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Die asiatische Freihandelszone RCEP

Handelserleichterungen, aber kein großer Block im asiatisch-pazifischen Raum

SWP-Aktuell 2020/A 97, 10.12.2020, 8 Seiten

doi:10.18449/2020A97

Forschungsgebiete

Der Abschluss der Verhandlungen zum Freihandelsabkommen »Regional Comprehensive Economic Partnership« (RCEP) am 15. November 2020 wurde vielfach als wich­tiger Schritt in der Entwicklung des internationalen Handelssystems gepriesen. Dass in dieser Zeit die größte Freihandelszone geschaffen wird, die die Welt je gesehen hat, ermöglicht es, Protektionismus nicht mehr als einzige Option für die Handelspolitik im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts zu sehen. Doch auch wenn RCEP die administrative Komplexität der Handelsabkommen in der Region reduziert, stellt es keinen großen Durchbruch hin zu einem liberalen Wirtschaftsraum dar. RCEP ist ein relativ schwaches Handelsabkommen. Es hat nicht das Potential, aus dem asiatisch-pazifischen Raum einen monolithischen Block in der internationalen Handelspolitik zu machen. Zudem leistet es keinen Beitrag zur Überwindung der wachsenden poli­tischen Spannungen in der indo-pazifischen Region.

RCEP wurde von den ASEAN-Staaten ini­tiiert und schließt deren zehn Mitglieder (Bru­nei, Indonesien, Kambodscha, Laos, Malaysia, Myanmar, die Philippinen, Singa­pur, Thailand, Vietnam) sowie die Volks­republik China, Japan, Südkorea, Austra­lien und Neuseeland ein. Von 2012 an ver­handelten diese Länder über die Bedingun­gen eines regionalen Freihandelsabkom­mens. Eines der Hauptmotive für die ASEAN-Staaten war die Schaffung eines Gegengewichts zur Transpazifischen Part­nerschaft (TPP). Nach dem Ausscheiden der USA aus diesem Abkommen im Jahr 2017 stellte die anschließende Realisierung eines kleineren, etwas weniger ambitionierten Projekts (Comprehensive and Progressive Agreement for Trans-Pacific Partnership, CPTPP) keinen vollwertigen Ersatz für RCEP dar, weil bedeutende ASEAN-Mitglieder, ins­besondere Indo­nesien und Thailand, nicht an CPTPP teilnahmen.

Allerdings verändert RCEP die Handelsbeziehungen zwischen der ASEAN und der VR China nicht wesentlich, da der Handel zwischen diesen elf Volkswirtschaften schon seit 2010 auf der Basis eines Frei­handels­abkommens abgewickelt wird. Dieses geht indes auf einen Vorschlag des damaligen chinesischen Premierministers Zhu Rongji und nicht auf die ASEAN zurück.

Japan, China, Südkorea

Bemerkenswert ist also weniger das Zustan­dekommen eines Abkommens unter Ein­schluss dieser Staaten. Vielmehr galt es bislang als schwierig, eine Handelsverein­barung auszuhandeln, an der die beiden öko­nomischen und politischen Schwer­gewichte in Asien, China und Japan, betei­ligt sind. Die Tatsache, dass es trotz der poli­tischen Spannungen in der Region gelun­gen ist, RCEP abzuschließen, ist ein Erfolg.

Während die Rivalität zwischen China und Japan seit vielen Jahrzehnten gärt, machen die chinesisch-südkoreanischen Be­ziehungen selten Schlagzeilen. Eine Aus­nahme war ein Konflikt im Jahr 2017. Im Anschluss an eine Vereinbarung zwischen der südkoreanischen Unternehmensgruppe Lotte und dem Verteidigungsministerium in Seoul, die den Ausbau eines US-Militär­stützpunkts auf einem Firmengelände er­möglichen sollte, appellierten die chinesischen Staatsmedien an die Öffentlichkeit, die Supermärkte des Lotte-Konzerns und sämtliche südkoreanische Filme und Waren zu boykottieren. Lotte kündigte daraufhin an, seine Geschäfte in China einzustellen.

Aber nicht nur Südkoreas Beziehungen zu China sind angespannt. Japan gehört, neben den USA, Australien und Indien, zum Quadrilateral Security Dialogue, kurz »Quad«, einem lockeren Militärbündnis im indo-pazifischen Raum. Quad ist bisher zwar ein sehr schwaches Bündnis, aber das wich­tigs­te Ziel der Gruppe ist klar: ein militärisches Gegengewicht zur VR China zu bilden.

