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Neue Kriege 2.0

Die massive Gewalt gegen die Zivilbevölkerung in andauernden bewaffneten Konflikten erfordert politisches Umdenken

SWP-Aktuell 2025/A 38, 19.08.2025, 8 Seiten

doi:10.18449/2025A38

Forschungsgebiete

Die existentielle Not der Menschen im Gazastreifen prägt derzeit außen- und sicher­heitspolitische Debatten. Dort ist die Lage der Zivilbevölkerung besonders dramatisch. Doch auch anderswo – von der Ukraine über Sudan und Myanmar bis zur Demokratischen Republik Kongo und Haiti – haben Kriege und gewaltsame Konflikte verheerende Folgen für die Bevölkerung. In dieser Hinsicht zeichnet auch der Gene­ral­sekretär der Vereinten Nationen (VN) in seinem im Mai veröffentlichten jährlichen Bericht ein düsteres Bild. Zugleich greifen die gängigen internationalen Mittel der Konfliktbeilegung immer weniger. Daher ist es dringend geboten, wichtige Veränderungen im Konfliktgeschehen syste­matisch zu erfassen und Ansätze zum Schutz der Zivilbevölkerung auf dieser Grundlage neu zu justieren.

Die massiven Angriffe auf die Zivilbevölkerung in den andauernden Kriegen im Gaza­streifen, in der Ukraine und in Sudan finden nur phasenweise internationale Aufmerksamkeit. Dabei markieren sie eine besorgnis­erregende Entwicklung: Anzahl und Inten­sität von Gewaltkonflikten haben in jünge­rer Zeit deutlich zugenommen. 2023 gab es so viele gewaltsame Konflikte wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Auch die Todesraten insgesamt sind spürbar gestie­gen. Für die Jahre 2021–2024 waren es die höchsten Zahlen seit dem Völkermord in Ruanda 1994. Wenn man diesen außer Acht lässt, handelt es sich um einen Höchst­stand an Todesopfern in Gewaltkonflikten seit Beginn der Datenerhebung 1989.

Nach Ende des Kalten Krieges und der Auflösung der Sowjetunion hatten sich in den 1990er Jahren bewaffnete Konflikte schon einmal merklich gehäuft, wobei die Opferzahlen eben­falls hoch waren. Damals lautete eine zentrale These, Art und Verlauf der Konflikte hätten sich grund­sätz­lich ge­wandelt. Zwar basierte die Theorie von den »neuen Kriegen« vor allem auf qua­litativen Argumenten, und der Begriff blieb um­stritten. Zwei Kernpunkte aber ließen sich empirisch belegen: Erstens wurden Schlach­ten zwischen regulären Streitkräften selte­ner, und zweitens nahm die Gewalt, die sich gegen die Zivilbevölkerung richtete, zu. Tatsächlich sind die Zahlen der Konflikt­toten aus den letzten Jahren weit höher als diejenigen Ende der 1990er Jahre. Ergibt sich daraus aber auch eine neue Dimension der Aus­wirkungen von Gewaltkonflikten auf Zivi­list:innen?

Die Datenlage: Gewalt gegen die Zivilbevölkerung

Wesentlicher Referenzpunkt für die Situa­tion der Zivilbevölkerung in Gewaltkonflikten war und ist der Anteil ziviler Opfer gegen­über militärischen. Doch die genaue Zahl ziviler Opfer zu bestimmen, bleibt schwierig, trotz tenden­ziell ver­besserter Datenlage. Präzise, aktu­elle Zahlen sind oft nicht verfügbar; poli­tische Interessen und Propaganda erschweren objektive Daten­erhebungen.

Dennoch gibt es Anhaltspunkte. Ins­ge­samt erfassten die VN für das Jahr 2023 min­destens 33.443 getötete Zivilist:innen in bewaffneten Konflikten. Das ist ein Anstieg von 72 Prozent binnen eines Jahres, vor allem aufgrund der hohen Todeszahlen im Gaza-Krieg. Zudem hat die Gewalt gegen Kinder in Krisengebieten 2024 mit 41.370 schweren Vorfällen einen unübersehbaren neuen Höchststand erreicht, seit vor 30 Jah­ren die einschlägigen VN-Berichte eingeführt wurden. Wiederum stehen der Gaza­streifen und das Westjordanland mit 8.544 Fällen ganz oben auf der Liste, gefolgt von der Demokratischen Republik Kongo, Soma­lia, Nigeria und Haiti. Beide Berich­te, zur Situa­tion von Zivilist:innen bzw. Kindern, gehen von einer faktisch weit höheren Zahl aus.

