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Die Muslimbruderschaft und die Hamas

Zu den ideologischen Wurzeln von islamistischem Judenhass und Antisemitismus

SWP-Aktuell 2023/A 65, 18.12.2023, 8 Seiten

doi:10.18449/2023A65

Forschungsgebiete

Der Angriff der palästinensischen Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 überraschte unter anderem wegen der Brutalität der Kämpfer, die mehr als 1200 Menschen auf teils äußerst barbarische Weise töteten – die weitaus meisten davon Zivi­listen, darun­ter zahlreiche Kinder, Frauen und alte Leute. In den folgenden Wochen fiel zudem auf, dass viele Sympathisanten und Unterstützer der Hamas und der Palästinenser in der arabischen Welt und im Westen das Leid dieser Opfer ignorier­ten oder gar Ver­schwörungstheorien über eine israelische (Teil-)Urheber­schaft kolportierten. Beides wurde zu Recht als Hinweis auf tiefsitzenden Juden­hass und Antisemitismus gewertet, der weit über die Hamas und ihre Unterstützer­szene hinaus verbreitet ist. Ihre Wurzeln haben diese Phänomene in der Ideologie der Mus­limbruderschaft, die die Hamas entscheidend prägt und in den letzten Jahrzehnten auch über das islami­stische Milieu hinaus ausstrahlt. Da diese Bewegung in den Gesellschaften der arabi­schen Welt und auch unter Muslimen im Westen trotz vieler Rückschläge eine wich­tige Kraft darstellt, müssen Deutschland und Europa ihr Ver­hältnis zu ihr klären.

Die Hamas ist aus dem palästinensischen Ableger der ägyptischen Muslimbruderschaft hervorgegangen. Sie entstand kurz nach Beginn der »Ersten Intifada« im Dezember 1987 und damit gut 20 Jahre nach der israelischen Eroberung des Gaza­streifens. Die Besatzung und ihre Folgen für die palästinensische Gesellschaft müssen daher Teile jedes Versuchs sein, die Gewalt der Hamas zu verstehen. Trotzdem finden sich tiefere Ursachen des Judenhasses der Hamas in der Weltanschauung der Mus­lim­bruderschaft, wie sie sich seit den 1920er Jahren ausgeprägt und seitdem in Wechsel­wirkung mit dem israelisch-palästi­nen­si­schen Konflikt weiterentwickelt hat.

Die Muslimbruderschaft und die Juden

Die Geschichte der Muslimbruderschaft in Palästina ab den 1940er Jahren (und damit die der Hamas) ähnelt stark jener der Mutter­­­organisation in Ägypten wenige Jahrzehnte zuvor. Von dieser übernommen hat die Hamas nicht nur die religiös und politisch motivierte Abneigung gegen Juden und Israelis. Auch in ihrem Verhältnis zur poli­tischen Gewalt dient ihr die ägyptische Mus­limbruderschaft als Vorbild. Beide Orga­­nisationen blieben jahrelang friedlich, bis sie sich pragmatisch entschieden, auf Ge­walt zu setzen, um ihre Ziele zu erreichen.

Die Muslimbruderschaft wurde 1928 von dem Volksschullehrer Hassan al-Banna (1906–1949) im ägyptischen Ismailiya gegründet. Sie avancierte rasch zur größten islamistischen Organisation der arabischen Welt mit hunderttausenden Anhängern. Banna und seine Gefolgsleute glaubten, im Islam die Lösung für alle Pro­bleme des ein­zelnen Muslims, der Gesellschaft und des Staates in Ägypten ausgemacht zu haben. Sie verlangten eine um­fassende religiöse und politische Erneue­rung unter ihrer Füh­rung. Der Islam, so Banna, sei nicht nur eine Religion, sondern ein »allumfassendes System«, das alle As­pekte menschlichen Lebens gestalten könne und müsse. Dieser Anspruch spiegelt sich im Diktum »Der Islam ist die Lösung« wider, das zum viel­leicht wichtigsten Wahl­spruch der Muslim­brüder wurde. Deren Ziel (und gleichzeitig aller Islamisten) war die Errich­tung eines isla­mischen Staates auf der Grundlage des islamischen Rechts.