Japan steht einerseits fest im Lager der­jenigen Länder, die die wachsende Ent­schlos­senheit der chinesischen Außenpolitik kritisch sehen, ist aber andererseits daran interessiert, seinen Handel mit China aus­zubauen. Zugleich lässt sich Japans Betei­ligung an RCEP gerade mit der Rivalität zwischen Tokio und Peking erklären. Ein Ausstieg Japans aus dem Abkommen hätte dazu geführt, dass der Einfluss Chinas auf aufstrebende asiatische Volkswirtschaften weiter gewachsen wäre.

Der größte handelspolitische Nutzen von RCEP besteht darin, dass es die Anwendung der Handelsabkommen im asiatisch-pazifi­schen Raum erleichtert. Seit Jahren beklagen Ökonomen, dass die wirtschaftlichen Vor­teile der zahlreichen Handelsvertrags­abschlüsse in der Region eng begrenzt sind, weil sie zu mehr und nicht zu weniger Regulierung im internationalen Handel führen. Für Unternehmen zog die Senkung der Zölle im bilateralen Handel erhöhte Verwaltungskosten nach sich: Sie mussten viel Geld ausgeben, um die Herkunft eines Produkts, den Warenursprung, zu dokumentieren. Ohne ein gültiges Ursprungszeugnis können Waren in keinem Freihandelsabkommen zollfrei gehandelt werden. Die Kosten­vorteile durch die Abschaffung der Einfuhr­zölle wurden häufig neutralisiert durch die Kosten der Erstellung sol­cher Ursprungszeugnisse.

Die Vereinfachung komplexer Regelwerke

Die wirtschaftlichen Effekte der bisherigen Handelspolitik waren enttäuschend. Laut einer Studie des Pazifischen Rates für wirt­schaftliche Zusammenarbeit aus dem Jahr 2015 nutzte eine große Mehrheit der Unter­nehmen die bestehenden Freihandels­abkom­men nicht. Lediglich 22 Prozent des asiatisch-pazifischen Handels (es wurde nur der Handel zwischen Ländern in einem Freihandelsabkommen gezählt) wurden unter Nutzung der vertraglich fixierten Ver­günstigungen abgewickelt. Die übrigen 78 Prozent wurden unter Anwendung der Standardregeln und -zölle der Welthandelsorganisation (WTO) abgefertigt. Mit anderen Worten: Die bestehenden Freihandels­abkom­men trugen nicht viel zur Handelsliberalisierung im asiatisch-pazifischen Raum bei.

RCEP hingegen wird dazu führen, dass sich der Verwaltungsaufwand für Unternehmen im Handelsbereich reduziert. So­bald es in Kraft tritt, gelten für alle teil­nehmenden Volkswirtschaften einheitliche Ursprungsregeln. Die Unternehmen werden gleichwohl weiterhin kalkulieren müssen, ob die Kosten für den Nachweis der Her­kunft einer Ware niedriger sein werden als der Zoll, den sie sonst zahlen müssten. Es erscheint jedoch plausibel zu erwarten, dass der Anteil des Handels, der zu den RCEP-Bedingungen abgewickelt wird – wesentlich höher sein wird als bei vielen der bis­herigen Handelsabkommen.

Die Verletzung des Artikels 24

RCEP leistet einen Beitrag zur Liberalisierung des Han­dels zwischen den teilnehmenden Ländern. Innerhalb der Freihandelszone werden die Kosten des grenzüberschreitenden Waren- und Dienstleistungs­verkehrs gesenkt. Gleichwohl befördert RCEP die weitere Erosion des multilateralen Han­delssystems. Jedes Freihandelsabkommen stellt eine Ausnahme vom berühmten Artikel 1 des Allgemeinen Zoll- und Han­delsabkommens (GATT) dar. Diese »Meistbegünstigungs­klausel« – alle Maß­nahmen der Handels­liberalisierung werden auto­matisch allen WTO-Mitgliedsländern ge­währt – ist in Freihandelsabkommen nicht anwendbar. Diese Ausnahme ist in Arti­kel 24 des GATT geregelt. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass das Frei­handels­abkom­men »den Hauptteil des Handels« (substantially all the trade) abdeckt. Das tut das RCEP aber nicht. Die Landwirtschaft ist weitgehend aus­genommen, ebenso die Fischerei. Die Regelungen zum Handel mit Dienstleistungen sind schwach. Allerdings gelten diese Mängel für nahezu alle Frei­handelsabkommen, ohne dass es bisher zu einer Sanktionierung regelwidriger Ver­trä­ge in der WTO gekommen wäre. Der Grund hierfür ist einfach: Klage erheben müsste ein WTO-Mitgliedstaat, und da sämtliche Vertragsparteien selbst gegen die Regeln des Artikels 24 verstoßen, wird nicht geklagt.

