. Gleich­zeitig greifen in Georgien Außen- und Innenpolitik zunehmend ineinander. Für die EU resultieren daraus Dissonanzen mit Tbilisi und Fragen, die unabhängig von der Entscheidung über den EU-Kandidatenstatus relevant bleiben werden.

Am 30. Mai 2023 erklärte Georgiens Pre­mierminister Irakli Garibaschwili auf dem GLOBSEC-Forum in Bratislava, es sei die Politik der »strategischen Geduld« seiner Partei gegenüber Russland, die für Geor­giens Frieden und Stabilität sorge. Während sich die Führung des Georgischen Traums (GT) dieses Ansatzes rühmt, ruft er bei Oppo­si­tion und Staatspräsidentin Ablehnung her­vor. Letztere kritisierte nur einen Tag nach dem Auftritt des Premiers genau diese Poli­tik als eine der »unfassbaren Zugeständ­nisse«. Präsidentin Salome Surabischwili etwa mahnt, die Wiederaufnahme des Luft­verkehrs mit Russland im Mai 2023 leiste Fragen Vorschub bezüglich einer mög­­lichen Um­gehung der von west­lichen Län­dern gegen Russland verhängten Sank­tio­nen. Der Parlaments­­vorsitzende Schalwa Papua­schwili hingegen erklärte, der Verzicht auf bilaterale Sanktionen gegen Russland sei Teil des Ansatzes der »strategischen Geduld« seiner Partei und an­gesichts der vulnerablen geopolitischen Lage Georgiens besonders verantwortungsvoll.

Westintegration und »strategische Geduld« vis-à-vis Russland

Der Georgische Traum, bis 2016 als Teil einer Koalition, dann allein mit absoluter Mehrheit an der Macht, hat den euroatlanti­schen Kurs seiner Vorgängerin, der Verein­ten Nationalen Bewegung (VNB) des ehe­maligen Präsidenten Micheil Saakasch­wili, fortgeführt – obschon sich im Laufe der Jah­re einige der am dezidiertesten gen Westen orientierten Akteure aus der Koali­tion lösten. Im Wesentlichen zielt der Kurs darauf, Georgien näher an EU und Nato heranzuführen und es schließlich in beide Strukturen zu integrieren. Im Juli 2016 trat das zwischen Georgien und der EU ausge­handelte Assoziierungsabkommen in Kraft; ergänzt wird es durch die Vertiefte und umfassende Freihandelszone (DCFTA). Die gesellschaftlich breit befürwortete Am­bi­tion, EU und Nato beizutreten, ist seit 2018 in Georgiens Verfassung verankert. Bei der Bevölkerung steht die euroatlanti­sche Inte­gration kontinuierlich hoch im Kurs: Laut Daten des National Democratic Institute sprachen sich seit 2012 durchgängig minde­stens 61% der befragten Georgierinnen und Georgier für eine Mitgliedschaft in EU und Nato aus. Meist lagen die Zustim­mungs­werte deutlich höher; zuletzt befürworteten über 80% einen EU- und über 70% einen Nato-Beitritt. Allerdings liefen die prowestlichen Bestrebungen lange ins Leere: In Bezug auf die Nato fehlte auch nach dem Bukarester Gipfel 2008 eine zeitlich klare Beitrittsperspektive, seitens der EU bis 2022 eine Beitrittsperspektive überhaupt.

Parallel zur Fortführung des Westkurses war der Georgische Traum 2012 angetreten, die schwierigen Beziehungen zu Russland durch eine pragmatische Politik zu nor­ma­li­sieren. Nach dem russisch-georgischen Krieg 2008 und Russlands An­erkennung der Un­abhängigkeit Abcha­siens und Südosse­tiens, zwei abtrünnige Regionen Georgiens, hatte Tbilisi alle diplomatischen Verbindun­gen nach Moskau gekappt. Russland schloss mit beiden »De-facto-Staa­ten« bilate­rale Ver­träge über »Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Bei­stand« und ist dort militä­risch sowie mit seinen Sicherheitsdiensten präsent. Die Lage ist vola­til. Vor allem an der »ad­ministrative bound­ary line« (ABL) zu Süd­ossetien kommt es durch russische und südossetische Kräfte zu Ver­schiebungen und einer verstärkten Befesti­gung der ABL.

