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Die Rolle des Ozeans in der Klimapolitik

Europa muss das Verhältnis zwischen Schutz und Nutzung klären

SWP-Aktuell 2023/A 20, 24.03.2023, 8 Seiten

doi:10.18449/2023A20

Forschungsgebiete

Seit Netto-Null-Ziele ein integraler Baustein der Klimapolitik sind, wird verstärkt dar­über nachgedacht, zusätzlich zu einer drastischen Reduzierung der Emissionen Kohlen­dioxid (CO2) aktiv aus der Atmosphäre zu entfernen. Die Herausforderungen, die mit land­basierten Methoden der Kohlendioxid-Entnahme (Carbon Dioxide Re­moval, CDR) verbunden sind, werden zunehmend offenbar. Angesichts dessen könnte der Ozean eine neue Hoffnung sein für Strategien zur CO2-Entnahme und ‑Spei­che­rung in der Europäischen Union (EU) und weltweit. Allerdings ist der Ozean ein Gebiet mit sich über­schneidenden und manchmal widersprüchlichen Rechten und Pflichten. Es besteht ein Spannungsverhältnis zwischen dem souveränen Recht der Staaten, die Meeres­ressour­cen inner­halb ihrer ausschließlichen Wirtschafts­zonen zu nutzen, und der internatio­nalen Verpflichtung, den Ozean als globa­les Gemeinschafts­gut zu schüt­zen. Die EU und ihre Mitglied­staaten müssen das Ver­hältnis zwi­schen diesen beiden Para­digmen in der Meerespolitik klären, wenn sie in Erwägung ziehen, den Ozean gezielt als Kohlen­stoffsenke oder ‑speicher zu verwenden. Derzeit wird die Meeres­strategie-Rahmen­richtlinie überarbeitet und ein Rahmen für die Zertifizierung von CO2-Ent­nahmemethoden auf EU-Ebene entwickelt. Die Schaffung von Quer­verbindungen zwischen beiden könnte den Weg bereiten für eine Debatte über Ziel­konflikte und Synergien zwischen Schutz und Nutzung von Meeresökosyste­men.

Nach dem Start der Ozeandekade der Ver­einten Nationen (UN) im Jahr 2021 und der UN-Ozeankonferenz in Lissabon 2022 wird der Zusammen­hang zwischen Klima- und Meerespolitik zunehmend anerkannt. Nicht nur wächst das Bewusstsein für die Risiken, die der Klima­wandel für die Meeresumwelt mit sich bringt (Versauerung, Korallen­bleiche usw.), sondern auch für die Rolle des Ozeans bei der Bewältigung desselben. Seit­dem das Netto-Null-Ziel für Treibhausgas­emissionen die Kernvorgabe der EU-Klima­politik ist, wird die Notwendigkeit, CO2 aktiv aus der Atmosphäre zu entfernen und gleich­zeitig die Emissionen weiter dras­tisch zu senken, immer häufiger diskutiert.

Der Ozean spielt eine Schlüsselrolle bei der Regulierung des globalen Klimas, weil er auf natürliche Weise einen großen Teil (25–30 %) der anthro­pogenen CO2-Emissio­nen absorbiert, und dieses Entnahmepotenzial könnte womöglich durch menschliches Eingreifen noch vergrößert werden. Da die technischen und soziopolitischen Herausforderungen von landbasierten CDR-An­sät­zen zunehmend sichtbar werden, könnte der Ozean neue Hoffnung bieten, wenn in der EU und weltweit Strategien zur Ent­nahme und Speicherung von Kohlen­stoff entwickelt werden. Die Vorschläge, den Ozean verstärkt als Kohlenstoffsenke zu nut­zen, reichen von der Ausweitung von See­graswiesen bis hin zu geochemischen An­sät­zen, einschließlich der Erhöhung der Alkalinität des Ozeans (s. Grafik). Letzte­res bedeutet, dass Substanzen wie gemah­lener Kalk­stein oder Olivin, die mit dem Meer­wasser reagieren und CO2 binden, in den Ozean eingebracht würden.