Somit stellt das RCEP keine Rückkehr zum Geist der Handelsliberalisierung der 1980er und 1990er Jahre dar. Es schwächt das multilaterale Handelssystem eher wei­ter, anstatt es zu stärken. Es mag für die teilnehmenden Volkswirtschaften von Vor­teil sein, aber nicht für die Weltwirtschaft. Selbst für die Mitgliedstaaten sind die Aus­wirkungen marginal. Gemäß einer Studie des Peterson Institute for International Eco­nomics (PIIE) werden die RCEP-Länder bis 2030 zusätzliches BIP im Volumen von jährlich 174 Milliarden US-Dollar erwirtschaften. Da RCEP schon heute eine Bevöl­kerung von über 2,5 Milliarden Menschen umfasst, wird der wirtschaftliche Nutzen für den Einzelnen kaum messbar sein. Pro Kopf und Jahr wird die Wirtschaftsleistung in der RCEP-Zone nach diesen Berechnungen also um etwa 70 US-Dollar steigen. Nie­mand wird diesen Zugewinn als beträcht­lich bezeichnen können.

Ein flaches Regelwerk ohne gemeinsame Standards

RCEP wird auch nicht, wie oft vermutet, zu einem von China geführten neuen Wirt­schaftsblock führen. Der Regelungsgehalt des Abkommens ist nicht sehr ambitioniert. RCEP enthält keine Vorgaben für den Um­weltschutz und bietet auch keinen einheit­lichen Arbeit­nehmerschutz. Noch wichtiger ist, dass das Agreement die beteiligten Volkswirtschaften in ihrer künftigen Han­delspolitik nicht einschränkt. Im Gegensatz zur Europäischen Union – eine Zollunion, die mit einer gemeinsamen Handelspolitik der Mitgliedstaaten einhergeht – erlaubt RCEP den Teilnehmerländern weiterhin, ihre eigene Handelspolitik zu betreiben. So kann Australien beispielsweise ein Frei­handelsabkommen mit der EU abschließen, wenn es dies wünschen sollte. Wenn RCEP eine Zollunion wäre, würde sich das Bild ändern. Aber im heutigen politischen Klima ist es schwer vorstellbar, dass sich Länder wie Australien oder Japan mit der Volks­republik China auf eine Zollunion verstän­digen könnten. Das RCEP ist damit Aus­druck der größtmöglichen Bindung an China in einem eng begrenzten Ausschnitt des Außenhandels. Das Abkommen ist nicht der Beginn eines asiatisch-pazifischen Integrationsprozesses. Schon in den beiden Wochen nach seiner Unterzeichnung wur­den die politischen Spannungen sichtbar, die eine weitreichende Integration im indo-pazifischen Raum verhindern.

Kanarienvogel Australien

In keinem Land verdichten sich die außen­politischen Spannungen und Widersprüche in der Region so deutlich wie in Australien. Schon seit einigen Jahren sieht sich Can­berra heftiger Kritik aus Peking ausgesetzt. Australiens Regierung verfolgt eine Politik der engen sicherheitspolitischen Bindung an die USA auf der einen und wirtschaft­licher Kooperation mit China auf der ande­ren Seite. Ihre Kritik etwa an der Verletzung der Menschenrechte der Uiguren in Xin­jiang oder der Niederschlagung der Pro­teste in Hongkong und der Aus­schluss des chine­sischen Tech-Unternehmens Huawei vom Aufbau des australischen 5-G-Netz­werks sorgten bei der chinesischen Regierung für Verärgerung. Nun testet diese, wie weit sie gehen kann. In Asien-Pazifik ist Australien der Kanarienvogel in der Kohlen­grube, der Peking zeigt, wie weit es gehen kann.

