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Die Drei-Meere-Initiative: wirtschaftliche Zusammenarbeit in geostrategischem Kontext

Deutschland sollte sein Engagement auch aus außenpolitischen Gründen verstärken

SWP-Aktuell 2021/A 16, 18.02.2021, 8 Seiten

doi:10.18449/2021A16

Forschungsgebiete

Ein halbes Jahrzehnt nach ihrer Gründung befindet sich die Drei-Meere-Initiative in einer Phase der Festigung und der Konkretisierung. Der lose Zusammenschluss von zwölf Ländern aus Ostmittel- und Südosteuropa hat es sich zum Ziel gesetzt, die Kon­nektivität zwischen den Ländern der Region zu verbessern. Mit seinem nunmehr auf über eine Mil­liarde Euro angewachsenen Investitionsfonds und durch das finanzielle und poli­tische Engagement der USA, das vermutlich auch die Biden-Adminis­tration fort­führen wird, ist die Initiative stabiler und handlungsfähiger geworden. Allerdings leidet sie weiter an den unterschiedlichen geopolitischen Interessen der teilnehmenden Staaten. Deutschland, das kein vollumfänglicher Teilnehmer, sondern Partner der Initiative ist, sollte sich, sofern es an seinem Beitrittswunsch festhält, im Sinne einer wohlwollenden Mitwirkungsbereitschaft in die Initiative einbringen, um un­abhän­gig von deren weiterer Entwicklung Kooperationschancen auszuloten und Präsenz in der Region zu zeigen.

Die Drei-Meere-Initiative (Three Seas Initia­tive, 3SI) ist ein 2016 formal etablierter Ko­operationsrahmen, dem zwölf Länder aus Ostmittel- und Süd­osteuropa angehören: Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tsche­chien, die Slowakei, Ungarn, Österreich, Slowenien, Kroatien, Rumänien und Bul­garien. Die Staaten zwischen Ostsee, Adria und Schwarzem Meer sind sämtlich Mit­glieder der Europäischen Union (EU). Der Zusammenschluss möchte die Konnektivität und die wirtschaftliche Ent­wicklung der Region fördern, indem vor allem grenz­überschreitende Infrastrukturprojekte in Nord-Süd-Richtung vorangetrieben werden. Da­mit sollen insbesondere historisch ge­wachsene An­bindungslücken gefüllt werden, denn viele wichtige Infrastrukturmagistralen in der bzw. durch die Region verlaufen von Osten nach Westen. Die Schwerpunkte der Zusammenarbeit liegen in den Bereichen Ver­kehr, Energie und Digitales. Laut Internatio­nalem Währungsfonds weist die Region in der laufenden Dekade einen Bedarf an Infra­strukturinves­ti­tionen von etwa 1,3 Bil­lionen US-Dollar auf. Neben den jährlich abgehaltenen Gip­feltreffen gibt es ein Business-Forum, einen Investitionsfonds und den Prio­ritäten­feldern zugeordnete Projekte. Treibende Kraft der Plattform ist Polen bzw. die dort seit 2015 regierende Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) und der aus ihren Reihen stammende Staatspräsident Andrzej Duda. Polen hob die Initiative im August 2016 zusammen mit Kroatien bei einem ersten formellen Gipfel in Dubrovnik aus der Taufe. Die Ländergruppe repräsentiert etwa ein Viertel der EU-Bevölkerung, aber nur 13 Prozent ihrer Wertschöpfung.

Virtueller Gipfel in Tallinn

Das letzte Gipfeltreffen der 3SI fand im Oktober 2020 im estnischen Tallinn statt und wurde von der Corona-Krise geprägt. Zwar bemühte sich das Gastgeberland, bei der Organisation der weitgehend virtuellen Zusammenkunft seinem Profil als digitaler Vorreiter alle Ehre zu machen, doch bot die Veranstaltung bis auf wenige Ausnahmen von physischer Präsenz keine Möglichkeiten zur vertiefenden Kontaktpflege für Politik und Wirtschaft. Die estnische Seite stieß ein paar praktische und institutionelle Innovationen an, die auch in der Schluss­erklärung des Gipfels aufgegriffen wurden. Hierzu gehö­ren ein interaktiver Fortschrittsbericht zu einzelnen Projekten und ein Bericht zu Smart Connectivity. Auch hat sich offenbar die Einberufung eines technischen Sekretariats für den Gipfel bewährt. Man rang sich aber bisher nicht dazu durch, dem ungarischen Vorschlag zur Einrichtung eines ständigen Generalsekretariats zu entsprechen.

