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Die Weiterentwicklung von Schengen und der europäischen Migrations- und Asylpolitik

Kosten und Nutzen der differenzierten Integration

SWP-Studie 2022/S 03, 07.03.2022, 33 Seiten

doi:10.18449/2022S03

Forschungsgebiete
  • Die EU-Innenpolitik und die Schengen-Zone stecken in einer Struktur­krise: blockierte Reformen in der Migrations- und Asylpolitik, eingeschränkte Personenfreizügigkeit, erodierendes gegenseitiges Vertrauen. Wie sich der russische Angriffskrieg auf die Ukraine auf alle diese Fragen auswirkt, ist noch offen.

  • Flexible oder differenzierte Formen der europäischen Zusammenarbeit werden oft als Weg gesehen, Blockaden zu überwinden. Allgemeine Konzepte, etwa für ein Kerneuropa, führen aber praktisch nicht weiter. Je nach Thema müssen die Vor- und Nachteile der differenzierten Inte­gration sorgfältig abgewogen werden.

  • Vergangenes Jahr ist die Europäische Staatsanwaltschaft als Verstärkte Zusam­menarbeit eingerichtet worden. Mit diesem in den EU-Verträgen vorge­sehenen Verfahren konnte eine neue Integrations­perspektive er­öffnet werden.

  • Insgesamt ist der Spielraum für weitere Vorreitergruppen in der EU-Innen­politik gering und die Kosten steigen. In der EU-Asylpolitik ist der Problem­druck indes so groß, dass derartige Ansätze als Notlösung trotzdem sinnvoll und unausweichlich sein können.

  • »Koalitionen der Willigen« zur europäischen Verteilung von Schutz­suchenden waren bisher wenig erfolgreich. Auch die Reform des Schengen-Regimes wird die teilnehmenden Staaten kaum dazu bewegen, mehr Asyl­bewerber aufzunehmen. Neue Maßnahmen zum Umgang mit ukrainischen Flüchtlingen im Rahmen der Massenzustrom-Richtlinie sind ein wichtiger und richtiger Schritt in Richtung Solidarität, lösen aber noch nicht die Strukturprobleme der EU-Asylpolitik.

  • Um rechtlich verbindliche Verfahren zur Verteilung von Asylsuchenden zu schaffen, sollte auf mittlere Sicht eine Verstärkte Zusammenarbeit geprüft werden, insbesondere in Ver­bindung mit Asylgrenzverfahren und einem Krisen­mechanismus für große Flüchtlingsbewegungen.

Problemstellung und Empfehlungen

Die öffentliche Ordnung der Europäischen Union (EU) und der Schengen-Zone steht unter anhaltend hohem Druck. Zentrale Reformen für ein krisenresistentes System im Umgang mit irregulärer Migration und Asyl­suchenden bleiben auf absehbare Zeit blockiert. Einige Schengen-Mitglie­der erhalten Binnengrenzkontrollen seit Jahren aufrecht, während der Corona-Pandemie wurden diese zeitweise massiv und unkoordiniert aus­geweitet. Gleichzeitig erodiert das gegenseitige Ver­trauen in die Rechtsstaatlichkeit aller Mitgliedstaaten.

Abgestufte Formen der Zusammenarbeit, die nicht alle EU-Staaten miteinbeziehen, werden im europä­ischen Integrationsprozess regelmäßig als ein Mittel zur Krisenbewältigung in Betracht gezogen. 2017 stellte die Europäische Kommission im »Weißbuch zur Zukunft Europas« vor dem Hintergrund des Brexits und der Migrationskrise entsprechende Szena­rien vor, um die Legitimität und Effektivität der Union zu stär­ken. Diese umfassten unter anderem einen selek­tiven Rückbau der Integration und eine vertiefte Zusammen­arbeit einiger Mitgliedstaaten. In politischen Debatten werden vergleichbare Ideen eines »Europas à la carte«, eines »Kerneuropas« seit Jahrzehnten gehandelt.

Angesichts der derzeitigen Auseinandersetzung über den Vorrang des EU-Rechts erscheint es nicht ziel­führend, dass einzelne Mitgliedstaaten ihre Kompe­ten­zen gegenüber der EU-Ebene neu abgrenzen. Eben­so wenig zeichnet sich eine Avantgarde von Ländern ab, die sich für das Ziel eines europäischen Bundesstaates einsetzen. Weder besteht ein politischer Kon­sens noch ein Prozess, um die abgestufte bzw. diffe­ren­zierte Integration umfassend auszubauen, auch die Konferenz zur Zukunft Europas könnte das nicht leisten. In einzelnen Politikfeldern ist allerdings durch­aus denkbar, dass Initiativen der differenzierten Inte­gration die europäische Handlungs­fähigkeit verbessern können. Zum Beispiel trug eine ver­tiefte Koope­ra­tion der Eurostaaten in der Finanzkrise dazu bei, den Bankensektor und öffentliche Haus­halte zu stabi­lisieren. In der EU-Außen- und ‑Sicher­heitspolitik sind Koalitionen von Mitgliedstaaten ein reguläres Instrument, um Rüstungsprojekte voran­zutreiben.

In der EU-Innenpolitik wurden besonders umfangreiche Erfahrungen mit der differenzierten Inte­gra­tion gemacht. Das Schengen-Regime und der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (RFSR) konnten in den 1990er und 2000er Jahren nur mit Hilfe minilateraler Kooperations­for­mate sowie einzel­staatlicher Ausnahmeregelungen (Opt-outs) aufgebaut werden. Insofern liegt der Schluss nahe, auf neue Vor­reitergruppen von gleich­gesinnten Staaten oder andere Formen der flexiblen Zusammenarbeit zu setzen, um aktuelle Herausforderungen der Schengen-Zone und der europäischen Migrationspolitik zu bewältigen.

Die Vor- und Nachteile solcher Ansätze müssen jedoch genau bestimmt werden. Der RFSR ist mitt­lerweile ein reguläres EU-Politikfeld mit weitreichenden Integrationszielen. Nationale Verfassungstradi­tionen und Verantwortlichkeiten für die öffentliche Ordnung sind zu respektieren, aber gleichermaßen europäische grundrechtliche Standards zu gewährleisten. Der Brexit hat gezeigt, dass nationale Opt-outs kein Zukunftsmodell darstellen und Souveränitätskonflikte verschärfen können. Alternativ gibt es das Instrument einer vertragsrechtlich anerkannten Ver­stärkten Zusammenarbeit unter mindestens neun EU‑Mitgliedstaaten, um neue Kooperationsfelder zu erschließen. Das derzeit bedeutendste Beispiel hierfür ist die Europäische Staatsanwaltschaft (EUStA), die indes mit beträchtlichen Kosten verbunden ist. Polen und Ungarn, die mit Blick auf die Rechtsstaatlichkeit besonders stark in der Kritik stehen, sind ihr bislang nicht beigetreten. Das gegenseitige Vertrauen zwi­schen den EU-Mitgliedstaaten zu erhalten ist heute wichtiger denn je.

Gleichzeitig gilt es, drängende Probleme der Schengen-Zone zu lösen. Deutsch­land hat großes Inter­esse, die Personenfreizügigkeit aufrechtzuerhalten, und damit an einer solidarischen wie fairen Migra­tions­politik für die gesamte EU. Weitere Anstrengungen zum gemeinsamen Grenzschutz, wie sie in den aktuellen Reformvorschlägen zum Schengen-Kodex zu finden sind, reichen nicht aus. Seit 2016 war es aus politischen und humanitären Gründen wiederholt notwendig, in »Koalitionen der Willigen« zu agieren, um EU-Außengrenzstaaten von Schutz­bedürftigen zu entlasten. Allerdings haben die bis­­he­rigen freiwilligen Anstrengungen zur sogenannten Lastenteilung keine effektiven Ergebnisse erzielt. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine führt zu neuen großen Fluchtbewegungen. Eine Aktivierung der »Massenzustrom-Richtlinie« für Ukrainer ist ein Schritt zur strukturierten, rechtlich unterfütterten Solidarität. Die strukturelle, langfristige Frage der Lastenteilung wird dadurch aber noch nicht geklärt.

