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Die erweiterte nukleare Abschreckung der USA in Europa – drei Szenarien

Vertrauenskrise, Vertrauensbruch oder vollständige Abkehr Washingtons

SWP-Aktuell 2025/A 30, 24.06.2025, 8 Seiten

doi:10.18449/2025A30

Forschungsgebiete

In den vergangenen Monaten haben sich die Debatten darüber verschärft, ob Europa noch auf die erweiterte nukleare Abschreckung der USA vertrauen kann – oder ob es eigene Alternativen dazu erwägen muss. Ein bloßer Entweder-oder-Ansatz erhellt hier aber wenig. Es bedarf einer differenzierten Herangehensweise, um bei dieser Frage zentrale Herausforderungen und Handlungsoptionen zu erfassen. Zu diesem Zweck werden im Folgenden drei Szenarien entworfen, wie sich der europäische Blick auf die Verlässlichkeit des amerikanischen Atomschutzschirms entwickeln könnte. Der erste Fall wäre eine Vertrauenskrise, die moderate Anstrengungen erfordern würde, um den Status quo wiederherzustellen. Bei der zweiten Variante – einem Vertrauensbruch – bräuchte Europa nicht nur eine stärkere konventionelle Verteidigung, son­dern auch angemessene Eskalationsinstrumente, um Washington notfalls zum Han­deln zu bewegen. Im dritten Szenario würden die Europäer davon ausgehen, dass die USA sich vollständig von ihnen abgewandt haben – die Folgen wären schwer vorhersehbar, aber wohl deutlich gravierender als häufig angenommen.

Seit Beginn von Donald Trumps zweiter Amtszeit als US-Präsident haben sich die transatlantischen Beziehungen spürbar verschlechtert. Vor diesem Hintergrund äußerten einige europäische Staats- und Regierungschefs Zweifel an der erweiterten nuklearen Abschreckung der USA – also an der Bereitschaft in Washington, ameri­kanische Atomwaffen im Ernstfall zum Schutz der Verbündeten in Europa einzu­setzen. Andere betonten, dass die atomare Rolle der USA weiterhin unumstritten sei. Inzwischen gehen auch viele Analysen da­von aus, dass Europa eine eigene nukleare Abschreckungsfähigkeit entwickeln muss. Die meisten Beobachter blicken auf Frank­reich (einige auch auf das Vereinigte König­reich), wenn es darum geht, die vermeint­liche Lücke zu schließen. Die Debatte dreht sich darum, welche Sicherheitsbedürfnisse Paris und London derzeit erfüllen könnten und welche politischen Verpflichtungen, militärischen Kapazitäten oder institutionellen Rahmenbedingungen zusätzlich erforderlich wären, damit man Russland glaubwürdig abschrecken könnte.

Eine binäre Sichtweise, der zufolge ame­rikanischer Schutz entweder zweifelsfrei besteht oder vollständig ausfällt, ist hier je­doch kontraproduktiv. Stattdessen müssen die Annahmen und Auswirkungen ana­lysiert werden, die mit unterschiedlichen Graden europäischen Vertrauens in die Sicherheitszusagen der USA einhergehen. Bei jeder Variante ist die grundlegende Verknüpfung zwischen konventioneller und nuklearer Abschreckung mit zu beden­ken. Die Wechselwirkung zwischen unter­schiedlichen Vertrauensverhältnissen und militärischen Handlungsoptionen erzeugt komplexe Eventualitäten, die ein breites Spektrum möglicher Reaktionen nach sich ziehen. In diesem Sinne werden nachfolgend drei verschiedene Szenarien entworfen – erstens eine transatlantische Ver­trauenskrise, zweitens ein entsprechender Vertrauensbruch und drittens die Wahrnehmung einer vollständigen Abkehr Washingtons von Europa.