Für Australien ist die Lage besonders ver­trackt. Kein anderes Land hat vom wirt­schaftlichen Aufschwung Chinas so stark profitiert wie Australien. Seit dem Gold­rausch in den 1850er Jahren haben chine­sische Zuwanderer zur Entwicklung Aus­traliens beigetragen. Bis zur Coronakrise studierten dort etwa 180 000 Chine­sinnen und Chinesen. Jedes Jahr reisten 1,2 Mil­lio­nen Chinesen nach Australien. Die gleiche Zahl an Personen mit chinesischen Wur­zeln lebt auf dem fünften Kontinent.

Schon seit 2007 ist China der größte Handelspartner des Landes. 2018/19 war die Volksrepublik mit etwa 135 Milliarden Aus­tralischen Dollar (AUD) das mit Abstand wichtigste Zielland australischer Exporte. Japan lag mit 59 Milliarden AUD mit deut­lichem Ab­stand dahinter. Dazu kommen rund 18 Milliarden AUD an Dienstleistungs­exporten nach China. Die Summe der Waren- und Dienstleistungsexporte nach China ist höher als die der australischen Exporte von Waren und Dienstleistungen nach Japan, USA, Indien und Südkorea. Australien wirkt zumindest auf den ersten Blick erpressbar.

Allerdings steht die australische Gesellschaft China zunehmend skeptisch gegen­über. Die Hälfte der Australier hatte im Jahr 2019 eine positive Meinung von den USA, trotz aller Schwierigkeiten mit der ameri­kanischen Regierung und Präsident Trump. Doch nur etwa ein Drittel hatte eine posi­tive Meinung von China – obwohl Austra­liens Wohlstand wesentlich von Rohstoff­exporten nach China und von der chinesischen Nachfrage nach Bildungs- und touris­tischen Dienstleistungen abhängt. In den letzten Wochen hat sich die ablehnende Haltung vieler Australier weiter verfestigt. Volle 94 Prozent der Australier bekundeten ihre Unterstützung für die Politik der Regie­rung, die Abhängigkeit des Landes von China zu reduzieren.

In Australien zeigt sich, wie dünn der Fir­nis der Modernität ist, den sich das Land ge­geben hat. Der Journalist Richard McGregor nannte Australien ein »modernes multi­kulturelles Land mit tiefen ausländerfeindlichen Wur­zeln«. Nach dem Zweiten Welt­krieg wurden die Programme, mit denen sich Australien für eine massive Einwanderung von Europäern öffnete, mit der »gel­ben Gefahr« begrün­det. Während sich die Australier in den 1950er Jahren vor Japan fürchteten, steht heute China im Fokus.

Nicht nur die Bevölkerung, sondern auch die Regierung ringt mit der ambivalenten Wahrnehmung Chinas. Als Bundeskanzlerin Merkel 2014 Australien besuchte und den damaligen Premierminister Tony Abbott fragte, welche Faktoren die australische China-Politik beeinflussten, antwortete Abbott knapp und prägnant: Angst und Gier (fear and greed). An diesem Zwiespalt in der Perzeption Chinas hat sich seither nur da­hingehend etwas geändert, dass sich das Gefühl der Bedrohung in der australischen Gesellschaft weiter verstärkt hat.

China erwartet von Australien heute nicht weniger als Verzicht auf Kritik an der chinesischen Regierung, kurzum, einen klassischen Kotau. RCEP wird überhaupt nichts zu einer Entschärfung der australisch-chinesischen Spannungen beitragen. Australien, das zuvor schon ein bilaterales Freihandelsabkommen mit China ab­geschlossen hatte, klagt gegen willkürliche Strafzölle Pekings, und zwar nicht im Rah­men des Streitschlichtungsverfahrens jenes Abkommens, sondern es hat angekündigt, die Welthandelsorganisation WTO ein­zuschalten. In stürmischen Zeiten zeigen sich die Vorteile der multilateralen Streit­beilegungsmechanismen sehr deutlich.

Japan

Für den ewigen Rivalen Chinas ist der Ab­schluss eines Freihandelsabkommens mit dem kommunistischen Staat nützlich. Tokio konnte dem RCEP beitreten, weil es sich mit seinen wirtschaftlichen Interessen deckt und keine hohen politischen Kosten verursacht.