Georgiens Politik gegenüber Moskau zielt allgemein auf weniger konfrontative Bezie­hungen zum nördlichen Nachbarn. Einer­seits werden weniger politisierte oder sensi­ble Themen behandelt, etwa Handel, Visa, Humanitäres und Kultur. Zu diesem Zweck wurde bereits im November 2012 die Posi­ti­on eines Sondergesandten für die Bezie­hun­gen mit Russland eingerichtet. Ande­rerseits richtet sich Tbilisis Politik der »stra­tegischen Geduld« auch auf den Umgang mit den ab­trünnigen Regionen. Mit diesem Ansatz soll, so zumindest die Idee der Regierung, auch die territoriale Inte­grität Georgiens wiederhergestellt wer­den.

Einschlägige Analysen bewerten diesen außenpolitischen Ansatz zunehmend als Russland entgegenkommend. Russland werde zwar auch unter dem Geor­gischen Traum als zentrale Bedrohung gesehen. Man begegne ihr aber mit einer Strategie des »bandwagoning with« und nicht wie die Vorgängerregierung, die ausgeprägten Arg­wohn gegen Russland hegte, mit »balancing against«. Gleichzeitig zeigen Studien, dass der Ansatz des Geor­gischen Traums auf russischer Seite nicht zu einer Wahrnehmungsänderung oder einer veränderten Politik Moskaus vis-à-vis Abchasien und Südossetien geführt hat.

Vor allem die wirt­schaftlichen Beziehungen der beiden Nach­barn sind wieder enger geworden, nachdem Russland die 2006 ver­hängten Ein­fuhr­beschränkungen in der Regierungszeit des GT aufgehoben hat. Laut Jahreswerten der georgischen Statistik­behörde war Russland sowohl 2020 als auch 2021 hinter der Türkei der zweit­wich­tigste Handelspartner. Der russisch-geor­gische Handel war damit anteilig fast wieder auf dem Stand von vor der Handelssperre. Auf politischer Ebene sieht es anders aus: Diplo­matische Bezie­hun­gen miteinander unter­halten die beiden Länder nach wie vor nicht.

Außenpolitische Dimension der innenpolitischen Krise(n)

Innenpolitisch sieht sich Georgien seit spätestens 2019 von einer sich zuspitzenden Krise und, damit verbunden, wiederkehrenden Protestwellen erfasst, die zuneh­mend eine außenpolitische Dimension aufweisen. Dieser Nexus reflektiert sowohl Georgiens prekäre geopolitische Lage und den Umgang mit ihr als auch das Ausgreifen interner Machtpolitik nach außen.

Im Sommer 2019 brach sich der Unmut der Bevölkerung gegenüber Russland in breiten, bald auch gegen die GT-Regierung, gerichteten Straßenprotesten Bahn. Aus­löser war, dass der russische Duma-Abge­ord­nete Sergei Gawrilow im Kontext eines Treffens der Interparlamentarischen Ver­sammlung für Orthodoxie in Tbilisi eine Rede hielt – vom Sitz des Parlamentsvorsitzenden. Als Antwort auf die Proteste gegen Gawrilows Auftritt im Sommer 2019 untersagte Russland Direkt­flüge nach Geor­gien (die im Mai 2023 wieder aufgenommen wurden). Die Reak­tion zeigt, dass Mos­kau die wirtschaft­lichen Beziehungen, zumal deren struk­tu­relle Asymmetrien, für sich zu in­strumentalisie­ren weiß. Die georgischen Parlamentswahlen im Herbst 2020 wiede­rum waren von Kritik aus politischer Opposition und Zivil­gesellschaft begleitet, die die Rechtmäßigkeit der Durchführung anzweifelten. Nach der Abstimmung boykottierten die gewähl­ten Oppositionsvertreterinnen und ‑vertre­ter zunächst mehrheitlich aus Protest das Parlament. Bemühungen seitens der EU ab Frühjahr 2021, vor allem des EU-Ratspräsi­denten Charles Michel, die Krise zu ent­schärfen, fruchteten nicht. Die Um­setzung eines von Michel fazilitierten Abkommens blieb un­vollständig. Nachdem die VNB als größte Oppositionspartei ihre Unterschrift vorerst verwei­gert hatte, zog im Juli 2021 der GT seine Unterstützung für das Abkom­men zurück.