Beim Blick auf einen längeren Zeitraum besteht kein Zweifel daran, dass die aggre­gierten Zahlen der Opfer aller laufenden bewaffneten Konflikte seit den 2000er Jahren erheblich gestiegen sind. Laut dem Uppsala Conflict Data Program (UCDP) hat die jährliche Zahl nach 2010 zugenommen, besonders stark ab 2020 durch Kriege mit staatlicher Betei­ligung, zuvorderst in Äthio­pien, Syrien, Sudan und in der Ukraine sowie seit Okto­ber 2023 im Gazastreifen. Dass dennoch 2023 die Zahlen sanken, lag vor allem am Ende des bewaffneten Kon­fliktes in der Region Tigray in Äthiopien sowie am Rückgang der Todeszahlen in der Ukraine. 2024 stagnierten die Zahlen, aller­dings auf weit höherem Niveau als vor 2021, und blieben etwa fünf Mal so hoch wie 2010. Diese Zahlen enthalten indes sowohl zivile wie militärische Opfer.

Dagegen umfasst die Kategorie »einseitige Gewalt« des UCDP ausschließlich Gewalt gegen Zivil­personen. Zwischen 2010 und 2023 hat sich diese Art organisierter Gewalt bei­nahe ver­doppelt. Die Opferzahlen stie­gen zuletzt 2024 deutlich, und zwar auf­grund von An­schlägen des Islamischen Staates (IS) in Afrika sowie weit verbreiteter Morde durch bewaff­nete Gangs in Haiti. Erfasst wird so aller­dings nur jene Gewalt, bei der keinerlei Kom­battant:innen unter den Opfern sind. In der Kategorie »nichtstaatliche Gewalt« nahm die Anzahl der Konflikte seit 2015 ebenfalls beträchtlich zu, während die ag­gre­gierten Opferzahlen konstant blieben. Letzteres schließt aber nicht aus, dass es in einzelnen Kontexten wie Mexiko oder Brasi­lien in jüngster Zeit einen starken Anstieg gegeben hat. Natur­gemäß ist es jedoch in Zu­sammen­hängen, die von krimineller Gewalt geprägt sind, beson­ders schwer zu unterscheiden, welche Opfer Mitglieder bewaffne­ter Grup­pen waren und welche Zivilist:in­nen. Außer­dem machen weiterhin Todes­opfer aus be­waff­neten Konflikten mit staat­licher Betei­ligung den weitaus größten An­teil aus. Der Anstieg dieser Zahlen geht zu­mindest teil­weise auch auf eine bessere Daten­lage gegen­über den 1990er Jahren zurück.

Oft wird daher die Zahl gewaltsam Ver­triebener herangezogen, um die Auswirkun­gen von Gewaltkonflikten auf Zivilist:innen zu erfassen. Ende 2024 erreichte sie mit 123,1 Mio. einen absoluten Höchst­stand. Auch gemessen an der Weltbevölkerung wird ein deutlicher Anstieg sichtbar. Ende 2024 war statis­tisch gesehen eine von 67 Personen welt­weit ge­waltsam vertrieben worden. Das ist nahezu doppelt so viel wie noch vor einem Jahr­zehnt. Bei der Mehrheit handelte es sich um Binnenvertriebene (Inter­nally Displaced Per­sons, IDPs). Im Jahr 2024 gab es 73,5 Mio. Binnen­vertriebene auf­grund von Konflikten und Gewalt. Dies ent­spricht einem An­stieg um 9,7 Prozent gegen­über dem Vorjahr, um rund 65 Pro­zent über fünf und um knapp 94 Pro­zent über zehn Jahre.

Mitunter wird die Aussagekraft dieser Zahlen wegen eines wachsenden Sockels an Vertriebenen in Frage gestellt. Teils kehren Menschen langfristig oder dauerhaft nicht zurück, selbst wenn Kampfhandlungen enden. In jüngerer Zeit ist jedoch eine auf­fällig hohe Zahl neu gewaltsam Vertrie­bener festzustellen. Die in absoluten Zahlen größte Vertreibungskrise der Welt spielt sich in Sudan ab. Seit Kriegsausbruch am 15. April 2023 sind dort bis Mitte 2024 12,8 Mio. Menschen gewaltsam vertrieben worden; im Gazastreifen gilt dies für über 1,9 Mio. Men­schen seit Beginn der israe­li­schen Kriegshandlungen nach dem 7. Okto­ber 2023. Rund 90 Prozent der Be­völkerung des Küstengebietes wurden seither min­destens einmal vertrieben. In der Ukraine wurden seit Beginn der russi­schen Voll­invasion am 24. Februar 2022 etwa 3,7 Mio. Menschen zu IDPs, und 6,9 Mio. Geflüch­tete suchen Schutz im Aus­land. Die Zahlen für Myanmar, Haiti oder die Demokratische Republik Kongo haben sich in den letzten Jahren ebenfalls signifikant erhöht. Kon­stant hohe Vertriebenenzahlen für Afgha­nistan, Jemen oder Äthiopien spiegeln eine nach wie vor fragile Sicherheitslage in diesen Ländern wider.