Die beiden wichtigsten Signale, die vom Tallinn-Gipfel ausgingen, waren indes die Aufstockung des Investitionsfonds (3SIIF) und das fortgesetzte und intensivierte Engagement der USA in dem Format. Die Vereinigten Staaten haben deutlich ge­macht, dass sie als externer Partner der Ini­tiative nicht nur politische, sondern auch finanzielle Unterstützung leisten wollen. Die Mitgründerin und größte Teilhaberin des Investitionsfonds, die polnische Ent­wick­lungsbank Bank Gospodarstwa Krajo­wego (BGK), gab bekannt, ihre Einlagen von 500 Millionen Euro um 250 Millionen Euro zu erhöhen. Zusammen mit den Beiträgen aus anderen Ländern und eines ersten pri­vaten Anlegers stieg das Volumen des Fonds auf knapp eine Milliarde Euro. Anfang Februar 2021 sind Banken aus Litauen und Slowenien dem 3SIIF beigetreten. Damit sind neun von 12 3SI-Ländern an dem Fonds beteiligt. Die USA haben angekündigt, über die International Development Finance Corporation (DFC) 300 Millionen US-Dollar beizusteuern. Washington ist bereit, diese Summe bis auf eine Milliarde US-Dol­lar auf­zustocken, wobei die amerikanischen Mittel wie auch jetzt 30 Prozent der von den 3SI-Teilnehmern erbrachten Einlagen aus­machen sollen. Mit diesen Zusagen mate­ria­lisierte sich eine vom damaligen Außen­minister Pompeo formulierte Offerte vom Februar 2020. Überdies kündigte die ameri­kanische EXIM-Bank in einer Vereinbarung mit der BGK an, durch eine finanzielle Unterstützung von 3SI-Pro­jekten die DFC-Mittel zu ergänzen.

Geopolitik oder »nur« Wirtschaft?

Beim Blick auf die Intentionen der Drei-Meere-Initiative ergibt sich immer auch die Frage, ob es sich dabei um ein geopolitisches Vorhaben oder einen »bloß« wirtschaft­lichen Zweckverband handelt. Die Antwort hierauf lautet: sowohl als auch. Denn der Trennung von Geopolitik und wirt­schaft­licher Kooperation wohnt immer auch Willkürlichkeit inne. Geostrategisch moti­vierte Politik kann Folgen für Handel und Ökono­mie haben, so wie wirtschaftliche und infra­strukturelle Projekte häufig außen- und sicherheitspolitische Implika­tionen haben. Bei der Drei-Meere-Initiative kommt hinzu, dass ein derart heterogener Zusammenschluss von Akteuren, die unter­schiedliche geopolitische Präferenzen haben, sich nicht auf eine dominante außenpoli­tische Stoßrichtung einlassen kann und man daher ex­plizite geostrategische Fest­legungen vermeidet. Dennoch wird von einigen Mitwirkenden, allen voran Polen, eine dezidiert geopolitische Agenda voran­getrieben. Unter Inkaufnahme einer gewis­sen Vereinfachung lassen sich drei Ansätze unterscheiden:

Aus polnischer Sicht, genauer gesagt aus Sicht des Regierungslagers, ist die Drei-Meere-Initiative jenseits ihrer wirtschaft­lichen Aspekte auch ein geopolitisches Arrangement, durch das sich Verwundbarkeiten gegenüber Russland reduzieren und die vermeintliche wirtschaftliche und poli­tische Vormachtstellung Deutschlands in der Region einhegen lässt. Einen entscheidenden Beitrag zur Verwirklichung dieser Ziele leistet die profilierte Präsenz der USA in der Initiative, die auch als Gegengewicht zu deutschem Einfluss aufgefasst wird.

Für die anderen Russland-kritischen und stark transatlantisch orientierten Länder der Region, na­mentlich die baltischen Staaten und Rumä­nien, sind die Einbin­dung der Vereinigten Staaten und der Ab­bau von Abhängig­keiten gegenüber Russ­land ebenfalls attraktive Aspekte der 3SI. Sie lehnen dagegen eine Einhegung Deutsch­lands und generell jeglichen Sub­text mit antideutscher Stoßrichtung klar ab und drängen gleichzeitig auf eine möglichst enge Anbindung der Initiative an die EU.