Erneute Straßenproteste im Juli betrafen zwar Innen- und Außenpolitik nicht im engeren Sinn. Sie galten vor allem der Soli­darisierung mit Zivilgesellschaft und Medien­schaffenden, nachdem es zuvor zu massiver rechter Gewalt gegen LGBTQi-Per­sonen, Aktivisten und Aktivistinnen sowie Medienvertretern und -vertreterinnen im Kontext der »Tbilisi Pride« gekommen war. Die Gewalt verweist darauf, dass antiliberale Narrative mehr politischen und diskursiven Raum bekommen. Auch wenn ultra­konservative und nationali­sti­sche Parteien in Wahlen bislang keine nennens­werten Erfolge einfahren konnten, haben außerparlamentarische und infor­melle, aber auch parteiliche und kirchliche Akteu­re Gebrauch von diesem erweiterten Raum gemacht, um Auseinandersetzungen über die »eigent­liche« georgische Identität zu provozieren. Das wertliberale Fundament von »normative power Europe« wird so in Frage bzw. diesem wird ein »antiliberales Europa« entgegengestellt. Anknüp­fungs­punkte gibt es darin nicht nur zu rechts­populistischen Strömungen innerhalb der EU, sondern auch zur antiliberalen, anti­west­lichen Politik Moskaus. Diese Kon­ver­genzen werden von (pro)russischen Akteu­ren, etwa in Desinfor­mations­kampagnen, genutzt.

Trotz der engen Beziehungen zu EU und USA hat Georgiens innenpolitische Ent­wick­lung dort auch Irritationen hervor­gerufen. Bereits 2019/20 machte eine Reihe Mitglie­der von Senat und Repräsentantenhaus der USA ihre Besorg­nis über mögliche Rückschritte in Georgiens Demokratisierung öffentlich. Auch seitens Institutio­nen und Mit­gliedstaaten der EU wurde Sorge ge­äußert, etwa über eine womöglich stocken­de Umsetzung der politischen Reformen oder über Anfeindungen und Gewalt gegen sexuelle Minderheiten.

Russlands Ukraine-Invasion als Katalysator

Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine ab Februar 2022 hat auf das Nachbarland Georgien massive Auswirkungen. In Bezug auf die EU-Integration eröffnet Russlands Krieg Georgien durchaus Chancen, trotz der durch ihn bedingten wei­teren Zuspitzung der prekären geopolitischen Lage: Im Juni 2022 erklärte Brüssel die Ukraine zusammen mit Moldau offiziell zum EU-Beitritts­kandidaten und erkannte Georgien eine europäische Perspektive zu. Im Dezember 2023 steht die Entscheidung über die Ver­leihung des EU-Kandidatenstatus an. Damit wurde der Prozess der Antragstellung auf eine EU-Mitgliedschaft deutlich beschleunigt.

Gleichzeitig ist das Land wegen der Grenze zu Russland sowie der ohnehin schwie­rigen Beziehungen äußerst vul­ne­ra­bel und als kleiner Nachbar besonders in Gefahr, Ziel einer möglichen Ausweitung russischer neoimperialer Aggres­sion zu werden. Für 87% der Befragten in einer Umfrage des International Republican Insti­tute vom März 2023 ist Russland das Land, das für Georgien die größte politische Be­dro­hung darstellt. Zwar fühlten sich etwas mehr der Befragten (54%) aufgrund des georgisch-russischen Verhältnisses eher oder sehr sicher als eher oder sehr unsicher (44%). Zugleich aber gaben 76% der Be­fragten an, Russlands Aggression gegen Georgi­en dauere nach wie vor an, und weitere 17% waren der Meinung, diese sei zwar beendet, aber wohl nur zeitweilig.

Für Georgiens Außenpolitik hat Russlands Vollinvasion den Kontext maßgeblich verändert. Bereits zuvor hatte die Regierungspartei versucht, sich als exklusive Vertreterin des legitimen Mehrheitswillens und als alleinige Hüterin der nationalen Interessen Georgiens aufzustellen. Damit verbundene Narrative wurden in der Zeit nach dem russischen Angriff auf die ge­samte Ukraine fortentwickelt. Aus Sicht des Georgischen Traums ist es nun Georgiens Kerninteresse – und Kernverdienst des GT –, mittels der Politik der »strategischen Geduld« ein Übergreifen des russischen Krieges auf das eigene Land sowie einen politischen Umsturz zu ver­hindern und stattdessen Stabilität, Frieden und wirtschaftlichen Aufschwung zu bewahren.

