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Die Grenzen der Terror-Forschung

Seit 9/11 kämpfen Wissenschaftler mit methodischen Problemen, Falschmeldungen und Dramatisierungen

in: Handelsblatt, 06.09.2006, S. 11

Ulrich Schneckener

Die Grenzen der Terror-Forschung

Seit 9/11 kämpfen Wissenschaftler mit methodischen Problemen, Falschmeldungen und Dramatisierungen

in: Handelsblatt, 06.09.2006, S. 11

 

Der 11. September 2001 war ein Superlativ ohne Präzedens, der die bis dato gültigen Erkenntnisse der Terrorismusforschung in Frage stellte. Dies gilt in vierfacher Hinsicht. Zum ersten die destruktive Dimension: Nie zuvor hatte ein Terroranschlag mehr Tote gefordert und größere ökonomische Schäden angerichtet. Zweitens die mediale Dimension: Erstmals gab es von einem Anschlag Live-Bilder, die weltweite Schockwellen auslösten. Dann die operative Dimension: Planung, Umfang und die simultane Ausführung der Operation deuteten auf wachsende Fähigkeiten terroristischer Akteure hin. Und schließlich die weltpolitische Dimension: Es handelte sich erstmals um einen erfolgreichen, von außen geplanten Anschlag auf die Weltmacht Nummer eins. Der transnationale Terrorismus vom Typ El Kaida verbindet lokale und internationale Aspekte miteinander - das lässt sich an seiner Operationsweise, seinen Zielsetzungen, seiner Ideologie, seiner Netzwerk- und Mitgliederstruktur sowie an seinem infrastrukturellen Unterbau nachweisen. Trotz solcher Erkenntnisse gestaltet sich die wissenschaftliche Erforschung dieses relativ neuen Phänomens nicht einfach. Denn mehr noch als bei anderen Gewaltakteuren sind bei Terrorgruppen der empirischen Forschung Grenzen gesetzt.

 

Die Probleme fangen mit dem Gegenstand an: Eine etablierte, konsensfähige Definition von Terrorismus gibt es nicht, was in der Sozialwissenschaft allerdings nicht ungewöhnlich ist. Es sind aber durchaus dichte Beschreibungen und typologische Abgrenzungen zu anderen Formen politisch motivierter Gewalt möglich, die zumindest deutlich machen, was Terrorismus im Verhältnis zu anderen Gewaltformen ist und was nicht - dieser Weg wird auch in der Literatur vielfach beschritten.

 

Neben diesen begrifflich-analytischen Unschärfen, die noch handhabbar sind, gibt es eine Reihe von methodischen Schwierigkeiten: Ein Spezifikum von Terrorgruppen ist, dass sie verdeckt aus dem Untergrund agieren. Bestimmte wissenschaftliche Standardmethoden sind insofern nur begrenzt anwendbar - wie z.B. die Durchführung von Interviews, der Einsatz standardisierter Fragebögen, teilnehmende Beobachtung oder andere Formen der Feldforschung. Zwar gibt es Studien, die sich weitgehend auf Interviews mit Beteiligten und Beobachtern stützen. Dabei handelt es sich aber zumeist um "politische" bzw. "geistliche" Führer, die sich selbst in der Regel nicht als Terroristen bezeichnen, sondern den Habitus des "Politikers" bzw. "Gelehrten" einnehmen.

 

In anderen Fällen war es auch möglich, Interviews mit inhaftierten Terroristen durchzuführen. Doch diese Methode hat ihre Grenzen: Zum einen besteht die Gefahr, dass die Befragten das Interview nutzen, um ihre Weltsicht und Propaganda zu verbreiten; zum anderen ist offenkundig, dass der Forscher keinen Zugang zu den sensiblen Bereichen einer Terrororganisation erhält, schon gar zu ihren operativen Köpfen.

 

Es herrscht also ein notorischer Mangel an für Wissenschaftler zugänglichen Primärquellen. Eine mögliche Quelle sind Pamphlete und Erklärungen der Akteure selbst (z.B. Videobotschaften, Internet-Zeitschriften, Reden, Bücher). Abgesehen von der notwendigen quellenkritischen Prüfung stellt sich hier zumeist das Problem der Entschlüsselung. Was richtet sich an ein Publikum, was richtet sich an die eigenen Leute? Welche Botschaften sind glaubwürdig und ernst zu nehmen, welche haben lediglich die Funktion der psychologischen "Kriegsführung" oder der gezielten Irreführung?