Letzteres gilt auch für alle anderen Part­ner der Drei-Meere-Initiative. Sie weisen überdies geo­politische oder geoökonomische Erwägungen von sich. Dies auch, weil die Regierungen (wie in Ungarn) oder andere wichtige poli­tische Akteure (die tschechischen und kroatischen Staatspräsidenten, relevante politische Parteien in der Tsche­chi­schen Republik) ihre Zusammenarbeit mit Russland oder China fortführen wollen.

Die Drei-Meere-Initiative ist insofern ein wirtschaftlich-infrastruktureller Koopera­tionsrahmen mit pragmatischem Selbst­verständnis, in den einflussreiche Teilnehmer gleichzeitig geopolitische Bestrebungen projizieren. Während Polen in Konvergenz mit US-amerikanischen Interessen erfolg­reich die Involvierung Washingtons voran­getrieben hat, konnte es sich mit Blick auf den Wunsch der anderen 3SI-Staaten nach einer Einbeziehung Deutschlands als Part­ner nicht versperren. Einer vollwertigen Aufnahme Berlins wird es aber weiterhin entgegentreten.

Die Rolle der USA

Obschon die USA als Partner der 3SI auf den ersten Blick den gleichen Rang einnehmen wie Deutschland, spielen sie doch eine andere Rolle – nicht nur weil einigen 3SI-Ländern spürbar an einer substanziellen Mitwirkung der Vereinigten Staa­ten ge­legen ist, sondern auch weil Washing­tons Motive für sein Engagement in der Region ganz klar geostrategisch geprägt sind.

Leitmotiv des amerikanischen Verhaltens in und gegenüber Ostmittel- und Südost­europa ist die Funktion der Region im glo­balen Wettbewerb mit Russland und China. Jenseits des asiatischen Raums ist der öst­liche Teil Europas der Hauptschauplatz, auf dem Washington dem wirtschaftlichen und politischen Einfluss der beiden Großmacht­rivalen entgegentreten möchte. Konzen­trierten sich die USA nach 1989 und auch verstärkt nach dem russisch-georgischen und russisch-ukrainischen Konflikt lange Jahre auf ein »Gegenhalten« und die Ver­bes­serung der Widerstandskraft im Bereich der Verteidigung und »harter« Sicherheit, so hat sich in der US-Regierung in den ver­gan­genen Jahren ein breiterer Containment-Ansatz gegenüber der Region durch­gesetzt, der auch auf die Erhöhung der Resilienz der dortigen Staaten gerichtet ist. Erstmals sicht­bar wurde dieser konzeptionelle Wandel in der Trump-Ära durch Äußerungen des Assistant Secretary of State Wess Mitchell im Oktober 2018. In einer Rede beim Atlan­tic Council verwies Mitchell auf die Gefahr einer »politischen und wirtschaftlichen Penetration« der Länder Mitteleuropas durch Russland und China. Angesichts des wachsenden Einflusses der amerikanischen Konkurrenten in Ostmittel- und Südost­europa müssten die USA ihre diplomatischen Aktivitäten dort ausbauen und auch wirtschaftlich – durch die Unterstützung amerikanischer Unternehmen und die finanzielle Förderung von Infrastruktur­projekten – mehr Engagement in der Region zeigen. Auch die Anstrengungen auf dem Gebiet der »Public Diplomacy« müss­ten intensiviert werden. Auch wenn Mitchell später aus­gebootet wurde, so bezeugen die von ihm artikulierten Überlegungen deut­lich, wie sehr sich die Ein­schätzung der USA zum Ostteil der EU verändert hat und wie sehr Washington bereit ist, sich diesem Raum geopoli­tisch und geoökonomisch erneut zuzuwenden.