Wäh­rend die politischen Entscheidungsträger der EU Bereitschaft signalisiert haben, sich in der Zukunft mit Methoden der mari­nen CO2-Entnahme (mCDR) zu befas­sen, exis­tiert zwischen den Akteu­ren in der Kli­ma­politik und denen in der Meeres­schutz­poli­tik eine Kluft. Diese frag­men­tierte meeres- und klimapolitische Land­schaft könnte zur Folge haben, dass die Rolle des Ozeans in der Klimastrategie der EU nicht umfassend mitgedacht wird.

Der Ozean als Kohlenstoffsenke in der internationalen Klimapolitik

Seit der Weltklimarat (IPCC) deutlich ge­macht hat, dass staatliche Netto-Null-Ziele ohne den Einsatz von CDR-Methoden nicht zu erreichen sind, ist eine Debatte darüber entstanden, wie – zusätzlich zu drastischen Emissionsreduktionen – CO2 aktiv aus der Atmosphäre entfernt werden kann. Gleichzeitig rückt die Rolle des Ozeans immer mehr in den Mittelpunkt der Dis­kus­sionen auf den Vertragsstaatenkonferenzen (COPs) der UN-Klimarahmen­konvention (UNFCCC). Auf der COP21 im Jahr 2015 in Paris haben 23 Parteien (dar­unter Frank­reich, Spanien, Schweden, Australien, Kanada, Mexiko, Chile und mehrere kleine Inselstaaten) die Erklärung »Because the Ocean« abgegeben, in der argumentiert wird, das Pariser Abkommen sei zu land­zentriert. Seitdem hat es zahl­reiche Ver­suche gegeben, die Bedeutung des Ozeans in den Klimaverhandlungen zu stärken:

Eine zweite »Because the Ocean«-Erklä­rung wurde auf der COP22 in Marrakesch 2016 veröffentlicht und zählt derzeit 41 Unterzeichner. Auf der COP23 in Bonn 2017 gab es einen »Oceans Action Day«, zudem startete die COP-Präsidentschaft eine Initiative, die eine Strategie für den Ozean in die internationalen Klimaschutzbemühungen integrieren soll. Der »Oceans Action Day« auf der COP24 in Kattowitz 2018 kon­zentrierte sich auf die Diskussion darüber, wie die Erreichung der nationalen Klima­beiträge (Nationally Deter­mined Con­tribu­tions, NDCs) aus dem Pariser Ab­kommen den Ozean einbeziehen kann und wie sich verschiedene Strategien auf ihn auswirken können. Die COP25 im Jahr 2019 wurde als »Blue COP« bezeich­net, um ihren Schwerpunkt, die Schnittstelle zwischen Ozean und Klima, zu unterstrei­chen. Trotz dieser zahlreichen Initia­ti­ven wurde die Bedeutung des Ozeans in den for­mellen UNFCCC-Ver­handlungen nicht ange­messen berück­sichtigt, was dar­auf hinweist, dass die Ver­bindung zwischen Ozean und Klima zwar ge­sehen wird, die Rolle des Ozeans in der internationalen Klimapolitik aber nach wie vor ungeklärt ist.

Aktuelle politikorientierte Analysen zei­gen weitere Optionen für meeresbasierte Klimaschutzmaßnahmen in den NDCs auf und betonen »Meereslösungen« für den Klima­wandel. Darüber hin­aus wurde eine Bewertung von meeres­basierten Klimastrate­gien in den IPCC-Sonderbericht »Der Ozean und die Kryo­sphäre in einem sich wandeln­den Klima« von 2019 aufgenommen.

Angesichts dieser verstärkten Konzen­tra­tion auf die Rolle des Ozeans in der inter­nationalen Klimapolitik und der immer offen­sichtlicher werdenden Schwierigkeiten bei der landbasierten CO2-Ent­nahme könnte es von Interesse sein, den Ozean als neuen Hoffnungsträger für die CO2-Entnahme zu begrei­fen. Dies gilt insbesondere für große Emittenten wie die USA und China.

Die USA ziehen die Rolle der marinen CDR als Teil ihrer Klimaschutzstrategie bereits in Betracht: Die »National Academies of Sciences, Engineering and Medicine« (NASEM) publizierten Ende 2021 einen Bericht, in dem eine nationale Forschungsstrategie für eine ozeanbasierte CO2-Ent­nahme skizziert wird. Seitdem wurden im US-Senat und im Repräsentantenhaus meh­rere Gesetzentwürfe zur CO2-Entnahme ein­gebracht, die die potenzielle gezielte Nut­zung des Ozeans als Kohlenstoffsenke thema­tisieren und die Entwicklung einer »Mis­sion zur CO2-Entnahme im Ozean« fordern.

