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Der Mercosur als möglicher Partner der EU bei pharmazeutischen Lieferketten

Potenzial für die Förderung der globalen Gesundheitsstrategie der EU

SWP-Aktuell 2024/A 10, 04.03.2024, 8 Seiten

doi:10.18449/2024A10

Forschungsgebiete

Die globale Gesundheitsstrategie der Europäischen Union (EU) von November 2022 zielt auf eine offene strategische Autonomie im Arzneimittelsektor. Dies wird zwangs­läufig zu einer Neugestaltung sowohl der Liefer- und Wertschöpfungsketten der EU als auch ihrer Handelsbeziehungen führen. Das Streben der Union nach Diversifizie­rung wirft die Frage nach geeigneten, vertrauenswürdigen Handelspartnern im Phar­mabereich auf. Potenzial hat eine Kooperation mit dem südamerikanischen Handels­block Mercosur – Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay –, der beiden Seiten Chancen für einen gedeihlichen Handel bietet.

Bestimmend für die interregionale Bezie­hung zwischen der EU und dem Mercosur war in den letzten Jahren das ungewisse Schicksal des bilateralen Freihandelsabkom­mens, das noch immer nicht unterzeichnet worden ist. Ungeachtet dessen sollten die EU und Deutschland das Beste aus dieser Partnerschaft machen, indem sie Gesundheit und Handel nach den Grundsätzen der Gegenseitigkeit und Kooperation zusammen­führen und den Ausbau der pharmazeutischen Kapazitäten in den Mercosur-Ländern unterstützen. Unabhängig vom EU-Mercosur-Abkommen lässt sich ein Rahmen für eine Erhöhung der ausländischen Direktinvestitionen in der Region schaffen, mit Schwerpunkten auf Forschung und Ent­wicklung (F&E) und der Zusammenarbeit bei der Regulierung medizinischer Pro­dukte. Die EU sollte den Aufbau neuer Pro­duktionskapazitäten in den Mercosur-Län­dern erleichtern, auch wenn dies auf Kosten ihrer eigenen Kapazitäten gehen könnte.

Die EU ist dabei, eine neue globale Gesundheitsstrategie umzusetzen und die Importabhängigkeit im Arzneimittelsektor zu verringern. Mit der Einrichtung der Health Emergency Preparedness and Re­sponse Authority (HERA) im Jahr 2021 will die Union ihre »offene strategische Auto­nomie« stärken. Das erfordert unter ande­rem, Abhängigkeiten zu identifizieren, Strategien zu deren Überwindung zu ent­wickeln und diese Strategien in die globale Gesundheitsgovernance einzubinden. Die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) hat kürzlich eine Liste von mehr als 300 kritischen Arzneimitteln veröffentlicht. Die Forderungen nach einer Diversifizierung des Handels und nach einer Verlagerung der Produktion in vertrauenswürdige Län­der (friend-shoring) haben in diesem Kon­text an Bedeutung gewonnen.

Die wirtschaftlichen Auswirkungen des neuen EU-Ansatzes, die Verfügbarkeit von Arzneimitteln innerhalb der EU-Mitglied­staaten sicherzustellen, sind noch unklar. Die globale Gesundheitsstrategie berührt wichtige Pfeiler der Handelsagenda, wie den Zugang zu Arzneimitteln, Rechte an geistigem Eigentum und das öffentliche Beschaffungswesen. Sie hat auch geo­politische Auswirkungen, da sie eine Neu­bewertung der Beziehungen der EU zu den weltweit größten Lieferanten medizinischer Güter – China und Indien – und den Auf­bau neuer Beziehungen fordert.

Angesichts der wachsenden strategischen Bedeutung Lateinamerikas für die Außenpolitik der EU – die auf dem High-Level Summit zwischen der Gemeinschaft der lateinamerikanischen und karibischen Staa­ten (CELAC) und der EU im Juli 2023 zum Ausdruck kam – müssen die Herausfor­derungen und Chancen dieser bilateralen Handelsbeziehung für die globale Gesundheitspolitik und die Arzneimittelversorgung genauer betrachtet werden.