Auch die von der unabhängigen Organisation Armed Conflict Lo­ca­tion & Event Data (ACLED) erhobenen Daten lassen auf weit verbreitete Unsicherheit und Gewalt schlie­ßen. ACLED ermittelt, wie viele Menschen sich im Radius von fünf Kilometern um Ereignisse organi­sierter Gewalt – definiert als Gefech­te, Ex­plosionen, ferngesteuerte Gewalt und Gewalt gegen Zivilpersonen – befinden. Obwohl eine Rekordzahl an Menschen vor Gewalt flieht, stieg auch die von ACLED geschätzte Zahl von Menschen nahe Ereig­nissen organisierter Gewalt seit Beginn der Messung 2020 kon­tinuierlich an; 2024 erreichte sie einen Höchststand von etwa 745 Mio. Personen. In diesem kurzen Zeitraum haben sich die Ereignisse organisierter Gewalt nahezu verdoppelt.

Vieles deutet darauf hin, dass seit Ende des Kalten Krieges selten so viele Zivi­list:in­nen wie heute von Gewaltkonflikten und ihren Auswirkungen betroffen waren. Um zu beurteilen, ob sich daraus weitere Ver­änderungen des Konfliktgeschehens ablei­ten lassen, gilt es, die Hintergründe des Mangels an Schutz für die Zivilbevölkerung zu beleuchten.

Treiber der Schutzkrise

Der mangelhafte Schutz der Zivilbevölkerung in anhaltenden Gewaltkonflikten muss unverblümt als Schutzkrise bezeichnet werden, so wie es verschiedene VN- und auch EU-Offizielle schon seit Jahren tun. Die Krisensituation kann auf qualitative Veränderungen im Konfliktgeschehen hin­deuten. Um dies nachzuvollziehen, müssen Muster bei beteiligten Akteuren, bei den Mitteln, über die sie verfügen, und bei der Kriegsführung bzw. Gewaltanwendung identifiziert werden, die sich auf die Situa­tion von Zivilist:innen auswirken. Zwar unterscheiden sich diese Aspekte je nach Kontext – doch lassen sich einige grobe Entwicklungslinien über verschiedene Fälle und Regionen hinweg erkennen.

Fragmentierte und internatio­nalisierte Akteurslandschaft

Seit den 1990er und mehr noch seit den 2010er Jahren sind zwei wichtige Entwicklungen im Konfliktgeschehen zu beobachten: die zunehmende Fragmentierung bewaff­neter Akteure und die wachsende externe Beteiligung an innerstaatlichen Konflikten.

Für das letzte Jahr des Untersuchungszeitraums des UCDP (1989–2024) wurden 49 Konfliktakteure registriert, die einseitige Gewalt anwendeten: 14 Regierungen und 35 nichtstaatliche Akteure. Da­mit wurde 2024 dieser Höchststand nach 2022 zum zweiten Mal erreicht. Gezählt werden aus­schließlich jene Akteure, die innerhalb eines Jahres mindestens 25 Zivilist:innen im Zuge ein­seitiger Gewalt töten. Generell geht der Trend seit den 2000er Jahren klar nach oben und bewegt sich seit 2019 kon­stant über 40. Im Jahr 2024 gab es zudem weltweit über 450 be­waffnete Gruppen, die aus humanitärer Sicht Anlass zu Besorgnis geben, die meisten davon in Afrika (44 Pro­zent) und im Nahen und Mittleren Osten (20 Prozent). Demnach leben mindestens 210 Mio. Menschen in Gebieten mit begrenz­ter Staatlichkeit, die vollständig von bewaff­neten Gruppen kontrolliert oder die um­kämpft sind. Das hat neben direkten auch indirekte Auswirkungen, vor allem in Form eines eingeschränkten Zugangs zu huma­nitärer Hilfe wie in den vom IS kon­trol­lierten Gebieten in Syrien und Irak in den 2010er Jahren. Überdies sind nichtstaat­liche bewaffnete Akteure ihren staatlichen Geg­nern häufig militärisch unterlegen und nutzen daher asymmetrische Kriegs­füh­rung, welche die Zivilbevölkerung stark in Mit­leidenschaft zieht.