In der Frühzeit verzichtete die Muslimbruderschaft auf Gewalt und beschränkte sich darauf, in Predigten und Unterricht zu ihrer Interpretation des Glaubens aufzurufen – ihre Anhänger nennen dies »da’wa« (Aufruf zum Glauben, Mission). Banna ent­warf ein Phasenmodell, dem zufolge zu­nächst Einzelpersonen und ihre Familien für den wahren Islam der Muslimbruderschaft gewonnen werden sollten. Anschließend würden seine Anhänger ihre Welt­anschauung in der gesamten ägyptischen Gesellschaft verbreiten und eine isla­mische Regierung einen islamischen Staat begrün­den, der nach einer Vereinigung muslimischer Nationen in einem übernatio­nalen Kalifat aufgehen sollte. Die endlich (wieder-) vereinten Musl­ime würden den Islam dann weltweit propagieren.

Die Hoffnung, eine solche Graswurzelstrategie und die friedliche Verbreitung der eigenen Ideologie könnten zum Erfolg führen, prägt die Bruderschaft bis heute. Doch haben die Organisation und ihre Ab­leger in der arabischen Welt wiederholt auch auf Gewalt gesetzt. In den 1930er und 1940er Jahren verloren viele Muslimbrüder und auch Hassan al-Banna selbst die Zu­versicht, ihr Ziel eines islami­schen Staates auf fried­lichem Wege zu er­reichen. Gegen Ende der 1930er Jahre schuf die Organisa­tion deshalb die »Spezial-« oder »Geheim­abteilung« (nizam khass oder al-jihaz al-sirri), die als militanter Flügel die Ziele der Orga­nisation mit Gewalt durch­setzen sollte. Viele Isla­misten recht­fertigen diesen Schritt mit der Eskalation des Kon­flikts zwischen Juden und Arabern im benachbarten Man­datsgebiet Palästina ab 1936, doch operierte die Spezialabteilung zunächst vor allem in Ägypten.

Die Muslimbrüder waren erklärte Feinde Großbritanniens, das damals noch großen Einfluss in Ägypten hatte. Ab 1946 verübte die Spezialabteilung die ersten Anschläge im Land und traf neben staatlich-ägyp­ti­schen auch britische und jüdische Ziele (zu jener Zeit lebten etwa 80.000 Juden in Ägyp­ten). Die von Hassan al-Banna ausgemachte »jüdi­sche Gefahr« gewann mit der Eskalation des Konflikts in Palästina an Bedeutung für Theorie und Praxis der Muslimbrüder. Hier zeigte sich ein Muster, das in der Ge­schichte der islamischen Welt häufig zu beobachten ist: Im Prinzip unerwünschte religiöse Minderheiten wie die Schiiten oder Juden wurden oft lange Zeit gedul­det. Sobald sie sich aber zu emanzipieren begannen und gar politische Macht in Staa­ten anstrebten, schürten sunnitische Grup­pen die Gewalt. Wie groß der Hass auf die Juden im Ägyp­ten der 1940er Jahre war, offenbarten zahl­reiche Attentate und Über­griffe auf Juden dort, darunter mindestens zwei spektakuläre Anschläge in Kairos jüdi­schem Vier­tel zwischen Juni und September 1948, bei denen mehrere Dutzend Men­schen getötet wurden und die den Mus­lim­brüdern angelastet wurden. Ab 1947 ent­sandte die Muslimbruderschaft Einheiten nach Palästina, wo diese am Kampf gegen die Juden teilnahmen. Wie groß die Ab­nei­gung gegen diese war, ver­deutlichte Banna in einem Interview mit der New York Times, in dem er sagte: »Wenn der jüdische Staat zur Tatsache wird und die arabischen Völker dies ver­stehen, werden sie die Juden, die in ihrer Mitte leben, ins Meer treiben.« Für die Muslimbrüder wurden diese Aus­sagen Programm. Das Zusam­menspiel der religiös begründeten Aversion gegen die Juden mit der Feindschaft gegen­über ihrem Staat wurde zur Konstante von Theorie und Praxis der Muslimbrüder.