EU-Mercosur-Beziehungen und Kapazitäten im Pharmabereich

Die EU hat bei den Pharmazeutika im Ver­gleich zu Lateinamerika und der Karibik deutliche Vorteile. Während die EU als weltweit größter Exporteur pharmazeu­tischer Produkte hervorsticht, sind die Exporte aus den lateinamerikanischen Ländern marginal und machen nur ein Prozent ihrer gesamten Exporte aus.

Die EU ist außerdem Hauptquelle für Waren und ausländische Direktinvestitionen in Lateinamerika. Zwischen 2003 und 2021 waren EU-Unternehmen für die Hälfte aller angekündigten ausländischen Direkt­investitionen in der Region – durch die mindestens zehn Prozent der Stimmrechte in einer lokalen Firma erlangt werden – verantwortlich. Beim Verkauf in der latein­amerikanischen Region dominieren EU-Unternehmen den Markt, da 60 Prozent der Umsätze von den Top 20 transnatio­nalen Unternehmen aus der EU stammen. Dieses Muster zeigt sich auch im Pharmazeutikahandel zwischen der EU und dem Mercosur: Nahezu die Hälfte der Importe in den Mercosur-Markt kommen aus der EU. Die EU ist überdies eine der Hauptlieferanten pharmazeutischer Wirkstoffe (APIs) für den Endproduktionsprozess; nach China hält sie mit 20 Prozent den zweitgrößten Marktanteil, gefolgt von Indien mit 14 Pro­zent. Obwohl der Anteil der API-Exporte aus dem Mercosur in die EU geringfügig höher ist als jener der pharmazeutischen Endprodukte, ist er im Vergleich zum Gesamtexportvolumen der EU bemerkenswert niedrig (siehe Abbildung).

Obwohl den Mercosur-Ländern noch ein langer Weg bevorsteht, bis sie einen kom­parativen Vorteil auf dem globalen Pharma­markt erzielen werden, stärken sie schon jetzt ihren gesundheitsökonomisch-indus­triellen Komplex. Der Marktanteil Mercosurs in Lateinamerika ist mit 37 Prozent bedeutend, was sich insbesondere auf die Beteiligung Brasiliens und Argentiniens zurückzuführen lässt (siehe Abbildung). Diese beiden Länder dominieren auch die Wirkstoffexporte und steuern drei Viertel der gesamten regionalen Ausfuhren aus Lateinamerika und der Karibik bei.

Trotz der beträchtlichen Herstellungs­kapazitäten gibt es noch Wachstumspotenzial. Pharmazeutische Konzerne aus Argen­tinien verfügen mit einem Anteil von 68 Prozent und solche aus Brasilien mit 59 Pro­zent bereits über eine starke Präsenz im inländischen Markt (siehe Abbildung). In Brasilien gibt es 43 Produktionsstätten, von denen jedoch nur 13 eine Zulassung der Europäischen Arzneimittel-Agentur haben. Das stetige, von steigender Nachfrage getrie­bene Wachstum des Marktes gab in der Ver­gangenheit Anlass zu gezielten Maßnahmen, die die regionale Produktion nationaler Unternehmen stärken sollte, einschließlich Steuererleichterungen. Diese Maßnahmen bieten auch der EU Ansatzpunkte für eine Diversifizierung, da die Produktionsstätten in der Regel nach den Grundsätzen der »Good Manufacturing Practices« arbeiten, die für die Gewährleistung der Produktqualität von entscheidender Bedeutung sind.

Abbildung

Abbildung: EU-Mercosur-Beziehungen im Arzneimittelsektor

Argentinien präsentiert sich trotz wirtschaftlicher Herausforderungen als ähnlich robuster Markt. Hier produzieren mehrere einheimische Unternehmen spezialisierte Wirkstoffe und Biosimilars. Obwohl Bra­silien und Argentinien im Mercosur als wichtigste Standorte für pharmazeutische Innovation und Produktion gelten, sollte die EU auch Uruguay und Paraguay nicht aus dem Auge verlieren. Beide Länder besit­zen beträchtliche Produktionskapazitäten, beliefert werden derzeit aber hauptsächlich die heimischen Märkte.

