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Eskalation im Nordkosovo gefährdet den Belgrad-Pristina-Dialog

Kurz gesagt, 10.10.2023 Forschungsgebiete

Nach dem paramilitärischen Überfall im Norden des Kosovo wächst die Angst vor einem neuen bewaffneten Konflikt. Die EU und USA müssen ihre Beschwichtigungspolitik gegenüber Serbien beenden und beide Seiten überzeugen, zum Dialog zurückzukehren, meint Marina Vulović.

Der Angriff auf die Kosovo-Polizei im nordkosovarischen Dorf Banjska am 24. September hat Befürchtungen vor einem neuen Krieg im Kosovo geweckt. Die Angreifer, eine serbische paramilitärische Gruppe, hatten die Attacke offensichtlich von langer Hand geplant. Darauf deuten Art und Menge der beschlagnahmten Waffen und Munition hin, darunter Panzerabwehrwaffen und gepanzerte Fahrzeuge. Der kosovo-serbische Politiker und mutmaßliche Anführer lokaler krimineller Gruppen, Milan Radoičić, bekannte sich zunächst zu dem Angriff, bei dem ein kosovo-albanischer Polizist und mindestens drei kosovo-serbische Täter ums Leben kamen. Die Polizei hatte ihn nach eigenen Angaben mit Drohnen gefilmt. Bei einer Gerichtsverhandlung am 4. Oktober beteuerte Radoičić dann jedoch seine Unschuld. Damit bleibt unklar, ob jemand den Angriff angeordnet hat oder ob Radoičić auf eigene Faust gehandelt hat. Der Politiker steht seit 2021 auf der Sanktionsliste der USA für organisierte kriminelle Aktivitäten wie Drogen- und Waffenschmuggel. Serbiens Präsident Aleksandar Vučić feiert ihn als Nationalheld. Kosovos Regierungschef Albin Kurti beschuldigt Vučić, den Überfall befohlen zu haben, was Serbien zurückweist.

Notwendigkeit einer unabhängigen Untersuchung

Unabhängig davon, ob Vučić der Befehlshaber der Attacke war oder nicht, ist die regionale Stabilität und Sicherheit bedroht. Die erste Option – dass Vučić den Befehl gab – würde bedeuten, dass er mit seiner semi-autoritären Politik systematisch die Grenzen des Westens ausgetestet hat, dass er erkannt hat, dass ihm keine Konsequenzen für sein destabilisierendes Verhalten drohen, und dass er die Situation zu einem Territorialkonflikt eskalieren ließ. Durch den Einsatz paramilitärischer Gruppen kann er seine Einmischung plausibel leugnen, solange es keine handfesten Beweise für eine direkte Befehlslinie gibt. Dies würde auch bedeuten, dass er weiterhin bereit wäre, die Grenzen des Westens im Kosovo zu testen.

Die zweite Option – dass Radoičić auf eigene Faust gehandelt hat – würde bedeuten, dass Vučić die Kontrolle über die alternativen Sicherheitsstrukturen im Nordkosovo verloren hat und dass Teile des serbischen Sicherheitsapparats, wahrscheinlich um Aleksandar Vulin, den Direktor des serbischen Geheimdienstes mit engen Verbindungen zu Russland, gegen die Interessen des Staatschefs gehandelt haben. Dies wiederum würde bedeuten, dass die Attacke in Banjska nicht die letzte ihrer Art gewesen sein könnte. Wie tief die vermutete Spaltung innerhalb des serbischen Sicherheitsapparats geht, ist ebenfalls unklar und würde nichts Gutes verheißen.

Handlungsbedarf für die EU und USA

Angesichts der Implikationen dieser beiden möglichen Szenarien ist es wichtig, dass die EU, gemeinsam mit den USA, Druck auf Serbien ausübt, eine unabhängige Untersuchung der Ereignisse vom 24. September zuzulassen und mit der kosovarischen Justiz zusammenzuarbeiten. Sollte sich die erste Option als korrekt erweisen, würde dies ein Umdenken in der Beschwichtigungspolitik der EU und der USA gegenüber Serbien erfordern. Sollte sich die zweite Option als richtig erweisen, wäre das Fazit das gleiche. Dann läge es aber im Interesse der EU und der USA, die Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit im Kosovo mit einer verstärkten KFOR-Truppe und der EULEX-Mission zu gewährleisten.

Solange die KFOR-Truppe der Nato im Kosovo stationiert ist, ist ein flächendeckender Krieg unwahrscheinlich. Sie muss auch gestärkt werden, um als eine Abschreckung gegen weitere potentiell destabilisierende Attacken zu dienen. Das Vereinigte Königreich und potentiell auch Deutschland haben bereits die Entsendung weiterer Truppen angekündigt und zum Teil auch schon durchgeführt, was ein gutes Zeichen ist. Obwohl ein offener Krieg mit der Nato nicht im Interesse Serbiens ist, da es dann politisch und ökonomisch isoliert wäre, hat die Vergangenheit gezeigt, dass Krieg in autoritären Systemen zum Machterhalt beitragen kann.

Auswirkungen auf den Belgrad-Pristina-Dialog

Die jüngsten Ereignisse in Banjska haben auch weitreichende Implikationen für den Belgrad-Pristina-Dialog, der seit 2011 von der EU vermittelt wird. Die EU hat im Laufe des Dialogs gezeigt – und das ist seit der Vereinbarung des Normalisierungsabkommens von Februar und März 2023 noch deutlicher geworden –, dass ihre bisherigen Hebel nicht ausreichen, um die Umsetzung des Abkommens zu erreichen. Dies betrifft nicht nur Serbiens Verpflichtung, Kosovos Mitgliedschaft in internationalen Organisationen nicht zu blockieren, sondern auch Kosovos Verpflichtung, den Gemeindeverband der Kommunen mit serbischer Mehrheit zu etablieren. Umso wichtiger ist es, dass die EU alle ihr zur Verfügung stehenden diplomatischen und wirtschaftlichen Druckmittel einsetzt, um beide Seiten zur Rückkehr zum Dialog zu bewegen. Dazu gehört unter anderem die Verhängung von Strafmaßnahmen gegen Serbien, um ein Ende der Beschwichtigungspolitik zu signalisieren. Dabei sollte der Westen berücksichtigen, dass sich die Strafmaßnahmen gegen den Machterhalt der autoritären Politiker und nicht gegen die Bevölkerung richten.

Die Gründung des Gemeindeverbands der Kommunen mit serbischer Mehrheit im Kosovo wird in naher Zukunft wahrscheinlich keine hohe Priorität haben. Selbst wenn er etabliert wird, wird er nur in abgeschwächter Form realisiert werden, da der Anschlag in Banjska erneut die Verbindungen zwischen der größten kosovo-serbischen Partei, der organisierten Kriminalität im Norden und dem destabilisierenden Einfluss Belgrads auf das politische Leben im Kosovo aufgezeigt hat. Dies bedeutet, dass ein Gemeindeverband nicht dazu dienen darf, dass Belgrad die Kosovo-Serben weiterhin für seine innenpolitischen Zwecke instrumentalisiert. Umso wichtiger ist es, dass das Kosovo auf seine Bürgerinnen und Bürger im Norden zugeht, denn auch sie wollen nicht in einem rechtsstaatlichen Vakuum leben. Es liegt im Interesse aller am Dialog Beteiligten, dass die Menschen im Kosovo, im Norden wie im Süden, unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ein menschenwürdiges Leben führen können.