Die höhere Zahl bewaffneter Gruppen er­zeugt auch mehr Un­wägbarkeiten, etwa hin­sichtlich der Frage, wo Fron­ten verlaufen und wem Gewaltakte zu­geordnet werden kön­nen. In Jemen zum Beispiel ist die Front­linie zwischen den Huthis und Regie­rungstruppen dynamisch und schwer zu bestim­men. Im Syrien-Krieg und den jüngs­ten Kriegen in Libyen war die territoriale Kon­trolle ebenfalls stark fragmentiert. Die Vielzahl von Akteuren in einer Reihe von Gewaltkonflikten erschwert den Schutz der Zivilbevölkerung auch deshalb, weil sie die Kommunikation oder Verhandlungen zwi­schen Kon­fliktparteien bzw. ihren Unterstützern und Dritten, etwa humani­tären Organisationen, verkompliziert.

Neben der Zahl an Gewaltakteuren ist die stark verschwimmende Grenze zwi­schen staatlichen und nichtstaatlichen Beteiligten relevant. Schon das Konzept der »neuen Kriege« ging davon aus, dass eine Kombination von Netzwerken staatlicher und nicht­staatlicher Akteure – darunter private Sicherheitsunternehmen, Warlords und Paramilitärs – die Dominanz regulärer Streitkräfte abgelöst habe.

Diese Grauzone prägt inzwischen auch das internationalisierte Konflikt­geschehen. Seit den frühen 2010er Jahren – etwa mit dem Syrien-Krieg – haben Zahl und Kom­plexität internationalisierter Kon­flikte merk­lich zugenommen. Die UCDP-Daten legen nahe, dass seit spätestens 2013 die Zahl dieser Konflikte stark gestie­gen ist. Ein Kon­flikt gilt als internatio­nali­siert, wenn min­destens eine der Konflikt­parteien militärisch mit Kampf­truppen von einer externen Regierung unterstützt wird. Diese Entwicklung ist für die Situation der Zivilbevölkerung besorgnis­erregend, denn solche Kon­flikte dauern tendenziell länger an und weisen höhere Todesraten auf.

Darüber hinaus intervenieren heute einige Mittel- oder Regionalmächte in Gewalt­konflikten mit einem eher »leichten« mili­tärischen Fußabdruck – sei es durch poli­ti­sche, finanzielle oder militärische Unter­stützung für lokale Verbündete, durch die Bereit­stellung von Söldnertruppen oder die Aktivitäten privater bzw. hybrider Mili­tär­firmen. Solche Aktivitäten, etwa diejenigen des russi­schen »Afrikakorps« (ehemals Gruppe Wagner) in Libyen, Mali, Sudan, der Zentral­afrikanischen Republik (ZAR) und Syrien, dienen teilweise auch dazu, die Betei­ligung ande­rer Staaten zu verschleiern. Damit wird nicht nur die Verantwortlichkeit für die Kriegs­führung verwischt; die Intervention ver­ändert ebenso Finanzierung und Bewaff­nung der Konfliktparteien.

Konfliktökonomien und Bewaffnung

In den 1990er Jahren ging die externe staat­liche Unterstützung für Konfliktparteien in den meisten Fällen deutlich zurück. Vor allem bewaffnete Gruppen verlagerten sich daher auf die Finanzierung durch Entführungen, Plünderungen sowie die Ausbeutung natürlicher Ressourcen wie Diamanten, Holz oder Öl und den Handel damit, teils auch im Tausch gegen Waffen. Ökono­mische Aktivitäten wurden häufig auch schlicht besteuert. Das Abzwei­gen humanitärer Hilfe wurde zu einer wei­teren Ein­nahme­quelle, was der Zivilbevölkerung dop­pelt schadete. In vielen Analysen wurde zunächst der ausbeuterische Aspekt dieser Konfliktökonomien her­vor­gehoben. Spätere Analysen betonten, dass illegale Aktivitäten einigen bewaffneten Grup­pen durchaus politisches und soziales Kapital einbrachten – besonders wenn die Bevöl­kerung davon profitierte. Zugleich wurden wirt­schaftliche Motive für manche Gewalt­akteure zum Selbstzweck und erschwerten so eine Beilegung der Gewaltkonflikte.

Heute ist vor allem fraglich, wie sich die wieder zunehmende Unterstützung durch Drittstaaten auf Finanzierung und Bewaff­nung auswirkt. Eine ideologische Polarisierung im Sinne eines Systemkonflikts wie während des Kalten Krieges ist nicht er­kennbar. Klar wird jedoch, dass geopolitische Interessen mit handfesten wirtschaft­lichen Motiven verknüpft sind. Ihre Aus­handlung ge­schieht oft transaktional, wobei der Schutz der Zivilbevölkerung von untergeordneter Bedeutung ist. Im Ab­schluss­­bericht des For­schungsprojekts Cross-Border Conflict Evidence, Policy and Trends (XCEPT) wird unterstrichen, dass die Inter­dependenz zwischen geoökonomischen und geo­politischen Auseinandersetzungen Gewalt­konflikte heute langwieriger macht. Nicht Stellvertreterkriege um Ein­fluss­sphären, sondern pragmatische und trans­aktionale Bündnispolitik prägten die Ein­griffe zahl­reicher externer Mächte.