Die pharmazeutische Industrie Uruguays, hauptsächlich getragen von multinatio­nalen Unternehmen, die zusammen die Uruguay Pharma HUB Group bilden, deckt einen beachtlichen Anteil von 42 Prozent des Inlandsmarktes ab. Zusammen mit Unternehmen in Argentinien, Brasilien und Kolumbien ist sie für den größten Teil der pharmazeutischen Exporte nach Südamerika verantwortlich. Uruguay ist gemessen an seiner Bevölkerung ein starker Akteur in pharmazeutischer Produktion und bei F&E. Derzeit befinden sich zahlreiche synthetische und biologische Produkte im Entstehungsprozess. Die relative wirtschaftliche und politische Stabilität des Landes macht es zu einem attraktiven Ziel für Investitionen.

Die ebenfalls stetig wachsende pharma­zeutische Industrie in Paraguay zieht Unter­nehmen aus den Nachbarländern und ins­besondere aus Argentinien an. Seit über einem Jahrzehnt arbeiten mehrere lokale Pharmaunternehmen nach den Grund­sätzen der »Good Manufacturing Practices«; der Markt für rezeptfreie Produkte, der sich kontinuierlich ausdehnt, bietet Möglich­keiten für eine Zusammenarbeit.

Die Bedeutung dieser Kapazitäten veranschaulichen die Anstrengungen während der Covid-19-Pandemie. Am 27. Juni 2020 gab die brasilianische Regierung bekannt, dass sie eine Vereinbarung mit AstraZeneca über die lokale Herstellung ihres Impfstoffs schließen werde. Das brasilianische For­schungszentrum Instituto Butantan ging eine Kooperation mit dem chinesischen Unternehmen Sinovac Life Sciences ein, um Impfstoffe herzustellen. BioNTech und Pfizer teilten am 26. August 2021 mit, dass sie die Herstellung ihrer für Lateinamerika bestimmten Impfstoffe an Eurofarma in São Paulo auslagern würden.

In Argentinien schloss AstraZeneca mit mAbxience eine Technologietransfer-Ver­ein­barung über die Herstellung des Wirk­stoffs für ihren Impfstoff; die fertigen Dosen stellte Liomont in Mexiko her. Das argenti­nische Unternehmen Laboratorios Richmond begann mit der Produktion von Komponen­ten des russischen SputnikV-Impfstoffs, des­sen Wirkstoff es gleichzeitig importierte.

All diese Vereinbarungen und Kooperationen waren nur dank der seit langem bestehenden institutionellen Kapazitäten möglich. Mit Blick auf die Zukunft gibt es dennoch Handlungsbedarf, wie der CELAC-Plan zur Selbstversorgung im Gesundheitsbereich verdeutlicht. In diesem Sinne unter­stützte das brasilianische Gesundheitsminis­terium die Oswaldo-Cruz-Stiftung (Fiocruz) dabei, ein Zentrum der Weltgesundheits­organisation für mRNA-Impfstoffe zu wer­den. Diese und andere Initiativen berühren Themen, die für den bilateralen Handel zwischen der EU und dem Mercosur von entscheidender Bedeutung sind.

Das Handelsabkommen und darüber hinaus

Noch ist nicht abzusehen, ob die EU und die Mercosur-Länder in der Lage sein wer­den, die Blockade zu überwinden, die sie an der Unterzeichnung ihres Freihandels­abkommens hindert. Würde das Abkommen in seiner jetzigen Form unterzeichnet, könnte es sich auf die Kosten, das Angebot, die Vielfalt und die Sicherheit pharma­zeutischer Erzeug­nisse auswirken und die Kapa­zität der lokalen Produktion beeinträchtigen. Insbesondere die Auswirkungen auf die geistigen Eigentumsrechte, die Regeln für das öffentliche Beschaffungswesen und die technischen Vorschriften sollten genauer betrachtet werden. Die derzeit geltenden Bestimmungen lassen bereits erkennen, welche Vorkehrungen für eine verstärkte interregionale Zusammenarbeit zu treffen sind.