Szenario 1: Transatlantische Vertrauenskrise

In diesem Szenario würden die europäischen Staaten weiterhin davon ausgehen, dass Washingtons Sicherheitsversprechen in fast allen Fällen gilt. Europa würde also annehmen, dass es den Kerninteressen der Trump-Regierung zuwiderliefe, die erwei­terte nukleare Abschreckung aufzugeben. In Letzterer sieht Washington tatsächlich seit jeher ein zentrales Instrument, um das Risiko eines Atomkriegs zu senken, eine feindliche Machterweiterung in strategisch wichtigen Regionen zu verhindern und jene Stabilität zu sichern, die für tragfähige wirschaftliche und politische Beziehungen auf globaler Ebene notwendig ist. Diese Ziele scheinen auch unter Trump II noch Gültigkeit zu besitzen. Darüber hinaus bleibt es ein zentrales strategisches Anlie­gen der US-Regierung, dem Aufstieg Chinas entgegenzutreten. Gäbe Trump die erwei­terte Abschreckung auf, dürfte das im Gegenzug die Bereitschaft Europas beein­trächtigen, Washingtons Bemühen um Eindämmung der Volksrepublik zu unter­stützen.

Aber auch in diesem Szenario wäre der europäischen Seite bewusst, dass es mittel- und langfristig schwerwiegende Folgen haben könnte, wenn sich in der Glaubwürdigkeit der US-Sicherheitszusage eine wach­sende Lücke auftut. Diese wahrgenommene Kluft würde Europas Regierungen unter Druck setzen. Sie müssten Geschlossenheit gegenüber Moskau demonstrieren, ihre eigene Öffentlichkeit mit politischen Maß­nahmen beruhigen und Washington zu­gleich ermutigen und drängen, das entstan­dene Vertrauensdefizit zu überwinden. Mehrere Schritte erschienen in diesem Fall umsetzbar, die nur geringfügig von der tatsächlichen aktuellen Politik abweichen würden. Sie wären – auf europäischer wie amerikanischer Seite – bloß mit moderaten Kosten politischer, finanzieller oder militärischer Art verbunden.

Politische Schritte. Deutschland und andere europäische Staaten könnten auf Frankreichs jüngste Vorschläge, eine stärkere Rolle seiner Atomwaffen als Abschreckungs­mittel zu eruieren, mit bilateralen, mini­lateralen oder multilateralen Konsultationen reagieren. Diese Prozesse könnten hochrangige und medienwirksame Treffen umfassen, denen ein Signalcharakter zu­käme. Das könnte zu politischen Verpflichtungen führen – etwa zugunsten von mehr Forschung und Bildung im Be­reich der nuklearen Abschreckung, einer größeren Gewichtung der Abschreckung in den natio­nalen Sicherheitsdokumenten der nichtnuklearen Verbündeten oder einer Stär­kung der Rolle Frankreichs in bilateralen, europäischen und globalen Nuklearforen.

Frankreich wiederum könnte erklären, dass die Sicherheit all seiner europäischen Nachbarn zu seinen vitalen Interessen ge­hört. Gleichzeitig wäre in Paris zu erwägen, zumindest einen Beobachterstatus in der Nuklearen Planungsgruppe der Nato anzu­streben. Außerdem könnte Frankreich vor­schlagen, einen Dialog mit London und Washington über eine engere Koordinierung nuklearer Operationen aufzunehmen.

Militärische Schritte. Deutschland und andere europäische Staaten könnten zudem bescheidene, aber sichtbare militärische Schritte unternehmen – primär als politi­sches Signal, aber auch mit begrenztem zusätzlichen Abschreckungseffekt. Dazu würde etwa die Teilnahme an französischen Nuklearübungen gehören. Darüber hinaus könnten Verbündete konventionelle Fähig­keiten bereitstellen, mit denen das franzö­sische Atomarsenal ergänzt würde. So ließe sich Frankreichs Widerstandsfähigkeit im Ernstfall durch operative Redundanz er­höhen. Deutschland und andere Länder könnten auch ihre Luftwaffenstützpunkte umrüsten, damit sich dort französische Kampfflugzeuge – möglicherweise sogar mit Atomwaffen – stationieren lassen. Da­mit erhielte Paris mehr Dislozierungs­optio­nen, und die Überlebensfähigkeit seiner luftgestützten Nuklearstreitkräfte würde gesteigert. Die europäischen Verbündeten könnten sich auch darauf einstellen, Frank­reichs nukleare Luft- und Seestreitkräfte in Krisenzeiten logistisch, mit Aufklärung oder nachrichtendienstlich zu unterstützen.