Wenn das »Paket für Migration und Asyl« der EU in dieser Frage blockiert bleibt, besteht noch die Option einer rechtlich verbindlichen Zusammenarbeit einiger Mitgliedstaaten. Eine Novellierung der Dublin-Ver­ordnung oder neue Rechtsakte zum Außengrenzschutz können nicht abgestuft werden, ohne zugleich die Mitgliedschaft im Schengen-Raum in Frage zu stellen. Jedoch gibt es Flexibilität bei anderen Bestand­teilen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS): Konkret könnten reformierte Verordnungen zu Asylverfahren und für Notfallmechanismen als Verstärkte Zusammenarbeit vereinbart werden. Dabei würden jeweils gesonderte Regelungen zur Lasten­teilung gelten – Schutzsuchende würden also gezielt im Rahmen von Asylgrenzverfahren und in besonderen Krisensituationen unter mindestens neun EU-Staaten verteilt. Eine solche EU-rechtlich verankerte Verstärkte Zusammenarbeit sollte mehr Zuverlässigkeit schaffen. Zwar würden grundsätzliche politische Differenzen zur Migrationspolitik damit nicht aufge­löst – im Vergleich zur Fortführung des Status quo wäre sie dennoch das kleinere Übel: Die mit irregu­lä­rer Migration und Asylzuwanderung am meisten befassten Mitgliedstaaten könnten ihre Handlungs­fähigkeit und Krisenresistenz ausbauen.

Differenzierte Integration in der EU-Innenpolitik – bisherige Erfahrungen

Die differenzierte Integration ist ein historisch weit­verbreitetes, aber umstrittenes Element der EU-Poli­tik.1 Auf absehbare Zeit besteht kein strategischer Kon­sens, die Union auf die Weise weiterzuentwickeln, dass ihre Mitgliedstaaten unterschiedlich stark betei­ligt werden. Derweil sind die bisherige EU-Innen­poli­tik – bzw. der RFSR – und die Schengen-Zone in besonders hohem Maße durch die differenzierte Integration geprägt worden.2 Seit dem Vertrag von Lissabon (in Kraft seit 1. Dezember 2009) und dem Brexit haben sich abgestufte Formen der innenpolitischen Zusam­menarbeit zunehmend verschoben, näm­lich von einem Motor der Integration hin zu einer Altlast. Den­noch verbleiben Perspektiven, euro­päische Kom­petenzen zu erweitern, und zwar über vertragsrechtlich definierte Verfahren der Verstärkten Zusammenarbeit. Die Europäische Staatsanwaltschaft wurde so auf den Weg gebracht, trotz abweichender Vor­stellungen einzelner EU-Mitglieder.

Die vorliegende Studie analysiert im ersten Teil, wie sich Kosten und Nutzen der differenzierten Inte­gration in der europäischen Innenpolitik verändert haben. Im zweiten Teil wird diese Analyse auf die EU-Asylpolitik übertragen.

Begriffsklärung und wissenschaftliche Einordnung

»Differenzierte Integration« ist ein wissenschaftlicher Oberbegriff für sehr unterschiedliche europäische Kooperationsprozesse.3 So kann beispielsweise eine »Avantgarde« aus wenigen Mitgliedstaaten vorangehen oder eine EU »der Clubs« oder »à la carte« verfolgt werden; das heißt, einzelne Mitgliedstaaten wählen aus, inwieweit sie am Integrationsprozess teilnehmen. Ein Schlagwort mit besonderer Konnotation in Deutschland ist die Idee eines »Kerneuropas« rund um die ursprünglichen Gründungsstaaten der Europäischen Gemeinschaften.4 Bereits seit den 1970er Jahren wird intensiv debattiert über die möglichen Vor- und Nachteile dieser und weiterer strategischer Modelle für die Entwicklung der europäischen Integration,5 was hier nicht wiedergegeben werden soll.

Die neuere Forschung legt den Akzent primär auf die Erfassung und Kategorisierung der bereits vor­han­denen differenzierten Integration.6 Um die Begrifflichkeiten zu ordnen, wird nach zeitlicher, räum­licher und inhaltlicher Dimension der Integration bzw. Nichtintegration unterschieden. So bezieht sich etwa eine »EU der verschiedenen Geschwindigkeiten« auf die zeitliche, die »variable Geometrie« auf die räumliche und eine »EU à la carte« auf die inhaltliche Ebene. In der zeitlichen Dimension kann unterschieden werden zwischen zeitweiser und dauerhafter – bzw. »konstitutioneller« – Differenzierung zwischen den Mitgliedstaaten. Zeitweise Differenzierungen sind meist Übergangsprozesse im Rahmen oder im Nach­gang von EU-Erweiterungen. Räumlich kann die in­terne Differenzierung unter EU-Mitgliedstaaten durch externe Differenzierung ergänzt werden, wenn Dritt­staaten einbezogen werden.7 Die thematische Dimen­sion schließlich umfasst Abweichungen vom EU-Rechtsrahmen, die als Opt-outs oder als »Verstärkte Zusammenarbeit« offiziell anerkannt sind,8 oder Formate der zwischenstaatlichen Kooperation jenseits der EU-Verträge.

Die differenzierte Integration kann mit allen wich­tigen Integrationstheorien in Einklang gebracht wer­den.9 Sie entsteht unter anderem durch wirtschaft­liche Ungleichheit der Mitgliedstaaten, durch Verhand­lungs- und Entscheidungsregeln (insbesondere Ein­stimmigkeit), durch Eigenlogik und Pfadabhängigkeit der jeweiligen Politikfelder oder als Antwort auf eine wachsende gesellschaftspolitische Polarisierung. Trotz zahlreicher Spannungen haben differenzierte For­mate den EU-Integrationsprozess in der Summe ein­deutig befördert bzw. haben sich als ein zentrales Instrument erwiesen, mit der Diversität der Mitgliedstaaten umzugehen.10 Zeitweise Abweichungen vom EU-Recht, die letztlich zu einem gemeinsamen und höheren Integrationsniveau geführt haben, überwiegen deutlich die Anzahl dauerhafter Unterschiede und nationaler Ausnahmeregelungen. Abgesehen von Großbritannien bis zum Brexit und Dänemark lässt sich nicht klar zwischen mehr oder weniger beteiligten Ländern unterscheiden – etwa im Sinne einer »Zweiklassen«-Mitgliedschaft.

Veränderte Kontextbedingungen und Konfliktlinien

Dieser Befund zum historischen Beitrag der differenzierten Integration kann nicht ohne Vorbehalte weiter­geschrieben werden. Die letzten EU-Beitritte von Rumänien und Bulgarien (2007) sowie Kroatien (2013) ergaben im Vergleich erheblich längere und schwerfälligere Prozesse der Rechtsangleichung.11 Die klas­sische Debatte um Erweiterung und Vertiefung ist zurückgedrängt worden von der Sorge um den Erhalt der bestehenden Union. Verhandlungen zwischen der britischen Regierung unter David Cameron und der EU über eine stärker selektive Beteiligung am Inte­grationsprozess befeuerten euroskeptische Kräfte, anstatt ein Referendum zur Mitgliedschaft abzuwenden.12 Unter anderem deshalb legte die EU in den Verhandlungen über die Post-Brexit-Beziehungen strengere Maßstäbe an und priorisierte die Einheitlichkeit des Binnenmarkts und des EU-Rechts.13 Weitere Drittstaaten bekommen diesen Umschwung zu spüren, derzeit vorrangig die Schweiz.14

Spätestens seit Ende der 2000er Jahre ist die EU in Krisen mehrfach an ihre Kompetenzgrenzen gesto­ßen, was sowohl die Nachfrage nach differenzierter Integration als auch die damit einhergehenden Kos­ten erhöht.15 Da weitere Vertragsänderungen bis auf weiteres als nicht gangbare Lösung erscheinen, haben die Mitgliedstaaten unter hohem Problemdruck wiederholt Ad-hoc-Kooperationsrahmen jenseits der EU-Verträge gewählt, um neuen Herausforderungen zu begegnen.16 Das wichtigste Beispiel hierfür bietet der Europäische Stabilitätsmechanismus, geschaffen als zwischenstaatlicher Vertrag zur Stabilisierung der Eurozone. Derartige Krisenarrangements können aber nur schwer oder gar nicht in gemeinsame EU-Regeln überführt werden. Somit steigt die Gefahr, dass die europäischen Institutionen noch tiefer ge­spalten werden oder erodieren17 bzw. dass dauerhafte Differenzierungen in besonders wichtigen Politik­bereichen zunehmen.