Vor diesem Hintergrund eröffnet die Drei-Meere-Initiative den USA neue Möglich­keiten. Sie bietet einen Rahmen, in dem Washington multilateral mit Staaten der Region bei wirtschaftlichen oder infra­struk­turbezogenen Themen zusammenwirken kann. Auf diese Weise können die Kontakte zu den Ländern Ostmittel- und Südosteuropas zusätzlich zur bilateralen Ebene und zur Kooperation in der Nato ausgebaut wer­den. Abgesehen von ihrem Einstieg in den Investitionsfonds der 3SI haben sich die USA bisher vor allem auf dem Gebiet der Energiesicherheit eingebracht. 2018, wäh­rend des 3SI-Gipfels in Bukarest, stieß der damalige US-Energie­minis­ter Rick Perry eine Initiative zur Bildung einer »Trans­atlantischen Energiepartnerschaft« (P-TEC) mit den 3SI-Län­dern an. Die USA würden »Res­sour­cen und technische Instrumente« bereitstellen, um »sichere und resiliente« Energiesysteme in der Region aufzubauen. P-TEC gehören mittlerweile 22 europäische Staaten an, neben den 3SI-Ländern auch weitere ost­europäische und Westbalkan-Staaten sowie Deutschland und überdies die EU. Die vier Arbeitsgruppen von P-TEC befassen sich mit kritischen Infrastrukturen, Ver­sorgungs­sicherheit, Energieeffizienz und ziviler Atomkraft und werden vom US‑Energie­minis­terium und je einem Land aus der Region gemeinsam koordiniert. Eine Beratergruppe (Europe Technical Ex­pert Advisory Mission, E-TEAM) steht bereit, die technische Unterstützung und Expertise zur Verfügung stellen kann. Dies geschah etwa bei der Suche nach Alternativen für die Belieferung der Republik Moldau mit Gas im Winter 2019/20.

Parallel dazu engagieren sich die USA weiterhin auf der Ebene der bilateralen Beziehungen. Mit mehreren Ländern aus der Region hat sich Washington auf beider­seitige Erklärungen zur Sicherheit bei der 5G-Technologie bzw. Telekommunikations­infrastruktur verständigt, die sich faktisch gegen den chinesischen Anbieter Huawei richten. Fast alle 3SI-Länder unterstützen die amerikanische Clean Network Initiative, die nur »vertrauenswürdige« Lieferanten im digitalen Geschäft zulassen möchte.

Bezüglich der zivilen Nutzung und des Ausbaus der Kernkraft in der Region haben die USA mit Rumänien und Polen mehrere Ab­kommen unterschrieben. In Rumänien, wo für den Ausbau des Atomkraftwerks Cerna­vodă zunächst der chinesische Kon­zern China General Nuclear Power Corporation (CGN) im Rennen war, haben die USA durch ein im Oktober 2020 unterzeichnetes Regie­rungsabkommen und eine Vereinbarung über die Finanzierung von Infrastrukturprojekten dazu beigetragen, fernöstliche Interessenten abzublocken. Die amerika­nische EXIM-Bank stellt bis zu sieben Mil­liarden US-Dollar an Kredithilfen für Ener­gie- und Infrastrukturprojekte zur Ver­fügung, die auch für die Modernisierung eines beste­henden und den Bau zweier neuer Reaktor­blöcke verwendet werden können. Das Kraftwerk in Cernavodă soll durch ein Konsortium erstellt werden, das von einer US-Firma geführt wird.

Auch mit Polen möchte Washington die Zusammenarbeit auf diesem Gebiet ver­tiefen. Am Rande des 3SI-Gipfels in Tallinn wurde die Unterzeichnung eines bilateralen Abkommens vereinbart: Binnen 18 Mona­ten wollen beide Seiten einen Bericht erarbeiten über die technische Umsetzbarkeit und die Finanzierung des von Polen angestrebten Aufbaus von sechs Kernkraftwerksblöcken bis 2043. Die EXIM-Bank und das polnische Klima- und Umweltministe­rium unterschrie­ben Ende 2020 eine Absichtserklärung, der zufolge das amerikanische Finanzinstitut Gelder für den Ausbau der Kernkraft, aber auch für klimaschutzorientierte Projekte und die Absicherung kritischer Energie­infrastrukturen bereitstellt.

