Die existentielle Not der Menschen im Gazastreifen prägt derzeit außen- und sicherheitspolitische Debatten. Dort ist die Lage der Zivilbevölkerung besonders dramatisch. Doch auch anderswo – von der Ukraine über Sudan und Myanmar bis zur Demokratischen Republik Kongo und Haiti – haben Kriege und gewaltsame Konflikte verheerende Folgen für die Bevölkerung. In dieser Hinsicht zeichnet auch der Generalsekretär der Vereinten Nationen (VN) in seinem im Mai veröffentlichten jährlichen Bericht ein düsteres Bild. Zugleich greifen die gängigen internationalen Mittel der Konfliktbeilegung immer weniger. Daher ist es dringend geboten, wichtige Veränderungen im Konfliktgeschehen systematisch zu erfassen und Ansätze zum Schutz der Zivilbevölkerung auf dieser Grundlage neu zu justieren.
Die massiven Angriffe auf die Zivilbevölkerung in den andauernden Kriegen im Gazastreifen, in der Ukraine und in Sudan finden nur phasenweise internationale Aufmerksamkeit. Dabei markieren sie eine besorgniserregende Entwicklung: Anzahl und Intensität von Gewaltkonflikten haben in jüngerer Zeit deutlich zugenommen. 2023 gab es so viele gewaltsame Konflikte wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Auch die Todesraten insgesamt sind spürbar gestiegen. Für die Jahre 2021–2024 waren es die höchsten Zahlen seit dem Völkermord in Ruanda 1994. Wenn man diesen außer Acht lässt, handelt es sich um einen Höchststand an Todesopfern in Gewaltkonflikten seit Beginn der Datenerhebung 1989.
Nach Ende des Kalten Krieges und der Auflösung der Sowjetunion hatten sich in den 1990er Jahren bewaffnete Konflikte schon einmal merklich gehäuft, wobei die Opferzahlen ebenfalls hoch waren. Damals lautete eine zentrale These, Art und Verlauf der Konflikte hätten sich grundsätzlich gewandelt. Zwar basierte die Theorie von den »neuen Kriegen« vor allem auf qualitativen Argumenten, und der Begriff blieb umstritten. Zwei Kernpunkte aber ließen sich empirisch belegen: Erstens wurden Schlachten zwischen regulären Streitkräften seltener, und zweitens nahm die Gewalt, die sich gegen die Zivilbevölkerung richtete, zu. Tatsächlich sind die Zahlen der Konflikttoten aus den letzten Jahren weit höher als diejenigen Ende der 1990er Jahre. Ergibt sich daraus aber auch eine neue Dimension der Auswirkungen von Gewaltkonflikten auf Zivilist:innen?
Die Datenlage: Gewalt gegen die Zivilbevölkerung
Wesentlicher Referenzpunkt für die Situation der Zivilbevölkerung in Gewaltkonflikten war und ist der Anteil ziviler Opfer gegenüber militärischen. Doch die genaue Zahl ziviler Opfer zu bestimmen, bleibt schwierig, trotz tendenziell verbesserter Datenlage. Präzise, aktuelle Zahlen sind oft nicht verfügbar; politische Interessen und Propaganda erschweren objektive Datenerhebungen.
Dennoch gibt es Anhaltspunkte. Insgesamt erfassten die VN für das Jahr 2023 mindestens 33.443 getötete Zivilist:innen in bewaffneten Konflikten. Das ist ein Anstieg von 72 Prozent binnen eines Jahres, vor allem aufgrund der hohen Todeszahlen im Gaza-Krieg. Zudem hat die Gewalt gegen Kinder in Krisengebieten 2024 mit 41.370 schweren Vorfällen einen unübersehbaren neuen Höchststand erreicht, seit vor 30 Jahren die einschlägigen VN-Berichte eingeführt wurden. Wiederum stehen der Gazastreifen und das Westjordanland mit 8.544 Fällen ganz oben auf der Liste, gefolgt von der Demokratischen Republik Kongo, Somalia, Nigeria und Haiti. Beide Berichte, zur Situation von Zivilist:innen bzw. Kindern, gehen von einer faktisch weit höheren Zahl aus.