Einerseits hat die differenzierte Integration die EU vorangebracht. Andererseits wird befürchtet, sie könnte Gleichheit und Legitimität beeinträchtigen.

Viele EU-Mitgliedstaaten sehen die differenzierte Integration kritisch, wenngleich sie sie nicht prinzi­piell ablehnen.18 Für die Mehrheit stellt die Abstufung des EU-Rechts unter den Mitgliedstaaten einen suboptimalen Ansatz dar. Die EU-Staaten sind sich nicht grundsätzlich darüber einig, dass die differenzierte Integration die EU konstruktiv voranbringt, selbst wenn sie in Krisenzeiten notwendig sein kann. Es wird befürchtet, die Gleichheit der Mitgliedstaaten und die Legitimität von politischen Entscheidungen könnten darunter leiden.19

Auch große Mitgliedstaaten schätzen die differenzierte Integration als ambivalent ein. Deutschland hat in der Vergangenheit mehrfach erfolgreich darauf hingewirkt, dass Initiativen von Vorreitergruppen in EU-Recht übernommen wurden, insbesondere im Bereich der europäischen Innenpolitik.20 Insofern sehen deutsche Entscheidungsträger das Potenzial der differenzierten Integration als Motor für die gesamte EU. Grundsätzlich priorisiert Deutschland jedoch den Zusammenhalt der Union gegenüber ambitionierten neuen Integrationsvorhaben. Zudem tendierten deut­sche Entscheidungsträger in den letzten drei Jahr­zehnten deutlich stärker dazu, nationale Kapazi­täten und Kompetenzen zu erhalten, als es rhetorisch den Anschein haben mag.21

Frankreich steht traditionell dafür, intergouverne­mentale Formate der europäischen Zusammenarbeit zu intensivieren, auch wenn offiziell eine starke EU eingefordert wird.22 Frankreich ist also geneigt, das Ziel eines »souveränen« Europas zum Preis einer klei­neren Zahl beteiligter Mitgliedstaaten zu verfol­gen. Die deutsch-französische Zusammenarbeit bleibt entscheidend – obschon nicht hinreichend –, um die EU-Integration weiter voranzubringen. Trotz be­deutender Erfolge wie der Einigung auf die Corona-Hilfen23 ist in den vergangenen Jahren keine gemein­same Linie Deutschlands und Frankreichs zu erken­nen, was inklusive oder exklusive Formen der Inte­gration und die Weiterentwicklung gemeinschaftlicher Kom­petenzen anbetrifft.

Quer zu allgemeinen nationalen Präferenzen stehen themenspezifische Positionen.24 Nordeuropäische Staaten, einschließlich Deutschland, weisen bislang eine weitere differenzierte Vertiefung der wirtschaftlichen und finanziellen Integration zurück, wie sie in den 2010er Jahren viele südeuropäische Länder im Rahmen der Eurozone erhofften. Zentral- und osteuropäische Länder halten nationale Flexibilität oder Ausnahmen im Bereich der Migrations- und Asylpolitik für besonders wünschenswert, stehen aber einer Abstufung gegenüber Gründungsstaaten der Union kritisch gegenüber und schätzen den gemeinsamen Binnenmarkt und die Personenfreizügigkeit.

Die erhöhte Polarisierung der europäischen Inte­gration seit Ende der 2000er Jahre schränkt die ge­meinschaftliche Handlungsfähigkeit tendenziell ein. Abgestufte Formen der Integration sind dennoch eine kostenintensive Option, mit der erhöhten Diversität der Mitgliedstaaten umzugehen. Vielfach zeigt sich erst in Krisen, ob ein akuter Problemdruck politische Vorbehalte einer möglichen »Zweiklassen«-Mitglied­schaft überwiegt. Deshalb ist nicht davon auszugehen, dass die Konferenz zur Zukunft Europas eine neue übergreifende Strategie zur differenzierten Integration definieren kann,25 die an das Weißbuch der EU-Kom­mission von 2017 zur Zukunft Europas26 anknüpfen würde.

Die differenzierte Integration in der EU‑Innenpolitik

Die Zuständigkeiten der EU in der Innenpolitik27 er­strecken sich primär über die Sicherung der Außengrenzen und Schengen, den Umgang mit irregulärer Migration und Asyl sowie die polizeiliche und straf­rechtliche Zusammenarbeit.28 Im Querschnitt dieser Themenfelder finden sich zahlreiche Differenzie­rungen in der Zusammenarbeit zwischen den Mit­glied­staaten und in der Anwendung des EU-Rechts.29 Vier sich teilweise überlappende Treiber erzeugen eine hohe Komplexität:

  1. die abgestufte Schengen-Mitgliedschaft,

  2. Sonderrechte (Opt-outs/Opt-ins) im RFSR,

  3. regionale oder multilaterale Netzwerke für die innere Sicherheit,

  4. EU-vertragsrechtlich geregelte Formen der Ver­stärkten Zusammenarbeit.

Diese Bereiche werden im Folgenden umrissen, um anschließend aus einer politikfeldspezifischen Analyse abzuleiten, inwiefern aktuelle sicherheits- und mig­rationspolitische Herausforderungen der EU mit Hilfe der differenzierten Integration angegangen werden können.

Die abgestufte Schengen-Mitgliedschaft

Das Schengen-Regime ist aus historischen und poli­tischen Gründen nicht vollständig in ein einheitliches und exklusives EU-Arrangement übertragen worden. Der Schengen-Acquis30 wurde zur Jahrtausendwende in EU-Recht umgewandelt. Diese Vergemeinschaftung konnte aber nicht unmittelbar auf alle EU-Mitglied­staaten angewendet oder auf diese begrenzt werden. Formell gilt der Schengen-Acquis deshalb als Ver­stärkte Zusammenarbeit unter 26 Mitgliedstaaten.31 Vier Schengen-Staaten (Norwegen, Island, Schweiz, Liechtenstein) sind keine EU-Mitglieder. Norwegen und Island sind zusammen mit Schweden, Finnland und Dänemark 2001 der Schengen-Zone beigetreten, um die seit den 1950er Jahren bestehende Nordische Passunion zu erhalten. Die Schweiz und Liechtenstein folgten 2008 und 2011, um eine räumliche Isolation zu vermeiden.

Demgegenüber warten Rumänien, Bulgarien und Kroatien seit ihrem EU-Beitritt 2007 bzw. 2013 auf ihre Vollmitgliedschaft in Schengen. Das Europäische Parlament32 und die EU-Kommission33 vertreten seit Jahren den Standpunkt, dass diese Staaten die not­wen­digen Standards erfüllen, um Außengrenzkont­rollen durchführen und Schengen-Visa erteilen zu können. Zypern stellt aufgrund der ungelösten Frage der Teilung und seiner Grenze zu Nordzypern einen Sonderfall dar, kann aber aus technischer Sicht eben­falls Schengen-Vollmitglied werden.

Der Rat der EU-Innenminister hat am 9. Dezember 2021 entschieden, dass im Falle Kroatiens die forma­len Bedingungen für eine Vollmitgliedschaft erfüllt sind.34 Ein weiterer einstimmiger Beschluss, die Grenz­kontrollen zu Kroation aufzuheben und die volle Personenfreizügigkeit mit dem Land herzustellen, steht jedoch noch aus, ebenso wie entsprechende Empfehlungen des Rates zu Rumänien und Bulgarien. Man kann davon ausgehen, dass dieser Schwebezustand für die aktuelle EU-Legislaturperiode aufrechterhalten bleibt.

