Sollte der Europäische Rat im Dezember oder später grünes Licht dafür geben, EU-Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und Moldau zu eröffnen, dann geht es nicht mehr nur um symbolische Solidarität mit einem von Russland überfallenen bzw. bedrohten Nachbarn. Vielmehr beginnt im Schatten des Krieges ein neues Kapitel der Erweiterungspolitik. Nach der Türkei und den sechs Ländern des Westlichen Balkans bildet Osteuropa mit der Ukraine, Moldau und Georgien den dritten Erweiterungsraum. Spätestens seit Russlands Vollinvasion in der Ukraine versteht Brüssel unter Erweiterung die Expansion in strategisch wichtige Räume. Geopolitische Forderungen nach schnellen Beitritten nagen dabei an der konservativen Erweiterungsdoktrin – nach der es weder Rabatte auf die Kopenhagener Kriterien für eine EU-Mitgliedschaft geben darf noch Abkürzungen auf dem Weg zur Aufnahme. Hinzu kommt, dass die Beitrittsfragen bald in die Fährnisse der Kriegsdiplomatie geraten könnten, wenn es um dauerhafte Sicherheit für die Nachkriegs-Ukraine gehen wird. Die Europäische Kommission greift nun Ideen auf, wie neue Mitglieder schrittweise integriert werden könnten. Damit versucht sie, dem Dilemma zwischen Geo- und Integrationspolitik auszuweichen.
Im November 2023 hat die Kommission ein von ihr als historisch bezeichnetes Erweiterungspaket vorgelegt, das zehn Berichte über Stand und Fortschritte der Beitrittsaspiranten auf ihrem Weg in die EU umfasst. Zeitgleich veröffentlichte sie den Wachstumsplan für den Westlichen Balkan. Kommission und Rat sehen in der Erweiterung einen Eckstein der neuen Blockbildung, die zu einem Europa ohne Grauzonen führt. Diese Logik diktiert der EU – auch als Signal an Russland – ein hohes Tempo. Doch Geschwindigkeit und Tiefe der Reformen in den Beitrittsländern halten damit nicht Schritt, was grosso modo für alle zehn Bewerber gilt.
Bei ihren Empfehlungen musste die Kommission verschiedene Gesichtspunkte berücksichtigen:
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das Interesse der EU-Akteure an möglichst objektiver Beschreibung der länderspezifischen Lage und der Fortschritte im Lichte der Kopenhagener Beitrittskriterien,
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die politische Botschaft an Reformkräfte und Zivilgesellschaften in den zehn Ländern, dass ihre Fortschritte gesehen werden und sich der Einsatz dafür lohnt, die EU sich aber nicht von Fassadenkosmetik der Regierungen täuschen lässt, und
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den Umstand, dass manche der 27 EU-Staaten als Advokaten für den einen oder anderen Kandidaten auftreten oder ihre Verhandlungsmacht für sonstige Ziele nutzen, muss der Rat doch jeden Schritt im Erweiterungsprozess einstimmig beschließen.
Mit dieser Gemengelage ist zu erklären, dass es Diskrepanzen und Ungereimtheiten zwischen einigen empirischen Befunden und den Brüsseler Schlussfolgerungen gibt. Denn die Kommission hat viel Rabatt gegeben, wobei der russische Angriffskrieg als großer Beschleuniger wirkt. Im Juni 2022 wurde der Kandidatenstatus rasch an die Ukraine und Moldau vergeben, was eine gleichgerichtete Entscheidung für Bosnien-Herzegowina im Dezember des Jahres nach sich zog. Dabei würden insbesondere Beitrittsverhandlungen mit Kyjiw unter großer Unsicherheit beginnen. Sie dürften sich hinziehen, sollten sie mit einem mäßigen Vorbereitungsstand eröffnet werden. Ein vorzeitiger Beitritt käme nur um den Preis vieler und langer Übergangsregelungen in Frage; möglich wären dabei sogar permanente Ausnahmen von den Pflichten und gegebenenfalls den Rechten einer Mitgliedschaft. Die EU von heute denkt aber weniger an das Ende des Erweiterungsprozesses als daran, ihn in Gang zu halten.