Grafik

China, das auf eine lange Geschichte der Bewirtschaftung mariner Ökosysteme zurück­blicken kann, betreibt die derzeit größte Seetangzucht der Welt und hat in den letzten Jahren intensiver erforscht, wel­ches Potenzial in der Speicherung von »blauem Kohlenstoff« (blue carbon) in Küs­ten­gebieten liegt. In Pekings jüngstem Fünf­jahresplan (FYP14) vom März 2021 heißt es, dass der Ozean stärker als Kohlenstoffsenke genutzt werden sollte. Das chinesische Ministerium für Naturressourcen veröffentlichte daraufhin ein Dokument mit Vor­schlägen für »Ac­counting Methods for the Economic Value of the Ocean Carbon Sink«. Im Jahr 2021 initiierte China sein erstes Projekt zur Ver­gabe von Emissionszertifikaten für blauen Kohlenstoff; die staatliche Ozeanverwaltung kündigte an, dass sich der Handel mit blauem Kohlenstoff sowohl auf Küstenökosysteme als auch auf neuartige Ansätze wie »mikrobielle Kohlenstoffpumpen« konzentrieren würde. Nicht zuletzt befindet sich der Hauptsitz des 2022 begon­nenen Pro­gramms »Ocean Negative Carbon Emissions« in China und dessen erstes inter­nationales Forum fand im November 2022 in Xiamen statt.

Darüber hinaus wächst bei Wirtschaftsakteuren das Interesse an mariner CDR. Eine große Zahl von Start-ups entsteht (z. B. Run­ning Tide, Project Vesta), wäh­rend gleichzeitig größere philanthropische Orga­nisationen wie Ocean Visions daran arbei­ten, die Entwicklung verschiedener mCDR-Metho­den voranzubringen: darunter die Erhöhung der Alka­linität (vgl. Seite 2) oder der künst­liche Auftrieb (wobei nähr­stoff­reiches Tie­fen­wasser hoch­gepumpt wird – dies hat eine düngende Wirkung auf Algen und andere Lebensformen im oberen Ozean, was bedeu­tet, dass mehr CO2 in deren Bio­masse ge­bun­den werden kann). Diese neuen Akteure beto­nen das hohe theoretische Koh­lenstoff-Entnahme­poten­zial von mCDR-Ansätzen sowie deren Kommerzialisierungs­möglich­keiten; folg­lich besteht die Gefahr, dass das Potenzial der marinen CDR stark überschätzt wird, um Risikokapital anzu­zie­hen, und dass kom­merzielle Inter­essen den Start von Projekten ohne ange­messene Governance-Struk­turen vorantreiben.

All diese Entwicklungen sind Zeichen dafür, dass es wichtig ist zu eruieren, wie die bewusste Nutzung des Ozeans als Kohlen­stoffsenke mit anderen Zielen der Meerespolitik in Wechselwirkung stehen könnte.

Globale Meerespolitik zwischen Nutzung und Schutz

Der Ozean ist ein Raum mit sich überschneidenden Rechtsgebieten. Aufgrund des Spannungsverhältnisses zwischen Rech­ten und Pflichten in der internationalen Meerespolitik gibt es unterschiedliche Aus­legungen hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der verschiedenen Methoden von mariner CO2-Entnahme.

Die meisten internationalen Mechanismen zur Governance des Ozeans wurden nicht mit Blick auf marine CDR entwickelt, son­dern konzentrieren sich in erster Linie auf den Schutz der Meere. Der einzige Ver­such, mCDR direkt zu regeln, ist die 2013 erfolgte Ände­rung des Londoner Protokolls (LP.4(8)), die die großflächige Ozeandüngung (Zugabe von nährstoffreichen Substanzen wie Eisen in den Ozean zur Steigerung des Algenwachstums) verbietet und Leit­linien für die Regulierung anderer mCDR-Akti­vi­tä­ten enthält, bei denen Stoffe in die Meeres­umwelt eingebracht werden. Das Hauptziel des Londoner Protokolls ist jedoch, die Meeres­umwelt zu schützen, und nicht, die Nutzung des Ozeans als gemeinsame Res­source zur Bekämpfung des Klima­wandels zu regulieren. Mit Stand vom Januar 2023 haben 53 Vertragsparteien das Protokoll unterzeichnet, darunter Deutschland und China, nicht aber die USA. Außer­dem ist die Änderung, die die marine CDR betrifft, noch nicht in Kraft, da sie noch von den erforderlichen zwei Drit­teln der Vertrags­parteien ratifiziert werden muss.