Großbritannien – vor dem Brexit –, Irland sowie Dänemark erhielten dagegen historische Sonder­rechte bzw. Opt-outs, um ein Veto dieser Staaten bei der Übernahme des Schengen-Acquis in EU-Recht zu ver­hindern. Großbritannien und Irland sicherten sich so das Recht zur fallspezifisch selektiven Teilnahme, wobei jeweils alle Schengen-Vollmitglieder einstimmig zustimmen müssen.35 Beiderseitig erwünscht war eine vertiefte polizeiliche Zusammenarbeit, ohne dass Großbritannien und Irland die Verpflichtung zur Auf­hebung von Grenzkontrollen anerkannten. Dieses Arrangement wirkt bis heute nach: Irland zieht die Personenfreizügigkeit mit Großbritannien und Nord­irland im Rahmen der »Common Travel Area« (CTA) einer Vollmitgliedschaft in der Schengen-Zone vor.

Die dänische Bevölkerung lehnte die Gründung der EU mit dem Vertrag von Maastricht mit Blick auf die nationale Souveränität und Identität zunächst ab.36 Daher wurden für Dänemark grundsätzliche Opt-outs von der EU-Verteidigungspolitik, der Wirtschafts- und Währungsunion und der EU-Staatsbürgerschaft fest­gelegt. Für den Bereich Justiz und Inneres wurde ver­einbart, dass das Land lediglich im Rahmen einer inter­gouvernementalen Zusammenarbeit und ein­stim­mi­gen Beschlussfassung beteiligt sein könnte. Diese Sonderregelung führte dazu, dass Dänemark auf Grund­lage eines eigenständigen intergouvernementalen Abkommens mit der EU Mitglied der Schengen-Zone wurde,37 vergleichbar mit Schengen-Dritt­staa­ten. Dänemark akzeptierte in diesem Zusam­men­hang, alle Änderungen des Schengen-Acquis inner­halb einer Frist von sechs Monaten auf unabhängiger Basis nach­zuvollziehen, damit es Vollmitglied werden konnte.38 Dieses Arrangement ist bisher eingehalten worden. Bei zukünftigen Reformen des Schengen-Rechts kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass Dänemark eine abweichende Position einnimmt.

Sonderrechte (Opt-outs / Opt-ins) im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

Zusätzlich zur komplexen Architektur des Schengen-Raums wurde mit dem Vertrag von Amsterdam (Inkraft­treten 1999) die Teilnahme am damals ge­schaf­fenen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts für Dänemark, Irland und Großbritannien abgestuft. Großbritannien erhielt das Recht, an der europäischen Migrations- und Asylpolitik, die damals vergemeinschaftet wurde, fallspezifisch teilzunehmen – also Opt-out- oder Opt-in-Möglichkeiten für jeweils einzelne EU-Rechtsakte. Mit dem Lissabonner Vertrag (Inkrafttreten 2009) wurde diese Regelung auf alle EU-Rechtsakte zur strafrechtlichen und polizei­lichen Zusammenarbeit ausgeweitet. Großbritannien wollte die Einführung von Mehrheitsentscheidungen und die ab 2014 vorgesehene reguläre Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) für diese The­men nicht mittragen.39 Deshalb entschied sich die Regierung unter David Cameron für einen »block opt-out« aus allen Rechtsbeständen des RFSR zu diesem Stichtag und wählte danach 65 Instrumente für ein »opt-in« aus,40 die vor allem den Interessen der Sicher­heitsbehörden entsprachen.41 Dieser Prozess war das erste und bislang einzige Beispiel des Modells einer »EU à la carte« – rückblickend betrachtet, konnte es nicht dazu beitragen, die grundlegenden Souveränitätskonflikte aufzulösen.

Auch Irland verfolgte seit dem Vertrag von Amster­dam eine vergleichbar selektive, aber nicht deckungsgleiche Politik wie Großbritannien zu Opt-ins im RFSR.42 In Irland galten andere politische Grund­annahmen zu Nutzen und Legitimität der EU-Mit­glied­schaft. Das Land akzeptierte etwa, dass die Grund­rechtecharta mit dem Lissabonner Vertrag zum ver­bindlichen Rechtsbestand der EU wurde.43 Mit wach­sen­dem Abstand zum Brexit wird es für Irland nicht nur in Fragen des Binnenmarkts und der Warenkont­rol­len gegenüber Nord­irland immer schwieriger, die Distanz zu Großbritannien zu überbrücken.44 Beide Staaten wollen eine enge grenzüberschreitende poli­zeiliche Kooperation aufrechterhalten. Jenseits loka­ler Formate können sie sich aber nicht mehr auf eine konvergente Position in der EU stützen. Im März 2021 hat sich Irland zum Beispiel dem Schengener Infor­mationssystem (SIS) angeschlossen, während Groß­britannien Ende 2020 nach rund fünfjähriger Teil­nahme ausgeschieden ist.45

Mit der Vertiefung der EU-Integration musste Dänemark seine Mitgliedschaft bei Europol zurückstufen.

In dem Maße, wie die Migrations- und Asylpolitik sowie die polizeiliche und strafrechtliche Zusammenarbeit zu geteilten EU-Kompetenzen mit qualifizierten Mehrheitsentscheiden wurden, konnte Dänemark aufgrund seiner Regelungen zum Vertrag von Maas­tricht (Inkrafttreten 1993) immer weniger am Integra­ti­onsprozess teilhaben. Ende 2015 strengte die däni­sche Regierung ein Referendum an, um ähnlich wie Groß­britannien eine flexiblere Opt-in-Regelung zur Betei­ligung am RFSR mit der EU aushandeln zu können. Da die Bevölkerung das Referendum ablehnte, musste Dänemark sich aus der Vollmitgliedschaft von Euro­pol zurückziehen, denn das Mandat der Agentur wurde zum damaligen Zeitpunkt per Mehrheitsentscheid novelliert. 2017 wurde ein gesondertes Ab­kom­men zwischen Dänemark und Europol verabschiedet,46 dem zufolge Dänemark über Verbindungs­beamte einen indirekten Zugriff auf Europol-Daten hat. Dieses Modell unterscheidet sich kaum von der Mitarbeit von Drittstaaten bei Europol, einschließlich derjenigen Großbritanniens nach dem Brexit.47 Bei der Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) ist Dänemark jedoch nach wie vor Vollmitglied. Dies ist möglich durch ein rechtliches Konstrukt: Dänemarks Frontex-Beteiligung ist Bestandteil des inter­gouvernemental übernommenen Schengen-Acquis.48

Ebenso hat Dänemark im Rahmen seiner Schengen-Mitgliedschaft mit der EU Regeln zur Feststellung der Zuständigkeit für Asylverfahren vereinbart, in Ana­logie zur Dublin-Verordnung.49 Parallel orientiert es sich an der EU-Rückführungsrichtlinie, die einen klaren Schengen-Bezug aufweist. Die drei weiteren zentralen Richtlinien des bisherigen Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS), nämlich die Asyl­verfahrens-, die Qualifikations- und die Aufnahmerichtlinie, kommen in Dänemark nicht zur Anwendung. Diese nationalen Besonderheiten müssen berücksichtigt werden, wenn die dänische Migrations- und Asylpolitik als Beispiel herangezogen wird, das eine mögliche härtere Linie für andere EU-Staaten aufzeigt.50 Für Deutschland erscheint es kritisch, dass Dänemark seinen größeren nationalen Entscheidungs­spielraum anscheinend dafür nutzt, Asylsuchende oder bereits anerkannte Asylbewerber abzuschrecken oder in benachbarte Länder zu treiben.51

Flexible Formate für die Sicherheits­zusammenarbeit

Die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten bleibt primär die Verantwortung der Mitgliedstaaten und damit verbundene Formen der Zusammenarbeit jenseits der EU-Verträge sind explizit erlaubt.52 Dies gilt vor allem für die Arbeit der Nachrichtendienste, die nicht unter die Kompetenz der EU fällt.53 Zwei bedeutende europäische Kooperationsforen, die eine gewisse Schnittmenge mit der EU-Sicherheitspolitik aufweisen,54 aber davon formell getrennt sind, sind die »Counter Terrorism Group« (CTG) von Inlandsnachrichtendiensten und die »Police Working Group on Terrorism« (PWGT) aus dem Staatsschutz.