Die Hamas und die Muslimbruderschaft

Die Geschichte der Muslimbruderschaft in Palästina wurde weit stär­ker als die der Mutterorganisation in Ägypten durch den Konflikt mit Israelis und Juden geprägt. Der Ableger in Palästina entstand noch vor der Gründung des Staates Israel und erstarkte vor allem im Gaza­streifen, der bis 1967 unter ägyptischer Kontrolle stand. Wie die Glaubensbrüder in Ägypten setzte die palästinensische Bru­derschaft zunächst auf friedliche Mittel. Sie beschränkte sich auf »da’wa« ebenso wie sozialkaritative und erzieherische Aktivitäten, um zuvorderst möglichst viele Anhänger zu gewinnen. Dies galt auch, als Scheich Ahmad Yassin 1973 das »Islamische Zentrum« (al-Mujamma’ al-Islami) – die un­mittelbare Vorläuferorga­nisation der Hamas – gründete und mit Geld aus den reichen Golfstaaten Hospi­tä­ler, Schulen, Kindergärten und Jugend­zentren errichten ließ, in denen die Ideen der Brüder weitergegeben wurden. Während der 1970er und 1980er Jahre wuchs eine neue Generation von Islamisten heran. Schon Jahre vor Gründung der Hamas bau­ten sie bewaffnete Strukturen auf, die der Spezialabteilung in Ägypten ähnelten und besonders gegen israelische »Spione« vor­gingen, aber auch erste Überfälle ver­übten.

Die Entscheidung für den bewaffneten Kampf gegen Israel fiel, als im Dezember 1987 ein spontaner Volksaufstand ausbrach, der als »Erste Intifada« in die Ge­schichte einging. Um die Kontrolle über die eigene Jugend nicht zu verlieren, die sich an den Unruhen beteiligte, riefen Yassin und seine Mitstreiter die »Bewegung des Islamischen Widerstands« oder kurz Hamas ins Leben (so das arabische Akronym und Wort für »Eifer« oder »Kampf­geist«). Wie groß der Hass der jungen Orga­nisation auf Israelis und Juden war, ließ sich in ihrer Charta vom August 1988 nach­lesen, in der die Hamas sich zur Muslimbruderschaft bekannte und zum Jihad (Heili­ger Krieg) gegen Israel aufrief. Ihr Ziel war die Zer­störung des jüdischen Staates, der durch einen islamischen Staat unter Kontrolle der Muslimbrüder ersetzt werden sollte.

Den Einfluss des modernen Antisemitismus demonstrierte eine Passage, in der auf die »Protokolle der Weisen von Zion« Bezug genommen wird. Dabei handelt es sich um eine erst­mals 1903 in Russland erschienene Samm­lung frei erfundener Protokolle der Treffen jüdischer Honoratioren, in denen diese Weltherrschaftspläne besprechen. Die Hamas nutzte den Verweis, um zu belegen, dass die Juden planten, das gesamte Gebiet zwischen Nil und Euphrat zu erobern: »Heute ist es Palästina, und morgen ein anderes Land oder andere Länder. Der zio­nistische Plan kennt keine Grenzen. Nach Palästina wollen sie ihr Territorium vom Nil bis an den Euphrat erweitern.«

Wie ihrer Charta zu entnehmen, geht es der Hamas auch darum, möglichst viele Juden zu töten. Unter Berufung auf eine über­lieferte Aussage des Propheten Muham­mad (hadith) heißt es dort: »Die Hamas zielt darauf ab … das Versprechen Gottes wahr zu machen. Der Prophet sagte: Das Jüngste Gericht wird nicht eher kommen, bis die Muslime gegen die Juden kämpfen und die Muslime diese töten, bis dass der Jude sich hinter Baum und Stein versteckt und jeder Baum und Stein sagen wird: ›Oh Muslim, oh Diener Gottes, da befindet sich ein Jude hinter mir. Komm und töte ihn.‹«

Die radikale Ablehnung jeder Verständigung mit Israel in der Hamas-Charta 1988 war auch deshalb so bemerkenswert, weil die PLO/Fatah des Palästinenserführers Yassir Arafat damals bereits einen Frieden mit Israel anstrebte und 1993 das erste Oslo-Abkommen mit dem ehemaligen Feind schloss. In den nächsten Jahrzehnten trug die Hamas mit Anschlägen auf israeli­sche Ziele dazu bei, den Friedensprozess zum Erliegen zu bringen. Ab 1994 setzte die Organisation auf Selbst­mordattentate, die vor allem während der »Zweiten Intifada« 2000–2005 hunderte Opfer forderten.

Zwar konnte die Organisation wegen ihrer Brutalität und ihrer islamistischen Weltanschauung nie eine Mehrheit der Palästinenser hinter sich bringen. Doch sie profitierte davon, dass die 1994 geschaffene Palästinensische Autonomiebehörde auf­grund ihrer Repression, Korrup­tion und Unfähigkeit rasch an Unterstützung verlor. Nachdem Israel 2005 den Gazastreifen geräumt hatte, gelang es der Hamas, die Parlamentswahlen im Januar 2006 für sich zu entscheiden. Im Juni 2007 brach im Gazastreifen ein kurzer Bür­gerkrieg zwi­schen Hamas und Fatah aus, in dem die Islamisten obsiegten. Anschließend begnüg­ten sie sich nicht mit der Kontrolle über das Territorium. Sie gaben ihr in der Charta vorgegebenes Ziel nicht auf, das ganze Land vom Jordan bis ans Mittelmeer einzunehmen.