Das Abkommen erlaubt es japanischen Unternehmen, in der Region noch stärker als zuvor Produktionsnetzwerke auf­zubauen. Japanische Firmen waren schon in der Vergangenheit in den ASEAN-Län­dern sehr aktiv. Sie haben zum Beispiel stark dazu beigetragen, dass sich Thailand zu einem wichtigen Produktionsstandort entwickelt hat. Euphorische Beobachter nannten das Land schon »Asiens Detroit«. Durch die Vereinfachung der Ursprungs­regeln können japanische Autohersteller nun den Bezug von Bauteilen aus der gan­zen Region erhöhen.

Politisch ungemein vorteilhaft für Japan ist der Ausschluss des Agrarhandels. Sowohl in der WTO als auch in bi- und minilateralen Freihandelsabkommen tat sich Japan immer sehr schwer, den Agrarhandel zu liberalisieren. Japanische Agrarprodukte sind teuer und können preislich mit wett­bewerbs­fähigen Anbietern nicht konkurrieren. Eine Öffnung des Landes etwa für Reis­importe aus der Region hätte hohe poli­tische Kosten nach sich gezogen. Mit sei­nem voraussichtlich beachtlichen Nutzen für die nach wie vor sehr leistungsfähige japanische Industrie in Verbindung mit dem anhaltenden Schutz für japanische Landwirte wirkt das RCEP geradezu maß­geschneidert für die Interessen und Prä­ferenzen Tokios.

China

Ebenso wie Japan profitiert auch China von der Etablierung der Freihandelszone. Denn auch chinesische Unternehmen werden aus den administrativen Vereinfachungen ihren Nutzen ziehen und möglicherweise ihre Produk­tionsnetzwerke stärker regio­nali­sieren. Gerade bei China stellt sich aber die Frage, ob eine solche Internationalisierung überhaupt politisch gewollt ist. Der General­sekretär der KP Chinas Xi Jinping hat erst im November 2020 seine neue wirtschafts­politische Strategie vorgestellt. Sie bildet den Kern des neuen Fünfjahresplans, der von 2021 bis 2025 gelten soll. Im Mittelpunkt steht die Idee der sogenannten zwei­fachen Zirkulation.

Dabei geht es um eine partielle Entkopplung Chinas von der Weltwirtschaft. Der Anteil der Exporte am chinesischen BIP ist ohnehin von 36 Prozent im Jahr 2006 auf 18 Prozent 2019 gesunken. Der Handelskrieg mit den USA hat Peking ver­deutlicht, wie abhängig teilweise die heimische Wirt­schaft von Importen ist. Knapp zwei Drittel aller 2019 in China verwendeten Halbleiter wurden im Ausland produziert. 2015 lag dieser Wert noch bei 80 Prozent. 16,6 Pro­zent der chinesischen Importe im Jahr 2019 entfielen auf Halbleiter und andere elektro­nische Bau­elemente im Wert von 350 Mil­liarden US-Dollar.

Im Jahr 2020 finden sich in der Liste der zehn umsatzstärksten Hersteller von Halb­leitern sechs Firmen aus den USA, zwei aus Südkorea und je ein Unternehmen aus Taiwan und Japan, aber keines aus China. Peking strebt bei Halbleitern bis 2025 einen Selbstversorgungsgrad von 70 Prozent an, aber dieses Ziel wird nach Einschätzung von Branchenkennern verfehlt werden.

Gegenwärtig kann noch nicht beurteilt werden, welche Folgen die neue Politik der zweifachen Zirkulation haben wird. Xi bezeichnete die Etablierung von rein natio­nalen Wertschöpfungsketten als eine Frage der nationalen Sicherheit. Bei Lichte be­trachtet handelt es sich um die Neu­auflage des verstaubten Autarkie-Modells, das in den 1930er Jahren populär war. Soll­te sich China tatsächlich zu einer neuen Ver­sion autozentrierter Entwicklung entschließen, wäre RCEP ein überflüssiges Projekt.