2018 begannen Verhandlungen über eine neue internationale rechtsverbindliche Ver­einbarung im Rahmen des UN-See­rechts­übereinkommens, die sich mit der Erhal­tung und nachhaltigen Nutzung der biologi­schen Vielfalt der Meere in Gebieten jenseits der nationalen Gerichtsbarkeit (Marine Bio­diver­sity of Areas Beyond National Juris­diction, BBNJ) befasst. Im März 2023 haben sich die Regierungen nach zähen Verhandlungen auf einen vorläufigen Text für dieses Ab­kommen geeinigt, aber es wird wohl noch lange dauern, bis es angenommen und ratifiziert wird. Dieses Instrument hat das Potenzial, die Verbindungen zwischen Klima- und Meerespolitik zu stärken. Sein Schwerpunkt liegt auf der Abwägung der Risiken ver­schie­dener Mee­resaktivitäten:

Es zielt dar­auf ab, den Unterzeichnerstaaten detailliertere Verfah­ren, Grenzwerte und Leitlinien für Um­weltverträglichkeits­prüfungen in der Mee­resumwelt an die Hand zu geben, umfasst Bestimmungen, wie ku­mu­lative Auswirkungen mehrerer Aktivi­tä­ten berücksichtigt werden können, und schlägt detaillierte Über­wachungs- und Berichts­pflichten vor. Überdies sieht der Ent­wurf des Abkommens Regeln vor, die den Kapazitätsaufbau und den Technologietransfer fördern sollen, und empfiehlt, einen Clearing-House-Mecha­nismus einzu­richten, der die gemeinsame Nut­zung von Meeresdaten erleichtern, die Zu­sammen­arbeit för­dern, Anträge auf Kapa­zitäts­aufbau ein­facher machen und die Transparenz der Forschung verbessern könnte.

Obwohl marine CDR nicht im Fokus der BBNJ-Verhandlungen stand, war die Sorge über menschliche Eingriffe auf hoher See ein wichtiger Impuls für den neuen Ver­trag. Aus diesem Grund könnte er ein wei­te­res Instrument zur Regelung von mCDR-Akti­vitäten jenseits der nationalen Hoheits­gebiete werden.

Hier zeigt sich, dass die Idee, den Ozean gezielt als Kohlenstoffsenke zu nutzen, in einem grundlegenden Spannungsverhältnis zwischen den beiden Haupt­paradigmen der Meerespolitik steht: Das eine betont das souveräne Recht der Staaten, die Meeres­ressourcen innerhalb ihrer ausschließlichen Wirtschaftszonen zu nutzen, das andere die internationale Ver­pflichtung, den Ozean als globales Gemein­gut zu schützen. Obwohl einige bestehende und neu entstehende internationale Mecha­nismen zur Governance des Ozeans für die marine CDR von Bedeu­tung sind, klafft derzeit eine erheb­liche internationale Governance-Lücke in Bezug auf die Frage, welche Rolle das CO2-Ent­nahme­potenzial des Ozeans im Klimaschutz spielen kann.

Eine neuartige Rolle des Ozeans in der EU-Klimapolitik?

Die Rolle des Ozeans in der Klimapolitik der EU ist weitgehend undefiniert. Weder in der Langfriststrategie der Europäischen Kommission für eine klimaneutrale EU aus dem Jahr 2018 noch in der von der Kom­mission 2019 veröffentlichten Mitteilung zum Europäischen Green Deal wird das CO2-Entnahmepotenzial des Ozeans er­wähnt. Dies geschieht jedoch in der Mit­tei­lung der Kommission über »Carbon Farm­ing« aus dem Jahr 2021: Hier verweist die Kommission auf die Möglich­keiten, die das blue carbon farming bietet, unter anderem indem See­gras­wiesen wiederhergestellt und ausgeweitet werden. Geochemi­sche Ansätze zur Steigerung des marinen CO2-Entnahme­potenzials, zum Beispiel durch die Erhö­hung der Alkalinität des Ozeans, werden allerdings nicht genannt.