Beim Blick auf einen längeren Zeitraum besteht kein Zweifel daran, dass die aggregierten Zahlen der Opfer aller laufenden bewaffneten Konflikte seit den 2000er Jahren erheblich gestiegen sind. Laut dem Uppsala Conflict Data Program (UCDP) hat die jährliche Zahl nach 2010 zugenommen, besonders stark ab 2020 durch Kriege mit staatlicher Beteiligung, zuvorderst in Äthiopien, Syrien, Sudan und in der Ukraine sowie seit Oktober 2023 im Gazastreifen. Dass dennoch 2023 die Zahlen sanken, lag vor allem am Ende des bewaffneten Konfliktes in der Region Tigray in Äthiopien sowie am Rückgang der Todeszahlen in der Ukraine. 2024 stagnierten die Zahlen, allerdings auf weit höherem Niveau als vor 2021, und blieben etwa fünf Mal so hoch wie 2010. Diese Zahlen enthalten indes sowohl zivile wie militärische Opfer.
Dagegen umfasst die Kategorie »einseitige Gewalt« des UCDP ausschließlich Gewalt gegen Zivilpersonen. Zwischen 2010 und 2023 hat sich diese Art organisierter Gewalt beinahe verdoppelt. Die Opferzahlen stiegen zuletzt 2024 deutlich, und zwar aufgrund von Anschlägen des Islamischen Staates (IS) in Afrika sowie weit verbreiteter Morde durch bewaffnete Gangs in Haiti. Erfasst wird so allerdings nur jene Gewalt, bei der keinerlei Kombattant:innen unter den Opfern sind. In der Kategorie »nichtstaatliche Gewalt« nahm die Anzahl der Konflikte seit 2015 ebenfalls beträchtlich zu, während die aggregierten Opferzahlen konstant blieben. Letzteres schließt aber nicht aus, dass es in einzelnen Kontexten wie Mexiko oder Brasilien in jüngster Zeit einen starken Anstieg gegeben hat. Naturgemäß ist es jedoch in Zusammenhängen, die von krimineller Gewalt geprägt sind, besonders schwer zu unterscheiden, welche Opfer Mitglieder bewaffneter Gruppen waren und welche Zivilist:innen. Außerdem machen weiterhin Todesopfer aus bewaffneten Konflikten mit staatlicher Beteiligung den weitaus größten Anteil aus. Der Anstieg dieser Zahlen geht zumindest teilweise auch auf eine bessere Datenlage gegenüber den 1990er Jahren zurück.
Oft wird daher die Zahl gewaltsam Vertriebener herangezogen, um die Auswirkungen von Gewaltkonflikten auf Zivilist:innen zu erfassen. Ende 2024 erreichte sie mit 123,1 Mio. einen absoluten Höchststand. Auch gemessen an der Weltbevölkerung wird ein deutlicher Anstieg sichtbar. Ende 2024 war statistisch gesehen eine von 67 Personen weltweit gewaltsam vertrieben worden. Das ist nahezu doppelt so viel wie noch vor einem Jahrzehnt. Bei der Mehrheit handelte es sich um Binnenvertriebene (Internally Displaced Persons, IDPs). Im Jahr 2024 gab es 73,5 Mio. Binnenvertriebene aufgrund von Konflikten und Gewalt. Dies entspricht einem Anstieg um 9,7 Prozent gegenüber dem Vorjahr, um rund 65 Prozent über fünf und um knapp 94 Prozent über zehn Jahre.
Mitunter wird die Aussagekraft dieser Zahlen wegen eines wachsenden Sockels an Vertriebenen in Frage gestellt. Teils kehren Menschen langfristig oder dauerhaft nicht zurück, selbst wenn Kampfhandlungen enden. In jüngerer Zeit ist jedoch eine auffällig hohe Zahl neu gewaltsam Vertriebener festzustellen. Die in absoluten Zahlen größte Vertreibungskrise der Welt spielt sich in Sudan ab. Seit Kriegsausbruch am 15. April 2023 sind dort bis Mitte 2024 12,8 Mio. Menschen gewaltsam vertrieben worden; im Gazastreifen gilt dies für über 1,9 Mio. Menschen seit Beginn der israelischen Kriegshandlungen nach dem 7. Oktober 2023. Rund 90 Prozent der Bevölkerung des Küstengebietes wurden seither mindestens einmal vertrieben. In der Ukraine wurden seit Beginn der russischen Vollinvasion am 24. Februar 2022 etwa 3,7 Mio. Menschen zu IDPs, und 6,9 Mio. Geflüchtete suchen Schutz im Ausland. Die Zahlen für Myanmar, Haiti oder die Demokratische Republik Kongo haben sich in den letzten Jahren ebenfalls signifikant erhöht. Konstant hohe Vertriebenenzahlen für Afghanistan, Jemen oder Äthiopien spiegeln eine nach wie vor fragile Sicherheitslage in diesen Ländern wider.