Zahlreiche weitere Netzwerke der polizeilichen und strafrechtlichen Zusammenarbeit existieren neben der EU und schließen dabei Drittstaaten ein.55 Bei­spiele sind die »Groupe Pompidou« des Europarats zur Dro­gen­politik oder das »Camden Asset Recovery Inter-Agency Network« (CARIN) zur Beschlagnahmung von Finanzmitteln. Schließlich findet ein großer Teil der grenzüberschreitenden Polizei­arbeit in regionalen Bezügen statt, die durch bilaterale Abkommen und gemeinsame Zentren unterstützt werden, sogenannte »Police and Customs Cooperation Centres« (PCCCs).56 So unterhält Deutschland mit allen seinen Nachbarstaaten entsprechende Verträge und Einrichtungen, um die operative Zusammenarbeit von Polizei und Zollbehörden zu erleichtern. Besonders intensiv ist die Kooperation unter den Benelux-Staaten, was his­to­risch ein wichtiger Baustein für den Aufbau des Schen­gen-Regimes war.57

2005 konnte mit dem Vertrag von Prüm eine ver­gleichbare Vertiefung der europäischen Sicherheits­zusammenarbeit über Vorreitergruppen angestoßen werden.58 Inhaltlich zielt der Vertrag, den ursprünglich sieben EU-Staaten unterzeichnet haben,59 haupt­sächlich darauf, den horizontalen grenzüberschreitenden Datenaustausch um DNA- und Fingerabdruck­spuren sowie Kfz-Halterdaten zu erwei­tern. Zudem soll er dabei helfen, irreguläre Migration einzudämmen, und grenzüberschreitende polizei­liche Ope­ra­tio­nen unterstützen. 2008 konnten die meisten Be­stim­mungen des Vertrags von Prüm in das gemein­same EU-Recht übernommen werden.60 Seit 2019 findet auf EU-Arbeitsebene eine Diskussion statt, in­wiefern der bestehende Prüm-Mechanismus ver­bes­sert und inhalt­lich ausgedehnt werden kann, ins­beson­dere mit Blick auf den Austausch von Bild­daten und den Einsatz von Gesichtserkennungs­systemen.61 Darüber hinaus steht die Frage im Raum, inwiefern Prüm analog zu Schengen auch Nicht-EU-Staaten einbeziehen kann.

Drittstaaten der Schengen-Zone62 und Staaten des westlichen Balkans63 haben bereits Vereinbarungen zum Datenaustausch gemäß des Prümer Vertrags ab­geschlossen. Allgemein besteht Offenheit für weitere Partner, da mit dem Prümer Vertrag der Datenaustausch nur nach einem »hit / no hit«-Verfahren ermög­licht wird. Dabei wird zunächst anonymisiert abge­fragt, ob ein bestimmter Datensatz in den Beständen eines anderen Mitgliedstaates vorhanden ist. Falls ja, stellt der ersuchende Staat im Anschluss eine formale Anfrage zur Übermittlung des gewünschten Datensatzes.64 Es wird also keine EU-eigene zentrale Daten­bank aufgebaut. Somit konnte auch Großbritannien nach dem Brexit seinen existierenden Zugang zum Prümer Datenaustausch aufrechterhalten,65 ebenso wie zum europäischen Austausch von Fluggastdaten (Passenger Name Records, PNRs) und von Strafregistern (ECRIS), die als vergleichbare horizontale Netz­werke angelegt sind.66 Auf diese Weise wird die »variable Geometrie« der europäischen Innenpolitik weiter angereichert.

Die EU und die Schengen-Länder verfolgen einen Balanceakt zwischen der Konsolidierung des Daten­austausches für die innere Sicherheit und der Einbindung von Drittstaaten.

Ungeachtet dessen unternimmt die EU große An­strengungen, alle bestehenden polizeilichen und grenzpolizeilichen Datenbanken zur Sicherung der Schengen-Zone in einer einheitlichen, zentralisierten Architektur zusammenzuführen.67 Zugleich gilt es, die wachsenden datenschutzrechtlichen Bestimmungen der EU bzw. des EuGH zu beachten. Die Feststellung der EU-Kommission, Datenübertragungen an Großbritannien nach dem Brexit entsprächen bislang EU-Standards, steht auf unsicheren Beinen.68 Alles in allem verfolgen die EU und die Mitglieder der Schengen-Zone einen schwierigen Balanceakt zwi­schen einer rechtlichen wie infrastrukturellen Kon­solidierung des Datenaustausches für die innere Sicherheit und der flexiblen Einbindung von Dritt­staaten, insbesondere Großbritanniens.

Vertragsrechtlich geregelte Verstärkte Zusammenarbeit

Die EU hat gesonderte Verfahrensregeln, um Gesetz­gebungsinitiativen zu ermög­lichen, die nicht unter allen Mitgliedstaaten vereinbart werden können. Die Bestimmungen zur sogenannten Verstärkten Zusam­menarbeit sind mit dem Vertrag von Lissabon knapp zusammengefasst wie folgt:69

Wenn ersichtlich wird, dass ein anerkanntes Inte­grationsziel nach Ausschöpfung aller regulären EU-Entscheidungsverfahren nicht erreicht wird, können mindestens neun Mitgliedstaaten einen eigenständigen Gesetzesvorschlag bei der Euro­päischen Kommission beantragen, der allerdings nicht den Bereich der aus­schließlichen Zuständig­keiten der Union betreffen darf. Der Rat und das Europäische Parlament müssen den Schritt zur Einrichtung einer Verstärkten Zusam­menarbeit genehmigen und es muss anderen Mit­glied­staaten offen­stehen, sich dieser (später) anzuschließen.70

Von besonderer Bedeutung für die EU-Innenpolitik ist, dass die Europäische Staatsanwaltschaft (EUStA) in einem fast identischen Verfahren ins Leben gerufen wurde. Diese Institution, die im Juni 2021 ihre Arbeit aufgenommen hat, soll im Verbund mit nationalen Staatsanwaltschaften dafür sorgen, dass Vergehen gegen die finanziellen Interessen der Union strafrecht­lich effektiv verfolgt werden. Mittel- bis langfristig könnten die Aufgaben der Europäischen Staatsanwalt­schaft auf andere Deliktsbereiche ausgeweitet wer­den,71 etwa die Geldfälschung, die Umweltkriminalität oder auch die Terrorismusbekämpfung. Aufgrund der mit einer solchen Ausdehnung zusammenhängen­den Perspektive eines genuin europäischen Straf­rechts72 wurde im Vertrag von Amsterdam dahin­gehend eine ge­son­derte Option für die Einrichtung der Staatsanwaltschaft geschaffen, dass Letztere nicht alle Mitgliedstaaten ein­beziehen muss.73 Die recht­liche Grundlage unter­scheidet sich marginal von den eben skizzierten all­gemeinen prozeduralen Bestimmungen gemäß Artikel 20 EU-Vertrag (EUV), nämlich dadurch, dass sich zusätzlich der Europäische Rat mit dem Fall befassen muss.

Die Verhandlungen zur EUStA waren ein Beleg für die Notwendigkeit, die EU-Inte­gration über den Weg der Differenzierung voranzubringen. So nutzten 14 natio­nale Parlamente gegenüber dem ersten Kommissionsvorschlag von 2013 die sogenannte »Gelbe Karte« einer Subsidiaritätsrüge,74 was dazu geführt hat, dass die Rolle delegierter Staatsanwälte ausgebaut und stärker an die Strafrechtssysteme der Mitgliedstaaten rückgebunden wurde. Erst 2017 gelang eine Einigung unter 22 EU-Mitgliedstaaten, wobei Malta und die Niederlande nach Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens der EUStA beitraten.75 Dänemark und Irland nehmen aufgrund ihrer oben skizzierten Sonderrolle im RFSR nicht teil. Schweden vertritt die Position, die Qualität seines Justizsystems sei so hoch, dass keine weitere Kontrolle durch eine Europäische Staats­anwaltschaft nötig sei.76

Polen und Ungarn lehnen die Teilnahme hingegen grundsätzlich ab, was ihre abweichende Position zur Rolle des EU-Rechts gegenüber der nationalen Sou­ve­ränität unterstreicht. Noch schwerer wiegt der Ver­dacht, Mitglieder der Regierung – oder deren Fami­lienangehörige – seien direkt an Vergehen gegen die finanziellen Interessen der Union beteiligt, die von der Europäischen Staatsanwaltschaft untersucht werden könnten.77 Prinzipiell ist es möglich, dass die EUStA auf Anfrage im Rahmen allgemeiner Amts­hilfe auch mit nationalen Strafverfolgungsbehörden in Polen und Ungarn bei der Korruptionsbekämpfung zusammenarbeitet. Entsprechende Kooperations­vereinbarungen auf Verwaltungsebene zwischen der EUStA und nicht teilnehmenden Staaten sind vorge­sehen.78 Eine direkte Ermittlungsbefugnis bzw. Kom­petenz zum Anstoß nationaler Verfahren besteht in diesen Fällen aber nicht.