Im Entwurf des EU-Mercosur-Abkom­mens wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die öffentliche Gesundheit ein geschützter Bereich sei, der nicht durch die Verpflichtungen eingeschränkt werden könne, die aus den Rechten des geistigen Eigentums im Rahmen des Abkommens resultieren. Den Mercosur-Ländern ist es gelungen, die TRIPS-plus-Bestimmungen aus dem Text herauszuhalten, der sich in­sofern von anderen EU-Freihandelsabkom­men unterscheidet. Diese Bestimmungen, die sich auf das TRIPS-Abkommen beziehen (Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums), verlängern in der Regel die Patent­laufzeit beispielsweise von pharmazeutischen Produkten, die nicht notwendigerweise innovativ sind. Auch akzeptierten die Mercosur-Länder keine zusätzlichen Mecha­nismen für die Durchsetzung des Patent­schutzes, die über die derzeit in ihren natio­nalen Rechtsvorschriften vorgesehenen Mechanismen hinausgehen. Schließlich ent­hält das Abkommen bisher auch keine Bestimmungen zur Datenexklusivität. Solche Bestimmungen ermöglichen ge­wöhnlich die Verwendung von Daten aus klinischen Tests, die ein Originalhersteller den Gesundheitsbehörden für die Zulassung generischer Arzneimittel vorlegt. Da kli­nische Tests in der Regel zeitaufwändig und kostspielig sind, begünstigt das Fehlen derartiger Bestimmungen die Herstellung von Generika durch die Mercosur-Länder.

Nach der aktuellen Fassung des Freihandelsabkommens würden EU-Unternehmen an Ausschreibungen öffentlicher Aufträge zu den gleichen Bedingungen teilnehmen wie lokale südamerikanische Unternehmen. Da Brasilien und Argentinien jedoch ihre nationalen Pharmaindustrien aus­bauen wollen, befürchten sie, dass diese Regelung der einheimischen Produktion schaden würde. Beide Länder haben Pro­gramme aufgelegt, die dazu dienen sollen, die lokale Produktion mit öffentlichen Mitteln zu unterstützen. Im Rahmen des Abkommens könnten die EU-Partner diese Programme in Frage stellen, was den poli­tischen Spielraum der Mercosur-Staaten einschränken würde.

Das Abkommens-Kapitel zu »technischen Handelshemmnissen« (TBT) geht über die Bestimmungen der Welthandelsorganisa­tion hinaus, indem es »TBT-plus«-Standards festlegt und dabei »gute regulatorische Prak­tiken« einbezieht. Die Mercosur-Länder erkennen zwar an, dass diese Bestimmun­gen die Verbraucher:innen schützen, sie fürchten aber auch, dass sie unnötige ein­seitige Handelshemmnisse für sie schaffen könnten. Die EU hat ein »Vorsorgeprinzip« in das Abkommen aufgenommen, das Behör­den das Recht gibt, zum Schutz der Gesundheit von Menschen, Tieren, Pflanzen oder der Umwelt zu handeln. Obwohl die­ses Prinzip ein schnelles Eingreifen in Notfällen im Zusammenhang mit Landwirtschaft und Lebensmitteln gewährleisten soll, könnten auch andere biologische Pro­dukte (wie z.B. einige Pharmazeutika) betrof­fen sein. Die EU griff vor kurzem in den Verhandlungsprozess ein, indem sie neue Anforderungen für entwaldungsfreie Lieferketten geltend machte. Unklar ist, inwieweit die Reform des EU-Arzneimittel­rechts für den Handel zwischen den beiden Regionen auch neue Sorgfaltspflichten mit sich bringen wird.