Auch die von der unabhängigen Organisation Armed Conflict Location & Event Data (ACLED) erhobenen Daten lassen auf weit verbreitete Unsicherheit und Gewalt schließen. ACLED ermittelt, wie viele Menschen sich im Radius von fünf Kilometern um Ereignisse organisierter Gewalt – definiert als Gefechte, Explosionen, ferngesteuerte Gewalt und Gewalt gegen Zivilpersonen – befinden. Obwohl eine Rekordzahl an Menschen vor Gewalt flieht, stieg auch die von ACLED geschätzte Zahl von Menschen nahe Ereignissen organisierter Gewalt seit Beginn der Messung 2020 kontinuierlich an; 2024 erreichte sie einen Höchststand von etwa 745 Mio. Personen. In diesem kurzen Zeitraum haben sich die Ereignisse organisierter Gewalt nahezu verdoppelt.
Vieles deutet darauf hin, dass seit Ende des Kalten Krieges selten so viele Zivilist:innen wie heute von Gewaltkonflikten und ihren Auswirkungen betroffen waren. Um zu beurteilen, ob sich daraus weitere Veränderungen des Konfliktgeschehens ableiten lassen, gilt es, die Hintergründe des Mangels an Schutz für die Zivilbevölkerung zu beleuchten.
Treiber der Schutzkrise
Der mangelhafte Schutz der Zivilbevölkerung in anhaltenden Gewaltkonflikten muss unverblümt als Schutzkrise bezeichnet werden, so wie es verschiedene VN- und auch EU-Offizielle schon seit Jahren tun. Die Krisensituation kann auf qualitative Veränderungen im Konfliktgeschehen hindeuten. Um dies nachzuvollziehen, müssen Muster bei beteiligten Akteuren, bei den Mitteln, über die sie verfügen, und bei der Kriegsführung bzw. Gewaltanwendung identifiziert werden, die sich auf die Situation von Zivilist:innen auswirken. Zwar unterscheiden sich diese Aspekte je nach Kontext – doch lassen sich einige grobe Entwicklungslinien über verschiedene Fälle und Regionen hinweg erkennen.
Fragmentierte und internationalisierte Akteurslandschaft
Seit den 1990er und mehr noch seit den 2010er Jahren sind zwei wichtige Entwicklungen im Konfliktgeschehen zu beobachten: die zunehmende Fragmentierung bewaffneter Akteure und die wachsende externe Beteiligung an innerstaatlichen Konflikten.
Für das letzte Jahr des Untersuchungszeitraums des UCDP (1989–2024) wurden 49 Konfliktakteure registriert, die einseitige Gewalt anwendeten: 14 Regierungen und 35 nichtstaatliche Akteure. Damit wurde 2024 dieser Höchststand nach 2022 zum zweiten Mal erreicht. Gezählt werden ausschließlich jene Akteure, die innerhalb eines Jahres mindestens 25 Zivilist:innen im Zuge einseitiger Gewalt töten. Generell geht der Trend seit den 2000er Jahren klar nach oben und bewegt sich seit 2019 konstant über 40. Im Jahr 2024 gab es zudem weltweit über 450 bewaffnete Gruppen, die aus humanitärer Sicht Anlass zu Besorgnis geben, die meisten davon in Afrika (44 Prozent) und im Nahen und Mittleren Osten (20 Prozent). Demnach leben mindestens 210 Mio. Menschen in Gebieten mit begrenzter Staatlichkeit, die vollständig von bewaffneten Gruppen kontrolliert oder die umkämpft sind. Das hat neben direkten auch indirekte Auswirkungen, vor allem in Form eines eingeschränkten Zugangs zu humanitärer Hilfe wie in den vom IS kontrollierten Gebieten in Syrien und Irak in den 2010er Jahren. Überdies sind nichtstaatliche bewaffnete Akteure ihren staatlichen Gegnern häufig militärisch unterlegen und nutzen daher asymmetrische Kriegsführung, welche die Zivilbevölkerung stark in Mitleidenschaft zieht.