Im darauffolgenden Jahr ist eine gemeinsame Mitteilung der Kommission und des Hohen Vertreters der EU über die internatio­nale Meerespolitik der Union erschienen, die auf die marine CO2-Ent­nahme Bezug nimmt. Diese Mit­teilung von 2022 konsta­tiert ein wachsendes Interesse an mCDR-Aktivitäten und bekräftigt, dass das Lon­doner Übereinkommen zusammen mit seinem Protokoll zwar die CO2-Abscheidung und ‑Spei­che­rung in geologischen Forma­tionen unter dem Meer erlaubt und regelt, die Ozeandüngung aber mit Ausnahme von Forschungs­tätigkeiten verbietet. In der Kom­muni­kation wurde ferner unterstrichen, die EU müsse sicherstellen – bevor sie neue mCDR-Kon­zepte vorantreibt –, dass es eine angemessene wissenschaftliche Grundlage gibt, auf deren Basis solche Aktivitäten ge­rechtfertigt werden können, und dass Risi­ken und Aus­wirkungen ausreichend bedacht wurden. Die Mit­tei­lung weist indes auch dar­auf hin, dass mCDR-Metho­den wie die Aus­dehnung von Seegraswiesen und Algen­feldern dazu beitragen können, den Klima­wandel abzuschwächen, weil dadurch mehr Kohlenstoff aufgenommen und gespeichert würde.

Derzeit werden Kohlenstoffflüsse in Mee­res- und Küstengebieten in der europäischen Berichterstattung über Emissionen aus Land­nutzung, Landnutzungsänderung und Forstwirtschaft (LULUCF) nicht berück­sich­tigt; solche Daten einzubeziehen wäre eine technische und politische Her­aus­forde­rung. In der für 2022 beschlossenen Überarbeitung der LULUCF-Verordnung im Rahmen des »Fit for 55«-Pakets haben die politischen Entscheidungsträger der EU jedoch betont, die Anrechnung der CO2-Entnahme in Meeresökosystemen könnte in Zu­kunft in Betracht gezogen werden.

Der Fokus auf biologische Ansätze zur Erhöhung der Kohlenstoffaufnahme im Meer ist ebenfalls in anderen EU-Initiativen zu erkennen. So haben die Europäische Kom­mission, die Europäische Exekutiv­agentur für Klima, Infrastruktur und Umwelt (CINEA) und ein Konsortium von Nachhaltigkeits­beratern und Algenorganisationen (algae organisations) im Som­mer 2022 eine euro­pä­ische Algen-Stake­holder-Plattform, EU4Algae, gegründet. In einer Mitteilung vom Novem­ber 2022 hebt die Kommission die Rolle hervor, die der Anbau von Makroalgen im Klimaschutz spielen kann, und for­muliert Maßnahmen, um den Algenanbau in der EU zu fördern und auszuweiten. Innerhalb der interfraktionellen Arbeitsgruppe »Klima­wandel, bio­logische Vielfalt und nach­haltige Entwicklung« des Euro­päischen Par­la­ments gibt es eine »Ocean Governance Working Group«. Deren klima­politische Arbeit fokussiert sich auf den Schutz der Meere vor den Auswirkungen des Klimawandels. Seit Kurzem beschäftigt sie sich aber ebenso mit der Idee, den Ozean be­wusst als Kohlenstoffsenke zu nutzen.

Auch die Möglichkeit, CO2 in geologischen Formationen unter dem Meeresboden zu speichern, wird in Europa vermehrt er­wogen. So gibt es in mehreren Staaten Bestrebungen, die einschlägige Änderung des Londoner Protokolls (Artikel 6) zu rati­fizieren und den grenzüberschreitenden Transport von CO2 möglich zu machen, um es unter dem Meeresboden zu speichern. Außer­dem bereitet die Kommission eine Mit­tei­lung vor, die sich unter anderem mit Kohlen­stoffabscheidung und -speicherung (Carbon Capture and Storage, CCS) befasst und den Status quo sowie strategische Prio­ritäten skizziert.