Rhetorische Manöver

Nicht zuletzt auf die Rhetorik des Georgischen Traums wirkt der Beginn der rus­si­schen Vollinvasion wie ein Katalysator. In den Monaten nach dem 24. Februar 2022 haben GT-Vertreter das Narrativ aufgegriffen und verbreitet, es formiere sich eine »globale Kriegspartei«, die im Verbund mit Georgiens politischer Opposition auf einen politischen Umsturz hinwirke und darauf, das Land durch die Eröffnung einer »zwei­ten Front« in den Krieg hineinzuziehen. Derart äußerten sich etwa Premier Irakli Garibaschwili, Außenminister Ilia Dartschiaschwili und Parteichef Irakli Kobachidse. Premier Garibaschwili hatte die von vielen seiner Landsleute als zu passiv empfundene Haltung der Regierung zur Ukraine mit dem Argument begründet, er folge damit lediglich dem »natio­nalen Interesse«. Auch Parteigründer Bidsina Iwanischwili, der vielen weiterhin als graue Eminenz des Georgischen Traums gilt, sprach in einem offenen Brief vom Juli 2022 von »bestimm­ten Mächten, die aktiv versucht haben, Georgien in den Krieg zu verwickeln«, sowie von der erfolgreichen »Neutralisierung« einer solchen Gefahr durch den GT.

Auf diese Weise haben GT-Vertreterin­nen und Vertreter seit Februar 2022 das bisherige Narrativ im Sinne des GT fort­entwickelt. Zuvor hatte dieser den Topos einer georgischen »radikalen Oppo­sition« ge­nährt. Damit hatte er besonders die ehe­malige Regierungspartei VNB, aber immer öfter auch (kritische) zivilgesellschaftliche Orga­nisa­tionen und Medien im Blick. Nun hat er diesen Topos zunehmend in jenen einer »Art Kriegspartei« bzw. »glo­balen Kriegspartei« überführt, zu der, so wird insinuiert, auch Akteure aus der Ukra­ine, USA und EU zählen. Angesichts Geor­giens geopolitischer Vulnerabilität kann der­­lei Framing an eine spezi­fische Historie der Bezichtigung des Verrats an­knüpfen. Diese wird genutzt, um poli­tische Wett­bewerber zu diskreditieren. Sie fin­det Reso­nanz in der Bevölkerung, weil sie durch tiefsitzende Ängste und Wahrnehmungen eines kleinen Landes im Einflussgebiet imperialer Politik im kollek­tiven Gedächtnis verankert ist.

Die Politik westlicher Partner, besonders des Europäischen Parlaments oder der US-Botschaft, wird von Vertreterinnen und Vertretern der Regie­rungspartei sowie ihr nahestehenden Akteuren immer öfter als ungebührliche »Ein­mischung« von außen gerahmt, und kritischere Stellungnahmen zur Politik des GT als ehrverletzend gegen­über dem geor­gischen Volk. Eine wichtige Rolle für das Einbringen solcher Framings in die Debatte haben ab Sommer 2022 einige GT-Vertreter übernommen, die sich damals von ihrer Partei trennten und als »Macht des Volkes« neu formierten, ohne allerdings die Mehr­heitsfraktion im Parla­ment zu ver­lassen. Zwar erfolgte laut eige­nen Aus­sagen die Abspaltung mit dem Ziel, die georgische Gesellschaft umfassend zu infor­mieren, um die nationalen Interessen zu schützen. Eine Reihe einschlägiger Formu­lierungen, die von Macht des Volkes eingebracht worden waren etwa die, externe (Groß-)Mächte würden den Sturz der Regierung oder die Errichtung einer zweiten Front in Georgien pla­nen –, gingen indes bald in den Sprach­gebrauch des Geor­gischen Traums über. Macht des Volkes hatte zunächst auch das kontroverse Geset­zesvorhaben zur »Trans­parenz auslän­discher Einflussnahme« lanciert, dem für den Fall der Annahme negative Auswirkungen auf Zivilgesellschafts- und Medien­landschaft attestiert wurden und das für Brüssel unvereinbar mit EU-Werten war.