Die höhere Zahl bewaffneter Gruppen erzeugt auch mehr Unwägbarkeiten, etwa hinsichtlich der Frage, wo Fronten verlaufen und wem Gewaltakte zugeordnet werden können. In Jemen zum Beispiel ist die Frontlinie zwischen den Huthis und Regierungstruppen dynamisch und schwer zu bestimmen. Im Syrien-Krieg und den jüngsten Kriegen in Libyen war die territoriale Kontrolle ebenfalls stark fragmentiert. Die Vielzahl von Akteuren in einer Reihe von Gewaltkonflikten erschwert den Schutz der Zivilbevölkerung auch deshalb, weil sie die Kommunikation oder Verhandlungen zwischen Konfliktparteien bzw. ihren Unterstützern und Dritten, etwa humanitären Organisationen, verkompliziert.
Neben der Zahl an Gewaltakteuren ist die stark verschwimmende Grenze zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Beteiligten relevant. Schon das Konzept der »neuen Kriege« ging davon aus, dass eine Kombination von Netzwerken staatlicher und nichtstaatlicher Akteure – darunter private Sicherheitsunternehmen, Warlords und Paramilitärs – die Dominanz regulärer Streitkräfte abgelöst habe.
Diese Grauzone prägt inzwischen auch das internationalisierte Konfliktgeschehen. Seit den frühen 2010er Jahren – etwa mit dem Syrien-Krieg – haben Zahl und Komplexität internationalisierter Konflikte merklich zugenommen. Die UCDP-Daten legen nahe, dass seit spätestens 2013 die Zahl dieser Konflikte stark gestiegen ist. Ein Konflikt gilt als internationalisiert, wenn mindestens eine der Konfliktparteien militärisch mit Kampftruppen von einer externen Regierung unterstützt wird. Diese Entwicklung ist für die Situation der Zivilbevölkerung besorgniserregend, denn solche Konflikte dauern tendenziell länger an und weisen höhere Todesraten auf.
Darüber hinaus intervenieren heute einige Mittel- oder Regionalmächte in Gewaltkonflikten mit einem eher »leichten« militärischen Fußabdruck – sei es durch politische, finanzielle oder militärische Unterstützung für lokale Verbündete, durch die Bereitstellung von Söldnertruppen oder die Aktivitäten privater bzw. hybrider Militärfirmen. Solche Aktivitäten, etwa diejenigen des russischen »Afrikakorps« (ehemals Gruppe Wagner) in Libyen, Mali, Sudan, der Zentralafrikanischen Republik (ZAR) und Syrien, dienen teilweise auch dazu, die Beteiligung anderer Staaten zu verschleiern. Damit wird nicht nur die Verantwortlichkeit für die Kriegsführung verwischt; die Intervention verändert ebenso Finanzierung und Bewaffnung der Konfliktparteien.
Konfliktökonomien und Bewaffnung
In den 1990er Jahren ging die externe staatliche Unterstützung für Konfliktparteien in den meisten Fällen deutlich zurück. Vor allem bewaffnete Gruppen verlagerten sich daher auf die Finanzierung durch Entführungen, Plünderungen sowie die Ausbeutung natürlicher Ressourcen wie Diamanten, Holz oder Öl und den Handel damit, teils auch im Tausch gegen Waffen. Ökonomische Aktivitäten wurden häufig auch schlicht besteuert. Das Abzweigen humanitärer Hilfe wurde zu einer weiteren Einnahmequelle, was der Zivilbevölkerung doppelt schadete. In vielen Analysen wurde zunächst der ausbeuterische Aspekt dieser Konfliktökonomien hervorgehoben. Spätere Analysen betonten, dass illegale Aktivitäten einigen bewaffneten Gruppen durchaus politisches und soziales Kapital einbrachten – besonders wenn die Bevölkerung davon profitierte. Zugleich wurden wirtschaftliche Motive für manche Gewaltakteure zum Selbstzweck und erschwerten so eine Beilegung der Gewaltkonflikte.
Heute ist vor allem fraglich, wie sich die wieder zunehmende Unterstützung durch Drittstaaten auf Finanzierung und Bewaffnung auswirkt. Eine ideologische Polarisierung im Sinne eines Systemkonflikts wie während des Kalten Krieges ist nicht erkennbar. Klar wird jedoch, dass geopolitische Interessen mit handfesten wirtschaftlichen Motiven verknüpft sind. Ihre Aushandlung geschieht oft transaktional, wobei der Schutz der Zivilbevölkerung von untergeordneter Bedeutung ist. Im Abschlussbericht des Forschungsprojekts Cross-Border Conflict Evidence, Policy and Trends (XCEPT) wird unterstrichen, dass die Interdependenz zwischen geoökonomischen und geopolitischen Auseinandersetzungen Gewaltkonflikte heute langwieriger macht. Nicht Stellvertreterkriege um Einflusssphären, sondern pragmatische und transaktionale Bündnispolitik prägten die Eingriffe zahlreicher externer Mächte.