Allerdings soll China nach dem Willen seiner Führung weiterhin an der großen internationalen Zirkulation parti­zipieren. Denn das Ziel der neuen Strategie ist auch, die Bedeutung des chinesischen Marktes für ausländische Unternehmen zu erhalten. Wenn China weiterhin Abnehmer etwa von im Ausland hergestellten Luxuswagen bleibt, könnte dies ausländische Regierungen da­von abhalten, die neue Handelsstrategie der Kom­munistischen Partei allzu scharf zu kritisieren. Das von Tony Abbott angeführte Motiv der Gier würde von der chinesischen Regierung gezielt genutzt, um Abhängigkeiten zu bewahren. Gerade deutsche Unter­nehmen, allen voran die Automobilindustrie, sind ein Musterbeispiel für diese Abhängigkeiten.

Südkorea

Für das Industrieland Südkorea gelten ähn­liche Zusammenhänge wie für Japan. Süd­korea ist reich geworden, ohne über ein Freihandelsabkommen mit China zu ver­fügen. Und wie Japan hat auch Süd­korea ein profundes Interesse daran, seine Land­wirtschaft zu schützen.

Allerdings haben Südkorea wie auch Japan im Laufe des Jahres 2020 einige bit­tere Lektionen lernen müssen. Dazu gehört, dass die Automobilindustrie der beiden Län­der Anfang 2020 stillstand, weil Vorproduk­te aus der VR China fehlten. Die Hersteller Hyundai und Kia mussten die Fertigung aus diesem Grund ganz aus­setzen. In Japan waren Honda und Nissan gezwungen, die Produktion zurückzufahren. Im Jahr 2019 stamm­ten 31,1 Prozent aller nach Südkorea und 36,9 Prozent aller nach Japan importierten Autoteile aus China.

Vielen Unternehmenslenkern in Süd­korea und Japan wurde schmerzhaft deut­lich gemacht, dass der Bezug von Komponenten aus China zwar preiswert sein mag, aber eine reibungslose Logistik voraussetzt. Inmitten der Krise funktionierte die Versor­gung nicht. Billige Bauteile haben sich in der Gesamtschau als teuer erwiesen, weil ihr Ausfall ganze Produktions­linien zum Erliegen brachte. Diese Erfahrung wird das Interesse ostasiatischer Industrieunternehmen dämpfen, nach dem Inkrafttreten von RCEP verstärkt Komponenten aus China oder südostasiatischen Ländern zu beziehen.

Indiens Ausstieg

Die Bedeutung von RCEP wäre höher, wenn Indien das Abkommen unterzeichnet hätte. Allerdings ringt Indien seit Jahren mit sei­ner Rolle in der Weltwirtschaft. Einerseits sind die Unter­nehmen des Landes auch jenseits der Landesgrenzen sehr aktiv, und dies nicht nur im Dienstleistungssektor. Wesentliche Anteile an der britischen Auto­mobilindus­trie (Jaguar, Land Rover) ge­hören heute dem indischen Unternehmen Tata. Andererseits haben sich indische Regie­rungen immer wieder als Bremser bei der Weiterentwicklung von Regelwerken für den internationalen Handel erwiesen. Von Beginn der Verhandlungen zur Doha-Runde der WTO im Jahr 2001 an drängte Neu-Delhi auf die Durchsetzung der Forderungen der Entwicklungs- und Schwellenländer. Die teilweise überzogenen Forderungen die­ser Gruppe trugen wesentlich zum Scheitern der Doha-Runde bei. Die Erwartung, dass die seit 2014 amtierende Regierung von Narendra Modi mutig genug sein würde, Indiens Handelspolitik deutlich zu libe­rali­sieren, hat sich nicht bestätigt. Indien ver­harrt in einer Position der Globalisierungsskepsis und setzt – ebenso wie China im neuen Fünfjahresplan – vor allem auf die binnenwirtschaftliche Entwicklung.

Das Land stellt im heutigen internatio­nalen Handelssystem einen Sonderfall dar, weil es mit keinem der großen Wirtschaftsräume (Ostasien, Europa, Nordamerika) ein Freihandelsabkommen abgeschlossen hat. Premierminister Modi hatte lange den An­schein erweckt, er würde Indien entschlos­sen zu einer modernen Volkswirtschaft ent­wickeln, die sich dem internationalen Wett­bewerb stellt. Modi kritisierte immer wieder die protektionistische Politik von US-Präsi­dent Trump. Noch Anfang 2018 wurde er beim Davoser Weltwirtschaftsforum für seinen Appell gefeiert, die Globalisierung zu akzeptieren und internationale Institu­tionen wie die Welthandelsorganisation zu stärken.

