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Erfolgsbedingungen für ein Europa der mehreren Geschwindigkeiten

Die EU-Kommission hat mit ihrem Weißbuch zur Zukunft Europas die Debatte über eine flexible EU, in der einzelne Staaten schneller voranschreiten, neu entfacht. Nicolai von Ondarza benennt drei Bedingungen, die für den Erfolg eines solchen Modells erfüllt sein sollten.

Kurz gesagt, 03.03.2017 Forschungsgebiete

Die EU-Kommission hat mit ihrem Weißbuch zur Zukunft Europas die Debatte über eine flexible EU, in der einzelne Staaten schneller voranschreiten, neu entfacht. Nicolai von Ondarza benennt drei Bedingungen, die für den Erfolg eines solchen Modells erfüllt sein sollten.

Wenige Wochen vor dem 60. Jubiläum der römischen Gründungsverträge hat die EU-Kommission ihr Weißbuch »Zur Zukunft Europas« vorgelegt. Auf den ersten Blick bietet das Papier erstaunlich wenig Neues. Politisch hat es dennoch eine wichtige Debatte losgetreten: Ob die EU nach Brexit und Jahren der Krise nicht stärker auf ein »Europa der mehreren Geschwindigkeiten« setzen sollte, um ihre Reform- und Handlungsfähigkeit zu erhöhen.

Zunächst ist festzuhalten, dass ein »Europa der mehreren Geschwindigkeiten« schon längst Realität ist. Die Eurozone mit ihren 19 Mitgliedstaaten, der Schengen-Raum aus 22 EU-Staaten und vier Nicht-EU-Staaten gehört genauso zum europäischen Tagesgeschäft wie die dänischen Opt-outs aus der EU-Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Die Eurozone verfügt dafür sogar über ihre eigenen Institutionen wie die Eurogruppe oder den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), in deren Rahmen weitreichende Entscheidungen wie etwa über das Griechenlandprogramm getroffen werden. Doch bisher waren dies allesamt – bedeutende – Ausnahmen von der Regel, dass die EU einen gemeinsamen Rechtsrahmen für alle EU-Mitgliedstaaten bildet. Der im Weißbuch enthaltene Vorstoß des EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker wäre also keine komplette Kehrtwende, sondern vielmehr eine Verstärkung eines bereits seit den 1990er-Jahren wachsenden Trends. Welche Lehren können die EU-Mitgliedstaaten aus der bisherigen Nutzung dieses Mittels ziehen?

Die Gefahr der Spaltung

Die erste Lehre muss sein, dass auch ein »Europa der mehreren Geschwindigkeiten« kein Allheilmittel für die EU ist. Vom Anspruch dieses Modells, dass die EU-Mitgliedstaaten sich zwar in unterschiedlichen Tempi integrieren, aber letztlich auf dasselbe Ziel hinarbeiten, ist die aktuelle EU weit entfernt. Noch mehr: In der Vergangenheit ist es mit einer Ausnahme – Großbritannien ist nachträglich der EU-Sozialcharta beigetreten – in keinem Fall »verschiedener Geschwindigkeiten« gelungen, dass am Ende alle EU-Mitgliedstaaten am selben Ziel angekommen sind. Auch nach dem britischen Austritt ist es auf absehbare Zeit illusorisch, dass irgendwann alle EU-Staaten den Euro übernehmen.

Dabei hat sich gezeigt, dass ein Voranschreiten in Gruppen zwei große negative Nebeneffekte hat. Auf der einen Seite leidet die Transparenz des ohnehin komplexen Konstrukts Europäische Union weiter. Für die Bevölkerung ist es kaum nachvollziehbar, welche Staaten sich beispielsweise nicht am »einheitlichen« EU-Patent beteiligen (Spanien, Kroatien), oder ob Abgeordnete aus Nicht-Eurostaaten wie Polen über Regelungen der Eurozone mitbestimmen (das können sie). Auf der anderen Seite gefährdet die Gruppenbildung den Zusammenhalt in der EU, der gerade nach dem Brexit-Votum eigentlich Priorität haben sollte. Dies gilt insbesondere dann, wenn ein Europa der mehreren Geschwindigkeiten zu einem Kerneuropa führt, aus dem einige Staaten dauerhaft ausgeschlossen bleiben.