Transatlantische Bemühungen. Ebenfalls würden die Europäer in diesem Szenario gemeinsam daran arbeiten, die transatlan­tischen Beziehungen zu festigen und ein politisches Klima zu fördern, das die nukle­are Abschreckung der USA stärkt. Angesichts von Trumps Neigung, Sicherheits­fragen mit wirtschaftlichen oder politischen Themen zu verknüpfen, könnten die euro­päischen Staaten versuchen, in einzelnen Politikbereichen kompromissbereiter auf­zutreten, wenngleich eine europaweite Koordinierung hier wohl schwierig wäre. Die Verbündeten könnten zum Beispiel ihre Verteidigungsausgaben erhöhen, um den Erwartungen Trumps entgegenzukom­men – eine Entwicklung, die bereits im Gange ist. Ein erheblicher Teil der steigenden Verteidigungsausgaben dürfte in den Kauf amerikanischer Waffensysteme flie­ßen, was auch dazu beitragen würde, die politischen Beziehungen mit Washington zu verbessern. Schließlich wären die Euro­päer vermutlich bemüht, die neuen Fähig­keiten in US-geführte Strukturen einzubinden – als Ausdruck ihrer langfristigen Unterstützung für die Nato und zur Entlas­tung eines global engagierten Amerika. Der­zeit gibt es Hinweise, dass sie genau diesen Kurs verfolgen.

Amerikanische Schritte. Da die USA in die­sem Szenario weiterhin die Last der erwei­terten nuklearen Abschreckung tragen wür­den, hätten sie wohl ein Interesse daran, die Sorgen ihrer Verbündeten zu zerstreuen – selbst wenn sie in anderen Bereichen politischen Druck auf Europa ausübten. Amerikanische Amtsträger könnten auf niedriger diplomatischer Ebene den euro­päischen Verbündeten nukleare Zusicherungen geben. Ein solches Vorgehen spie­gelt sich bereits in zahlreichen Entwicklungen der jüngsten Zeit wider. Die Verabschie­dung von Strategie- und Planungsdokumen­ten durch das Weiße Haus oder das Penta­gon, in denen der langfristige Fortbestand der erweiterten nuklearen Abschreckung unterstrichen würde, hätte jedoch noch mehr Gewicht und wäre in diesem Szenario auch zu erwarten. Ebenfalls größere Wir­kung könnte es entfalten, wenn Präsident Trump oder andere hochrangige Regierungsvertreter eindeutig erklärten, welche Sicherheitsgarantien die USA ihren Verbün­deten bedingungslos gewähren – unabhängig von sonstigen Forderungen.

Um Aussagen Trumps entgegenzuwirken, mit denen die Glaubwürdigkeit der erweiterten nuklearen Abschreckung infrage gestellt würde, böte sich zudem der gezielte Rückgriff auf militärische Maßnahmen an. Washington könnte etwa die laufenden Gespräche in der Nato zur An­passung ihrer nuklearen Fähigkeiten fort­führen und damit die eigene Bereitschaft betonen, langfristig in die erweiterte Ab­schreckung zu investieren. Die amerikanische Regierung würde noch glaubwürdiger wirken, wenn sie ihr Projekt für U‑Boot-gestützte nukleare Marschflugkörper voran­triebe. Dieses dient in erster Linie der er­weiterten Abschreckung in Asien, hat aber auch breitere Signalwirkung, was die Beständigkeit von Amerikas globalen Ver­pflichtungen angeht. Am wirkungsvollsten wäre ein Beschluss, im Rahmen der nukle­aren Teilhabe der Nato die derzeitigen Frei­fallbomben durch eine Standoff-Fähigkeit (für Angriffe aus großer Entfernung) zu ersetzen – ein kostspieliger Schritt, der ein langfristiges nukleares Engagement der USA deutlich unterstreichen würde.