Aus einer von der Kom­mission vorgelegten Analyse des Rechtsrahmens des Lon­doner Protokolls geht her­vor, dass man auch auf die bestehende CCS-Richt­linie der EU zurückgreifen könnte: Damit würde der grenzüberschreitende Transport von CO2 (zwischen den EU-Mitgliedstaaten und den Ländern des Europäischen Wirt­schafts­raums, einschließlich Norwegens) für die Speicherung unter dem Meeres­boden vor­läufig möglich, ohne dass die ein­schlägige Änderung von Artikel 6 des Lon­doner Pro­tokolls in Kraft treten muss.

Ende 2022 veröffentlichte die Kommission einen Vorschlag zur Schaf­fung eines Zerti­fizierungsrahmens für die CO2-Entnahme (Carbon Removal Cer­tifica­tion Framework, CRC-F). Obwohl dieser Vor­schlag die ver­schiedenen CDR-Methoden nicht ausdrücklich ein- oder ausschließt, konzentriert sich die Debatte um den CRC-F bislang auf land­basierte Ansätze zur CO2-Entnahme. Die Tatsache, dass der Wortlaut des Vorschlags offengehalten wurde, deutet allerdings darauf hin, dass während der Verhandlungen zwischen Europäischem Rat und Par­la­ment meeresbasierte Ansätze mehr Be­achtung finden könnten. Dass die Kom­mis­sion in ihrer Mit­tei­lung zu »Carbon Farm­ing« auf das Potenzial der Speicherung von blauem Koh­lenstoff verweist, könnte ein weiteres Indiz für solch eine Erweiterung des Fokus sein.

Die grundlegenden Paradigmen der inter­nationalen Meerespolitik, die für die Ab­wä­gung von Risiken und Nutzen der mari­nen CDR relevant sind, wurden auch in die EU-Meerespolitik aufgenommen – zum Bei­spiel in die Meeresstrategie-Rahmen­richt­linie (MSRL) von 2008. Diese verfolgt einen öko­systemorientierten Ansatz für das Manage­ment menschlicher Aktivitäten und integ­riert damit die Konzepte des Meeres­umwelt­schutzes und der nachhaltigen Nutzung.

Wie auf internationaler Ebene gibt es jedoch auch in der EU-Klimastrategie eine Governance-Lücke hinsichtlich der Rolle des Ozeans. Das heißt, die EU und ihre Mit­gliedstaaten müssen das Verhältnis zwi­schen dem Schutz- und dem Nutzungspara­digma in der Meerespolitik klären, wenn sie über­legen, den Ozean gezielt als Kohlenstoffsenke zu nutzen. Die laufende Überarbeitung der MSRL, die 2023 abgeschlossen wer­den soll, wird zeitlich mit den Verhandlun­gen über den vorgeschlagenen CRC-F der EU zusammen­fallen. Diese beiden Prozesse bieten eine Gelegenheit, die Trennung von Meeres- und Klimapolitik zu über­winden und gemeinsame ebenso wie diver­gierende Interessen der Mitgliedstaaten und des Euro­päischen Parlaments zum Vor­schein zu bringen.

Entwicklungen in Deutschland

Die amtierende Bundesregierung hebt in ihrem Koalitionsvertrag von 2021 die Not­wendigkeit einer CO2-Entnahme hervor. In diesem Dokument kündigt sie an, eine Lang­friststrategie zum Ausgleich der Rest­emissionen zu entwickeln, die nicht nur natürliche Senken, sondern auch »tech­nische Negativemissionen« berücksichtigt. Die Herausforderungen, die mit der geo­logischen Kohlenstoffspeicherung in Deutsch­land verbunden sind (siehe zum Beispiel das Kohlendioxid-Speiche­rungs­gesetz), haben das Interesse an der Speiche­rung von CO2 unter dem Meeres­boden außerhalb der ausschließlichen Wirt­schafts­zone Deutschlands geweckt. Dies umso mehr, nachdem Nor­wegen und Dänemark kürzlich angeboten haben, CO2 zu impor­tieren und in den Nordseegebieten zu spei­chern, über die sie Hoheitsrechte haben.