Das zeigt sich auch bei Bewaffnung und Ausstattung von Konfliktparteien. Laut dem Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) wuchsen die weltweiten Militärausgaben 2024 auf 2.718 Mrd. US-Dollar – der stärkste Jahresanstieg seit dem Kalten Krieg. Zudem wurden 64 Staaten für den Zeit­raum 2020–2024 als Großwaffenexporteure identifiziert. Konfliktparteien haben heute schlicht mehr Auswahl bei potentiellen Unterstützern und Lieferanten. Zwar waren 2020–2024 die USA nach wie vor der wich­tigste Rüstungsexporteur, gefolgt von Frank­reich, Russland, China und Deutschland; doch einige Staaten wie die Türkei haben an Bedeutung gewonnen.

Auf der Liste der Hauptempfängerstaaten stehen einige (sporadisch) aktive Konfliktparteien. Neben den westlichen Waffen­lieferungen an die Ukraine und Israel tau­chen iranische Lieferungen an Russland und die Huthi-Rebellen in Jemen auf. Auch finden sich unter den Hauptempfängern einige Staaten, die indirekt oder verdeckt in Gewaltkonflikte involviert sind, etwa die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), deren Waffenlieferungen teils über vorgeblich humanitäre Kanäle erfolgen. In Sudan unter­stützen die Emirate auf diese Weise die Rapid Support Forces (RSF). Des­glei­chen trugen in Jemen und Libyen emiratische Waf­fenlieferungen zur Eskalation und Fortset­zung der Konflikte bei. So kamen also auch Waffen aus anderen Ländern, dar­unter Deutschland, in Jemen zum Ein­satz. In der Liste nicht erfasst sind Waffentransfers wie die Lieferungen Irans an seine engs­ten Verbündeten in der sogenannten Achse des Widerstands in Libanon, Irak, Jemen und ehemals in Syrien sowie an Russ­land und die Sudanese Armed Forces (SAF) in Sudan.

Ein Blick auf Verstöße gegen VN-Waffen­embargos in prominenten Fällen wie Libyen, Somalia und der ZAR seit 2015 offenbart darüber hinaus, dass Drittstaaten wiederholt mit mehr oder weniger verdeckten Waffenlieferungen in Konflikte eingegriffen haben, während die Durchsetzungsmaßnahmen der internationalen Gemeinschaft unzurei­chend blieben.

Zugleich hat sich die eingesetzte Technologie verändert. Wurden in den 1990er und 2000er Jahren häufig Waffen aus Län­dern des ehe­maligen Warschauer Paktes in Kon­flikt­gebiete geliefert oder geschmuggelt, spielen heute Kampfdrohnen in vielen be­waffneten Konflikten eine wich­tige Rolle. Große Auf­merksamkeit erregten bewaffnete Drohnen im Krieg in der Ukraine, zuletzt im Juni 2025 beim ukrainischen Angriff »Spiderweb« im russi­schen Hinterland. Russland setzt indessen unter anderem ira­nische Drohnen gegen kritische Infra­struktur und die Zivilbevölkerung in der Ukraine ein. Die äthiopische Regierung ver­wendete im Tigray-Krieg neben irani­schen und chinesi­schen Droh­nen auch türkische Bayraktar-TB2-Drohnen. Im Sahel forderte die Nutzung türkischer Drohnen ebenfalls viele zivile Opfer. In Sudan be­kämpft die SAF die RSF mit iranischen Mohajer-6-Droh­nen. Die RSF wiederum nutzen Quadro­copter, die sie über das russische »Afrika­korps«, aber auch aus den VAE beziehen. Letztere lieferten die Quadro­copter außer­dem nach Äthiopien und Jemen.

Drohnen erweitern die Operabilität be­son­ders nichtstaatlicher Akteure und blei­ben schwer regulierbar. Die Annahme, dass Kampfdrohnen die militärischen Kräfte­verhältnisse deutlich verschieben, lässt sich dagegen zumindest für Konflikte in Afrika nicht generell bestätigen. Eher werden Front­verläufe durch ihre Reichweite unklarer. Es liegt nahe, dass der Einsatz bewaffneter Drohnen – im Vergleich zu dem herkömm­licher Waffensysteme – die Hemm­schwelle zur Gewaltanwendung senkt. In jedem Fall hat die Verwendung von Droh­nen in eini­gen Gewaltkonflikten, etwa in der Ukraine, zur Folge, dass die Zahl ziviler Opfer steigt. Da von der Frontlinie weiter entfernte Gebiete erreicht und mehr Ziele angegriffen werden können, vergrößert sich die Bedro­hung für die Zivilbevölkerung und wird zudem »un­berechenbarer«, was auch nega­tive psycho­logische Effekte hat.