In der Rhetorik der Regierungspartei wurde immer häufiger die Verteidigung der natio­nalen Würde und des nationalen Inter­­esses gegen (wert)liberale Positionen in Stellung gebracht, die georgische Traditionen unterminieren würden. Führende GT-Vertreter und ‑Vertreterinnen versehen eige­ne Posi­tionen immer öfter mit einer wert­konservativen, bisweilen rechtspopulistischen Färbung. Eine solche Einbettung der eigenen Politik stellte Parteichef Kobachidse explizit einem »liberalen Faschismus« ent­gegen, ein Begriff, der unter anderem im Alt-Right-Milieu, aber auch in russischer Staatspropaganda zu finden ist. Kobachidse verwendete ihn im Nachgang der Proteste um das umstrittene Gesetz zu »ausländischer Einflussnahme« für kritische Jou­rna­listinnen und Journa­listen, NGO-Ver­treter und ‑Vertrete­rinnen sowie Oppositionsparteien und Universitätsangehörige. Deren Aktionen rich­teten sich, so Kobachidse, gegen die Ortho­doxe Kirche, den Frieden und letzt­lich die georgische Identität. Pre­mier Gariba­schwili sieht diese, wie er im Mai 2023 bei der »Conservative Political Action Conference« in Budapest äußerte, zusammengefasst in der Losung »Gott, Hei­mat, Mensch«. In die EU wolle man allein »mit Christentum, […] mit Souveränität, […] mit Würde«. Hinter dieser Hinwendung zu nationalkonser­vativen Positionen muss nicht unbedingt eine genuine (Re-)Ideo­logi­sierung von Poli­tik stehen als eher macht­taktische Gründe, nicht zuletzt mit Blick auf die Parlamentswahlen im Herbst 2024.

Worte und Taten

Schon einen Tag nach dem russischen Ein­marsch in die Ukraine vom Februar 2022 erklärte Premiermini­ster Garibaschwili, Georgien werde sich den westlichen Sank­tionen gegen Russ­land nicht anschließen, um seinem Land keinen »Schaden zu­zufügen«. Man werde weiterhin dem »prag­matischen, den natio­nalen Interessen an­gepassten Ansatz« folgen, der Frieden und Stabilität gewährleiste. Die Sanktionen gegen Russ­land wertete der Premier als ineffektiv. Seit Beginn der russischen Voll­invasion der Ukraine haben sich die geor­gisch-russi­schen Handelsbeziehungen ver­tieft. Im Gegensatz zu den anderen Haupt­handelspartnern Türkei und China, aber auch der EU-27 ist der prozentuale Anteil Russlands am georgischen Gesamthandel von 2021 auf 2022 gewachsen. Laut Daten des georgischen Statistikamts belief sich der Handel mit Russland 2022 auf rund 2,5 Milliarden US-Dollar, 2021 waren es gut 1,6 Milliarden gewesen. Zudem ließen im Jahr 2022 Staatsbürgerinnen und Staats­bürger der Russländischen Föderation mehr Unter­nehmen (14.977) in Georgien regi­strie­ren als von 2012 bis 2021 insgesamt. Das reflektiert auch den (zu­mindest tempo­rären) enormen Zuzug aus Russland seit der russi­schen Vollinvasion und der Mobil­machung im Herbst 2022. Dieser Zuwachs bedeutet nicht automatisch mehr struk­turelle Abhän­gigkeit für Geor­gien. Bei den euroatlantischen Partnern allerdings hat das in den georgisch-russi­schen Wirtschafts­daten abge­bildete Wachs­tum die Frage möglicher Sank­tionsumgehung aufgeworfen. Auf einer gemeinsamen Reise der Sanktionsbeauftrag­ten aus EU, USA und Großbritannien in die Region machten diese Ende Juni 2023 auch in Tbilisi zu Ge­sprächen Station. Obwohl mit Bezug auf Parallelimporte regelmäßig auch Georgien genannt wird und besonders die Re-Exporte nach Russland von dort 2022 zugenommen haben, sind Sanktionsumgehungen nicht belegt.