Es ist verfrüht, eindeutige Schlussfolgerungen zu ziehen, welche konkreten finanziellen Nachteile der EU durch die Nichtbeteiligung Polens und Ungarns an der EUStA erwachsen können. Auf politischer Ebene wurde jedoch die Debatte um die Rechtsstaatlichkeit und die entsprechende Konditionalisierung der »NextGenerationEU«-Finanzhilfen verschärft.79 Da eine nie dagewesene Fülle an kreditfinanzierten EU-Mitteln an die Mitgliedstaaten vergeben wird, sollte ein Missbrauch dieser Gelder möglichst lücken­los und konsequent verfolgt werden. Die Weigerung der amtierenden Regierungen in Ungarn und Polen, der EUStA beizutreten, kann als weiteres Argument dafür dienen, EU-Zuwendungen an diese Länder stark einzuschränken.

Veränderte Kosten der differenzierten Integration

Diese Übersicht zur bisherigen Entwicklung der differenzierten Integration im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts erlaubt drei Schlussfolgerungen: Erstens ist angesichts der abgestuften Mit­gliedschaft in der Schengen-Zone und weiterer natio­naler Opt-outs im RFSR ein hohes Maß an Komplexität zu bewältigen. Eine mögliche Konsequenz aus dem Brexit ist, auf eine stärkere Einheitlichkeit des EU-Rechts hinzuwirken.80 Der Selbstausschluss Dänemarks von Europol und der Weiterentwicklung der EU-Innenpolitik zeigt, dass einmal geschlossene Opt-out-Regelungen nur schwer zu überwinden sind und zum Teil ungewollte oder unkontrollierbare Folgeeffekte haben können. Insgesamt kann man argumentieren, die Integration des RFSR und der Schengen-Zone sei durch ad hoc getroffene Arrangements begleitet worden, die in der Summe als nur noch schwer zu überblickende Differenzierung gelten können.81 Im weiteren Verlauf dieser Studie wird ausgeführt, inwiefern die europäische Asyl- und Mig­rationspolitik durch diese Pfadabhängigkeiten kon­ditioniert wird. Werden weitere Initiativen zur diffe­renzierten Integration eingebracht, ist mindestens diese bereits bestehende Komplexität einzupreisen.

Zweitens wird die operative Zusammenarbeit für die innere Sicherheit in zahlreichen Formaten jen­seits des EU-Rechts weitergeführt, was sowohl mit den begrenzten Kompetenzen der Union als auch mit anderen räumlichen oder professionellen Faktoren begründet werden kann. Aus der Vielfalt der grenz­überschreitenden Netzwerke lässt sich aber nicht ableiten, dass Vorreitergruppen von Staaten in ver­lässlicher Weise die EU-Integration vorantreiben können, wie es zuletzt in den 2010er Jahren mit dem Vertrag von Prüm gelang. Derzeit ist für den (grenz‑)poli­zeilichen Informationsaustausch vorrangig zu klären, wie sich die Kooperation mit Drittstaaten jenseits der Schengen-Zone weiterentwickeln kann – im Sinne eines »Europas der variablen Geometrie«. Dies betrifft insbesondere die Teilnahme Großbritanniens an horizontalen Informationsnetzwerken unter Einhaltung des EU-Datenschutzes, während die EU ihrerseits eine starke Zentralisierung anderer Daten­banken vornimmt. Das Potenzial für weitere flexible Formate der Sicherheitszusammenarbeit innerhalb Schengens erscheint eher begrenzt.

Grundsätzliche Werte und Prinzipien der EU-Rechtsgemeinschaft eignen sich nicht, um eine weitergehende Differenzierung zu rechtfertigen.

Drittens ist die Europäische Staatsanwaltschaft ein entscheidender Präzedenz­fall für eine vertraglich formalisierte Verstärkte Zusammenarbeit. Einerseits könnte sie bewirken, dass eine EU-weite Dynamik im Kampf gegen Korruption einzelstaatliche Vorbehalte überwiegt. Polen und Ungarn wollen den Zugang zu EU-Fördermitteln nicht verlieren und könnten somit mittelfristig zu einer Zusammenarbeit bewogen werden. Wenn die EUStA zusätzlich eine Harmonisierung des europäischen Strafrechts jenseits der Korrup­tionsbekämpfung befördern sollte, würde erneut be­stätigt, dass zeitweise Differenzierungen ein entschei­dender Faktor sein können, um fundamentale Inte­grationsschritte zu eröffnen. Andererseits kann die selektive Teilnahme an der EUStA die harte Kontroverse über Rechtsstaatlichkeit weiter verschärfen. Der Grund­satz des gegenseitigen Vertrauens, der die strafrechtliche und polizeiliche Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten untermauert, ist bereits substanziell gefährdet.82 Mit Polen und Ungarn besteht ein tief­gehender Konflikt über die Reichweite und den Vor­rang des EU-Rechts gegenüber der nationalen Iden­tität und Verfassungsordnung.83 Weitere Schritte der differenzierten Integration können also unter diesen Umständen eine Gefahr für den Zusammenhalt der EU darstellen, wie es im Fall Großbritanniens zu be­ob­achten war. Grundsätzliche Werte und Prinzipien der EU-Rechts­gemeinschaft bieten sich jedenfalls nicht dafür an, eine weitergehende Differenzierung zwi­schen den Mitgliedstaaten zu rechtfertigen.84

Differenzierte Integration zur Überwindung von Struktur­problemen der Asyl- und Migrationspolitik der EU

Die unterschiedliche rechtliche Beteiligung einiger Mitgliedstaaten an der EU-Politik zu den Themen irreguläre Migration und Asyl leitet sich aus den oben beschriebenen historischen Treibern der differenzierten Integration ab. So trat die erste Dublin-Konven­tion zur Festlegung der nationalen Zuständigkeit bei Asylgesuchen (1990) zum Schengener Durchführungs­übereinkommen hinzu, um die Aufhebung der Binnen­grenzkontrollen zu unterfüttern.85 Spätestens seit Anfang der 2000er Jahre erheben die EU-Verträge den Anspruch einer stärkeren Vergemeinschaftung und Harmonisierung dieses Politikfelds.86 Offizielles Inte­grationsziel ist der Aufbau eines Gemeinsamen Euro­päischen Asylsystems (GEAS), was zum jetzigen Stand mindestens fünf Rechtsakte umfasst.87 Die darin ent­haltenen Richtlinien erlauben großen Spielraum in der nationalen Umsetzung, stellen im Mittel aller EU-Staaten aber eine Erhöhung der grundrechtlichen Standards für Asylsuchende und irreguläre Migrantin­nen und Migranten dar.88 Mit dem Vertrag von Lissa­bon und der Grundrechtecharta, die das Recht auf Asyl explizit benennt,89 unterstreicht die EU die Not­wendigkeit eines umfassenden Flüchtlingsschutzes.