Russland und China in der Region

Russlands infrastruktureller Fußabdruck in der Region ist als Vermächtnis der bipola­ren Weltordnung weiterhin unübersehbar. Er beschränkt sich aber im Wesentlichen auf den Energiesektor. Abgesehen vom schwierigen Kooperationsfeld Atomkraft, wo Russland mit Ausnahme Ungarns (hier sollen im Kernkraftwerk Paks mit russischer Hilfe zwei neue Reaktoren erstellt werden) zumeist auf Ablehnung trifft, geht es hier vor allem um Erdgas. Durch seine Routenpolitik bei der Verbringung von Erdgas (Nord Stream 1 und 2, Turkish Stream) ver­sucht Russland, die Transitmacht vor allem der Ukraine und der ostmitteleuropäischen Länder zu schwächen und die Anbindung der Märkte in Mittel- und Südosteuropa zu sichern. Den­noch beginnen die energiepolitischen Diversifizierungsbemühungen der meisten 3SI-Staaten zu fruchten. Vor allem durch den Bau neuer Pipelines und von Anlande­vorrichtungen für Flüssiggas (LNG) haben sie ihre Abhängigkeit von Russland reduziert und die Marktdominanz der russi­schen Gazprom bereits gebrochen oder sind dabei, dies zu tun. Anfang Januar 2021 wurde auf der kroatischen Insel Krk ein neues LNG-Terminal in Betrieb genommen. Gleich zu Beginn wurde Flüssiggas aus den USA angeliefert. Die Installation auf Krk steht auf der Prioritätenliste der 3SI. Das LNG ist nicht nur für Kroatiens Konsum bestimmt, sondern kann auch in Nachbarländer geliefert werden. Ungarn hat sich eine Option für den jährlichen Ankauf von einer Mil­liarde der 2,6 Milliarden Kubik­meter umfassenden Kapazität gesichert; für einen Zeitraum von sieben Jahren wurden 250 Millionen Kubikmeter per annum von Shell gebucht. Kaum ein Land verfolgt dabei eine Strategie des Nullimports aus Russland. Vielmehr sollen angepasste technisch-infrastrukturelle Gegebenheiten die Er­pressbarkeit von Russland mindern. Gleich­zeitig will man aber auch wirtschaftliche Vorteile aus dem russischen Erdgasgeschäft mit Europa ziehen. So profitiert Bulgarien als Transitland von der Balkan-Stream-Pipe­line, die Ende Dezember 2020 an das Turk-Stream-System angeschlossen wurde und russisches Gas nach Serbien transportiert, und als Konsument von der Transadriatischen Pipeline (TAP), die ebenfalls Ende 2020 den Regelbetrieb aufnahm und Gas aus Aserbaidschan verbringt. So verschieden die Diversifizierungsstrategien der 3SI-Länder und deren Kooperationsbeziehun­gen mit Russland sein mögen, so eint sie doch das gemeinsame Bestreben, durch eine bessere Vernetzung untereinander mehr Flexibilität und Versorgungssicherheit zu erlangen.

China ist durch seine Belt-and-Road-Ini­tiative (BRI) und wegen seiner wirt­schaft­lichen Aktivitäten im östlichen Europa zumindest potentiell ein weiterer wichtiger infrastruktur­politischer Akteur in der Region. Auch der Schwerpunkt der 17+1-Initiative, eines Kooperationsformats zwi­schen mittel- und osteuropäischen Län­dern und China, liegt erklärtermaßen auf Infra­strukturinvestitio­nen, etwa im Schienenverkehr und bei Häfen. Denn mit den Inves­titionen in Verkehrs- und Logistikinfrastruk­turen kann China Transportmagistralen in Ostmittel- und Südosteuropa sowie nach West-, Nord- und Südeuropa aufbauen und damit neue Komponenten bzw. Fortführun­gen der BRI-Korridore realisieren. Allerdings sind chinesische Investitionen bisher vor­nehmlich in Länder des Westbalkans geflos­sen. Ausnahmen sind größere Vor­haben in Griechenland sowie Ungarn und Kroatien.

Unter den 3SI-Teilnehmern wird intensiv über die Beteiligung chinesischer Firmen am Aufbau der 5G-Technologie diskutiert. Nicht nur aufgrund des Drängens der USA, sondern auch wegen einer zunehmenden Sensibilisierung für die sicherheits­politi­schen Folgen einer Einbindung chinesischer Investoren wächst in den meisten 3SI-Län­dern die Zurückhaltung. Nicht alle Staaten, die einschlägige Erklärungen for­muliert haben, bekennen sich aber zu einem harten Nein. Während diejenigen 3SI-Teilnehmer, die sich stark an die USA anlehnen, kaum für chinesische Firmen optieren werden, dürfte die letztendliche Entschei­dung andernorts nicht überall abweisend sein. Dies gilt nicht nur für Ungarn, wo Huawei bereits 1,5 Millarden Euro investiert haben soll und das angeblich größte Logistik­zentrum außerhalb Chinas aufgebaut hat (wo aber auch andere Firmen am 5G-Aus­bau mitwirken wollen). Auch anderswo werden letztlich wirtschaftliche und technologische Kriterien eine große Rolle spielen. Und vielerorts wird nicht zuletzt auf den deutschen Weg geachtet werden.