Die Auswirkungen der Entwicklungen, die Konfliktökonomien und Bewaffnung betreffen, lassen sich schwer quantifizieren. Doch es gibt einige Anhaltspunkte dafür, dass sie den Druck auf die Zivilbevölkerung verstärkt haben.

Kriegsführung und Gewaltformen

In aktuellen Gewaltkonflikten überlagern sich verschiedene Formen der Kriegsführung und damit der Gewalt gegen die Zivil­bevölkerung. Dazu gehört unter anderem der Einsatz von Explosivwaffen in bewohnten Gebieten (Explosive Weapons in Populated Areas, EWIPA).

Im Jahr 2023 waren dem Explosive Violence Monitor Project zufolge 34.791 Personen (73 Prozent) der erfassten Opfer von Explo­siv­waffen Zivilist:innen. Das war der höchs­te Stand seit Beginn der Erhebungen im Jahr 2010. Die Verwendung von Explosivwaffen bei der Kriegsführung in Städten gefährdet die Zivilbevölkerung in besonderem Maße, sowohl direkt als auch durch die Zerstörung ziviler Infrastruktur. Bei solchen Einsätzen waren 90 Prozent der Getöteten und Ver­letz­ten im Jahr 2023 Zivilist:innen, in ande­ren Gebieten dagegen nur 13 Pro­zent.

Ins­gesamt lässt sich den Daten ent­neh­men, dass Luftangriffe in den letzten Jahren deut­lich mehr zivile Opfer zur Folge haben: Seit 2014 ist deren Zahl um mehr als das Elf­fache gestiegen. Zu den Hauptverursachern zivi­ler Opfer durch explosive Gewalt im Jahr 2024 zählten neben Israel (55 Pro­zent) auch Russland (19 Prozent), Myanmar (5 Pro­zent) und die Kriegsparteien in Sudan (3 Prozent). Die flächendeckende Bombardie­rung des Gazastreifens durch Israel führt drastisch vor Augen, wie hart EWIPA die Zivil­bevölkerung treffen können. Das israe­li­sche Militär setzte auch bunkerbrechende Waffen im Gazastreifen und im Stadtgebiet Beiruts ein.

Völkerrechtliche Erwägungen zur Verhältnismäßigkeit von EWIPA sind auch anderswo auf der Strecke geblieben. In den 2010er und 2020er Jahren war die massive Zerstörung von Städten keine Seltenheit – von Aleppo über Mosul bis Mariupol und Khartum. Die Auswirkungen des Einsatzes Künstlicher Intelligenz sind nicht gänzlich abzusehen. Aber schon heute wirft die Nut­zung von Zielerfassungsprogrammen wie Lavender und The Gospel, die Israel im Gaza-Krieg eingesetzt hat, ethische und recht­liche Fragen auf, die den Schutz der Zivil­bevölkerung betreffen. Ungewiss ist unter anderem, wie das humanitäre Völkerrecht überhaupt sinnvoll auf solche Systeme angewendet werden kann.

Der Einsatz unkonventioneller Sprengvorrichtungen (Improvised Explosive Devices, IEDs) hat schon seit den 2000er Jah­ren extrem zugenommen, vor allem seit den Kriegen in Afghanistan und Irak. Dort wurden sie zur Hauptwaffe nichtstaatlicher Gruppen wie der Taliban, al-Qaidas und später des IS sowie ihrer Ableger. Mittlerweile hat sich der Einsatz ausgeweitet, etwa in Nigeria durch Abspaltungen von Boko Haram oder in Somalia durch al-Shabaab. Fast immer trifft der Ein­satz von IEDs (auch) Zivilist:innen. Diese Sprengvorrichtungen werden nicht zuletzt kalkuliert eingesetzt, um Terror zu verbrei­ten. Der Global Terrorism Index 2024 zeigt, dass alle zehn am stärks­ten betroffenen Länder zu denen gehören, die laut UCDP in lau­fende bewaffnete Kon­flikte verwickelt sind. Dabei waren die Todeszahlen für Afghanistan und Somalia zuletzt rückläufig, wäh­rend Israel und Palästina sowie die Sahel­region besonders stark betroffen sind.