Das zeigt sich auch bei Bewaffnung und Ausstattung von Konfliktparteien. Laut dem Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) wuchsen die weltweiten Militärausgaben 2024 auf 2.718 Mrd. US-Dollar – der stärkste Jahresanstieg seit dem Kalten Krieg. Zudem wurden 64 Staaten für den Zeitraum 2020–2024 als Großwaffenexporteure identifiziert. Konfliktparteien haben heute schlicht mehr Auswahl bei potentiellen Unterstützern und Lieferanten. Zwar waren 2020–2024 die USA nach wie vor der wichtigste Rüstungsexporteur, gefolgt von Frankreich, Russland, China und Deutschland; doch einige Staaten wie die Türkei haben an Bedeutung gewonnen.
Auf der Liste der Hauptempfängerstaaten stehen einige (sporadisch) aktive Konfliktparteien. Neben den westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine und Israel tauchen iranische Lieferungen an Russland und die Huthi-Rebellen in Jemen auf. Auch finden sich unter den Hauptempfängern einige Staaten, die indirekt oder verdeckt in Gewaltkonflikte involviert sind, etwa die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), deren Waffenlieferungen teils über vorgeblich humanitäre Kanäle erfolgen. In Sudan unterstützen die Emirate auf diese Weise die Rapid Support Forces (RSF). Desgleichen trugen in Jemen und Libyen emiratische Waffenlieferungen zur Eskalation und Fortsetzung der Konflikte bei. So kamen also auch Waffen aus anderen Ländern, darunter Deutschland, in Jemen zum Einsatz. In der Liste nicht erfasst sind Waffentransfers wie die Lieferungen Irans an seine engsten Verbündeten in der sogenannten Achse des Widerstands in Libanon, Irak, Jemen und ehemals in Syrien sowie an Russland und die Sudanese Armed Forces (SAF) in Sudan.
Ein Blick auf Verstöße gegen VN-Waffenembargos in prominenten Fällen wie Libyen, Somalia und der ZAR seit 2015 offenbart darüber hinaus, dass Drittstaaten wiederholt mit mehr oder weniger verdeckten Waffenlieferungen in Konflikte eingegriffen haben, während die Durchsetzungsmaßnahmen der internationalen Gemeinschaft unzureichend blieben.
Zugleich hat sich die eingesetzte Technologie verändert. Wurden in den 1990er und 2000er Jahren häufig Waffen aus Ländern des ehemaligen Warschauer Paktes in Konfliktgebiete geliefert oder geschmuggelt, spielen heute Kampfdrohnen in vielen bewaffneten Konflikten eine wichtige Rolle. Große Aufmerksamkeit erregten bewaffnete Drohnen im Krieg in der Ukraine, zuletzt im Juni 2025 beim ukrainischen Angriff »Spiderweb« im russischen Hinterland. Russland setzt indessen unter anderem iranische Drohnen gegen kritische Infrastruktur und die Zivilbevölkerung in der Ukraine ein. Die äthiopische Regierung verwendete im Tigray-Krieg neben iranischen und chinesischen Drohnen auch türkische Bayraktar-TB2-Drohnen. Im Sahel forderte die Nutzung türkischer Drohnen ebenfalls viele zivile Opfer. In Sudan bekämpft die SAF die RSF mit iranischen Mohajer-6-Drohnen. Die RSF wiederum nutzen Quadrocopter, die sie über das russische »Afrikakorps«, aber auch aus den VAE beziehen. Letztere lieferten die Quadrocopter außerdem nach Äthiopien und Jemen.
Drohnen erweitern die Operabilität besonders nichtstaatlicher Akteure und bleiben schwer regulierbar. Die Annahme, dass Kampfdrohnen die militärischen Kräfteverhältnisse deutlich verschieben, lässt sich dagegen zumindest für Konflikte in Afrika nicht generell bestätigen. Eher werden Frontverläufe durch ihre Reichweite unklarer. Es liegt nahe, dass der Einsatz bewaffneter Drohnen – im Vergleich zu dem herkömmlicher Waffensysteme – die Hemmschwelle zur Gewaltanwendung senkt. In jedem Fall hat die Verwendung von Drohnen in einigen Gewaltkonflikten, etwa in der Ukraine, zur Folge, dass die Zahl ziviler Opfer steigt. Da von der Frontlinie weiter entfernte Gebiete erreicht und mehr Ziele angegriffen werden können, vergrößert sich die Bedrohung für die Zivilbevölkerung und wird zudem »unberechenbarer«, was auch negative psychologische Effekte hat.