Yusuf al-Qaradawi, die Muslim­bruderschaft und die Hamas

Von Beginn an stärkte und unterstützte die Muslimbruderschaft international die Hamas in ihrem Kampf gegen Israel. Mus­limbrüder aus allen Teilen der arabischen und westlichen Welt spendeten Geld. Außer­dem erhielt sie propagandistische Unterstützung durch Intellektuelle und Gelehrte aus den Reihen und dem Umfeld der Muslimbruderschaft – das in der Zwischenzeit stark gewachsen war. Die Feindschaft gegenüber Israel und den Juden wurde zum bedeutendsten gemeinsamen Nenner der allermeisten Anhänger.

Die Muslimbruderschaft hatte seit den 1940er Jahren Ableger in fast allen Teilen der arabischen Welt gebildet, die meist unabhängig von der Mutterorganisation agierten. Dennoch teilten sie alle wesent­lichen Aspekte ihrer Weltanschauung, folg­ten denselben religiös-ideologischen Auto­ritäten, vor allem Hassan al-Banna und Sayyid Qutb (1906–1966), und waren oft eng miteinander vernetzt. In den 1950er und 1960er Jahren flohen zahlreiche Mus­limbrüder vor der Repression in Ägypten und Syrien und ließen sich in den arabischen Golfstaaten nieder, wo viele von ihnen an Universitäten und Schulen unter­richteten. Andere gingen in die westliche Welt, wo sie ebenfalls Muslimbruderschaft-Strukturen aufbauten.

Die politischen Strategien der Muslimbrüder unterschieden sich von Land zu Land, so dass Versuche der ägyptischen Brüder in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren scheiterten, eine internationale Organisation der Muslimbruderschaft aufzubauen. Zu groß war der Widerstand gegen den Anspruch der Ägypter auf die Führung der gesamten Bewe­gung. Umso wichtiger war es, dass die Islamisten mit ihrem Hass auf Juden und Israelis und dem Wunsch, Palästina zu »befreien« und Israel zu zerstören, ein gemeinsames Anliegen hatten, das alle zu­mindest in der Theorie teilten. Als die Hamas im Laufe der Jahre erstarkte, war der Stolz vieler Muslimbrüder weltweit groß, dass die Ihren in Palästina zur Speerspitze des Kampfes gegen die Juden wurden. Einige dieser Muslimbrüder taten sich als hilf­reiche Pro­pagandisten für die Hamas hervor.

Zum bedeutendsten und bekanntesten Fürsprecher der Hamas entwickelte sich der ägyptische Religionsgelehrte und Mus­lim­bruder Yusuf al-Qaradawi (1926–2022). Dieser verließ sein Heimatland 1961, um eine Stelle als Religionsprofessor in dem kleinen Golfemirat Katar anzunehmen, wo er für den Rest seines Lebens blieb. Von Doha aus propagierte er die Weltanschauung der Muslimbrüder und wurde seit den 1990er Jahren zum weltweit einflussreich­sten Gelehrten unter arabischsprachigen Mus­limen. Seine Werbung für die Hamas brachte ihm wiederholt den Vorwurf ein, islamistische Terroristen zu unterstützen. Wie weitgehend seine Weltanschauung jener der Hamas entsprach, zeigte sich schon kurz nach Veröffent­lichung der Hamas-Charta von 1988, als er sich in einem Buch wie die Organisation auf Ideen aus »Protokolle der Weisen von Zion« berief und schrieb, dass Juden aus der Sowjetunion nach Israel gebracht werden sollten, »um den alten Traum eines Groß­israel zu ver­wirklichen, das vom Nil an den Euphrat reicht, und dann in den Hedschas [im Westen des heutigen Saudi-Arabien, d. Verf.].« Der entsprechende Passus in der Charta war also kein rhetorischer »Aus­rutscher« der Hamas.