Die vier Top-Empfehlungen der Kommission
Vier Länder sollen im Beitrittsprozess ein Feld vorrücken: Moldau, die Ukraine, Georgien und Bosnien-Herzegowina. Bei ihnen haben die Reformauflagen von 2022 als Anreiz gewirkt, so die Sicht der Kommission. Ihr zufolge hat die Ukraine vier von sieben, Moldau wiederum sechs von neun der geforderten Schritte erfüllt. Deshalb empfiehlt die Kommission, mit diesen beiden Ländern Beitrittsverhandlungen zu eröffnen, und zwar ohne Vorbedingungen. Allerdings soll der Rat den jeweiligen Verhandlungsrahmen erst verabschieden, wenn Kyjiw und Chişinău die noch ausstehenden Reformen umgesetzt haben. Diese betreffen allesamt fundamentale Anforderungen an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Für März 2024 hat die Kommission angekündigt, dem Rat darüber zu berichten. Das heißt, die ersten Regierungskonferenzen mit Moldau und der Ukraine könnten schon im kommenden Frühjahr stattfinden – nach Abschluss eines sehr schnellen Screenings zum Stand der Angleichung an den rechtlichen Acquis.
Die Kommission empfiehlt zudem, Georgien den Kandidatenstatus zu verleihen, sofern das Land alle zwölf der aufgestellten Prioritäten erfüllt. Bislang gelten nur drei davon als voll umgesetzt (siehe SWP-Aktuell 58/2023). Für Bosnien-Herzegowina rät die Kommission, Beitrittsverhandlungen zu eröffnen, wenn – so der sehr grundsätzliche Vorbehalt – der nötige Grad der Entsprechung mit den Beitrittskriterien erreicht sein wird. Das Land hat bisher lediglich erste Schritte getan, um die 14 Schlüsselprioritäten zu erfüllen, die ihm der Rat im Dezember 2022 auferlegt hat. Dennoch ist die Kommission der Ansicht, dass der Kandidatenstatus für Bosnien-Herzegowina eine positive Dynamik ausgelöst habe und nicht das ganze Land in Mithaftung für die »sezessionistischen und autoritären Maßnahmen« in der Republika Srpska zu nehmen sei. Mit einer aktualisierten Einschätzung will die Kommission im März 2024 aufwarten.
Beitrittshindernisse
Russlands Angriffskrieg gibt der Erweiterung neuen Auftrieb, beseitigt aber nicht die Beitrittshindernisse, die weitgehend dieselben sind wie vor Februar 2022. Die Kommission hat eingehend bewertet, wie es in den sechs Westbalkan-Ländern (WB‑6) und in der Ukraine, Moldau und Georgien um Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Außenbeziehungen bestellt ist. Daraus ergibt sich ein Ranking, bei dem die Ukraine vor Albanien an der Spitze steht, Serbien und Kosovo hingegen am unteren Ende rangieren.
Cluster 1: »Wesentliche Elemente«
Gemeinsamer Nenner aller Kommissionsberichte ist, dass gravierende Defizite bestehen, die Anforderungen der EU aus Cluster 1 zu erfüllen. Dieses Themenbündel umfasst »Wesentliche Elemente« (fundamentals); es geht dabei um die rechtsstaatliche und politische Ordnung der Länder und damit um ihre Verfassungswirklichkeit. Cluster 1 enthält fünf Verhandlungskapitel. Die beiden wichtigsten betreffen »Justiz und Grundrechte« (Kapitel 23) sowie »Recht, Freiheit und Sicherheit« (Kapitel 24). Sie haben in Grundsatz wie Detail einen engen Bezug zu den politischen und wirtschaftlichen Kriterien von Kopenhagen – verlangen also demokratische Institutionen und eine funktionsfähige öffentliche Verwaltung, Rechtsstaatlichkeit sowie eine intakte Marktwirtschaft, die dem Wettbewerbsdruck im Binnenmarkt standhält.