Die Auswirkungen der Entwicklungen, die Konfliktökonomien und Bewaffnung betreffen, lassen sich schwer quantifizieren. Doch es gibt einige Anhaltspunkte dafür, dass sie den Druck auf die Zivilbevölkerung verstärkt haben.
Kriegsführung und Gewaltformen
In aktuellen Gewaltkonflikten überlagern sich verschiedene Formen der Kriegsführung und damit der Gewalt gegen die Zivilbevölkerung. Dazu gehört unter anderem der Einsatz von Explosivwaffen in bewohnten Gebieten (Explosive Weapons in Populated Areas, EWIPA).
Im Jahr 2023 waren dem Explosive Violence Monitor Project zufolge 34.791 Personen (73 Prozent) der erfassten Opfer von Explosivwaffen Zivilist:innen. Das war der höchste Stand seit Beginn der Erhebungen im Jahr 2010. Die Verwendung von Explosivwaffen bei der Kriegsführung in Städten gefährdet die Zivilbevölkerung in besonderem Maße, sowohl direkt als auch durch die Zerstörung ziviler Infrastruktur. Bei solchen Einsätzen waren 90 Prozent der Getöteten und Verletzten im Jahr 2023 Zivilist:innen, in anderen Gebieten dagegen nur 13 Prozent.
Insgesamt lässt sich den Daten entnehmen, dass Luftangriffe in den letzten Jahren deutlich mehr zivile Opfer zur Folge haben: Seit 2014 ist deren Zahl um mehr als das Elffache gestiegen. Zu den Hauptverursachern ziviler Opfer durch explosive Gewalt im Jahr 2024 zählten neben Israel (55 Prozent) auch Russland (19 Prozent), Myanmar (5 Prozent) und die Kriegsparteien in Sudan (3 Prozent). Die flächendeckende Bombardierung des Gazastreifens durch Israel führt drastisch vor Augen, wie hart EWIPA die Zivilbevölkerung treffen können. Das israelische Militär setzte auch bunkerbrechende Waffen im Gazastreifen und im Stadtgebiet Beiruts ein.
Völkerrechtliche Erwägungen zur Verhältnismäßigkeit von EWIPA sind auch anderswo auf der Strecke geblieben. In den 2010er und 2020er Jahren war die massive Zerstörung von Städten keine Seltenheit – von Aleppo über Mosul bis Mariupol und Khartum. Die Auswirkungen des Einsatzes Künstlicher Intelligenz sind nicht gänzlich abzusehen. Aber schon heute wirft die Nutzung von Zielerfassungsprogrammen wie Lavender und The Gospel, die Israel im Gaza-Krieg eingesetzt hat, ethische und rechtliche Fragen auf, die den Schutz der Zivilbevölkerung betreffen. Ungewiss ist unter anderem, wie das humanitäre Völkerrecht überhaupt sinnvoll auf solche Systeme angewendet werden kann.
Der Einsatz unkonventioneller Sprengvorrichtungen (Improvised Explosive Devices, IEDs) hat schon seit den 2000er Jahren extrem zugenommen, vor allem seit den Kriegen in Afghanistan und Irak. Dort wurden sie zur Hauptwaffe nichtstaatlicher Gruppen wie der Taliban, al-Qaidas und später des IS sowie ihrer Ableger. Mittlerweile hat sich der Einsatz ausgeweitet, etwa in Nigeria durch Abspaltungen von Boko Haram oder in Somalia durch al-Shabaab. Fast immer trifft der Einsatz von IEDs (auch) Zivilist:innen. Diese Sprengvorrichtungen werden nicht zuletzt kalkuliert eingesetzt, um Terror zu verbreiten. Der Global Terrorism Index 2024 zeigt, dass alle zehn am stärksten betroffenen Länder zu denen gehören, die laut UCDP in laufende bewaffnete Konflikte verwickelt sind. Dabei waren die Todeszahlen für Afghanistan und Somalia zuletzt rückläufig, während Israel und Palästina sowie die Sahelregion besonders stark betroffen sind.