Herausforderungen und Chancen für einen gesunden Handel

In Anbetracht der vorherrschenden Han­dels- und Investitionsmuster sowie der loka­len Kapazitäten bietet Mercosur eine große Chance für die EU, ihre globale Gesundheits­strategie voranzubringen. Die Steige­rung der Produktion in den Mercosur-Län­dern hätte diverse Vorteile: (1) Förderung der pharmazeutischen Autonomie in der Region, (2) stärkere Diversifizierung der Lie­ferungen von Arzneimitteln nach Europa und in den Rest der Welt und (3) Förderung der Innovation und Einführung neuer Arznei­mittel unter Berücksichtigung der lokalen biologischen Vielfalt.

Um die Produktion in diesem Sinne zu steigern, sollte die EU die Mercosur-Länder dabei unterstützen, ihre Kapazitäten zu stärken, und zwar durch: (1) Neugestaltung der Strategien für globale Wertschöpfungsketten mit dem Schwerpunkt auf F&E, (2) Intensi­vierung der bilateralen Zusammenarbeit als Teil der Global-Gateway-Stra­tegie der EU, (3) Ermöglichung des Zugangs zu Innovationen durch flexible Regeln zum Schutz des geistigen Eigentums und (4) Unterstützung des lokalen öffentlichen Beschaffungswesens.

Liefer- und Wertschöpfungs­ketten neu gestalten

Die angestrebte Neugestaltung der Liefer- und Wertschöpfungsketten erfordert einen umfassenden Ansatz der EU und des Merco­sur, um die Potenziale optimal zu nutzen. Die CELAC hat den ehrgeizigen Plan, Selbst­versorgung im Gesundheitsbereich zu errei­chen, und will dafür den Pharmasektor stär­ken; konkret ist vorgesehen, ausländische Direktinvestitionen anzuziehen, die F&E zu erleichtern und lokale Produktionsketten zu unterstützen.

In diesem Kontext fördern die Mercosur-Länder aktiv internationale Investitionen und öffentlich-private Partnerschaften, um gemeinsame Projekte zur Stärkung der lokalen Kapazitäten zu realisieren. Dabei ist besonders wichtig, den Technologietransfer zu begünstigen und auf regionaler Ebene eine Integration in globale Wertschöpfungs­ketten zu erreichen. Dies betrifft alle drei Hauptabschnitte der pharmazeutischen Versorgungskette: F&E, Produktherstellung und ‑vermarktung. Während F&E in der Regel in großen Pharmaunternehmen in den USA und Europa angesiedelt ist, erfolgt die Pro­duktion oft in wettbewerbsfähigen Ländern wie China und Indien.

Um die Abhängigkeit der EU von diesen beiden Lieferländern zu verringern, ist eine langfristige Zusammenarbeit zwischen Dritt­staaten und Unternehmen erforder­lich, um Kapazitäten in neuen Partner­ländern aufzubauen.

Die meisten ausländischen Direktinves­­titionen in Lateinamerika flossen bisher in Produktion und Marketing, in F&E wurde dagegen weniger als ein Prozent investiert. Die vorhandenen Innovationskapazitäten sollten genutzt und ausgebaut werden, um hochwertige Investitionen im pharmazeutischen Sektor der Mercosur-Länder anzuziehen. Dadurch kann die Region ihre Vulne­rabilität gegenüber externen Faktoren ver­ringern und möglicherweise zu einer neuen Produktionsstätte von Wirkstoffen werden. Die EU könnte dies direkt durch Zuschüsse im Rahmen ihres Förderprogramms für For­schung und Innovation »Horizon Europe« unterstützen. Es gibt auch Potenzial für Ver­einbarungen über gemeinsame Forschung im Gesundheitssektor, die sich durch Kofinan­zierungsmechanismen flankieren ließen.