Im Jahr 2021 startete das Bundesminis­terium für Bildung und Forschung in Zu­sammenarbeit mit der Deutschen Allianz Meeresforschung eine Forschungsmission zu marinen Kohlenstoffspeichern (CDRmare), die untersuchen soll, ob und inwieweit die Meeresumwelt eine Rolle bei der Ent­nahme und Speicherung von CO2 spielen kann, um das langfristige Temperaturziel des Pari­ser Abkommens zu erreichen. Im Rahmen der Mission werden sowohl bio­logische als auch geochemische Ansätze für marine CDR untersucht und das Potenzial der Spei­cherung von CO2 unter dem Meeres­boden evaluiert. Letzteres ist kein CDR-Ansatz, es sei denn, das gespeicherte CO2 ist nicht fos­silen Ursprungs, sondern wurde in einem Bioenergiekraftwerk abgeschieden oder direkt aus der Umgebungsluft entnommen.

Vor allem Akteure in den norddeutschen Bundesländern positionieren sich als Vor­reiter bei der Entwicklung von Infrastrukturen zur Kohlenstoffspeicherung unter dem Meeresboden. So plant Wintershall Dea in Wilhelmshaven, eine Infrastruktur aufzubauen, die den Transport von CO2 zu Speicherstätten im norwegischen Teil der Nordsee ermöglicht. In ähnlicher Weise haben sich der norwegische Öl- und Gas­förderer Equinor und der deutsche Gas­importeur VNG in Rostock zusammen­geschlossen; sie untersuchen, wie sich Tech­nologien einsetzen lassen, um CO2 abzu­scheiden, zu nutzen oder zu transportieren und in industriellem Maßstab offshore zu speichern.

Gleichzeitig setzt sich die deutsche Regie­rung zunehmend mit der Idee der Kohlenstoffspeicherung unter dem Meeres­boden aus­einander. Einer gemeinsamen Erklärung des norwegischen Ministerpräsidenten und des deutschen Bundesministers für Wirt­schaft und Klimaschutz aus dem Jahr 2022, der zufolge die beiden Länder eine »füh­ren­de Rolle beim Kohlenstoffmanagement« an­streben, folgte im Januar 2023 eine deutsch-norwegische Erklärung über die Ab­sicht, verschiedene Optionen für CO2-Infra­struk­turen und ‑Wertschöpfungsketten zu disku­tieren, inklusive einer CO2-Pipeline von Deutsch­land nach Norwegen. Derartige Erklärungen lassen darauf schließen, dass das Interesse auf Bundesebene an einer Zusam­menarbeit mit anderen Ländern bei der Kohlenstoff­spei­cherung in der Nordsee wächst.

Darüber hinaus hat die Bundesregierung im Dezember 2022 den Evaluierungsbericht zum Kohlendioxid-Speicherungsgesetz ver­öffentlicht. Er empfiehlt, eine umfassende Strategie für das Kohlenstoff­management zu entwickeln, einschließlich der CO2-Spei­che­rung unter dem Meeresboden, sowie die recht­lichen und regulatorischen Rahmenbedingungen anzupassen, um eine solche Speiche­rung zu ermöglichen. Dies würde die deut­sche Ratifizierung der Änderung von Artikel 6 des Londoner Protokolls bedeuten (vgl. Seite 6).

Parallel zu den Entwicklungen in der Klimapolitik gibt es Anzeichen dafür, dass die Governance der Meere in der deutschen Umweltpolitik an Bedeutung gewinnt. Der Koalitionsvertrag von 2021 ist das erste Doku­ment dieser Art, das ein eigenes Kapi­tel zum Meeresschutz enthält. Darin wird auch auf die Notwendigkeit hingewiesen, Möglichkeiten zur nachhaltigen Nut­zung der Meere zu schaffen und die natür­liche CO2-Speicherkapazität des Ozeans zu ver­bessern. Und vor Kurzem hat die Bun­des­regierung die Ernennung des ersten natio­nalen Meeresschutzbeauftragten bekannt gegeben, als Teil des Vorstoßes des Umwelt­ministeriums für einen besseren Schutz von Nord- und Ostsee.

Auch das G7-Meeresabkommen, das 2022 unter deutscher Präsidentschaft geschlossen wurde, legt einen starken Fokus auf den Meeres­schutz. Es betont zudem, dass die kata­strophalen Auswirkungen des Klima­wandels auf den Ozean begrenzt werden müssen, und spricht von naturbasierten Meereslösungen, die den Menschen, der biologischen Vielfalt und dem Klima zugutekommen.