Der digitale 17+1-Gipfel vom 9. Februar 2021 hat gezeigt, dass Chinas Aktivitäten in der Region generell auf mehr Zurückhaltung stoßen und eine Reihe von Ländern, die der Drei-Meere-Initiative angehören, zunehmend argwöhnisch werden. Die bal­tischen Staaten, Slowenien, Rumänien und Bulgarien waren nicht auf höchster Ebene repräsentiert. Diese Teilnehmer haben den Stellenwert der Zusammenkunft damit demonstrativ heruntergestuft, obschon Chinas Präsident Xi Jinping erstmals an einem solchen Treffen teilnahm. Für dieses Verhalten gibt es mehrere Ursachen: Zu sicherheitspolitischer Wachsamkeit und dem von den USA ausgeübten Druck haben sich auch normative Erwägungen (einige Länder aus der Region akzentuieren zuneh­mend die Bedeutung der Menschenrechte und Freiheitswerte im Umgang mit China) und vor allem Enttäuschung über die wirtschaftliche Zusammenarbeit gesellt. Das Ausbleiben großer Investitionen, die schleppende Verwirklichung oder Nicht­realisierung von Infrastrukturvorhaben haben zu der neuen Distanziertheit ebenso beigetragen wie unverändert beachtliche Handelsbilanzdefizite aufgrund schwieriger Exportchancen für ostmittel- und südost­europäische Produzenten.

China suchte diese Ernüchterung mit neuen Offerten aufzufangen – durch die Ankündigung, den Import von (vor allem landwirtschaftlichen) Gütern aus den Län­dern der Region zu erhöhen, und Vorschlä­ge für neue Kooperationsschwerpunkte. Dazu zählen die Bereiche Gesundheits­wesen und Pandemiebekämpfung sowie Klima- und Umweltschutz. Präsident Xi sprach in seiner Rede bei dem Gipfeltreffen einige Großprojekte wie die Bahnverbindung Budapest-Belgrad, den Ausbau des Hafens von Piräus oder den Bau der Pelješac-Brücke in Kroatien an und wies auf die Wichtigkeit von Konnektivität für die gegen­seitigen Beziehungen und auf die Belt-and- Road-Zusammenarbeit hin. Infrastruk­tur­fragen sind weiterhin Bestandteil des Thementableaus, haben offenbar aber nicht mehr eine solch herausragende Bedeutung wie zuvor.

In Anbetracht einer zunehmenden Skep­sis, ja einer teils offenen Infragestellung des Formats (Estlands Ministerpräsidentin er­klärte, sie ziehe Treffen der EU mit China gegenüber 17+1-Gipfeln vor) kann nicht ausgeschlossen werden, dass einzelne Län­der ihre Aktivitäten im 17+1-Rahmen her­unterstufen oder sogar ausscheiden, was zu einem Bedeutungsverlust der Initiative füh­ren würde. Da Chinas Präsenz sich aber ohnedies vornehmlich auf der Ebene bi­late­ralen Beziehungen vollzieht und es weiter­hin einige Staaten gibt, die an der wirtschaft­lichen Kooperation mit Peking festhalten wollen, liefe diese Entwicklung keineswegs auf ein Herunterfahren der chinesi­schen Aktivitäten in der ganzen Region hinaus.

Festigung mit Strukturproblemen

Der Gipfel von Tallinn hat gezeigt, dass sich die Drei-Meere-Initiative seit ihrer Etablierung 2016 stabilisiert und in einigen Be­reichen stärker konkretisiert hat. Für den weiteren Fortgang der Initiative wird es zum einen wichtig sein, dass die Einlagen in den Investitionsfonds angehoben werden und dieser das operative Geschäft aufnimmt (Ende 2020 tätigte der Fonds Investitionen in zwei erste Vorhaben), zum anderen, dass die USA aktiv präsent sind.

Über Letzteres scheint es keine Zweifel zu geben. Mitte November billigte das Re­präsentantenhaus eine Resolution, in der das US-Engagement für die 3SI unterstützt wird, mit Stimmen beider Parteien. Auch die Biden-Administration scheint gewillt, den bis­herigen Kurs beizubehalten. Dies kann zum Beispiel aus ersten Gesprächen zwischen dem neuen Sicherheitsberater von Präsident Biden und Vertretern der polni­schen Präsidialkanzlei herausgelesen wer­den. Dabei versicherten sich beide Seiten über die Gemeinsamkeit ihrer strategischen Prioritäten in Bezug auf China und Russ­land. Polnischen Quellen zufolge herrschte auch hinsichtlich der 3SI Einvernehmen.