Seit 2013 ist dieses Integrationsziel in der Praxis allerdings verfehlt worden. Die Unterschiede in der nationalen Umsetzung des gemeinsamen EU-Asyl­rechts sind nach wie vor sehr groß oder nehmen sogar noch zu.90 In der Rechtsprechung nationaler Gerichte und des EuGH zu Dublin-Überstellungen zeigt sich regelmäßig, dass Mitgliedstaaten ihre Ko­ope­rationspflichten missachten oder Schutzbedürftige nicht menschenwürdig behandeln. In vielen Berei­chen der europäischen Grenzsicherung und der Durch­führung von Asylverfahren besteht die Gefahr einer Normalisierung von Rechtsbrüchen. Zusätzlich steht die EU-Kommission unter dem Verdacht, aus politi­schen Gründen in den letzten Jahren bei Vertrags­verletzungsverfahren gegenüber Mitgliedstaaten deut­lich zögerlicher geworden zu sein.91 Dies gilt insbe­sondere für Fragen des Schengen-Regimes bzw. die Aufrechterhaltung der vollen Personenfreizügigkeit sowie für die europäische Asylpolitik, vor allem was den Zugang zu Asylverfahren in EU-Außengrenz­staaten angeht.92

Deshalb sollten aus Sicht vieler Kritiker der Vorrang und die konsequente Durchsetzung des euro­päischen Rechts betont werden.93 Ein differenzierter Ausbau oder die Formalisierung nationaler Vorbehalte gegenüber dem GEAS würden vermutlich in die ent­gegengesetzte Richtung wirken. Das seit Herbst 2020 verhandelte neue Paket für Migration und Asyl94 sieht unter anderem deshalb vor, bestehende EU-Richt­linien des GEAS in einheitliche Verordnungen weiter­zuentwickeln. Darüber hinaus soll die neue Asylagentur der Europäischen Union (EUAA; zuvor Europäisches Unterstützungsbüro für Asylfragen, EASO) dazu beitragen, die Umsetzung des EU-Asylrechts in allen Mitgliedstaaten zu überwachen und zu verbessern.95

Das EU-Asylrecht stärker zu vergemeinschaften und seine Durchsetzung zu verbessern entspricht zent­ralen Interessen Deutschlands. Da irreguläre Zu­wan­derinnen, Zuwanderer und Schutzsuchende in einigen europäischen Erstankunftsstaaten nicht genügend Unterstützung erhalten, um ihr Existenzminimum zu sichern, oder kaum Aussicht auf faire Verfahren haben, nimmt die sekundäre Migration zu: Diese Menschen ziehen weiter in ver­schiedene nord­westeuropäische Zielstaaten.96

Freiwillige Koalitionen zur Lastenteilung

Jenseits der Zielsetzung, das Gemeinsame Europäische Asylsystem stärker zu vergemeinschaften und durchzusetzen, besteht ein hoher Problemdruck, Lösungen für die Verteilung von irregulären Migran­tinnen und Migranten oder Asylsuchenden innerhalb der EU zu finden. Die Krisenentscheide des Ministerrats von 2015 zur verbindlichen Verteilung von 160.000 Personen aus Griechenland und Italien er­zeug­ten Grund­satzkonflikte zwischen den Mitgliedstaaten und wurden nur zum Teil umgesetzt.97 2018 schei­terte der erste Anlauf für eine umfassende Re­form der Dublin-Verordnung und des GEAS an der Frage einer gesetz­lichen Lastenteilung. Trotz insgesamt deutlich gesun­ke­ner Zuwanderungszahlen hielten scharfe politische Krisen und Auseinandersetzungen mit ost- wie süd­europäischen Staaten an.98

Vor diesem Hintergrund wurden freiwillige Verfah­ren zur Verteilung von Schutzsuchenden unter eini­gen EU-Staaten weiterentwickelt. Die erste bedeutende Ini­tiative war der sogenannte Malta-Mechanismus von September 2019, um eine geregelte Verteilung und Übernahme von Personen zu ermöglichen, die in den Seenotrettungszonen Maltas und Italiens aufgegriffen wurden. Aus Italien wurden jedoch zum Stand Sep­tem­ber 2021 seit 2018 nur rund 2.100 Menschen um­gesiedelt, während insgesamt über 80.000 in diesem Zeitraum angelandet sind.99

Etwas effektiver, aber im Licht der akuten Notlage klar unzureichend war der durch die EU-Kommission koordinierte Prozess, besonders schutzbedürftige Per­sonen und Minderjährige aus Erstankunftslagern auf den griechischen Inseln in andere EU-Staaten über­zusiedeln. Für rund 5.000 Personen, die schätzungsweise für eine solche Verteilung in Frage kamen, boten elf EU-Mitglieder zunächst etwa 2.000 Plätze an.100 Diese wurden in den folgenden Monaten nur zu einem Viertel konkretisiert.101 Im Nachgang der Zer­störung des Lagers Moria Mitte September 2020 er­klärte Deutschland – auf Ebene des Bundes und der Länder – seine Bereitschaft, rund 4.200 weitere Per­sonen aufzunehmen.102 Weitere sieben EU-Staaten sagten rund 3.000 zusätzliche Plätze für unterschiedliche Kategorien von Schutzbedürftigen aus Griechenland zu, zum Beispiel für Minderjäh­rige oder bereits anerkannte Asylbewerber. Abgesehen von Deutschland, das bis Herbst 2021 rund 2.800 Personen über­nahm, wurden die Zusagen anderer EU-Staaten, soweit bekannt, nur in deutlich geringerem Umfang reali­siert.103 Laut EU-Kommission wurden zwischen März 2020 und Sep­tem­ber 2021 effektiv 4.307 Personen aus Griechenland übergesiedelt,104 wohingegen gemäß den Zusagen aller Mitgliedstaaten schätzungsweise über 7.000 Per­sonen hätten übernommen werden sollen.

Selbst wenn die Corona-Pandemie Umsiedlungen zu­sätzlich erschwert hat, zeigt sich hier ein weiteres Mal, dass ad hoc organisierte und rein freiwillige Pro­zesse zur Lastenteilung nicht ausreichen oder schlicht zu langsam verlaufen. Stattdessen ging Griechenland verstärkt dazu über, Asyl zu gewähren und auf die Wei­terreise schutzsuchender Personen in nordwesteuropäische Staaten zu setzen – was wiederum die Unzufriedenheit dieser Zielstaaten verschärfte.105

Das ungleiche Engagement der Mitgliedstaaten in Asylfragen steht im Gegensatz zum Anspruch der EU-Verträge.

Der Rückzug der Nato aus Afghanistan und der Um­gang mit sogenannten Ortskräften haben die Debatte um eine geregelte Lastenteilung erweitert. Im August 2021 entschieden die betroffenen EU-Staaten weit­gehend eigenständig und jeder für sich, Afghaninnen und Afghanen aufzunehmen, die für die jewei­ligen nationalen Streit­kräfte, für Nichtregierungs­organisa­tionen oder andere Behörden der Mitgliedstaaten ge­arbeitet hatten.106 Die EU fokussierte sich auf huma­nitäre Hilfe sowie auf die Unterstützung von Staaten in der Nachbarschaft Afghanistans bzw. dar­auf, eine mögliche Migrationsbewegung regional ein­zudäm­men. Das EU-Forum zu Neuansiedlungen, in dem sich die Mitgliedstaaten über freiwillige Kon­tingente zur Über­nahme von Schutzbedürftigen ab­stim­men, wurde nicht reaktiviert, noch wurden Zu­sagen gemacht, die über die ohnehin unzurei­chenden von 2019 hinaus­gegangen wären.107 Erst gegen Ende 2021, als es bereits markant schwieriger geworden war, gefähr­dete Personen aus Afghanistan zu evaku­ieren, ver­ständigten sich die EU-Innenminister auf eine neue gemeinschaftliche Zielvorstellung von zusätzlich 40.000 Neuansiedlungen. Die neue deut­sche Bundes­regierung übernahm dabei mit 25.000 Plätzen aber­mals einen deutlich überproportionalen Anteil.108 Dies illustriert das ungleiche Engagement der Mit­gliedstaaten, das im Gegensatz steht zum Anspruch der EU-Verträge, eine eigenverantwortliche wie gleichermaßen solidarische Politik zur irregulären Migration und zu Asylfragen zu verfolgen.109

Die französische Ratspräsidentschaft sondiert auf Anstoß der neuen Bundesregierung, ob bzw. inwie­fern eine neue freiwillige Koalition von Mitgliedstaaten es ermöglichen kann, aus Seenot gerettete Per­sonen auf verschiedene EU-Staaten zu verteilen. Nach ersten Verlautbarungen könnten sich bis zu zwölf Länder beteiligen.110 Der Bezug auf Artikel 17 der Dublin-Verordnung, der ein freiwilliges Selbsteintritts­recht der Mitgliedstaaten für ein individuelles Asyl­gesuch vorsieht, könnte nach weiteren, bislang un­bestätigten Quellen eine Verteilung im Rahmen des bestehenden GEAS legitimieren. Ebenso sollen Optio­nen zur flexiblen Solidarität vorhanden sein, etwa zu finanziellen Ausgleichszahlungen.111