Szenario 2: Vertrauensbruch

Für das Szenario eines Vertrauensbruchs wäre grundlegend, dass zentrale Annahmen von heute zum amerikanischen Schutz für Europa keine Gültigkeit mehr hätten. Den­noch würden die Europäer davon ausgehen, dass es im Falle eines Konflikts auf ihrem Kontinent eine Schwelle gäbe, ab der Washington nicht mehr untätig bleiben könnte, ohne grundlegende US-Interessen zu gefährden. In den Jahrzehnten von Ame­rikas militärischer Vorherrschaft nach Ende des Kalten Krieges versuchte Washington, seine Verbündeten davon zu überzeugen, dass es auf nahezu jede mittlere Bedrohung seiner Glaubwürdigkeit mit einer Intervention reagieren würde – um »jeden Zenti­meter« des Bündnisses zu verteidigen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte die beobachtbare Schwelle hingegen wesentlich höher gelegen – nämlich in der Aussicht auf einen umfassenden Krieg in Europa, bei dem eine feindliche Macht die Kontrolle über die Ressourcen des Kontinents hätte erlangen können. Von Un­sicher­­heit geplagt, müssten die Europäer heute ermitteln, an welchem Punkt dieses Spek­trums die USA unter Trump zu ver­orten wären. Auch würden sie eine Abschreckungslücke wahrnehmen: Russland hätte einen Anreiz, unterhalb der Konflikt­schwelle zu agieren, ab der Washington vermutlich eingreifen würde.

Russische Eskalationsdominanz. Angesichts dieser Unsicherheit könnten die deutsche und andere europäische Regierungen ihre konventionellen Streitkräfte verstärken. Ohne konventionelle Unterstützung der USA müsste Europa im Falle eines russischen Überfalls auf die Nato eigenständig die erforderlichen Fähigkeiten aufbringen, um den Angreifer zurückzudrängen. Zwar deuten aktuelle Pläne darauf hin, dass die Europäer mittelfristig bereit sein könnten, solche Fähigkeiten aufzubauen – dafür wären jedoch erhebliche Hürden zu be­wältigen.

Allerdings übertreffen Russlands taktische Nuklearkapazitäten jene der europäischen Nato-Verbündeten bei Weitem an Umfang und Vielfältigkeit. Da dies auch unabhängig von kurzfristigen Bemühungen um den Aufbau eigener europäischer Atom­arsenale so bleiben wird, hängt die Wirk­samkeit rein konventioneller Maßnahmen von zwei Vorannahmen ab – dass entwe­der Russlands Interessen in einem zukünftigen Konflikt mit der Nato unterhalb der nuklearen Schwelle blieben oder jeder Ein­satz von Atomwaffen eine Intervention der USA auslösen würde.

Würden die Europäer das Vertrauen in diese beiden Annahmen verlieren und trotzdem Russland abschrecken wollen, bliebe ihnen letztlich nur die Option, von einer eigenständigen konventionellen Verteidigung auf eine Eskalationsstrategie umzuschwenken, um die USA in den Kon­flikt zu verstricken. Ziel der Abschreckung müsste es sein, Moskau davon zu überzeugen, dass jede Eskalation eine entschlossene europäische Gegenreaktion auslösen würde, die Washington zum Eingreifen zwänge. Je höher die wahrgenommene Interventionsschwelle der USA wäre, desto bedeutender die militärischen Fähigkeiten, die verschiedene europäische Akteure als notwendig erachten würden.

Mittel des Eskalationsmanagements. Je nach Einschätzung der US-Schwelle könnten die konventionellen Fähigkeiten zentraler europäischer Staaten als ausreichend gel­ten. Am unteren Ende des Spektrums ließe sich annehmen, Washington könnte es – mit Blick auf die globale Stabilität – kaum zulassen, dass zentrale europäische Volks­wirtschaften in einen großen regionalen Krieg hineingezogen würden. So könnten die USA auch mit konventionellen Waffen eingebunden und Russland von einer Aggression abgehalten werden. Ein Beispiel zur Veranschaulichung: In einer Nato-Grenzkrise mit nuklearen Drohungen aus dem Kreml könnte etwa eine polnische Regierung mit konventionellen Langstreckenwaffen wichtige Ziele im russischen Hinterland ins Visier nehmen – darunter auch Anlagen, die für Russlands strategische nukleare Abschreckung unverzichtbar sind. Nach dieser Logik müsste Moskau prä­ventiv polnische Ziele angreifen und dabei die roten Linien der USA überschreiten. Das könnte Russland von vornherein abschrecken, würde aber den Handlungsspielraum der Vereinigten Staaten einschränken. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass sich verschiedene US-Regierungen in der Vergangenheit den Bestrebungen ihrer Verbündeten widersetzten, unabhängige Langstreckenfähigkeiten zu entwickeln.