Die gegenüber (potentiellen) Kandidaten angemahnten Reformschritte und Prioritäten liegen in diesem Feld. So betreffen etwa die 14 Schlüsselprioritäten für Bosnien-Herzegowina vor allem die Funktionsfähigkeit der staatlichen Institutionen, Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung, Medienfreiheit und Migrationsmanagement. Bei Georgien geht es um fast alles. Auf der langen Liste stehen hier die Bekämpfung von Desinformation und ausländischer Manipulation, die Sicherung eines freien, fairen und kompetitiven Wahlprozesses für 2024 und der Abschluss entsprechender Gesetzesreformen, die Minderung politischer Polarisierung und eine inklusivere Legislativarbeit im Parlament, die Stärkung parlamentarischer Kontrollrechte auch gegenüber Sicherheitsorganen, die Unabhängigkeit staatlicher Institutionen wie von Notenbank oder Wahlbehörden, die Implementierung der Justizreform inklusive des Kampfs gegen Korruption, die Umsetzung des De-Oligarchisierungsprogramms, Verbesserungen zum Schutz von Menschenrechten und Medienfreiheit sowie den Einbezug der Zivilgesellschaft in politische Prozesse.
Insofern setzt die 2020 reformierte Erweiterungsmethode treffsicher an den neuralgischen Punkten an. Cluster 1 wird demgemäß als Erstes eröffnet und zuletzt geschlossen. Die Kommission zerlegt dabei Kapitel 23 und 24 in Interim-Benchmarks, also Zwischenziele oder Meilensteine. Denn es geht ja um tiefgreifende strukturelle Veränderungen und einen Verhaltenswandel von Personen und Institutionen, was nur systematisch und nicht in kurzer Frist zu erreichen ist. Es bedarf dazu einer breiten Unterstützung durch die politischen Parteien, einer professionellen Verwaltung und einer unabhängigen Justiz, die Normen durchsetzt. Wo korrupte Eliten faktisch den Staat vereinnahmen, gibt es erhebliche Probleme bei Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit. Eine scharfe innenpolitische Polarisierung, wie sie die Kommission im Falle Georgiens und etwa Montenegros kritisierte, steht nicht nur effizienter Regierungsführung entgegen. Sie verstärkt auch in der Bevölkerung den Ansehensverlust von Exekutive, Parlament und Parteien.
Die EU ist gerade seitens zivilgesellschaftlicher Akteure und pro-europäischer Oppositionspolitiker dem Vorwurf ausgesetzt, autokratische Regierungen über Gebühr aufgewertet und so bei Einheimischen erheblich an Glaubwürdigkeit eingebüßt zu haben. Geopolitische Erwägungen drohen Defizite bei der Regierungsführung und den »fundamentals« auszustechen oder in den Hintergrund zu drängen. Nur im Fall der Türkei hat die EU sichtbare Konsequenzen aus einer autoritären Wende gezogen, die Verhandlungen jedoch weder formal suspendiert noch gar abgebrochen, sondern nur eingefroren. Spürbare Sanktionen im Sinne der Umkehrbarkeit des Verhandlungsprozesses – wie das Zurückhalten von Finanztransfers – hat die EU in keinem der beklagten Fälle verhängt. Das gilt ebenso für Serbien, von dem Brüssel erwartet, das Reform- und Anpassungstempo generell zu verbessern, auch hinsichtlich des Justizwesens, der Bekämpfung von Korruption, organisierter Kriminalität und Geldwäsche, der Achtung der Medienfreiheit sowie der Strafverfolgung von Kriegsverbrechern. Da die Regierung in Belgrad die Nähe zu Moskau sucht, zieht sie mit der EU auch nicht an einem Strang, wenn es darum geht, Desinformation und Informationsmanipulation durch Russland oder China entgegenzuwirken.
GASP und bilaterale Konflikte
Die EU folgt dem Anspruch, als geopolitischer Akteur zu handeln und in der internationalen Politik geschlossen aufzutreten. Damit geht einher, dass sie der Angleichung von Beitrittskandidaten an den Acquis in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) erhöhten Wert beimisst. Denn sie erwartet von neuen wie alten Mitgliedern, untereinander solidarisch zu sein (Art. 32 EUV) und die GASP im Geiste der Loyalität zu unterstützen (Art. 24 [3] EUV). Der Hauptindikator dafür ist, ob sich die Bewerber relevanten Positionierungen aus Brüssel anschließen – also den Stellungnahmen des Hohen Vertreters im Namen der Union und den Beschlüssen des Rats, nicht zuletzt Sanktionen gegen Russland betreffend.