Aber schon damals warnten Beobachter vor der Diskrepanz zwischen den Ankündigungen der indischen Regierung und ihren Taten. Im Grunde verfolgte Modi selbst stets eine protektionistische Politik. Im Index wirtschaftlicher Freiheit, den die amerikanische Heritage Foundation erstellt, liegt Indien 2020 auf Rang 120 und damit deut­lich hinter den ASEAN-Ländern Malaysia (24), Thailand (43) und Indonesien (54).

Angesichts der vergleichsweise hohen wirtschaftlichen Dynamik in Indien in den ersten Jahren der Regierung Modi und der globalisierungsfreundlichen Rhetorik des Premiers hatte es lange den Anschein, dass Indien an RCEP teilnehmen würde. Mit einem einzigen Abkommen hätte Indien seine Handelsbeziehungen zu dynamischen Volkswirtschaften liberalisieren, admi­nis­trativ vereinfachen und davon ökonomisch vermutlich sehr profitieren kön­nen.

Mit einer wirtschaftlichen Öffnung Indiens wird aber auf absehbare Zeit nicht zu rechnen sein. Dafür sind vor allem zwei Gründe verantwortlich: Zum einen haben die Spannungen zwischen Indien und China im Jahr 2020 deutlich zugenommen; sie kulminierten in einem militärischen Zusammenstoß im Himalaya. Neu-Delhi hat vor diesem Hintergrund seine Außenpolitik neu justiert und ist heute eher als noch vor kurzem bereit, gemeinsam mit den USA, Japan, Australien und anderen demokratischen Staaten der Volksrepublik die Stirn zu bieten. Es ist derzeit somit kaum vor­stell­bar, dass Indien einem Freihandels­abkommen beitritt, an dem auch China beteiligt ist.

Der zweite Grund ist die Renaissance einer Wirtschaftspolitik, die auf den Binnen­markt setzt und den Außenhandel zu be­schränken versucht. Diese Politik, die auf ein hohes Maß an wirtschaftlicher Autarkie hinwirkt, wird als »Atmanirbhar Bharat« bezeichnet. Neu-Delhi setzt heute auf eine Strategie, die John Maynard Keynes 1933 unter der Bezeichnung »National Self-Suf­ficiency« pro­pagierte. Der indische Außen­minister Subrahmanyam Jaishankar hat Ende November 2020, unmittelbar nach der Unterzeichnung der RCEP-Verträge, eine Philippika gegen die Globalisierung gehal­ten und behauptet, Indiens Industrie habe von früheren Liberalisierungsmaßnahmen schweren Schaden davongetragen.

Es ist deshalb nicht zu erwarten, dass die Regierung Modi ihren Kurs verlassen und zu einer Politik der wirtschaftlichen Öff­nung zurückkehren wird. Diese handels­politische Rolle rückwärts überrascht auch deshalb, weil sich die indische Bevölkerung immer wieder sehr positiv zu den Effekten der Globalisierung geäußert hat.

Hohes Niveau der Zustimmung zur Globalisierung

Es ist bemerkenswert, dass RCEP in den teil­nehmenden Volkswirtschaften auf wenig oder gar keinen politischen Widerstand stieß. Der Hauptgrund für dieses Schweigen der Zivilgesellschaft liegt darin, dass das RCEP eine Gruppe von Ländern umfasst, die man vereinfachend als eine Koalition von »Gewinnern der Globalisierung« bezeichnen könnte. Heute lässt sich in den Gesellschaften im asiatisch-pazifischen Raum nach wie vor ein hohes Maß an Unterstützung für eine Liberalisierung des Handels und eine weitreichende internationale Arbeitsteilung beobachten. Während die alten Verfechter der Globalisierung – vor allem die meisten OECD-Länder – mittlerweile müde und misstrauisch sind, artikulieren viele asia­tische Gesellschaften in bemerkenswerter Deutlichkeit den Wunsch nach mehr Öff­nung und Vernetzung. Die Bevölkerungen Vietnams und der Philippinen verzeichnen in Umfragen kon­tinuierlich den höchsten Grad an Unterstützung für die Globalisierung. Die Menschen in den meisten RCEP-Ländern sehen in einem Mehr an inter­natio­nalem Han­del keine Bedro­hung, sondern eine Chance.