Denn zweifelsohne steht auch für die Biden-Administration die Eindämmung des chinesischen und russischen Einflusses in Ostmittel- und Südosteuropa ganz oben auf der außen­politischen Agenda. Daher dürf­ten auch Initiativen wie P-TEC fortgeführt werden. Ebenso entspricht es den Interessen der USA, wenn die Gemeinsame Erklärung des Tallinn-Gipfels zwar etwas vage, aber grundsätzlich positiv Bezug auf das Blue Dot Network nimmt, das mit seinem Be­kennt­nis zu transparenten Finanzierungsstandards als eine Art konnektivitätspolitisches Gegenkonzept der USA zur chine­si­schen Belt and Road Initiative aufgefasst wird. Anders als unter Präsident Trump wird Washington indes die 3SI nicht als einen Rahmen nutzen wollen, mit dem eventuell die EU auseinanderdividiert werden soll.

Unübersehbar kämpft die 3SI aber weiter­hin mit strukturellen Schwächen. Jenseits des polnischen »Motors« der Ini­tiative und des Engagements der jeweiligen Gastgeberländer der Gipfeltreffen nehmen eine Reihe von Teilnehmerstaaten eine zwar grundsätz­lich bejahende, aber zögerliche Haltung ein. Dass die polnische BGK allein etwa drei Viertel des Investitionsfondsvolumens speist, ist charakteristisch für die unterschiedlichen Prio­risierungen.

Dennoch rechnen sich alle Teilnehmer der Initiative zumindest für Einzelvorhaben greifbare Vorteile aus. Was die Attraktivität der 3SI in der gegenwärtigen Situation erhöht, ist die Neuausrichtung von Förder­prioritäten der EU. Zwar wird auch künftig der 3SIIF nur ansatzweise an die EU-Mittel aus der Kohäsionspolitik oder der Connecting Europe Facility heranreichen: In der Periode 2014–2020 erhielten die 3SI-Län­der etwa 56 Milliarden Euro an EU-Geldern für Konnektivitätsvorhaben in den Berei­chen Verkehr, Energie und Digitales und die anvisierten Prioritätsvorhaben der Ini­tiative sollen alles in allem etwa zur Hälfte aus Mitteln der EU und der Europäischen Investitionsbank (EIB) finanziert werden. Doch werden Energieprojekte (so etwa Gas­pipelines) und möglicherweise auch Ver­kehrsinfrastrukturprojekte künftig nicht mehr oder nur schwer in den Genuss von EU-Hilfen kommen, deren Vergabe sich fortan stark an klimapolitischen Vor­gaben orientieren wird. Der 3SIIF kann hier par­tiell Lücken schließen.

Ein weiteres Thema, das die 3SI in den nächsten Jahren beschäftigen wird, ist ihr Verhältnis zu den Nachbarregionen, kon­kret die Frage einer mög­lichen Erweiterung der Initiative. Der Staats­präsident Bulga­riens, das Gastgeber des nächsten Gipfels sein wird, der im Juni 2021 stattfinden soll, hat sich für die Aufnahme Griechenlands und Zyperns ausgesprochen. Anfang 2021 haben die Präsidenten der Ukraine und der Republik Moldau Interesse an einer Teil­nahme geäußert. In nächster Zeit dürfte es aber vor allem um die projektbezogene Zusammenarbeit und nicht um die voll­umfängliche Einbindung neuer Länder in die Initiative gehen. Gerade die Aufnahme von Nicht-EU-Staaten aus dem Westbalkan und erst recht von solchen aus der öst­lichen Nachbarschaft würde heftige Diskus­sionen unter den jetzigen Teilnehmerländern aus­lösen.

Perspektiven und die Haltung Deutschlands

Die Drei-Meere-Initiative befindet sich in einer Periode der Konsolidierung und der Operationalisierung. Sie hat ihre Take-off-Phase hinter sich gelassen und neben dem polnischen Engagement durch das Com­mit­ment der USA und die Stärkung des Investi­tionsfonds wichtige Stabilisatoren erhalten, die zunächst für ihre Fortführung sorgen werden. Zwar ergibt sich mit Blick auf Ein­zelprojekte ein möglicher partieller Mehr­wert für alle Teilnehmerländer; aber unter­schiedliche Interessen und vor allem diffe­rie­rende geopolitische Ausrichtungen der einzelnen Staaten sowie die teils auf­wen­dige Implementierung von Infrastrukturprojekten werden es der Initiative weiter erschweren, mehr Dynamik zu erlangen. Von den 77 Prioritätsvorhaben waren 2020 nur drei abgeschlossen, bei sieben gibt es Aktivitäten und bei 14 großen Fort­schritt. 53 Projekte waren lediglich regis­triert. Nur 12 Prozent der für die Vorrangprojekte er­forderlichen Finanzierungen in Höhe von insgesamt über 85 Milliarden Euro waren gesichert (Angaben laut Status Report der 3SI).