Während neue Konstellationen von EU-Mercosur-Lieferketten für Arzneimittel bei­den Seiten Vorteile bringen könnten, gilt zu bedenken, dass die Neugestaltung dieser Lie­ferketten nicht allein von akuten geo­politischen Spannungen motiviert sein sollte, die auf Gesundheitsbelange übergreifen könnten. Die Pharmaunternehmen haben wirtschaftliche Interessen, die ihnen aus­reichend Anreiz bieten, um sich durch finan­zielle Verpflichtungen an der Schaffung neuer Liefer- und Wertschöpfungsketten zu beteiligen. Die EU und ihre Mitgliedstaaten müssen neue Institutionen und Förder­programme schaffen, um Unternehmen bei ihrer strategischen Diversifizierung zu unterstützen, einschließlich des Technologietransfers und Kapazitätsaufbaus sowohl im Bereich Wissen als auch bei Personal und Infrastruktur.

Bilaterale Kooperation stärken

Mit ihrer Global-Gateway-Initiative hat sich die EU unter anderem das Ziel gesetzt, die weltweiten Gesundheitskapazitäten zur Bekämpfung von Krankheiten zu fördern, insbesondere durch Stärkung lokaler Pro­duk­tionskapazitäten. Die CELAC und die EU gingen 2021 eine Partnerschaft ein, um die gesundheitliche Resilienz zu stärken und ihre beiderseitige Kooperation auszubauen. So wurde etwa 2023 ein Austausch zwi­schen Pharmaunternehmen beider Regio­nen ermöglicht, um Investitionen in den Sektor zu mobilisieren.

Der CELAC-Plan sieht vor, in der Region die Entwicklung und den Ausbau von Kapa­zitäten in allen Phasen der Arzneimittelproduktion zu unterstützen. Mercosur-Län­der sollten den Plan nutzen, um nationale Initiativen und regionale Agenden zur För­derung des Pharmamarktes in der gesamten Region zu entwickeln. Die EU könnte im Rah­men ihrer Global-Gateway-Strategie die Zusammenarbeit mit den Mercosur-Ländern und ihren Pharmamärkten vorantreiben.

Bisher lag der Hauptfokus der bilateralen Zusammenarbeit auf dem Umweltschutz im Amazonasgebiet. Die Tatsache, dass sich Ge­sundheit und Umwelt überlappen, gewinnt zusehends an politischer Bedeutung. Im Sinne des One-Health-Ansatzes ließe sich die bilaterale Zusammenarbeit darum auch auf Bereiche wie biologische Vielfalt und Biosicherheit ausweiten. Brasilien und Deutschland haben kürzlich ein Abkommen über die Einrichtung des »NB4« unterzeichnet, eines Labors nach Standards biologischer Höchstsicherheit, das die Erforschung von Pathogenen ermöglichen soll, die schwere und übertragbare Krankheiten hervorrufen können. Solche Initiativen sollten verstärkt werden, um die bilaterale Zusammenarbeit im Gesundheitssektor auszubauen.

Innovationen ermöglichen

Bei F&E haben die Mercosur-Länder Nach­holbedarf. Daher ist die Förderung des Zu­gangs zu neuen Technologien und Patent­informationen durch Zusammenarbeit mit Unternehmen von entscheidender Bedeu­tung für die Entwicklung der technologischen Kapazitäten. Die Covid-19-Pandemie hat eine Debatte über die Flexibilisierung von Ansätzen für die Rechte des geistigen Eigentums angestoßen. Unabhängig von ihrem Ausgang wurden im Zuge der Debatte neue Rahmenbedingungen für den freiwilligen Technologietransfer und den Marktzugang für Generika geschaffen.