Der Aufbau konventioneller Streitkräfte zur Abwehr eines russischen Angriffs ist sowohl mit dem Szenario Vertrauenskrise als auch mit jenem des Vertrauensbruchs vereinbar. Die Beschaffung konventioneller Mittel mit dem Ziel, Washington im Ex­trem­fall gegen seinen Willen in einen Kon­flikt hineinzuziehen und somit Russland ab­zu­schrecken, würde aber deren Einsatz ohne – oder sogar gegen – die Unterstützung der USA voraussetzen. Folglich müsste Europa Langstreckenraketen selber produ­zieren. Noch entscheidender ist: Um solche Waffen wirksam einzusetzen, fehlen den Europäern die dafür notwendigen unterstützenden Fähigkeiten.

Europäische Regierungen, die davon ausgehen würden, dass nur ein regionaler Atomkrieg eine US-Intervention auslösen würde, müssten auf absehbare Zeit auf Frankreich und Großbritannien zurückgreifen, um diese Eskalationslücke zu schließen. In diesem Szenario würden die fran­zösischen und britischen Nukleararsenale somit eine fundamentale Rolle spielen – vielleicht sogar eine größere als im Szenario einer vollständigen US-Abkehr. Unverwund­bare nukleare Seestreitkräfte würden Atom­schläge auf Frankreich oder Großbritannien verhindern. Mithilfe dieses Schutzschildes könnten beide Länder eine begrenzte nukleare Eskalation nutzen, um Washington in den Konflikt zu verstricken. Um die­ses Eskalationsmanagement gestalten zu können, müsste London eine eigenständige luftgestützte taktische Nuklearoption ent­wickeln oder seine langfristige Abhängigkeit von den strategischen Trägersystemen der USA überdenken. Paris hätte hingegen die Möglichkeit, seine Nuklearbomber erheblich auszubauen. Erste Schritte dazu wurden Berichten zufolge bereits unternommen. Außerdem könnten französische Atombomber vorwärts – also nahe an Russland – stationiert werden. Dadurch würde sich Paris in eine Situation bringen, in der es diese Waffen einsetzen müsste, um sie nicht zu verlieren. Damit könnte Frankreich das Vertrauen der Frontstaaten stärken, dass es eine nukleare Eskalation riskieren würde, um Washington in einen Konflikt mit Moskau hineinzuziehen. Die Kombination solcher nuklearen Verlegungen mit großen konventionellen Streitkräften würde die französische Glaubwürdigkeit weiter stärken.

Riesige Hürden. Die Kosten und Risiken eines solchen Eskalationsmanagements wären extrem hoch. Erstens würde ange­sichts der unklaren Absichten der USA das Risiko von Fehleinschätzungen auf allen Seiten steigen – und die Bewältigung einer nuklearen Eskalationsleiter mit mehreren Akteuren ist äußerst komplex, falls über­haupt möglich. Zweitens stünden viele europäische Staaten vor einem äußerst kostspieligen Konflikt, sollte Russland be­schließen, die Entschlossenheit der euro-atlantischen Gemeinschaft auf die Probe zu stellen, und Washington eine Intervention ablehnen. Diese Eventualität würde einige Staaten schon im Vorhinein veranlassen, zwischen Russland und den USA zu lavie­ren oder sich (wenn auch inoffiziell) aus dem Bündnis zu lösen. Drittens wären kon­ventionell schwache Staaten bei der Eskala­tionsbewältigung auf ihre Nachbarn ange­wiesen, während Nicht-Nuklearwaffen-Staaten eine atomare Eskalation nach Paris und London delegieren müssten. Europäische Konsultationen über konventionelle und nukleare Waffen könnten eine gewisse Entlastung bringen; das Problem würden sie jedoch nicht gänzlich lösen. Die Erfah­rung beider Weltkriege unterstreicht, wie schwierig und unvorhersehbar es ist, die USA zur Beteiligung an einem bewaffneten Konflikt in Europa zu zwingen – eine Tatsache, welche auch die Kalkulationen Russlands bezüglich Eskalationsrisiken maßgeblich beeinflussen würde.

Diese Herausforderungen verdeutlichen, welch tiefgreifender Schaden selbst bei einem Szenario droht, das noch keiner voll­ständigen Abkehr Washingtons von Europa gleichkommt. Die amerikanische Regie­rung müsste aus politischen Gründen jedes öffentlich bekannt gewordene Bemühen Europas ablehnen, Russland durch eine ungewollte Einbindung der USA in einen regionalen Konflikt abzuschrecken. Auch im amerikanischen Staatsapparat würden viele die aus solchen europäischen Bestre­bungen resultierende Unvorhersehbarkeit als problematisch empfinden. Umgekehrt dürften die meisten europäischen Regierun­gen große Schwierigkeiten damit haben, solche Strategien zu entwickeln und zu ko­ordinieren – nach Jahrzehnten, in denen sie sich in Sicherheitsfragen fast vollständig auf Washington verlassen hatten.