Langjährige Blockaden aufheben

Die Erfahrung zeigt aber auch, dass ein »Europa der mehreren Geschwindigkeiten« Blockaden aufheben und sogar Konflikte zwischen den Mitgliedstaaten reduzieren kann. Weder die Eurozone noch der Schengen-Raum wären in einem Zug mit allen Mitgliedstaaten möglich gewesen. Selbst die umstrittenen Übergangsfristen bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit haben geholfen, die Folgen der Osterweiterung in Staaten wie Deutschland oder Österreich abzufedern. Beim einheitlichen EU-Patent war es sogar eine 30-jährige Blockade, die durch ein Voranschreiten mit 26 Staaten aufgelöst wurde. Gleichzeitig hat dieses Modell auch Staaten wie Dänemark erlaubt, ihre EU-Mitgliedschaft aufrechtzuerhalten, ohne an allen Integrationsschritten wie der Eurozone beteiligt sein zu müssen.

Drei Elemente haben sich als besonders wichtig erwiesen, um gleichzeitig den Zusammenhalt der EU zu sichern und ein Voranschreiten der Integration zu ermöglichen: Dies sind erstens die Nutzung der EU-Institutionen (Kommission, Rat, Parlament), wie es etwa die sogenannte »Verstärkte Zusammenarbeit« erlaubt. So sind auch nicht beteiligte Mitgliedstaaten stets informiert, während die Kohärenz mit anderen EU-Politiken gewährleistet wird. Gruppenbildung außerhalb der EU-Strukturen (wie etwa beim Fiskalpakt von 2012) hingegen verstärkt die Intransparenz und die Konflikte zwischen den Mitgliedstaaten.

Zweitens benötigt ein »Europa der mehreren Geschwindigkeiten« eine Gruppe entschlossener Mitgliedstaaten, die bereit sind, Ressourcen und politisches Kapital zu investieren. Eine europäische Finanztransaktionssteuer ist beispielsweise erst in der Runde der 28 Mitgliedstaaten, dann in der Eurozone gescheitert. Selbst im Rahmen einer »Verstärkten Zusammenarbeit« von elf Mitgliedstaaten findet sich seit nunmehr fünf Jahren keine Einigung darüber, wie eine Finanztransaktionssteuer ausgestaltet werden soll. Die Bankenunion hingegen wurde von Beginn an von den Kernstaaten der Eurozone – vor allem Deutschland und Frankreich – aktiv vorangetrieben.

Drittens muss die Mitgliedschaft in einer solchen Gruppe entschlossener Staaten auch Vorteile bringen, sonst kann sie nicht zum Vorreiter der Integration werden. Ein »Mini-Schengen« etwa, in dem Flüchtlinge in einer kleineren Gruppe von EU-Staaten verteilt würden, wäre nur auf die Lastenteilung ausgerichtet. Die Bankenunion hingegen erlegt ihren Mitgliedern erhöhte Pflichten auf, bietet aber gleichzeitig auch höhere Stabilität auf den Finanzmärkten.


Kurzum: Der Vorstoß von Juncker kann helfen, in einzelnen blockierten Bereichen Reformen auf europäischer Ebene durchzusetzen. Es braucht nunmehr eine Debatte, wie ein mehr und mehr differenziertes Europa organisiert werden soll. Denn um eine Spaltung der EU zu verhindern, braucht es eine institutionelle Verankerung sowie eine Gruppe von Mitgliedstaaten, die auch trotz und gerade wegen der vielfältigen Krise in der EU und in ihrem Umfeld bereit sind, mehr in Europa gemeinsam zu machen. Ob und inwieweit sich eine solche Gruppe bildet, wird gerade auch bei den Wahlen in diesem Jahr in den Niederlanden, Frankreich und Deutschland entschieden werden.

Der Text ist auch bei EurActiv.de erschienen.