All diese Entwicklungen zeigen: Die Meerespolitik wird zu einem poli­tisch wich­tigen Thema für die deutsche Regierung und es gibt eine wachsende Koalition von Akteuren, die auf eine Priorisierung des Meeresschutzes drängt. Gleichzeitig warnen Umweltverbände davor, dass die Bundes­regierung eine Rück­abwicklung von Schutz­maßnahmen ris­kiert, indem sie in der Meeresraumplanung Nutzungsformen gegen­über dem Meeresschutz priorisiert. Sie kriti­sieren eben­falls, dass die Regie­rung über eine CO2-Speiche­rung unter dem Meeres­boden inner­halb der ausschließlichen Wirt­schaftszone Deutschlands nachdenkt. Dar­über hinaus befürchten Umweltorganisa­tionen, im Namen des Klimaschutzes wür­den Risiken für die bio­logische Vielfalt der Meere in Kauf ge­nom­men, und unter­strei­chen die Not­wen­dig­keit, die Trennung zwischen Klima- und Meeresschutzpolitik zu über­winden.

Verknüpfen, um die Fragmentie­rung zu überwinden

Die obige Diskussion macht deutlich, dass die deutsche Regierung der Meerespolitik zwar mehr Aufmerksamkeit schenkt, es aber noch an einer kohärenten Verknüpfung mit der Klimapolitik mangelt. Außer­dem zeichnen sich Spannungen zwischen dem Meeresschutz und der gezielten Nut­zung des Ozeans als Kohlenstoffsenke und ‑speicher ab. Sie spiegeln den grund­legenden Konflikt zwischen zwei Paradigmen der Meerespolitik (Schutz vs. Nutzung) wider – sowohl in der EU als auch im glo­ba­len Kontext. Diese Spannungen sind be­reits jetzt sichtbar, etwa dort, wo der Schutz der Meere mit der Nutzung (Fische­rei, Tou­ris­mus, Schifffahrt, Offshore-Wind­kraft, militärische Operationen) in Konflikt gerät. Es steht zu erwarten, dass eine expli­zite Verknüpfung von Meeres- und Klima­politik diese Konfliktlinien noch verschärft. Daher ist eine ein­gehende politische Dis­kus­sion darüber erforderlich, wie ent­spre­chende Zielkonflikte ausgeglichen und potenzielle Synergien ermittelt werden können, um diese beiden Ziele der Meeres­politik weitest­möglich miteinander in Ein­klang zu bringen.

Wünschenswert wäre eine Klärung auf EU-Ebene, wie das Schutz- und das Nut­zungs­paradigma in der Meerespolitik auszu­balan­cieren sind, wenn es darum geht, den Ozean verstärkt als Kohlenstoffsenke zu nutzen. Sie böte eine Orientierungshilfe für die Ent­wicklung einer kohärenten deut­schen Regie­rungs­position zur Rolle des Ozeans in der Klimapolitik.

Eine erste Gelegenheit, Meeres- und Klima­politik auf EU-Ebene einander anzunähern, wird sich in Kürze ergeben: Zurzeit über­arbeitet die Europäische Kommission die Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie. Ihr Ansatz für das Management menschlicher Akti­vi­tä­ten, die sich auf die Meeres­umwelt aus­wir­ken, ist ökosystemorientiert, kombiniert also die Konzepte »Umwelt­schutz« und »nach­haltige Nutzung«. Zudem wird die von der Kommission vorgeschlagene Verordnung zur Zerti­fi­zierung von CO2-Ent­nahme­methoden zwischen dem Europäischen Par­lament und den Mitgliedstaaten ver­handelt. Eine Ver­knüpfung dieser beiden Prozesse könnte dazu beitragen, den Aus­tausch zwi­schen den oft separat betrachteten Politik­feldern zu för­dern, und gleich­zeitig den Weg ebnen für eine Debatte über potenzielle Ziel­konflikte und Synergien beim Schutz und der Nut­zung der Meeres­ökosysteme.

Dr. Miranda Böttcher ist Wissenschaftlerin im Projekt ASMASYS. Felix Schenuit ist Wissenschaftler im Projekt CDRSynTra. Dr. Oliver Geden ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU / Europa und Leiter des SWP-Anteils dieser vom Bundes­ministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Verbundprojekte.

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