Qaradawi hielt den Jihad gegen Israel wie die Hamas für eine religiöse Pflicht, die frühestens endet, wenn der jüdische Staat zerstört und Palästina befreit ist. Mit der Autorität des Religionsgelehrten berief er sich dabei (wie die Hamas) auf einen Grund­satz des klassischen islamischen Kriegsrechts, dem zufolge Muslime überall dort einen »defensiven Jihad« führen müssten, wo ihr Land von Nichtmuslimen besetzt sei. An erster Stelle in der langen Liste von Län­dern, die nach Qaradawis Ansicht Ende der 1980er Jahre befreit werden mussten, fand sich Palästina. In der westlichen Welt wurde Qaradawi vor allem bekannt, weil er ab 2001 in Rechtsgutachten (fatawa) wieder­holt erläuterte, dass es für Muslime legitim sei, im Kampf gegen die nichtmuslimischen Besatzer Selbstmordattentate auf israelische Zivilisten und Militärs zu verüben. Wie die Hamas auch nannte er solche Anschläge »Märtyreroperationen« (amaliyat istishhadiya).

Mit diesen und ähnlichen Argumenta­tionen verschaffte Qaradawi der Hamas während der »Zweiten Intifada« dringend benötigte theologische Rückendeckung. Die Hamas und ihr palästinensisches Umfeld verfügen nicht über Religionsgelehrte von Rang, so dass die Unterstützung eines Kleri­kers mit Ausbildung an der Azhar-Universi­tät in Kairo umso wertvoller war. Qaradawi half ein Legitimationsproblem lösen, denn Selbstmord gilt den allermeisten traditionellen Islamgelehrten als ver­boten, so dass die folgenreichsten Attentate der Organisation aus Sicht der sunnitischen Orthodoxie zumindest fragwürdig waren. Der tiefere Grund für Qaradawis Argumentation dürfte denn auch in seinem Hass auf die Juden gelegen haben, dem er wiederholt freien Lauf ließ. Nirgendwo wurde dieser so deut­lich wie in einer atemberaubenden Aussage zum Holocaust als gerechter Strafe für die Juden: »Im Lauf der Geschichte hat Gott den Juden Menschen auferlegt, die sie für ihre Verderbtheit bestraften. Die letzte Strafe wurde durch Hitler ausgeführt. Durch all die Dinge, die er ihnen angetan hat … schaffte er es, sie an ihren Platz zu stellen. Dies war eine göttliche Strafe für sie. So Gott will, werden die Gläubigen die Juden das nächste Mal bestrafen.«

Katar und al-Jazeera

Dass es Yusuf al-Qaradawi gelang, seine Thesen und die der Muslimbruderschaft und der Hamas in der gesamten arabischen Welt und darüber hinaus zu verbreiten, verdankte er vor allem Katar und al‑Jazeera. Ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre bot der staatlich finanzierte Nachrichtensender dem Ägypter eine ideale Platt­form, über die der Gelehrte eine schnell wachsende arabischsprachige Öffentlichkeit weltweit erreichen konnte.

Al-Jazeera wurde 1996 von Emir Hamad Bin Khalifa Al Thani (regierte 1995–2013) gegründet. Innerhalb weniger Jahre revo­lutionierte der Satellitensender die ara­bisch­­sprachige Medienlandschaft. Bis dahin hatten staatliche Fernsehstationen mit begrenzter Reichweite dominiert, die kaum seriöse Informationen und keine von der jeweiligen Regierungslinie abweichenden Inhalte lieferten. Al-Jazeera hingegen berich­tete kritisch über alle Länder der Region – mit Ausnahme Katars – und bot arabischen Oppositionellen ein Forum, das diese nutz­ten, um ihre Heimatregierungen zu kritisie­ren. Oft handelte es sich um Mus­lim­brüder und andere Islamisten, die in den meisten Ländern der arabischen Welt die wichtig­sten Oppositionsbewegungen stellten. Yusuf al-Qaradawi bekam mit »Die Scharia und das Leben« eine eigene allwöchentliche Sendung, die über zwei Jahrzehnte zu den erfolgreichsten des Senders gehörte. Darin verbreitete er die Weltanschauung der Muslimbrüder mit­samt ihrer Abneigung gegen Israel und die Juden in die gesamte arabischsprachige Welt.