Darüber hinaus wird Gewalt zielgerichtet gegen bestimmte Teile der Zivilbevölkerung eingesetzt. Zwar gibt es keine detaillierte jährliche Erfassung aller Massentötungen von Zivilist:innen. Doch nach Angaben des Early Warning Project stieg die Zahl der Massaker im Jahr 2023 auf 21, den höchsten Wert der letzten zwanzig Jahre. Als Massaker werden Vorfälle definiert, bei denen innerhalb eines Landes mehr als 1.000 Zivilist:innen durch gezielte Handlungen einer bewaffneten Gruppe binnen eines Jahres getötet werden, und zwar aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe. Bei den Angriffen kommt es häufig zu hohen Opferzahlen in kurzer Zeit, wie bei dem der RSF in Sudan auf ein Vertriebenenlager in Ardamata im November 2023.
Auch die Zahl der erfassten Fälle sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt (SGBV) in bewaffneten Konflikten ist erheblich gestiegen. Zwischen 2021 und 2024 hat sich die Zahl der Menschen, die in Konflikten oder fragilen Kontexten Unterstützungsleistungen aufgrund SGBV benötigten, mehr als verdoppelt – von 3,5 auf 7,2 Mio. Die Dunkelziffer dürfte enorm sein.
Blockaden der Versorgungswege treffen die Bevölkerung in Kriegsgebieten ebenfalls massiv. Besonders schwerwiegende jüngere Fälle sind die Abriegelung des Gazastreifens durch Israel, das Blockieren von Hilfslieferungen in Sudan und die Blockade Tigrays durch die äthiopische Regierung. Dabei geht es nicht nur um Nahrungsmittel, sondern auch um Wasser, medizinische Güter und Treibstoff. Das gezielte Abschneiden von Versorgung ist als Kriegsverbrechen zu werten, dessen Dokumentation und Aufarbeitung durch eingeschränkten oder verweigerten Zugang für Journalist:innen erschwert wird. Mit diesem Vorgehen verbunden ist oft der Mangel an sicheren Häfen – inklusive der Missachtung ausgewiesener Schutzzonen und sicherer Durchfahrtswege für humanitäre Helfer:innen, die immer häufiger selbst Opfer werden.
Eine eklatante Veränderung gegenüber den 1990er und frühen 2000er Jahren ist der Einsatz von Desinformation und Hate Speech. Seit jeher sind sie Mittel der Kriegsführung. Doch über Plattformen wie X, Facebook, TikTok oder Telegram verstärken sie sich algorithmisch und ermöglichen eine rasante Verbreitung von Feindbildern und Hetze. Überdies werden sie genutzt, um Gewalt zu legitimieren, Kriegsverbrechen zu verschleiern und missliebige Akteure zu diskreditieren. Von Letzterem sind auch VN-Friedensmissionen immer stärker betroffen.
Mehr Schutz: Ansätze und Handlungsoptionen
Der Bedarf an Schutz der Zivilbevölkerung in Gewaltkonflikten wächst, während das internationale »Angebot« schwindet. Schon bevor Donald Trump zum zweiten Mal ins Weiße Haus einzog, gerieten multilaterale Friedensbemühungen zunehmend unter Druck. Politische Blockaden im VN-Sicherheitsrat erschweren es, Instrumente wie Friedenssicherung, Sanktionen oder Mediation zielgerichtet einzusetzen. Minilaterale Formate oder Ad-hoc-Koalitionen sind wichtiger geworden, agieren aber häufig unkoordiniert und teils gegeneinander. Neue multidimensionale VN-Friedensmissionen mit Schutzmandat hingegen kommen seit 2014 nicht mehr zustande. Viele Missionen wurden trotz andauernder Gewalt auch auf Druck der Gastländer heruntergefahren oder ganz abgezogen, so 2023 MINUSMA in Mali und UNITAMS in Sudan.
Ohnehin ist es schwieriger, die »neuen Kriege 2.0« durch Verhandlungen zu befrieden. Zwar gab es auch in den 1990er Jahren besonders viele bewaffnete Konflikte – doch gleichzeitig wurden laut der Datensammlung zu Friedensabkommen und Friedensprozessen PA‑X in dem Jahrzehnt die meisten Friedensabkommen geschlossen, im Durchschnitt 75,4 pro Jahr. Dagegen waren es von 2020 bis 2024 nur 42 pro Jahr, so wenig wie nie seit Beginn der Erhebung.