Szenario 3: Abkehr der USA von Europa

In diesem Szenario würden die Europäer davon ausgehen, dass Washington entwe­der nicht willens oder nicht in der Lage ist, in einen Konflikt auf dem europäischen Kontinent einzugreifen. Diese An­nahme vertreten bereits heute einige Analysten. Manche von ihnen glauben, dass Frankreich – gegebenenfalls mit Unterstützung des Vereinigten Königreichs – die Abschre­ckungslücke schließen könnte, in­dem es seine deklaratorische Politik an­passt, nicht­strategische Nuklearstreitkräfte ausbaut, Nato-ähnliche Konsultationsstrukturen einführt und möglicherweise Atom­waffen in der Nähe Russlands stationiert. Andere Experten sind hingegen der An­sicht, dass weitere europäische Staaten eige­ne Atom­waffenarsenale aufbauen sollten.

Das dritte Szenario ist wesentlich vielschichtiger und mit deutlich größeren Her­ausforderungen verbunden als die ersten beiden. Denn eine vollständige Abkehr der USA von Europa zu modellieren ist kom­plexer als oftmals angenommen. Möglich wären hier drei Konstellationen, die sich vor allem im Grad der Ge­wissheit unterscheiden würden, mit dem ein amerikanisches Eingreifen in Europa ausgeschlossen werden könnte. Ein Bürger­krieg in den USA wäre der eindeutigste Fall, da ein innerer politischer Zusammenbruch dort eine Inter­vention im Ausland nahezu unmöglich machen würde. Denkbar wäre zwei­tens ein umfas­sender Krieg der USA mit China, der die amerikanischen Ressourcen für Europa deutlich einschränken würde. Unklar blie­be jedoch, ob Washington seine globale Rolle aufrechterhalten könnte, wenn es sich auf eine einzige Schlüssel­region kon­zentrieren und andere weitgehend sich selbst überlassen würde. Die dritte Konstel­lation ergäbe sich aus einer vollständig iso­lationistischen US-Regierung. Diese würde sich aus globalen Angelegenheiten zurück­ziehen, die Mehrzahl der eigenen Militärstützpunkte im Ausland ab­bauen und ihre Verteidigungsausgaben für die globale Machtprojektion stark kürzen. Selbst eine solche amerikanische Führung könnte je­doch – wie in den beiden Welt­kriegen des letzten Jahrhunderts – ein glo­bales Chaos als nationale Bedrohung anse­hen und zu dem Schluss kommen, dass eine Einmischung in die europäischen Ver­hältnisse notwendig wäre.

Ungewisser Abschreckungsbedarf. Noch wich­tiger ist jedoch, dass es selbst unter den extremsten Annahmen dieser drei Konstellationen eine gewaltige Herausforderung wäre, den nuklearen Abschreckungsbedarf für ein »Europa allein« richtig einzuschätzen. Nachdem Russland sein seit 1947 ver­folgtes Ziel – den Rückzug der USA aus Europa – erreicht hätte, könnte es seine Vorherrschaft in Osteuropa weiter ausdeh­nen oder auf eine grundlegende Neuverhandlung der europäischen Ordnung in Sachen Sicherheit, Politik und Wirtschaft drängen. Möglich wäre auch, dass die pro-demokratischen und marktorientierten Eliten, die seit Ende des Zweiten Weltkriegs weite Teile des Kontinents dominieren, an den Rand gedrängt werden, sollte die bis­herige transatlantische Ordnung verloren gehen. Vor diesem Hintergrund wäre unge­wiss, ob europäische Institutionen und Ideen die Kraft hätten, den Status quo zu bewahren – oder ob politische, wirtschaftliche und sicherheitspolitische Herausforderungen, die als längst überwunden gal­ten, in Europa erneut aufbrechen würden.