Die Gründung von al-Jazeera war Teil eines größeren politischen Projekts, in dem die Muslimbruderschaft eine herausgehobe­ne Rolle spielte. Katar folgte bis Mitte der 1990er Jahre der Führung Saudi-Arabiens und wurde, wenn überhaupt, als eine Art saudisches Protektorat wahrgenommen. Dies wollte Emir Hamad ändern, indem er sich von dem großen Nachbarn distanzierte und eine von Riad unabhängige Außenpolitik betrieb. Zu diesem Zweck bemühte sich Emir Hamad um gute Beziehungen zu den Gegnern Saudi-Arabiens in der Region wie Iran, Syrien, der Hisbollah und der Hamas. So begann Katar, eine Mittler- und Ver­mitt­lerposition einzunehmen. Al-Jazeera war ein besonders effektives Instrument dieser Poli­tik, zu der auch die öffentlichkeitswirksame Förderung der Muslimbruderschaft und anderer Islamisten gehörte.

Als die Proteste des Arabischen Frühlings einsetzten, etablierte sich Katar als bedeu­tendster Unterstützer der Muslimbruderschaft und anderer Islamisten, die in Ägyp­ten und Tunesien an die Macht kamen und in Libyen und Syrien zu wesentlichen Akteu­­ren in Bürgerkriegen wurden. Bei al-Jazeera nahmen Muslimbrüder noch stärke­ren Ein­fluss auf die Inhalte des Pro­gramms als bis dahin. Auch die Hamas profitierte von der Großzügigkeit Katars. Sie durfte 2012 ein Büro in Doha einrichten, in dem seither der Chef des Hamas-Politbüros resi­diert. Fortan wurde sie auch mit hohen Geldsummen unter­stützt – meist ist die Rede von rund zwei Milliarden US-Dollar seit 2012. Zwar war das Geld offiziell nicht für die Organisation, sondern für die Ver­waltung des Gazastreifens bestimmt. Es erlaub­te der Hamas aber, ihre Macht dort zu festi­gen und auszubauen. Wahrscheinlich floss ein erheblicher Teil dieser Mittel auch in die Organisation selbst.

Als die Muslimbrüder die Macht in Ägypten infolge eines Staatsstreichs des Militärs im Juli 2013 verloren, wurde Katar vorsichtiger und beendete laut eigenen An­gaben 2015 seine Unterstützung für beson­ders militante Islamisten. Der neue Emir Tamim, der im Juni 2013 auf seinen Vater folgte, konnte dennoch nicht verhin­dern, dass der Konflikt mit den Gegnern der kata­rischen Politik eskalierte. Im Juni 2017 verhängten die Nachbarstaaten unter der Führung Saudi-Arabiens eine Blockade gegen das Emirat, um es zu zwingen, seine Außenpolitik zu revidieren und die Muslim­bruderschaft nicht länger zu unterstützen. Bezeichnenderweise verlangten sie auch, al-Jazeera zu schließen. Katar weigerte sich und schaffte es, die wirt­schaftlichen Folgen abzufedern. Daraufhin beendeten die Nach­barn ihren Boykott Anfang 2021.

Dies war ein großer Erfolg für Emir Tamim, der anschließend keinen Grund mehr sah, die Unterstützung für die Muslim­brüder zu überdenken. Sein Motiv dürfte vor allem populistisch sein: In der arabischen Welt sind die Islamisten nach wie vor die stärk­sten oppositionellen Kräfte. Sie könn­ten weiterhin die Akteure der Zukunft in der arabischen Welt sein, und ihr Unter­stützer Katar würde im Fall neuer Umstürze davon profitieren. So erklärt sich, dass al-Jazeera unverändert wie ein Propagandasender für die Muslimbruderschaft und die Hamas ope­riert. Besonders deutlich wurde dies ab dem Tag des Überfalls der Hamas auf israe­lische Ortschaften am 7. Oktober 2023, als die Station unter anderem zahl­reiche Reden von Hamas-Führern und -Spre­chern un­gefiltert und oft unkommentiert sendete.

Die globale Bewegung der Muslimbruderschaft

Die Popularisierung der Ideen der Muslimbruderschaft durch Gelehrte wie Qaradawi und Fernsehsender wie al-Jazeera wirkte sich nicht nur in der arabischen Welt aus, wo der intellektuelle und gesellschaftliche Ein­fluss der Islamisten trotz der Rückschläge des letzten Jahrzehnts immer noch groß ist. Sie hatte auch Folgen in der westlichen Welt, wo die Muslimbruderschaft seit den 1950er Jahren Strukturen aufgebaut hat, die seitdem stark gewachsen sind. Immer in engem Austausch mit den Mutterorganisationen in Ägypten, Syrien, Palästina und andernorts entstand ein Netz von Verbänden, Gruppierungen und Einzelpersonen, welche die Weltanschauung der Brüder und die der Hamas im Westen propagieren.