Musterschüler sind hier den aktuellen Kommissionsberichten zufolge Montenegro, Albanien, Nordmazedonien und Kosovo, die sich 2022/23 zu hundert Prozent an die GASP anglichen. Die Ukraine tat dies immerhin zu 93 Prozent, Bosnien-Herzegowina zu 98 Prozent und Moldau bei steigender Tendenz zu 78 Prozent. Dagegen schloss sich Serbien wie auch Georgien nur etwa zur Hälfte (51 bzw. 43 Prozent) den europäischen Standpunkten an, und bei der Türkei geschah dies sogar nur zu einem Bruchteil (10 Prozent). Ankara verstärkt konsequent den langjährigen Trend einer Entfremdung und politischen Loslösung von der EU. Die Alignment-Quote Georgiens spiegelt seine Balancepolitik gegenüber Russland wider. Und Serbien pflegt seit Jahren, teils in provozierender Weise, parallel zu den Beitrittsverhandlungen intensive Beziehungen zu Russland und China. Unter Präsident Aleksandar Vučić richtet Belgrad seine Innen- wie Außenpolitik weder umfassend noch konsistent auf eine EU-Mitgliedschaft aus. Als einziges der Westbalkan-Länder hat Serbien sich nicht den Brüsseler Sanktionen gegen Russland angeschlossen.
Die heraufziehende Blockbildung in Europa verlangt aus Sicht der EU auch von neuen Mitgliedern, dass sie die Ausgestaltung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) mittragen und unterstützen, ebenso den beabsichtigten Ausbau der Kooperation zwischen EU und Nato. Wie der Fall Türkei zeigt, können auch Nato-Mitglieder in strategischen Fragen und bei Krisenreaktionen Positionen einnehmen, die von denen der EU abweichen oder ihnen zuwiderlaufen. Aber die Kongruenz von EU- und Nato-Zugehörigkeit wäre mehr denn je ein Beitrag zur Sicherheit der Außengrenzen der Union und zur Verteidigungsfähigkeit von Mitgliedstaaten. Die Union allein kann das nicht leisten. Albanien, Montenegro und Nordmazedonien sind bereits im Atlantischen Bündnis. Bei den drei osteuropäischen Ländern, von denen die Ukraine und Georgien erklärtermaßen in die Nato streben, liegt das Zögern auf Seiten der Allianz und vieler ihrer europäischen Mitglieder. Die Kommission geht mittlerweile in ihren Berichten systematischer auf Formen der Zusammenarbeit mit der Nato ein, trotz möglicher Vorbehalte der paktunabhängigen EU-Länder Irland, Österreich, Malta und Zypern.
Die G7-Staaten werden mit Blick auf die Ukraine möglicherweise schon 2024 und noch vor den US-Präsidentschaftswahlen konkretisieren, wie und in welchem Zeithorizont sie bilaterale oder abgestimmte Sicherheitszusagen für das Land abgeben werden. Daraus könnten sich explizite Erwartungen und Forderungen an die EU ergeben, was einen Beitritt der Ukraine betrifft. Das brächte die EU schnell in Zugzwang. Sie sollte – vertreten durch zentrale Mitglieder wie Frankreich, Deutschland, Polen und gegebenenfalls auch Italien – versuchen, ihre Stimme, ihre Interessen und Sicherheitsangebote diplomatisch einzubringen. Unter den 27 wären dazu zügig Orientierungsgespräche zu führen, denn es dürften sich im Europäischen Rat zunächst heterogene Positionen abzeichnen.
Die Sicherheitslage in der Ukraine kann angesichts der umkämpften, durch Russland besetzten und teils illegal einverleibten Gebiete über längere Zeit prekär bleiben. Georgien mit den abtrünnigen Gebieten Abchasien und Südossetien sowie Moldau mit Transnistrien üben ebenfalls nicht die Kontrolle über ihr gesamtes Staatsgebiet aus, mit dem sie der EU beitreten wollen. Der Verweis auf den Fall Zypern, das trotz der faktischen Teilung der Insel (!) aufgenommen wurde, wird der sicherheitspolitisch brisanten Lage der drei osteuropäischen Länder nicht gerecht.
In Südosteuropa sind viele Konflikte um Außengrenzen, Gebiete und ethnische Zugehörigkeiten in und zwischen (potentiellen) Kandidatenländern bislang nicht ausgeräumt. Notorisch sind die bilateralen Streitigkeiten, die EU-Mitglieder mit Bewerbern austragen und die den Prozess blockieren. Angesichts solcher Reibereien, die ein gewisses Potential für gewaltsame Eskalationen und Zwischenfälle besitzen, ist der Westbalkan noch immer eine Region der Instabilität und des brüchigen Friedens. Die EU – nebst Nato, den USA und den Vereinten Nationen – wird dauerhaft in Anspruch genommen, damit die Lage kontrollierbar bleibt, siehe die KFOR-Truppen an der Grenze zwischen Kosovo und Serbien und die EUFOR in Bosnien-Herzegowina.