Französische Einschränkungen. Selbst unter der Annahme eines dauerhaften Bedarfs, Russland von nuklearer Erpressung abzu­halten, gibt es kaum Hinweise darauf, dass das derzeitige französische (oder britische) Arsenal den Kreml abschrecken oder ge­fährdete Verbündete wirksam rückversichern könnte. Das größte Hindernis dafür, Washington in dieser Rolle zu ersetzen, liegt im grundlegenden Unterschied zwi­schen der amerikanischen und der franzö­sischen Strategie nuklearer Abschreckung. Das große und vielfältige Atomwaffenarsenal der USA, kombiniert mit deren über­wältigender konventioneller Überlegenheit, erlaubt es Washington zu behaupten, im Falle einer umfassenden nuklearen Kon­frontation die russischen Atomstreitkräfte gezielt angreifen zu können. Auf diese Weise sollte sichergestellt werden, dass nur wenige russische Nuklearwaffen amerikanische Ziele erreichen – ein Ansatz, der als Schadensbegrenzung (damage limitation) im Rahmen einer Gegenstreitkräftestrategie (counterforce posture) bekannt ist. Trotz aller damit verbundenen Unsicherheiten stützen sowohl die Erfahrungen im Kalten Krieg als auch der aktuelle Ukraine-Konflikt die Über­­zeugung von Verbündeten und Geg­nern, dass dieses Abschreckungskonzept wirkt.

Im Gegensatz dazu zielt das französische Arsenal darauf ab, Russlands Entscheidungs­zentren mit inakzeptablen Schäden zu be­drohen (countervalue posture) – selbst unter Inkaufnahme verheerender Vergeltung. Dies entspricht einer Strategie der gegenseitig garantierten Zerstörung (mutually assured destruction). Die französischen Atomwaffen mögen eine glaubwürdige Abschreckung gegenüber Bedrohungen dessen bieten, was Paris als existentiell betrachtet. Darüber hinaus jedoch würde ihr Rückversicherungswert rapide abnehmen. Die Verbündeten würden sich kaum mit der äußerst geringen Wahrscheinlichkeit zufriedengeben, dass Paris in Fällen, die nur zweitrangige französische Interessen betreffen, eine unkontrollierbare Eskalation – und damit den nationalen Selbstmord – riskieren würde. Gegner dürften dies ebenso wenig erwarten. Glaubhafter ist hingegen, dass die gegenseitig garantierte Zerstörung sowohl Russland als auch Frankreich in unantastbare Sanktuarien verwandeln würde. Dies wiederum ließe Raum für konventionelle wie nukleare Auseinandersetzungen im dazwischenliegenden Gebiet. Selbst wenn Frankreich und seine Verbündeten die militärische Stärke erreichen würden, um Russland an dieser Schwelle entgegenzutreten, würden sich viele europäische Regie­rungen wahrscheinlich dagegen aussprechen, Paris allein über einen Atomkrieg auf ihrem Territorium entscheiden zu lassen.

Für diese Dilemmata gibt es keine einfachen Lösungen. Einige haben argumentiert, dass die geographische Nähe die Herausforderungen mildert, da jeder Einsatz von Atomwaffen in Europa dramatische Folgen für Frankreich hätte – doch dieses Argu­ment wird überbewertet. Ein Konflikt, der die politischen und wirtschaftlichen Grund­lagen Europas erschüttert, würde mit hoher Wahrscheinlichkeit die nukleare Schwelle Frankreichs erreichen. Hingegen bliebe der Einsatz oder die Androhung begrenzter nuklearer Gewalt durch einen Gegner, der damit Gebietsgewinne am Rande Europas abzusichern suchte, sehr wahrscheinlich unterhalb dieser Schwelle.

Daher würden östliche Verbündete unter starkem Druck stehen, entweder Paris in jeder nuklearen Krise zum Handeln zu drängen – oder eigene Atomwaffenprogramme voranzutreiben. Um den Bedenken entgegenzuwirken, hätte Frankreich meh­rere Möglichkeiten. Es könnte große kon­ventionelle Streitkräfte oder verwundbare Nuklearwaffen vorwärts stationieren; eine Nuklearstrategie und entsprechende Fähig­keiten übernehmen, die stark denen der USA ähneln; oder die Kontrolle über Atom­waffen mit gefährdeten Verbündeten tei­len. All diese Optionen sind jedoch entwe­der extrem kostspielig oder sehr riskant – oder beides. Weder das französische Ver­halten in der Vergangenheit noch die aktu­ellen Maßnahmen und Äußerungen aus Paris oder die voraussichtliche künftige politische Lage des Landes deuten darauf hin, dass Frankreich willens oder in der Lage sein wird, solche Belastungen mittel­fristig zu tragen.