Ein besonders hervorstechendes Merkmal dieser Bewegung ist die überragende Bedeutung der Ideen Yusuf al-Qaradawis. Dieser ließ schon seit den 1980er Jahren viele seiner Werke ins Englische übersetzen, die dann unter Muslimen im Westen weithin Anklang fanden. Hinzu kam später die von Qaradawi gegründete Web­seite IslamOnline, die auch auf Englisch zu einem großen Erfolg wurde. Der Gelehrte inter­essierte sich besonders für die mus­limische Diaspora und machte es sich zur Aufgabe, die Integration von Muslimen in westliche Gesellschaften zu verhindern, indem er ihre islamische Identität durch religiöse Bildung bewahren half. Zu diesem Zweck bauten Qaradawi und seine Gefolgs­leute auch Strukturen auf. Zu ihnen gehör­te der 1997 eingerichtete European Council for Fatwa and Research, dem der Gelehrte bis zu seinem Tod vorsaß. In ihm waren meist islamistische Religionsgelehrte orga­nisiert, die religiöse Rechtsgutachten veröffentlichten und in europäischen Spra­chen verbrei­teten. Diese Gutachten sollten Muslimen in Europa als Richtschnur gottgefälligen Denkens und Handelns dienen.

Die Gründung des Rats war nur eine in einem großen Netzwerk von Organisationen, die in den 1980er und 1990er Jahren in vielen euro­päischen Ländern entstanden und sich an der Weltanschauung der Mus­limbrüder orientieren. Es handelt sich etwa um den Dachverband Council of European Muslims (bis 2020 Federation of Islamic Organizations in Europe, FIOE) mit Sitz in Groß­britannien, die Musulmans de France (früher Union des Organisations Islamiques de France, UOIF), die Muslim Association of Britain (MAB) und die Deutsche Muslimische Gemeinschaft (bis 2018 Islamische Gemeinschaft in Deutschland, IGD). Wäh­rend europäische Sicherheitsbehörden diese Organisationen der Muslimbruderschaft zuordnen, streiten diese eine formale Zu­gehörigkeit in der Regel ab. Häufig räumen sie indes ein, sich an der Weltanschauung der Bewegung zu orientieren.

Der Erfolg der Bewegung in Europa besteht darin, dass sie ihren Ideen weit­reichende Aufmerksamkeit verschaffen konnte. Die Beteiligung Qaradawis war besonders wich­tig, weil der Gelehrte be­anspruchte, nicht nur für die Muslim­bruderschaft, sondern für die gesamte »isla­mische Bewegung« zu sprechen, und ihm nur selten widersprochen wurde. Auch die der Bruderschaft zumindest nahestehenden Organisationen behaupten, den Islam ins­gesamt zu reprä­sentieren. So schafften sie es, überproportional großen religionspolitischen Einfluss und Gehör weit über die isla­mistische Szene hinaus zu gewinnen. Sie prägten muslimische Diskurse und präsen­tierten isla­mistische Inhalte als einzig wahren Islam.

Zu diesen Inhalten, die sich unter vielen Muslimen verbreiteten, gehört etwa die hergebrachte Vorstellung Hassan al-Bannas, dass der Islam nicht nur Religion, sondern ein »allumfassendes System« sei, das Ant­worten auf alle Fragen menschlichen Lebens habe. Diese Ansicht impliziert die Ableh­nung der liberalen Demokratie und des Rechtsstaats, die den Islamisten als mit dem Islam unvereinbar gelten. Noch problema­tischer ist deren Auffassung, der Islam sei nicht nur eine Religion unter mehreren, sondern habe Anspruch auf eine beherrschende Stellung. Selbst wenn die Islamisten akzeptieren, dass sie ihren Herrschaftsanspruch im Westen zurzeit nicht durch­setzen können, macht eine solche Haltung die Integration in nichtmuslimische Gesell­schaften unmöglich. Der viel­leicht sicht­barste Erfolg der Muslimbrüder ist jedoch, dass ihr Judenhass und Antisemi­tismus in der westlichen Diaspora weiter um sich gegriffen hat. Schlaglichtartig wur­de dies nach dem 7. Oktober 2023 klar, als viele nichtislamistische Muslime die Verbrechen der Hamas ignorierten oder sogar guthießen.