Serbien und Kosovo sehen die Verhandlungen mit Brüssel bzw. die Beitrittsperspektive bisher nicht als ausreichend starken Anreiz, um ihre Beziehungen konsequent zu normalisieren. Sie und andere der WB‑6 spekulieren auf die neue geopolitische Wachsamkeit der EU gegenüber Rivalen auf dem Balkan – China, Russland –, und sie erinnern daran, dass sie seit 2003 eine Beitrittsperspektive haben, die vor allem deshalb noch nicht umgesetzt sei, weil es der EU an politischem Willen fehle. Die EU betont hingegen die mangelnde Beitrittsreife der Länder, reagiert aber auf diese recht fruchtlose Debatte mit einer gewissen Offenheit für Innovationen in der Erweiterungspolitik.
Neuer Gradualismus in der Erweiterungsmethode
In den meisten Ländern des Westbalkans ist damit – anders als in Moldau und selbst unter Kriegsbedingungen in der Ukraine – wenig Momentum für Reformen zu erkennen. Dagegen entwickelt die EU ihre Erweiterungsmethode inkrementell weiter. Zwar wollte die Kommission ihre Empfehlungen an den Rat zum Vorrücken der vier Länder nicht dadurch gefährden, dass sie in ihrer Mitteilung auch gleich noch nahelegt, wie sich die Verhandlungen beschleunigen ließen (geschehen könnte dies etwa, indem man die Einstimmigkeitserfordernis für Zwischenschritte abschafft). Doch gibt es bereits Ansatzpunkte für Neuerungen. Richtungsweisend ist hier zunächst die Einstiegsformel für eine gradualistische Erweiterungspolitik, wie sie den Schlussfolgerungen des Europäischen Rats von Juni 2022 zu entnehmen ist. Dort ist die Rede davon, »die schrittweise Integration zwischen der Europäischen Union und der Region [dem Westbalkan] bereits während des Erweiterungsprozesses auf umkehrbare und leistungsorientierte Weise weiter voranzubringen«.
Durch solche Zwischenschritte würde ein neuer Gradualismus eingeleitet, mit dem Fortschritte unmittelbar belohnt würden. Im Kern geht es darum, vor dem förmlichen Beitritt eines Landes dessen politische Assoziierung und wirtschaftliche Integration möglichst weit voranzutreiben. Dafür bieten die vertieften Assoziierungsabkommen (AA/DCFTA) mit der Ukraine, Moldau und Georgien die weitestgehende Grundlage. So erwähnt etwa das Abkommen mit der Ukraine in Artikel 1(d) das Ziel einer abgestuften Integration in den EU-Binnenmarkt, ebenso die unterschiedlichen Maßnahmen zur Rechtsübernahme, die in einigen Sektoren den Mechanismen des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) ähnlich sind.
Die Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen (SAA) mit den sechs Westbalkan-Ländern stammen aus den 2000er Jahren und sind von engerem Zuschnitt als die AA/DCFTA. Insofern ist auch der neue Wachstumsplan für den Westbalkan mit seinen vier Pfeilern eine sinnvolle Ergänzung.
Pfeiler 1: Die EU bietet an, den Binnenmarkt für die WB‑6 selektiv und schrittweise zu öffnen. Diese würden die Regelungen dann gleichzeitig untereinander gewähren. Betroffen wären hier laut Vorschlag der Kommission sieben Prioritäten, wobei die WB‑6 aufgerufen sind, ihre eigenen Präferenzen zu nennen: (1) der Warenhandel zur Angleichung an die horizontalen Produktstandards der EU und die verbesserte Kooperation bei Zollabfertigung und Steuern; (2) die Freizügigkeit für Arbeitnehmer (zunächst nur die Anerkennung von Berufs- und Qualifizierungsabschlüssen betreffend) und Dienstleistungen (in den Sparten Tourismus und E-Commerce); (3) die Erleichterung des Straßentransports (gemeinsame Transit-Konvention und Zugang zu Informationssystemen); (4) die Beteiligung am SEPA-Zahlungsverkehr, (5) die Integration in den Energiemarkt (Elektrizität) und in die Dekarbonisierungsstrategie für die Wirtschaft; (6) der digitale Binnenmarkt (reduzierte Roaming-Gebühren, Cybersicherheit-Kooperation) und (7) die Integration in Lieferketten für Industrieprodukte, beginnend mit erneuerbaren Rohstoff-Wertschöpfungsketten.