Sicherheitspolitisch ist die praktische Zu­sammenarbeit mit der Nato und den west­lichen Partnern weiterhin eng, vor allem im Rahmen des Substantial Nato-Georgia Package. Auf politischer Ebene wur­den allerdings auch seitens des Bünd­nisses poli­tische Reformen angemahnt, ähnlich den Empfehlungen der EU, so in Äußerungen des Sonderbeauftragten des Nato-General­sekretärs für die Region oder beim Vilnius-Gipfel der Nato im Juli 2023. Der georgischen Regierung wieder­um haben einige Beobachterinnen und Beob­achter eine gewisse, zu­mindest rhe­torische Distanzierung zur Nato vorgehalten. Grund dafür waren nicht zuletzt die viel beach­teten Aussagen des georgischen Premiers beim diesjährigen GLOBSEC-Forum zum angeb­lichen kausalen Zusammenhang zwischen Nato-Erweiterung und Russlands Vollinvasion der Ukraine. Eine generellere »Nato-Müdigkeit« scheint aber auch damit ver­knüpft, dass sich Georgiens Nato-Perspek­tive seit 2008 nicht wesentlich konkretisiert hat. Aus GT-Kreisen wird zudem neben fehlenden Sicherheits­garantien darauf auf­merksam gemacht, dass im russisch-geor­gischen Krieg 2008 eine ähnliche Welle der Unterstützung wie jetzt für die Ukraine ausblieb. Was militärische Hilfe für die Ukraine betrifft, hat Georgien an Sitzungen des Ramstein-Formats zur Unter­stützung der Ukraine teilgenommen. Laut Georgiens Botschafter bei der Nato sei die Einladung dazu von »historischer Bedeutung« gewe­sen. Gleichzeitig haben bilate­rale Unstimmigkeiten über die Abgabe mili­tärischen Geräts an die Ukraine durch Tbilisi weitere Kontroversen zwischen den beiden Ländern ausgelöst. Schon zu Beginn der Invasion 2022 hatte Kyjiw die Unterstützung von Seiten der georgischen Regierung als unzu­reichend kritisiert und als Anlass dafür genannt, dass Anfang März 2022 der ukra­inische Botschafter aus Georgien – bislang ersatzlos – abgezogen wurde.

Grenzen des Pragmatismus

Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die Ambivalenzen und ungeklärten Fragen zwischen Georgien und seinen west­lichen Partnern offengelegt bzw. unter das Brennglas gestellt: Zum einen hat Geor­giens Antrag auf EU-Mitgliedschaft verstärkt die (ausstehende) Implementierung der politi­schen Refor­men ins Blickfeld gerückt. Vor allem die Reform des Justizwesens, politi­sche De-Polarisierung, die Stärkung der Un­abhängigkeit staatlicher Institutionen und De-Oligarchisierung sind zentrale Aspekte der von Brüssel gesetzten zwölf Prioritäten dafür, Georgien den Status eines EU-Beitritts­kandidaten zu gewähren. Gerade hier hatte Brüssel Fortschritte angemahnt. Zum ande­ren führt die bislang fehlende Mit­glied­schaft Georgiens in der EU und erst recht der Nato ein weiteres Mal vor Augen, wie verwundbar das Land angesichts der russi­schen Aggres­sion ist. Das betont auch die georgi­sche Regierung, ebenso die Tat­sache, dass Geor­giens westliche Partner die Politik einer Normalisierung der Beziehungen mit Russ­land vor 2022 lange selbst begrüßt hatten.

Es war nicht zuletzt auch die Politik der west­lichen Partner, die Georgiens Liminalität, den Schwebezustand zwischen »Ost« und »West«, perpetuierte. Dennoch dürfte man in Brüssel und Washington die Frage mittlerweile anders bewerten, ob angesichts des stark veränderten geo­politischen Um­felds die geor­gische Politik von Pragmatismus und »stra­tegi­scher Geduld« vis-à-vis Russland und die Integra­tion in euroatlanti­sche Institutionen weiter­hin parallel fort­geführt werden können. In diese Richtung weisen etwa die negativen Reaktionen auf die Wiederaufnahme der Direktflüge zwischen Russland und Georgi­en. Daran schließt sich die Frage an, welche Konsequenzen der regie­rende Georgische Traum daraus für sich ableitet – und wie sich das wiederum in den Beziehungen zu EU, USA und Nato niederschlägt.