Generika spielen eine bedeutende Rolle in der Region und ermöglichen den preis­günstigen Zugang zu Medikamenten. Die Zahl der Arzneimittel, deren Patentschutz ausläuft, wird sich in den kommenden Jah­ren vermutlich verdoppeln, was Chancen für lokale Herstellung eröffnet. Ein Abbau von Hürden, die dem freiwilligen Technologietransfer entgegenstehen, könnte die lokale Produktion beschleunigen, und dies auch von Wirkstoffen. Das ist insofern besonders wichtig, als die Produktion von Wirkstoffen große Kapazitäten erfordert, aber nur begrenzte Erträge generiert. Die Region könnte die Entwicklung anderer Marktsegmente wie Generika und Qualitätspräparate nutzen, um die nachgelagerte Integration zu verbessern und gleichzeitig die Produktionskapazitäten für komplexe Wirkstoffe aufzustocken. In diesem Sze­nario könnte die EU diese Möglichkeiten nutzen und neue schaffen, indem sie ein­schlägige Vorschriften zum geistigen Eigen­tum flexibler gestaltet. Dies würde zusätz­liche finanzielle Anreize für den Techno­logietransfer erfordern.

Öffentliches Beschaffungswesen unterstützen

Das öffentliche Beschaffungswesen wurde vor allem zur Förderung der lokalen Pro­duk­tion genutzt. In Brasilien hat das Gesundheitsministerium »Productive Devel­opment Partnerships« eingeführt, um die einheimische Produktion zu unterstützen. Dabei verpflichtet sich das Ministerium, ein Produkt über einen Zeitraum von bis zu zehn Jahren zu kaufen; im Gegenzug über­tragen private Unternehmen die Produk­tionstechnologie an ein nationales öffent­liches Labor. Während des Technologie­transfers versorgen die Privatunternehmen das Gesundheitssystem mit dem Produkt. Derzeit überarbeitet der brasilianische Bun­desrechnungshof dieses Konzept unter an­derem mit dem Ziel, die Einbindung einhei­mischer privater Labore und die Verbindung mit regionalen Lieferketten zu verbessern.

Initiativen wie diese könnten der EU eine Gelegenheit bieten, die von ihr angestrebte Diversifizierung der Lieferketten und die Öffnung der Märkte voranzutreiben, ohne die lokale Produktion in Südamerika zu be­einträchtigen. Durch Produktentwicklungspartnerschaften würde der Zugang zum Mercosur-Markt ‒ im Rahmen langfristiger öffentlicher Verträge ‒ mögliche private Verluste ausgleichen, die mit dem Technologietransfer verbunden sind. Allerdings könnten solche »Buy National«-Programme im Rahmen des Freihandelsabkommens zwischen der EU und dem Mercosur un­zulässig werden.

Regulatorische Zusammenarbeit fördern

Die Mercosur-Länder und die EU könnten durch eine engere Zusammenarbeit in Gesundheitsbelangen Synergieeffekte erzie­len, ohne sich ausschließlich auf das Frei­handelsabkommen zu stützen. Optionen dafür wären rechtlich nicht bindende bi­laterale Abkommen und die Förderung von Investitionen europäischer Unternehmen in den Mercosur-Ländern. Interne Refor­men in den Mercosur-Ländern können eine solche Zusammenarbeit ermöglichen. Ein Beispiel dafür sind die in Brasilien bereits praktizierten beschleunigten Zulassungsverfahren für Unternehmen, die einheimische Wirkstoffe verwenden. Die Zulassung neuer medizinischer Produkte ist Sache der einzelnen Ländern, sie erfolgt nicht auf Ebene des Mercosur. Daher könnte die EU neue Partnerschaften mit den Mercosur-Ländern eingehen, um zum einen die Zu­lassungsverfahren für neue Arzneimittel zu vereinfachen und zum anderen das Äqui­valenzverfahren für Generika einzuführen; mit diesem Verfahren wird eine mit dem Originalpräparat vergleichbare Sicherheit und Wirksamkeit rechtlich anerkannt. Da­mit könnte die EU ihre Pharmaprodukte schneller in diese Länder exportieren.