Pfeiler 2: Erwartet wird so ein zusätzlicher Anschub für die wirtschaftliche Integration basierend auf EU-Regeln und Standards im Gemeinsamen Regionalen Markt, der 2020 im Rahmen des Berliner Prozesses vereinbart wurde. Dafür gibt es bereits einen Aktionsplan und mit CEFTA, dem Mitteleuropäischen Freihandelsabkommen, eine Governance-Struktur, die man nutzen kann.
Pfeiler 3: Regierungsführung und Rechtsstaatlichkeit sollen verbessert werden, nicht zuletzt damit ein günstigeres Umfeld für Wachstum und wirtschaftliche Reformen entsteht.
Pfeiler 4: Wirtschaftliche Reformen und die Staatshaushalte will die EU mit zusätzlich 6 Milliarden Euro (ein Drittel davon nicht rückzahlbare Zuschüsse, zwei Drittel Kredite) über vier Jahre verteilt unterstützen. Ähnlich wie beim Europäischen Semester für EU-Mitglieder sollen die WB‑6 ihre eigene Reformagenda vorlegen. Die nationalen Wirtschaftsreformprogramme (ERP) und die Fortschrittsberichte der Kommission könnten dafür den Ausgangspunkt bilden. Die Kommission ist also bestrebt, Finanzinstrumente und Anreize zu verzahnen, damit sich verbindlichere und zielgerichtetere Reformen anstoßen lassen. Die Mittel will sie länderweise vergeben, und zwar zusätzlich zu den thematisch über das Instrument für Heranführungshilfe bereitgestellten IPA-III-Mitteln. Hier dürfte aber der Rat mitentscheiden wollen. Das Geld soll in enger Taktung alle sechs Monate verausgabt werden, sofern vorab definierte Konditionen erfüllt sind. Die Bundesregierung dürfte begrüßen, dass der Wachstumsplan es ermöglicht, Synergien mit dem von ihr angestoßenen Berliner Prozess zu schaffen, und ebenso mit der Klimapartnerschaft Deutschland-Westbalkan, die von deutscher Seite bis 2030 mit 1,5 Milliarden Euro finanziert wird.
Das Volumen des Wachstumsplans, das die Kommission in die aktuellen Beratungen über den EU-Haushalt bis 2027 einbringen will, reicht keinesfalls an den Umfang der Kohäsionsmittel für Mitglieder heran. An diesen Beträgen orientieren sich die Balkanländer aber schon jetzt, weshalb sie immer unzufrieden mit den Angeboten sind. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf liegt in den WB‑6 derzeit zwischen 30 und 50 Prozent des EU-Durchschnitts (nach Kaufkraftparität). Relative Armut und geringe Wettbewerbsfähigkeit der eigenen Wirtschaft machen es plausibel, dass die Länder ihre Märkte für EU-Anbieter nicht reziprok öffnen wollen und darauf setzen, Anpassungen durch größere Transferzahlungen der EU abzufedern. Dies und die anspruchsvollen rechtlichen wie technischen Probleme bei der stufenweisen Öffnung zum Binnenmarkt oder gar einer Teilhabe daran werden einer Integration unterhalb der Mitgliedschaft Grenzen setzen. Auch eine am EWR orientierte Alternative müsste als Zwischen- oder Endstufe durch eine starke Kohäsionskomponente ergänzt werden.
Für die politische Assoziierung erprobt die EU schon seit den 1990er Jahren Beteiligungsformen, die auf eine Frühsozialisierung künftiger Mitglieder zielen, darunter strukturierte Dialoge und erweiterte (informelle) Ratssitzungen. Sehr viel weitergehend wäre es, Zwischenschritte auch zu institutionalisieren – wie mit einer »Partnerschaft für die Erweiterung« oder einem »Europäischen Politik- und Wirtschaftsraum« vorgeschlagen wurde, beides in Anlehnung an den EWR. Dies wäre auch ein Sicherheitsnetz, sollten Beitrittsverhandlungen stillstehen oder gar scheitern.