Die VN sind teils zur Randfigur geworden. Ihre Instrumente, allen voran Friedensmissionen, können aber weiterhin wichtig sein, denn auch Regionalorganisationen sind mitunter wenig handlungsfähig. Der im Zukunftspakt von 2024 verankerte und zurzeit laufende Review von Friedensoperationen durch das VN-Sekretariat bietet die Gelegenheit, Impulse für notwendige Veränderungen zu geben. Dies wird jedoch nicht ausreichen, um auf die aktuelle Schutzkrise wirkungsvoll zu reagieren, zumal die Finanzmittel für nichtmilitärische Unterstützung im Bereich Frieden und Sicherheit drastisch zurückgehen.
Neben den Charakteristika »neuer Kriege« der 1990er und 2000er Jahre zeigen sich heute auch Elemente »alter Kriege«. Schlachten im klassischen Sinne sind zwar schon aufgrund technologischer Neuerungen seltener. Doch in den internationalisierten internen Konflikten und bei Gewaltausbrüchen zwischen Staaten stehen sich wieder Armeen direkt gegenüber – wie zuletzt zwischen Thailand und Kambodscha. Gewaltkonflikte der 1990er und 2000er Jahre wurden früher oft verkürzt als Überbleibsel vormoderner (Un-)Ordnung oder Ausdruck von Staatszerfall dargestellt. Heute scheinen militärische Offensiven und Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht für immer mehr Staaten opportun zu sein, bisweilen auch als Machtdemonstration.
Im Zukunftspakt haben sich die VN-Mitgliedstaaten erneut dazu bekannt, Zivilpersonen in bewaffneten Konflikten zu schützen. Völkerrechtlich sind sie dazu ohnehin verpflichtet. Gemäß dem Pakt soll unter anderem auf den Einsatz von Explosivwaffen in bewohnten Gebieten verzichtet und die Rechenschaftspflicht für schwere Verbrechen und grobe Verstöße gestärkt werden, beispielsweise für sexualisierte Gewalt und Hunger als Kriegswaffe. Deutschland hat als Ko-Moderator des Zukunftspaktes ein besonderes Interesse an dessen Umsetzung, aber gleichermaßen eine Verantwortung dafür.
Nicht zuletzt gilt es für die Bundesregierung, Glaubwürdigkeit beim Eintreten für die »regelbasierte Ordnung« zurückzugewinnen. Dazu gehört auch, an ihrer Unterstützung für den Internationalen Gerichtshof und den Internationalen Strafgerichtshof keinen Zweifel zu lassen. Angesichts allseitiger Kürzungen sollte Deutschland sich zudem bemühen, über VN- und EU-Initiativen hinaus Koalitionen der »Schutzwilligen« zu bilden: mit Ländern, die bereit sind, in konkreten Fällen im Sinne bestehender Verpflichtungen schneller und effektiver im Verbund zu reagieren.
Da gängige Instrumente nur begrenzt wirksam sind, müssen strukturelle Veränderungen in anhaltenden Konflikten genauer analysiert werden. Grundsätzlich bedarf es zur besseren Prävention wie Reaktion präziserer, verlässlicherer Daten, vor allem zu isolierten oder abgeschiedenen Gebieten. Crowdsourcing-Apps und örtliche Netzwerke von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) etwa können zur Frühwarnung beitragen. NGOs benötigen jedoch finanzielle und logistische Unterstützung sowie Ausbildung. Gleiches gilt für zivile Akteure, die gegenseitige Hilfe und Schutz vor Ort organisieren, auch ohne Waffenstillstände, wie etwa in Sudan.
Die Verantwortung für den Schutz der Zivilbevölkerung kann indes nicht allein auf die »lokale« Ebene abgewälzt werden. Vielmehr sollten Unterstützungsleistungen für Staaten, die in Gewaltkonflikte involviert sind, konsequent an Bedingungen zum Schutz der Zivilbevölkerung geknüpft werden, etwa durch ernstzunehmende Do‑No-Harm Audits. Das schließt die Überprüfung geplanter Rüstungsexporte ein, desgleichen den Einsatz und die bessere Um- und Durchsetzung von Sanktionen. Nur ein politisches Umdenken kann die Grundlage dafür schaffen, den Herausforderungen der »neuen Kriege 2.0« wirksamer zu begegnen. Dazu ist eine vertiefte und offene Auseinandersetzung über Ansätze vonnöten, die den Schutz der Zivilbevölkerung verbessern. Sie muss sowohl bei der Motivation beteiligter Akteure als auch bei ihren Mitteln und Methoden ansetzen.
Aljoscha Albrecht war bis August 2024 Forschungsassistent in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten. Dr. Judith Vorrath ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
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DOI: 10.18449/2025A38