Unattraktive Alternativen. Aus all diesen Gründen erscheint es unrealistisch, dass eine auf Frankreich ausgerichtete »zweitbeste Versicherungspolice« von einer Mehr­heit der europäischen Regierungen für »bes­ser als gar nichts« gehalten wird. Fehlen glaubwürdige nukleare Rückversicherungen, werden politische Entscheidungsträger mit hoher Wahrscheinlichkeit entweder auf Beschwichtigung Russlands setzen oder den Aufbau nationaler Nukleararsenale voran­treiben. Was Letzteres betrifft, so gibt es zahlreiche Hinweise darauf, dass eine weit­reichende nukleare Proliferation problematisch wäre. Zwei Argumente stechen dabei besonders hervor. Erstens: Ohne amerikanischen Schutz für Europa hätte Russland kaum einen Grund, nicht alle ihm zur Ver­fügung stehenden Mittel einzusetzen, um die Entwicklung von Atomwaffen auf dem Kontinent zu verhindern. Zweitens: Sollten sich führende europäische Mächte für den Aufbau eigener Atomwaffenarsenale ent­scheiden, würden voraussichtlich zahl­reiche kleinere Staaten nachziehen – mit dem Ergebnis eines instabilen nuklear be­waffneten Europas und unvorhersehbarer innen- wie außenpolitischer Dynamiken.

Optionen und Zielkonflikte

Wie diese Analyse zeigt, steht Europa in der Frage, ob es auf die erweiterte nukleare Ab­schreckung der USA vertrauen kann, nicht vor der binären Alternative völliger Sicher­heit oder vollständiger Verlassenheit. Auch erweist sich, dass einige mögliche Vorkehrungen der Europäer allgemein umsetzbar, andere wiederum situationsabhängig sind. Zudem schließen sich manche Schritte gegenseitig aus. Die fortgesetzte Einbindung in US-geführte Militärstrukturen ent­spricht zum Beispiel dem Szenario einer bloßen Vertrauenskrise, während das Sze­nario des Vertrauensbruchs den Aufbau von Fähigkeiten verlangt, die sich Washingtons Einfluss entziehen. Und während es der Variante Vertrauensbruch entspräche, Frankreich beim Ausbau zusätzlicher nicht­strategischer Nuklearoptionen zu unterstützen, würde das dritte und gravierendste Szenario deutlich radikalere Maßnahmen erfordern.

Darüber hinaus unterscheiden sich die drei Szenarien erheblich, was ihre Eintritts­wahrscheinlichkeit betrifft. Momentan erscheint das Szenario Vertrauenskrise am wahrscheinlichsten, was faktisch der Rück­kehr zu einer Situation wie in Trumps erster Amtszeit gleichkäme. Verschlechtern sich hingegen die transatlantischen Bezie­hungen weiter und bleiben die im ersten Szenario erwarteten Entwicklungen aus, wirkt das Szenario des Vertrauensbruchs deutlich plausibler als eine vollständige Abkehr der USA von Europa.

Aus der Analyse ergeben sich drei Empfehlungen. Erstens sollten die Europäer eine Vertrauenskrise angehen, indem sie Druck auf die Trump-Regierung ausüben und zugleich Anreize schaffen, um den bestehenden nuklearen Status quo zu retten. Zweitens sollten politische Entscheidungsträger die Optionen und Auswirkungen eines möglichen Vertrauensbruchs sorgfältig prüfen. Die damit verbundenen Zielkonflikte, Kosten und Risiken könnten die Sicherheitsarchitektur insgesamt desta­bilisieren. Drittens schließlich sollte die deutsche und europäische Politik die Anfor­derungen des Abkehr-Szenarios gründlich und realistisch bewerten – statt auf ein­fache Lösungen zu hoffen und davon aus­zugehen, dass sich in einer postamerikanischen Welt wenig ändern würde.

Dr. Liviu Horovitz ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Das Aktuell entstand im Rahmen des Projekts STAND (Strategic Threat Analysis and Nuclear (Dis-)Order).

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