Eine neue Politik gegenüber Hamas und Muslimbruderschaft

Der Blick auf die Ideologie der Hamas offen­bart eine tiefere Dimension des Problems, die mit den Massakern des 7. Oktober sichtbar wurde. Judenhass und Antisemitismus der Organisation sind tief in der Geschichte der Hamas, der Muslimbruderschaft in Palästina und der Mutterorganisation in Ägypten verwurzelt. Sie werden auch bei einem territorialen Kom­promiss zwischen Israelis und Palästinensern nicht verschwinden. Die Abneigung gegenüber den Juden war schon vor der Gründung des Staates Israel für die Welt­anschauung der Muslimbrüder in Ägypten wichtig, und mit der Entstehung der globalen Bewegung – und auch in Auseinandersetzung mit der Politik Israels – hat sie an Bedeutung zugenommen. Wer nach einer Strategie für die Bekämpfung der Hamas sucht, muss daher auch eine für den Um­gang mit der Ideologie der Muslimbruderschaft finden.

Besonders dringlich ist zunächst aber, dass Deutschland und Europa die Hamas entschlossener bekämpfen. Früher war die Ansicht weit verbreitet, dass es längerfristig möglich sein könnte, mit der Hamas zu dauerhaften Waffenstillständen und wei­te­ren Absprachen zu kommen. Viele nah­men eine neue, im Ton entschärfte Version der Hamas-Charta von 2017 zum Anlass, an eine Mäßi­gung der Organi­sation zu glau­ben. Einige hofften sogar darauf, dass die Organi­sation eines Tages die Existenz des Staates Israel akzep­tieren könnte. Das Ausmaß der Gewalt am 7. Oktober zeigt aber, dass der Hass der Hamas auf Israelis und Juden genauso groß ist, wie dies die einschlägigen Passa­gen der Charta von 1988 nahelegen. Ziel der Organisation ist die physische Ver­nichtung von Juden in Israel. Konsequenz muss die möglichst vollständige Zerschlagung der Hamas und ihrer Struk­turen auch in Deutschland und Europa sein.

Mit Katar hat die Hamas einen finanzstarken und einflussreichen Unterstützer. Zwar behauptet die katarische Führung oft, sie hege keine Sympathien für die Organi­sation. Vielmehr wolle sie im Bedarfsfall als Vermittler zwischen der Hamas und ihren Gegnern fungieren. Katarische Politiker und Beamte betonen, dass das Hamas-Büro in Doha 2012 auch auf Wunsch der USA zu diesem Zweck eröffnet wurde. Das dürfte aber nicht die gesamte Motivlage in Doha widerspiegeln. Dagegen spricht unter anderem die Hamas-Propa­ganda von al-Jazeera. Emir Tamim versucht offenbar auf populistische Weise, die Zustimmung der arabischen öffentlichen Meinung zu gewin­nen. Nach dem Ende des Gaza-Kriegs sollten Deutschland und Europa das Ge­spräch mit Katar suchen und auf die Regie­rung dort einwirken, dass sie al-Jazeera der Kontrolle der journalistischen Hamas-Unter­stützer entzieht und dem Sen­der eine Rückkehr zu seinen pluraleren Wurzeln vor 2011 erlaubt. Möglicherweise wird auch die US-Regierung sich einem solchen Vor­haben anschließen, was den Druck auf Katar steigern könnte.

Ferner müssen Deutschland und Europa ihr Verhältnis zur Muslimbruderschaft überdenken. In der deutschen und euro­päischen Außenpolitik der Jahre nach 2011 gab es einen Trend, die Bruderschaft als akzeptable Alternative zu den autoritären Regimen der arabischen Welt anzusehen. Doch eine Bewegung, in der die Sympathie für den Hamas-Terrorismus besonders weit ver­breitet ist, darf nicht als Alternative gefördert werden. In der Innenpolitik gibt es keine einfachen Antworten, weil die Muslimbruderschaft als globale Bewegung und ideologische Kraft schwer zu fassen ist. Ein möglicher erster Schritt wäre aber, die Erkenntnisse der Sicherheitsbehörden häu­figer in die Politik einfließen zu lassen. Bisher ist es noch allzu oft so, dass Organi­sa­tionen, die den Verfassungsschutzämtern als Teile der Muslimbruderschaft gelten, trotzdem Partner der Politik sein kön­nen. Stattdessen sollten Bund und Länder die Verbindungen zu islamistischen Ver­bänden und Organisationen kappen. Eine solche Isolierung könnte dazu bei­tragen, dass diese an Bedeutung verlieren.

Dr. Guido Steinberg ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2023

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