Darüber hinaus wird Gewalt zielgerichtet gegen bestimmte Teile der Zivilbevölkerung eingesetzt. Zwar gibt es keine detaillierte jährliche Erfassung aller Massentötungen von Zivilist:innen. Doch nach Angaben des Early Warning Project stieg die Zahl der Mas­sa­ker im Jahr 2023 auf 21, den höchsten Wert der letzten zwanzig Jahre. Als Massa­ker werden Vorfälle definiert, bei denen inner­halb eines Landes mehr als 1.000 Zivi­list:in­nen durch gezielte Handlungen einer be­waffneten Gruppe binnen eines Jahres getötet werden, und zwar aufgrund ihrer Zu­gehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe. Bei den Angriffen kommt es häufig zu hohen Opfer­zahlen in kurzer Zeit, wie bei dem der RSF in Sudan auf ein Vertriebenen­lager in Ardamata im Novem­ber 2023.

Auch die Zahl der erfassten Fälle sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt (SGBV) in bewaffneten Konflikten ist erheb­lich gestiegen. Zwischen 2021 und 2024 hat sich die Zahl der Menschen, die in Konflikten oder fragilen Kontexten Unterstützungs­leistungen aufgrund SGBV benötigten, mehr als verdoppelt – von 3,5 auf 7,2 Mio. Die Dunkelziffer dürfte enorm sein.

Blockaden der Versorgungswege treffen die Bevölkerung in Kriegsgebieten ebenfalls massiv. Besonders schwerwiegende jüngere Fälle sind die Abriegelung des Gazastreifens durch Israel, das Blockieren von Hilfslieferungen in Sudan und die Blockade Tigrays durch die äthiopische Regierung. Dabei geht es nicht nur um Nahrungsmittel, son­dern auch um Wasser, medizinische Güter und Treibstoff. Das gezielte Abschneiden von Versorgung ist als Kriegsverbrechen zu werten, dessen Dokumentation und Auf­arbeitung durch eingeschränkten oder ver­weigerten Zugang für Journalist:in­nen erschwert wird. Mit diesem Vorgehen ver­bunden ist oft der Mangel an sicheren Häfen – in­klu­sive der Missachtung aus­ge­wiesener Schutz­zonen und sicherer Durch­fahrtswege für humanitäre Helfer:in­nen, die immer häufiger selbst Opfer werden.

Eine eklatante Veränderung gegenüber den 1990er und frühen 2000er Jahren ist der Einsatz von Desinformation und Hate Speech. Seit jeher sind sie Mittel der Kriegs­führung. Doch über Plattformen wie X, Facebook, TikTok oder Telegram verstärken sie sich algorithmisch und ermöglichen eine rasante Verbreitung von Feindbildern und Hetze. Überdies werden sie genutzt, um Gewalt zu legitimieren, Kriegsverbrechen zu verschleiern und missliebige Akteure zu diskreditieren. Von Letzterem sind auch VN-Friedensmissionen immer stärker betroffen.

Mehr Schutz: Ansätze und Handlungsoptionen

Der Bedarf an Schutz der Zivilbevölkerung in Gewaltkonflikten wächst, während das internationale »Angebot« schwindet. Schon bevor Donald Trump zum zweiten Mal ins Weiße Haus einzog, gerieten multilaterale Friedensbemühungen zunehmend unter Druck. Politische Blockaden im VN-Sicher­heitsrat erschweren es, Instrumente wie Friedenssicherung, Sanktionen oder Media­tion zielgerichtet einzusetzen. Minilaterale Formate oder Ad-hoc-Koalitionen sind wich­tiger geworden, agieren aber häufig un­koor­diniert und teils gegeneinander. Neue multidimensionale VN-Friedensmissionen mit Schutzmandat hingegen kommen seit 2014 nicht mehr zustande. Viele Missionen wurden trotz andauernder Gewalt auch auf Druck der Gastländer herunter­gefahren oder ganz abgezogen, so 2023 MINUSMA in Mali und UNITAMS in Sudan.

Ohnehin ist es schwieriger, die »neuen Kriege 2.0« durch Verhandlungen zu befrie­den. Zwar gab es auch in den 1990er Jahren besonders viele bewaffnete Konflikte – doch gleichzeitig wurden laut der Daten­samm­lung zu Friedensabkommen und Friedensprozessen PA‑X in dem Jahr­zehnt die meis­ten Friedensabkommen ge­schlossen, im Durch­schnitt 75,4 pro Jahr. Dagegen waren es von 2020 bis 2024 nur 42 pro Jahr, so wenig wie nie seit Beginn der Erhebung.