Insgesamt bleibt es dabei, dass die EU auf Marktzugang und Transfers als Hebel setzt, um dazu beizutragen, dass sich die »fundamentals« und die wirtschaftliche Lage von Bewerbern verbessern. Dabei konkurrieren die WB‑6 untereinander und gegenüber der Ukraine und Moldau um Aufmerksamkeit, Ressourcen und politische Unterstützung, was in einigen Westbalkan-Staaten konsequentere Reformen anstacheln könnte.
Verhandlungsrahmen und Beitrittsmanagement
Einstiegspunkte für eine »abgestufte Integration« in die EU bieten auch die bilateralen Verhandlungsrahmen. Dort legt die EU fest, wie sie verhandeln will, also etwa nach dem Benchmarking-System. Letzteres wollen manche ganz abschaffen, andere zumindest nicht mehr der Einstimmigkeit unterwerfen, damit die Abläufe beschleunigt werden. Besonders interessant ist allerdings, ob die Mitgliedstaaten Übergangsregelungen nur befristet oder dauerhaft ins Auge fassen und gegebenenfalls ganze Politikfelder – zum Beispiel die Gemeinsame Agrarpolitik – davon aussparen wollen. Denn permanente Ausnahmen sind etwas anderes als unterschiedliche Geschwindigkeiten wie etwa beim Beitritt zur Schengen- oder Eurozone. Schon im Verhandlungsrahmen mit der Türkei hatte die EU dauerhafte Ausnahmen als Option genannt. Das wäre dann die Teilmitgliedschaft durch die Hintertür.
Die Aufnahme in die EU beruht auf einem völkerrechtlichen Abkommen der EU-Staaten mit einem einzelnen Beitrittskandidaten. Auch die Verhandlungen werden mit gutem Grund nicht multilateral geführt. Allerdings hat die EU in der Vergangenheit bei größerem Antragsaufkommen mehrere Länder zum selben Zeitpunkt aufgenommen, unter anderem weil es damit erleichtert wird, die Verträge nach Artikel 49 EUV anzupassen und die nationalen Ratifizierungsprozesse durchzuführen. Die EU kann indes auch Anreize setzen – wie jetzt mit dem Wachstumsplan –, damit die Länder untereinander bereits einen Kooperations- und Integrationsgrad erreichen, der ihnen erstens nützt und zweitens das Risiko reduziert, dass ihre wechselseitigen Streitigkeiten nach einem Beitritt die EU belasten. Das spräche dafür, beitrittsreife Länder im Zweifel zurückzustellen, bis etwa alle sechs Westbalkan-Länder so weit sind. Außerdem würde das den Anpassungsdruck auf Seiten der EU erhöhen, zumindest was die Reform ihrer Institutionen angeht.
Reformunwillige Mitgliedstaaten hingegen wollen genau ein solches »Big Bang«-Szenario verhindern. Ihnen wäre es lieber, über einen längeren Zeitraum hinweg kleinere Länder nacheinander aufnehmen, so dass der Anpassungsbedarf für die Europäischen Verträge minimal wäre. Die WB‑6 haben zusammen nur rund 17 Millionen Einwohner. Die Schlüsselfrage ist in jeder Hinsicht die Aufnahme der Ukraine, wozu die 27 allenfalls einen fragilen Konsens gefunden haben. Erst sie würde den Big Bang wirklich groß machen. Kyjiws rascher Beitritt bis 2030 käme einer geopolitisch bedingten Notaufnahme gleich, mit der die Kopenhagener Kriterien und deren integrationspolitische Logik übertrumpft würden. Das würde dann tiefgreifendere Änderungen verlangen, als sie etwa aktuell eine deutsch-französische Expertengruppe vorschlägt.
Das größere Europa und die Grenzen der Erweiterungspolitik
Im größeren Europa ist die Ukraine de facto bereits Teil der westlichen Sicherheitsordnung geworden. Sie ist kein Pufferstaat mehr. Zwar gibt es noch immer Grauzonen, wie den Südkaukasus mit Armenien und Georgien (trotz Tiflis’ Beziehungen zur Nato), die Schwarzmeerregion und auch Serbien. Aber diese Räume schrumpfen. Europa ist auf dem Weg zu einer Konstellation, in der sich ein euro-atlantischer Block im »Westen« und ein russisch-weißrussischer Block im Osten gegenüberstehen. Politisch, wirtschaftlich und sicherheitspolitisch strebt die EU eine fast vollständige Abkopplung von Russland an, um es zu isolieren und seinen Einfluss einzudämmen.