Auffällig ist, dass sich in Bezug auf eine Konvergenz in außen- und sicherheitspolitischen Fragen, die Teil des EU-Integrations­prozesses ist, eher ein Negativtrend abzeich­net: Hatte sich Tbilisi 2020 noch in 61% der Fälle außen- und sicherheitspolitischen Positionen der EU angeschlossen, lag die Rate 2022 bei 44%. Für das laufende Jahr (Stand August 2023) wurde eine vorläufige Über­nahme­rate von 43% errechnet. Beim letzten Nato-Gipfel in Vilnius spielte Geor­gien zudem keine nennenswerte Rolle. Dass das Land sich in einer äußerst pre­kären geo­politischen Lage befindet und das Navi­gieren in einem solchen Umfeld beson­ders herausfordernd ist, wird auch seitens der westlichen Partner konzediert. Solch eher nüchterne Betrachtungen des Ver­hältnisses Georgiens zu seinen Partnern vor dem Hintergrund der komplexen sicherheits­politischen Herausforderungen werden allerdings überlagert von Tbilisis deutlich veränderter Rhetorik gegenüber EU, USA und Nato. Neben der Unterstellung, die Politik westlicher Partner sei darauf aus­gerichtet, in Georgien eine »zweite Front« zu eröffnen, sorgten unter anderem Tbilisis Anwürfe in Richtung Europäisches Parla­ment, einzelner EP-Abgeordneter oder der (vormaligen) US-Botschafterin in Georgien für Befremden – desgleichen konkrete Schritte wie das geplante »Gesetz zur Trans­parenz ausländischer Einflussnahme«. Dass es im Kontext der »Tbilisi Pride Week« im Juli 2023 zudem erneut zu Ausschreitungen kom­men konnte, werteten westliche Partner auch als staatliches Versäumnis.

Verknüpfung von Innen und Außen

Die öffentlich ausgetragenen Unstimmigkeiten zwischen Tbilisi und Kyjiw können teilweise als Ergebnis der Politik der »stra­tegischen Geduld« gesehen werden, hat Kyjiw doch offenbar umfänglichere Unter­stützung erwartet. Gleichzeitig ist das beiderseitige Verhältnis auch auf die Ver­flechtung von Innen- und Außenpolitik zurückzuführen, denn eine Reihe ehemaliger VNB-Vertreter haben eine neue politi­sche Heimat in der Ukraine gefunden. Der poli­tische Kurs Georgiens wird indes nicht mehr nur zwischen Regierung, Opposition und (Zivil-)Gesellschaft verhandelt. Er ent­zweit mittlerweile auch die Exekutive. Bis­lang eklatantester Beleg dafür ist das vom Georgischen Traum an­gestrengte, letztlich gescheiterte Verfahren zur Amtsenthebung gegen Präsidentin Surabischwili: Die Regie­rungspartei wirft ihr eine missbräuchliche, weil außenpolitisch (zu) aktive Amtsausübung vor, während Surabischwili sich in ihrem Pro-EU-Kurs sabotiert sieht.

Georgische Akteure wissen sich im machtpolitischen Wettbewerb durchaus der Liminalität ihres Landes zu bedienen. Aus­druck davon ist auch das Nebeneinander (in sich viel­schichtiger) Diskurse. Mögen im Fall des Georgischen Traums nicht an erster Stelle außenpolitische und ideologische Über­zeugungen, sondern innen- und macht­politische Aspekte eine wesentliche Rolle für die Dissonanzen in den Beziehungen zu den westlichen Partnern spielen, allen voran der Machterhalt mit Blick auf die kommenden Parlaments­wahlen 2024, so ist indes auch klar: Sprache ist performativ. Und kommunikative Ver­werfungen mit Brüssel und Washington sind damit kaum nur eine Art temporärer kommunikativer Kollateralschaden, sei es innenpolitischer Machtkonsolidierung, sei es der Politik der »strategischen Geduld« vis-à-vis Russland.

Zweifel sind daher angebracht, ob ein Fortführen der Politik der »strategischen Geduld« bei gleichzeitigen antiwestlichen Einlassungen (und einer Reihe fragwürdiger politischer Schritte) tatsächlich ein prag­matisches Erfolgsmodell für Außenpolitik in unsicheren Zeiten darstellt, das alle Optio­nen offenlässt. Damit verbundene Fragen dürften über die Mitte Dezember 2023 erwartete Ent­scheidung zur Ver­leihung des Kan­di­datenstatus hinaus für die EU rele­vant bleiben.

Wie weiter?