Die Zusammenarbeit ließe sich beispiels­weise durch eine Erweiterung des gelten­den Vertraulichkeitsabkommens zwischen der EMA und der brasilianischen Agência Nacional de Vigilância Sanitária auf die Zulassungsbehörden der anderen Mercosur-Ländern vertiefen. Dies ermöglichte den Austausch vertraulicher Informationen über medizinische Produkte. Ein solche engere regulatorische Zusammenarbeit würde Geschäftsentscheidungen vorhersehbarer machen und die technischen Hürden für EU-Unternehmen senken. Da die Mer­cosur-Länder diese Maßnahme jedoch als einseitig ansehen könnten, wäre zu erwä­gen, alternativ den Informationsaustausch mit der EU zu Arzneimitteln zu verbessern. Dabei ginge es darum, eine schnellere Bewertung von Zulassungsdaten zu ermög­lichen; die endgültige Genehmigung ver­bliebe bei den nationalen Behörden.

Fazit und Empfehlungen

Die Möglichkeiten, das Thema Gesundheit auf die Agenda für die Handelsbeziehungen zwischen der EU und dem Mercosur zu set­zen, sind vielfältig. Zugleich gibt es dafür aber auch viele Herausforderungen. Einer­seits bietet die Mercosur-Region der EU eine wertvolle Gelegenheit, ihren Handels­austausch zu diversifizieren. Andererseits wird der Marktwettbewerb, den das Han­delsabkommen im Falle eines Abschlusses fördern wird, den Mercosur-Partnern un­weigerlich schaden und die lokale Produktion drosseln. Die EU steht also vor der Wahl, entweder in den Aufbau neuer Kapa­zitäten in den Mercosur-Ländern zu inves­tieren, um einen Diversifizierungseffekt zu erzielen, oder sich auf ihre eigenen Produk­tionskapazitäten zu konzentrieren.

Im ersten Szenario müsste die EU Anreize für den Technologietransfer und für auslän­dische Investitionen schaffen, einschließlich flexibler Regeln für geistiges Eigentum. Im zweiten Szenario würde die Diversifizierung durch strenge Vorgaben für den Schutz des geistigen Eigentums eingeschränkt. Es ist ungewiss, für welchen Weg sich die EU entscheiden wird. Derzeit arbeitet sie an einem neuen Pharmapaket, das sowohl die öffentliche Meinung als auch das Lager der politischen Unterstützer spaltet. Würden die Lehren aus Covid-19 ernst genommen, müsste die erste Option anvisiert werden: Ohne eine Änderung ihres Ansatzes, der für Handel und Investitionen im Arzneimittelsektor gilt, wird die EU kaum in der Lage sein, Fortschritte im Sinne ihrer globalen Gesundheitsstrategie zu erzielen. Im Gegen­teil: Solange die Versorgungsketten asym­metrisch und stark auf einige wenige Unter­nehmen und Länder konzentriert bleiben, lässt sich nicht garantieren, dass der Bedarf an Medikamenten gedeckt wird, wie die Covid-19-Pandemie gezeigt hat. Darüber hin­aus erfordert das Ziel der EU, eine offene strategische Autonomie zu erreichen, den Handel in wichtigen Bereichen jenseits der Rohstoffe, beispielsweise bei Arzneimitteln, stärker zu diversifizieren.

Fernanda Cimini ist Professorin an der Federal University of Minas Gerais (UFMG), Senior Researcher am Brasilianischen Zentrum für Internationale Beziehungen (CEBRI) und GIBSA Visiting Fellow in der Forschungsgruppe Globale Fragen der SWP. Michael Bayerlein ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe EU / Europa. Pedro A. Villarreal ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Globale Fragen. Franziska Schwebel ist Forschungsassistentin in der Forschungsgruppe EU / Europa. Michael Bayerlein, Pedro A. Villarreal und Franziska Schwebel arbeiten im Projekt »Globale und Europäische Gesundheitsgovernance in der Krise«, das vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) gefördert wird.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2024

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ISSN (Print) 1611-6364

ISSN (Online) 2747-5018

(Deutsche Übersetzung von SWP Comment 5/2024)