Die Einbindung der USA ist nicht nur ein Zeichen für die geostrategische Komponente der Plattform, sondern verleiht dieser auch eine transatlantische Dimension. Die 3SI-Länder sind alle Mitglieder der EU, aber (mit Aus­nahme Österreichs) auch der Nato und bilden die Ostflanke der Allianz. Die Um­setzung von Projekten im Bereich des Ver­kehrs oder kritischer Energiestrukturen und Datennetze nutzt auch der Sicherheit der 3SI-Länder.

Mittel- und langfristig sind mehrere Sze­narien für die Initiative denkbar. Die Auf­nahme Deutschlands ist wegen des polni­schen Widerstands unwahrscheinlich. Sie würde die 3SI zu einer Art erweitertem Mittel­europaformat mit deutscher Präponde­ranz machen. Deutschlands Wirt­schafts­kraft ist beinahe doppelt so groß wie die der 12 Teilnehmerländer. Mit der Aufnahme osteuropäischer Länder wie der Ukraine würde die Initiative näher an die von geo­strategischen Erwägungen inspirierte, in Polen während der Zwischenkriegszeit an­gedachte Idee des »Intermariums« rücken. Das aber würde wohl auf Zurückhaltung bei allen anderen Teilnehmern stoßen. Eine alleinige Ausrichtung auf Washington, also eine Art »17+1«-Format mit den USA statt mit China, wäre gerade mit der Biden-Ad­mi­nistration un­wahr­scheinlich, die nicht auf die Spaltung der EU setzt. Theoretisch denkbar wären eine intensivere Europäisierung und die Umgestaltung der 3SI zu einer Makro­strategie der EU (wie etwa die Ostsee- oder Donauraumstrategie). Dies würde aber allein daran scheitern, dass die Initiative von Staaten getragen wird, von denen einige die Agenda-Hoheit nicht an die EU abgeben wol­len. Auch würde eine solche Transformation bestehende Makrostrategien überlagern.

Ein dominierender Faktor für die 3SI wird aber unabhängig davon der Ansatz der Komplementarität mit der EU bleiben. Das heißt, dass die Initiative ihre Projektförderung weiterhin konsequent mit EU-Mitteln abstimmen muss, um Synergien zu generie­ren. Auch die an­gestrebte Einbindung der Europäischen Investitionsbank in den 3SIIF geht in diese Richtung. Nicht ausgeschlos­sen werden kann aber auch, dass die Drei-Meere-Initiative langfristig als eine Art »infrastruk­tureller Ostseerat« endet, also zwar fort­existiert, aber ohne politische Strahlkraft und ohne substanzielle Resultate.

Deutschland sollte angesichts dessen eine Politik der interessierten und wohlwollenden Involvierung verfolgen. Dazu sollte es weiterhin Teilnahmebereitschaft signali­sieren und sich aus der Position eines akti­ven Partners heraus sowohl politisch sicht­bar (durch Gipfelteilnahme) als auch auf Projektebene einbringen. Die Stärkung der Resilienz und die Vertiefung von Konnektivitätsbeziehungen in und mit der Region sind im deutschen Interesse. Der Einstieg etwa der Kreditanstalt für Wiederaufbau in den Investitionsfonds oder die Teilnahme an Projekten auf den Gebieten Energie und Digitalisierung könnten dazu beitragen, deutsche Interessen in der Klima- oder In­ves­titionspolitik zu fördern und aus Streit­fragen wie Nord Stream 2 durch Koopera­tionsthemen etwas die Spannung zu neh­men. Das Gleiche gilt für den von Bulgarien ins Spiel gebrachten neuen Schwerpunkt Wissenschaft, Bildung und Innovation. Deutschland würde durch eine Mitwirkung in diesen Bereichen nicht nur seine ohne­hin starke wirtschaftliche und politische Präsenz in Ostmittel- und Südosteuropa durch ein Engage­ment auch in einem pluri­lateralen Rahmen unter­streichen und die Europäisierung der Initiative verstärken, sondern sich in der Region auch als geo­ökonomischer Akteur neben den USA sowie China und Russland positionieren.

Dr. Kai-Olaf Lang ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU / Europa.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2021

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