 

Eine andere Quelle sind Erkenntnisse von Geheimdiensten und der Ermittlungsbehörden (z.B. Berichte von V-Leuten, "Rohdaten", Verhörprotokolle). Doch auch hier stellen sich methodische Probleme - wie etwa Fragen nach der Authentizität und Glaubwürdigkeit der Quelle, die Einordnung der Informationen, die mangelnde Transparenz der Dienste etc. Ferner sind solche Quellen nicht zitierfähig und stehen damit im Widerspruch zu den Kriterien wissenschaftlichen Arbeitens, eine wichtige Ausnahme sind Gerichtsprozesse und Prozessunterlagen.

 

Bei den Sekundärquellen, auf die man zumeist angewiesen ist, tauchen ähnliche Fragen auf - allerdings in potenzierter Weise. Es gibt etwa das Phänomen, dass eine Information oder eine Hypothese von mehreren Autoren verbreitet wird, die sich aber letztlich auf dieselbe (Primär- )Quelle zurückführen lassen. Falschmeldungen, unvollständige Informationen oder bloße Behauptungen finden auf diese Weise eine enorme Verbreitung. Je mehr Experten sich diese zu Eigen machen, desto mehr gewinnen sie an "Gültigkeit" und an politischer Relevanz. Hinzu kommt, dass zahlreiche Sekundärquellen zum Thema Terrorismus nur spärlich auf die zu Grunde liegenden Primärquellen verweisen (dies gilt insbesondere für journalistische Beiträge). Anders formuliert: Im Bereich der Terrorismusforschung ist der Wissenschaftler bis zu einem gewissen Grad auf Erklärungsmodelle, Hypothesen und Plausibilisierungen angewiesen, die immer wieder anhand neuer Quellen, Informationen und Erkenntnisse überprüft werden müssen. Der Hinweis auf die Grenzen der Expertise und die Relativierung eigener Erkenntnisse ist jedoch wenig populär, wenig befriedigend und für die Öffentlichkeit wenig beruhigend - er wird daher in der Regel von "Terrorexperten" unterlassen. Stattdessen werden Einschätzungen, bloße Spekulationen oder pointierte Meinungsäußerungen nicht als solche gekennzeichnet, sondern oftmals als Erkenntnisse "verkauft".

 

Gleichzeitig herrscht unter "Terrorexperten" häufig Einigkeit über bestimmte Thesen und Vermutungen. Im Zweifelsfall haben dann alle danebengelegen. Dies ist jedoch das genaue Gegenteil von dem, was man von Wissenschaft erwarten darf: Sie muss sich - wie in anderen Feldern auch - durch Kontroversen und die kritische Auseinandersetzung mit den "Fakten" auszeichnen. Ferner besteht bei "Terrorexperten" eine Neigung, die Gefährdung durch den Terrorismus eher zu dramatisieren denn zu relativieren. Wer Gefahren betont, wird in der Regel nicht zur Rechenschaft gezogen, wenn diese nicht eintreten. Wer aber Risiken und Bedrohungen unterschätzt oder gar leugnet, dessen Expertise dürfte beim Eintritt des Gegenteils stark in Zweifel stehen.

 

Verbunden wird diese Haltung häufig mit der Konzentration auf "Worst case"-Szenarien. Diese Mechanismen tragen jedoch eher zu einer aufgeregten denn zu einer aufgeklärten Debatte bei. Sie verstärken bestimmte Wahrnehmungs- und Erklärungsmuster, die an jene Leerstellen rücken, in denen es schlicht an gesicherten Erkenntnissen mangelt. Insofern sagen sie mehr über unsere Vorstellung über "den" Terrorismus als über das Phänomen selbst.

 

Ulrich Schneckener ist Leiter der Forschungsgruppe "Globale Fragen" der Stiftung Wissenschaft und Politik und Autor des 2006 in der Edition Suhrkamp erschienenen Buchs "Transnationaler Terrorismus".