Am 8. November 2023 hat die Europäische Kommission die Empfehlung ausgesprochen, Georgien den EU-Kandidatenstatus zu verleihen. Mitte Dezember müssen dem noch die Mitgliedstaaten zustimmen. Unab­hängig von der finalen Entscheidung ist es für Auf­tritt und Einfluss der EU gegenüber Tbilisi zentral, dass sie im Verbund mit den Mitgliedstaaten ihre Positionen klar und kohärent kom­muniziert. Zum einen sollte sie deutlich benennen, wenn die geor­gische Regierung in Widerspruch zu EU-Standards und -Werten agiert. Bereits in diese Rich­tung weist, dass die Europäische Kommission zusätzlich zu den ausstehenden Refor­men Fortschritte in drei weiteren Bereichen einfordert, nämlich die verstärkte Anglei­chung der Außenpolitiken, die Eindämmung antiwestlicher und gegen EU-Werte gerichteter Desinformation sowie die Durch­führung freier und fairer Wahlen, besonders mit Blick auf 2024. Zum anderen sollte die EU erläutern, wie die eigene (kurz-, mittel- und langfristige) strategische Vision für das Land und die Region insgesamt aus­sieht. Dass Georgien etwa im August 2023 beim infor­mellen Gipfel der EU-Aspi­ranten in Athen (Länder des west­lichen Balkans plus Ukra­ine und Moldau) fehlte und in der Erklä­rung nicht genannt wurde, hat ambi­valente Signale nach Tbilisi und an die georgische Bevölkerung gesendet.

Für eine konkrete strategische Vision und Voraussetzungen ihrer sukzessiven Realisierung ist es notwendig, dem EU-Anspruch, ein geopolitischer Akteur zu sein, Stringenz zu verleihen, die vorhandenen Bausteine des EU-Engagements stärker zu verbinden und bestehende wie zukünftige Instrumente effektiver zu nutzen. Die Formulierungen der zwölf Prioritäten haben durchaus politischen und interpretatorischen Spielraum gelassen – für die EU, aber auch für die georgischen Partner. Auch die neuen Punkte sind eher allgemeiner verfasst. Klare Formulierungen von Kon­di­tionalitäten und Benchmarks garantieren zwar nicht per se eine bessere Umsetzung. Dafür bedarf es vor allem des politischen Willens auf Partnerseite. Sie tragen aber dazu bei, Aspekte wie Rechenschaftslegung und effektives Monitoring, auch durch geor­gische zivilgesellschaftliche Watchdogs, zu stärken. Klare Formulierungen sind nicht zuletzt auch dafür wichtig, einer Poli­tisierung oder Manipulation von EU-Konditionalitäten entgegenzuwirken.

Nötig für größere Leverage der EU ist zudem nachhaltige politische Rücken­deckung für Brüssel seitens der EU-Mitglied­staaten. Deren Äußerungen finden in Tbilisi durch­aus Gehör. Berlin sollte hier, zusam­men mit den anderen EU-Haupt­städten, eine vernehmliche Stimme sein.

Zugleich gilt es, auf EU-Seite für weichenstellende Anpassungen bereit zu sein. Nur durch diese können Brüssels erklärte Absich­ten, die es in Hinblick auf mög­liche Beitritts­horizonte hegt, innerhalb der EU, aber auch vis-à-vis den EU-Aspiran­ten plau­sibel gemacht werden. Eine kon­krete strategische Vision für Georgien und die Region müsste daher die notwendigen Refor­men auf EU-Seite elementar mit­einbeziehen.

Georgiens sicherheitspolitischen Herausforderungen versucht die EU mit der 2021 ins Leben gerufenen Europäischen Friedens­fazilität besser Rechnung zu tragen. Im Mai 2023 hat Brüssel ein drittes Unterstützungs­paket für Georgien verabschiedet. Die Flexi­bilität des Instruments ermöglicht es, das Engagement im Einvernehmen mit Tbilisi passgenau auszubauen. Eine paral­lele wei­te­re Stärkung der Koordination zwischen EU und Nato hinsichtlich deren verteidigungspolitischer Unterstützung für Georgi­en würde helfen, Synergien in diesem Bereich sicherzustellen. Doch auch ein Aus­bau der verteidigungspolitischen Zu­sam­menarbeit dürfte Georgiens geopolitische Vulnerabilitäten auf abseh­bare Zeit nicht beseitigen. Erst recht bietet sie keine Ant­worten auf Fragen nach dem Umgang mit den ungelös­ten Konflikten um Abchasien und Süd­ossetien. Will die EU eine konkrete und umfas­sende strategische Vision ent­wickeln, kommt sie nicht umhin, diese so sensiblen und vielschichtigen Kon­texte, nicht zuletzt mit Blick auf eine wei­tere Annäherung Georgiens an die EU, stärker mitzudenken.

Dr. Franziska Smolnik ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien. Giorgi Tadumadze ist Forschungsassistent dieser Forschungsgruppe. Dr. Mikheil Sarjveladze war bis Ende August Gastwissenschaftler der Forschungsgruppe.

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