Das Szenario der Blockbildung bringt die Nato und die USA in eine Schlüsselposition als primäre (und einzige) Garanten für harte Sicherheit. Mit ihnen muss die EU engste strategische Abstimmung finden, will sie in ihrer östlichen Nachbarschaft eine ordnungspolitische Rolle spielen. Sie kann nicht allein auf den Erweiterungsprozess setzen, um zu Sicherheit, Prosperität und Demokratisierung beizutragen. Ihre außen- und sicherheitspolitischen Möglichkeiten muss die EU jetzt voll ausschöpfen, ja unter dem Druck der neuen äußeren Bedrohungen und Anforderungen weiterentwickeln. Nur so kann sie auf Dauer die diplomatische und militärische Unterstützung aufrechterhalten, die sie Kyjiw zukommen lässt. Es reicht nicht, die nationalen Verteidigungshaushalte aufzustocken. Wie der Kosovo-Krieg 1999 ein Impuls für die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) war, so müsste heute die GSVP ausgebaut werden – in Bereichen wie rüstungsindustrieller Kooperation, Beschaffungswesen, Abschreckungsfähigkeiten und Interoperabilität.
Die Nato hat auf dem Gipfel von Vilnius im Juli 2023 den Nato-Ukraine-Rat als strategisches Format ins Leben gerufen, weil es auch bei der Allianz nicht den schnellen und direkten Weg zur Mitgliedschaft gibt. Mit den AA/DCFTA hat die EU ein Rückgrat für die wirtschaftliche und politische Integration der Ukraine geschaffen. Sie kann die institutionelle Struktur der Abkommen nutzen, um den sicherheitspolitischen und strategischen Dialog mit Kyjiw substantiell zu führen. Es spricht einiges dafür, die Ukraine aufgrund der komplexen und unwägbaren Sicherheitslage als Sonderfall zu sehen, sie aber voll in den Erweiterungsprozess einzugliedern. Dieser wird ergänzt durch Wiederaufbauhilfe in einer besonderen Größenordnung sowie dauerhafte Waffenhilfe und militärische Kooperation.
Der zweite, anders gelagerte Sonderfall bleibt wohl die Türkei. Das zeigt auch der Lagebericht von Kommission und Hohem Vertreter zu den bilateralen Beziehungen vom 29. November 2023. Ankara agiert inzwischen zu autonom und souveränistisch, als dass es sich auf absehbare Zeit den asymmetrischen Spielregeln von Beitrittsverhandlungen unterwerfen und Mitglied einer Union werden wollte, die auf Teilung von Souveränität basiert. Insbesondere akzeptiert die Türkei nicht den Konvergenzdruck in außen- und sicherheitspolitischen Fragen, auch was den alten Zypern-Konflikt betrifft.
Die Westbalkan-Länder profitieren von der Dringlichkeit, mit der die EU gegenwärtig Erweiterungsfragen behandelt. Der neue Gradualismus gibt beiden Seiten mehr Flexibilität und stellt die effektiven Fortschritte bei der Integration in den Vordergrund, nicht das Ziel einer schnellen Mitgliedschaft aus geopolitischen Gründen.
Die Bundesregierung sollte den Ansatz schrittweiser Integration der WB‑6 aktiv mitgestalten. Aber die Erweiterungspolitik darf nicht mit Aufgaben und Erwartungen überfrachtet werden. Sie ist kein Ersatz für Außen- und Sicherheitspolitik, insbesondere nicht im Fall der drei osteuropäischen Länder. Die GASP/GSVP muss für eine sehr lange Konfrontation mit Russland aufgestellt werden. Motor müssten dabei die großen Mitgliedstaaten sein, und der Weg führt über die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit. Darüber hinaus sollte Deutschland die Zusammenarbeit in der europäischen Quad, also mit Frankreich, Polen und Großbritannien, intensivieren.
Dr. Barbara Lippert ist die Forschungsdirektorin der SWP und Mitglied der Institutsleitung.
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