In vielen OECD-Staaten werden die Fol­gen der Globalisierung heute sehr viel kritischer gesehen. Der Verlust von Arbeits­plätzen durch die Verlagerung der Produk­tion in Länder mit niedrigeren Löhnen und geringeren Umweltauflagen wird als wich­tiger betrachtet als der Nutzen, als Verbrau­cher auf billigere Importprodukte zurückgreifen zu können. Daher ist die in letzter Zeit oft gehörte Schlussfolgerung, dass die EU und die USA nun tätig werden und ihre eigene Handelspolitik liberalisieren müss­ten, eine unzutreffende und un­politische Forderung. Donald Trump hat die Wahl im Jahr 2016 für sich entschieden, weil er die negativen Auswirkungen der Globalisierung für amerikanische Arbeiter betonte. Inzwischen dürfte der Rückhalt für eine protektionistische US-Handelspolitik eher noch zugenommen haben. Präsident Biden hat die Wahl 2020 nicht deshalb gewonnen, weil er den Amerikanern eine Libe­ralisierung der Handelspolitik versprochen hat. Vielmehr findet er sowohl inner­halb der Demokratischen Partei als auch bei den US-Wählern keine große Unterstützung für eine Politik des Freihandels.

Die Europäer hingegen gehen oft davon aus, dass ihre Länder die Vorreiter des Frei­handels sind, aber selbstverständlich ist die EU genauso protektionistisch wie die USA. Der Handel in der Landwirtschaft ist in der EU stark eingeschränkt, ebenso wie der in einigen anderen Sektoren, zum Beispiel in der Automobilindustrie. Wenn die Covid-19-Krise vorbei sein wird, ist es wahrscheinlich, dass die EU ihre Handelspolitik weiter verschärfen wird, zum Beispiel durch die Einführung von Zöllen, die den Import von nicht klimafreundlich produzierten Pro­dukten sanktionieren. Für Entwicklungs- und Schwellenländer können solche Klima­zölle rasch zu Barrieren werden, insbesondere dann, wenn die Emissionen des Trans­ports mitberechnet werden. Schnittblumen aus afrikanischen Ländern könnten dann aus europäischen Blumenläden verschwinden. Dieser europäische Protektionismus wird von vielen Bürgerinnen und Bürgern unter­stützt. Aber aus Sicht ärmerer Länder sind auch klimapolitisch begründete Be­schränkungen des Handels eine Bedrohung und keine Verheißung.

Das RCEP-Abkommen ist einerseits ein positives Signal: Eine ganze Reihe von Gesellschaften unter­stützt weiterhin die Handelsliberalisierung. Aber RCEP wird die Zukunft des internationalen Handels nicht gravierend verändern. Es wird den Unter­nehmen im asiatisch-pazifischen Raum dringend benötigte administrative Entlas­tungen bringen und den Waren- und Dienst­leistungsverkehr in der Region erleichtern. Alle politischen Streitpunkte, die eine weit­reichende wirtschaftliche und politische Integration im asiatisch-pazifischen Raum bisher erschwerten, wenn nicht gar un­möglich gemacht haben, bestehen jedoch weiterhin. Es geht hier um die umstrittenen Gebietsansprüche Chinas im südchinesischen Meer, die zunehmend aggressive Außen­politik Pekings und das nach wie vor ungeklärte Verhältnis zwischen staatlich subventionierten chinesischen Staatsunternehmen auf der einen und jenen Firmen in den Handelspartnerländern Chinas auf der anderen Seite, die marktwirtschaftlichen Prozessen unterliegen.

Zugleich fällt auf, dass sich die beiden bevölkerungsreichsten Staaten des indo-pazifischen Raums vom Paradigma einer offenen Handelspolitik abwenden wollen. Dies wird in beiden Ländern vermutlich zu einer Abschwächung der wirtschaftlichen Dynamik und vor allem in Indien dazu füh­ren, dass die Folgen der Covid-19-Krise nur schleppend überwunden werden können.

RCEP wird vermutlich den Höhepunkt der Integration im asiatisch-pazifischen Raum markieren und nicht den Ausgangspunkt einer wirtschaftlichen und politischen Union in der Region.

Prof. Dr. Heribert Dieter ist Gastprofessor an der »University of Hong Kong« und
Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Globale Fragen.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020

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ISSN 1611-6364