Die VN sind teils zur Randfigur geworden. Ihre Instrumente, allen voran Friedens­missionen, können aber weiterhin wichtig sein, denn auch Regionalorganisationen sind mitunter wenig handlungsfähig. Der im Zukunftspakt von 2024 verankerte und zurzeit laufende Review von Frie­densopera­tionen durch das VN-Sekretariat bietet die Gelegenheit, Impulse für not­wen­dige Ver­änderungen zu geben. Dies wird jedoch nicht ausreichen, um auf die aktuelle Schutz­krise wirkungsvoll zu reagie­ren, zu­mal die Finanzmittel für nichtmilitärische Unter­stützung im Bereich Frieden und Sicherheit drastisch zurückgehen.

Neben den Charakteristika »neuer Kriege« der 1990er und 2000er Jahre zeigen sich heute auch Elemente »alter Kriege«. Schlach­ten im klassischen Sinne sind zwar schon aufgrund technologischer Neuerungen sel­tener. Doch in den internationalisier­ten internen Konflikten und bei Gewaltausbrüchen zwischen Staaten stehen sich wieder Armeen direkt gegenüber – wie zuletzt zwischen Thailand und Kam­bodscha. Gewaltkonflikte der 1990er und 2000er Jahre wurden früher oft verkürzt als Über­bleibsel vormoderner (Un-)Ordnung oder Ausdruck von Staatszerfall dargestellt. Heute scheinen militärische Offensiven und Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht für immer mehr Staaten opportun zu sein, bisweilen auch als Machtdemonstration.

Im Zukunftspakt haben sich die VN-Mitgliedstaaten erneut dazu be­kannt, Zivil­personen in be­waffneten Kon­flik­ten zu schützen. Völker­rechtlich sind sie dazu ohne­hin ver­pflichtet. Gemäß dem Pakt soll unter anderem auf den Einsatz von Explo­sivwaffen in bewohnten Gebieten verzichtet und die Rechenschaftspflicht für schwere Ver­brechen und grobe Verstöße gestärkt werden, beispielsweise für sexua­lisierte Ge­walt und Hunger als Kriegswaffe. Deutsch­land hat als Ko-Moderator des Zukunfts­paktes ein besonderes Interesse an dessen Umsetzung, aber gleichermaßen eine Ver­ant­wortung dafür.

Nicht zuletzt gilt es für die Bundesregierung, Glaubwürdigkeit beim Eintreten für die »regelbasierte Ordnung« zurückzugewinnen. Dazu gehört auch, an ihrer Unter­stützung für den Internationalen Gerichtshof und den Internatio­nalen Strafgerichtshof keinen Zweifel zu lassen. An­ge­sichts all­seitiger Kürzungen sollte Deutschland sich zudem bemühen, über VN- und EU-Initia­tiven hinaus Koalitionen der »Schutzwilligen« zu bilden: mit Län­dern, die bereit sind, in konkreten Fällen im Sinne bestehender Verpflichtungen schneller und effektiver im Verbund zu reagieren.

Da gängige Instrumente nur begrenzt wirksam sind, müssen strukturelle Ver­ände­rungen in anhaltenden Konflikten genauer analy­siert werden. Grundsätzlich bedarf es zur besseren Prävention wie Reak­tion präziserer, verlässlicherer Daten, vor allem zu iso­lierten oder abgeschiedenen Ge­bieten. Crowd­sourcing-Apps und örtliche Netzwerke von Nichtregierungs­organisa­tio­nen (NGOs) etwa können zur Frühwarnung beitragen. NGOs benötigen jedoch finanzielle und logisti­sche Unterstützung sowie Ausbildung. Glei­ches gilt für zivile Akteure, die gegenseitige Hilfe und Schutz vor Ort organisieren, auch ohne Waffenstillstände, wie etwa in Sudan.

Die Verantwortung für den Schutz der Zivilbevölkerung kann indes nicht allein auf die »lokale« Ebene abgewälzt werden. Vielmehr sollten Unterstützungsleistungen für Staaten, die in Gewaltkonflikte invol­viert sind, konsequent an Bedingungen zum Schutz der Zivilbevölkerung geknüpft werden, etwa durch ernstzunehmende Do‑No-Harm Audits. Das schließt die Über­prüfung geplanter Rüstungsexporte ein, desgleichen den Einsatz und die bessere Um- und Durch­setzung von Sanktionen. Nur ein poli­tisches Umdenken kann die Grundlage dafür schaffen, den Herausforde­rungen der »neuen Kriege 2.0« wirksamer zu begegnen. Dazu ist eine vertiefte und offene Ausein­andersetzung über Ansätze vonnöten, die den Schutz der Zivilbevöl­ke­rung verbessern. Sie muss sowohl bei der Motivation beteiligter Akteure als auch bei ihren Mitteln und Methoden ansetzen.

Aljoscha Albrecht war bis August 2024 Forschungsassistent in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten. Dr. Judith Vorrath ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.

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