Deutschland nutzte das Selbsteintrittsrecht der Dublin-Verordnung bereits in sehr umfassendem Maße, als es sich 2015 zur Aufnahme syrischer Schutz­suchender aus Ungarn und Österreich bereit erklärte. Angesichts der damaligen innen- wie europa­poli­ti­schen Verwerfungen ist bisher nicht ersichtlich, war­um ein neuer Anlauf für eine rein freiwillige Lasten­teilung in Zukunft zu substanziell anderen Ergebnissen führen sollte. Vorschläge zur flexiblen Soli­darität je nach Präferenzen der beteiligten Mitgliedstaaten sind ebenso wenig neu und haben bisher keinen Durch­bruch gebracht. Österreich hat seinen anhalten­den Widerstand gegen einen neuen Verteilungs­mecha­nismus bereits bekundet, mutmaßlich im Namen von insgesamt 16 EU-Mitgliedstaaten.112

Zum Zeitpunkt der Fertigstellung der vorliegenden Studie ist nicht abzusehen, inwiefern die Invasion russischer Streitkräfte in die Ukraine und die daraus resultierende Vertreibung ukrainischer Bürgerinnen und Bürger alle bisherigen politischen Konfliktlinien in den Hintergrund treten lassen könnte. Die EU hat humanitäre Hilfe mobilisiert und einzelne Mitglied­staaten unternehmen sehr große Anstrengungen, um Geflüchtete auf­zunehmen, namentlich Polen, die Slowakei, Ungarn und Rumänien, die eine direkte Grenze mit der Ukraine teilen. Am 3. März 2022 ist erst­malig die sogenannte Massen­zustrom-Richtlinie akti­viert worden, die im Nachgang des Jugoslawien-Krieges ver­abschiedet, aber seit­her nie angewendet wurde.113 Nach diesem Ver­fah­ren ist eine Verteilung von huma­nitär Schutz­bedürftigen möglich, hängt aber an freien politischen Entscheidungen der EU-Staaten sowie an der Zustim­mung der betroffenen Personen. Es gilt also eine »doppelte Frei­willigkeit« hinsichtlich der Verteilung, was derzeit kaum Aussagen darüber zulässt, wie sich dieser Mechanismus künftig aus­wirkt.

Neugründung oder strukturelle Reform des Schengen-Raums

Bislang stellt sich nach wie vor die Frage, ob eine bessere Beteiligung aller Mitgliedstaaten an einer Ver­teilung von Schutzsuchenden durch die An­drohung von Sanktio­nen erreicht werden könnte. Bei öffent­lichen Gütern müssen in der Regel Anreize zum »Trittbrettfahren« kontrolliert werden.114 Hürden bei einer kooperativen Problemlösung treten insbe­son­dere dann auf, wenn die Erzeugung öffentlicher Güter einen hohen Res­sourceneinsatz erfordert, der Nutzen aber nicht auf diejenigen Staaten begrenzt werden kann, die einen entsprechenden Beitrag leis­ten. So können viele Länder das Aufkommen irregu­lärer Migration durch einseitige Politiken der Ab­schre­ckung oder Unter­bietung rechtlicher oder sozia­ler Standards weit­gehend abwälzen, solange sich einige andere Staaten nach wie vor dazu verpflichtet sehen, das Recht auf Asyl aufrechtzuerhalten, und sich für eine politische Steuerung der internationalen Mig­ra­tion einsetzen.

Konkret sehen sich Deutschland und einige andere EU-Mitglieder aus geographischen, wirtschaftlichen oder historischen Gründen dazu gehalten, als primäre Erstankunfts- oder Zielländer der irregulären Migra­tion auf innerstaatlicher wie internationaler Ebene große Summen auszugeben. Demgegenüber können andere Mitgliedstaaten eine Politik verfolgen, Wande­rungsbewegungen umzulenken und nur sehr selek­tive Beiträge zur gemeinschaftlichen Steuerung zu er­bringen. Ohne einen korrigierenden Mechanismus bleibt dieses Ungleichgewicht voraussichtlich bestehen.

Frankreich hat in der Vergangenheit vorgeschlagen, die Schengen-Mitgliedschaft daran zu koppeln, dass sich die Staaten an der Verteilung von Schutz­suchenden beteiligen. In der politischen Rhetorik Macrons wurde dies als eine »Neugründung« Schen­gens präsentiert,115 einschließlich weiterer Maß­nah­men, um die Sicherheitszusammenarbeit zu ver­tie­fen. Gleich­zeitig war damit eine implizite Drohung an zent­ral- und osteuropäische Länder verbunden, die der Personenfreizügigkeit einen besonders hohen Wert beimessen, aber bislang eine Umverteilung bzw. Über­nahme von Asylbewerbern prinzipiell ablehnen.

Dieser erste Ansatz Frankreichs fand keine breite Unterstützung; dennoch wird die Rhetorik einer Neu­gründung im Rahmen der aktuellen EU-Ratspräsi­dent­schaft beibehalten.116 Bereits als Gründungsmitglied der Schengen-Zone stand Frankreich der Aufhebung von Grenzkontrollen am kritischsten gegenüber, wohingegen Deutschland ein ausgeprägtes Interesse an der damit einhergehenden Vertiefung des Binnen­markts hatte.117 Die Beziehungen an der italienisch-französischen Grenze sind seit langem angespannt.118 Die Pandemie hat zusätzlich vor Augen geführt, wel­che Verwerfungen in transnationalen Lieferketten und Arbeitsmärkten entstehen können, wenn das existierende Regelwerk zeitweise außer Kraft gesetzt wird. Insofern erschien es trotz des hohen Problemdrucks in Fragen der irregulären Migration unverhält­nismäßig und nicht kalkulierbar, einen grundsätz­lichen Bruch im Schengen-Regime zu fordern.

Alternativ zu einer Neugründung Schengens könnte eine zeitweise Sanktionierung einzelner Länder als Korrekturmechanismus und Anreiz für eine gemeinsame Lastenteilung dienen. Gemäß der aktuellen Schengen-Verord­nung119 können schwerwiegende und anhaltende Defizite im Grenzschutz eines Mit­gliedstaates, die eine »systemische Gefahr« darstellen, eine Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen für bis zu zwei Jahre begründen. Je nachdem, wie diese Binnengrenzkontrollen ausgestaltet und um­ge­setzt werden, könnten sie bis zur faktischen Sus­pen­dierung der Personenfreizügigkeit reichen. Im Jahr 2016 hat der Rat der Innenminister im Zuge der Flüchtlingskrise ein solches Vorgehen erstmals ermög­licht. Anlass war die damals kaum kontrollierte Ein­reise syrischer Schutzsuchender nach Griechenland.120 Seither führen fünf EU-Mitgliedstaaten und Norwegen Binnengrenzkontrollen an einigen Ab­schnitten ihrer Binnengrenzen durch, wohl um die Sekundärmigration besser zu kontrollieren sowie Terrorismus zu bekämpfen.121

Dieser vorhandene Mechanismus könnte womöglich angepasst werden, um Binnengrenzkontrollen gegenüber jenen Mitgliedstaaten auszuweiten, die sich einer Übernahme von Schutzsuchenden verwei­gern. Im Prinzip könnte man auf diese Weise ver­suchen, Widerstände gegenüber einer verbindlichen Lastenteilung aufzubrechen. Für diese neue Zielsetzung müssten die gegenseitigen Evaluierungsprozesse zum allgemeinen Funktionieren der Schengen-Zone122 auf die Solidaritätsfrage erweitert werden. Die Fest­stellung einer »systematischen Gefahr« für die Schen­gen-Zone, die bisher nur für die Grenzsicherung und Migrationskontrolle getroffen werden kann, könnte dann also auch bei einem strukturellen Versagen von Verteilungsmechanismen und der Lastenteilung erfolgen.

Eine Neugründung Schengens ist unrealistisch. Es gilt, Vertrauen der Mitgliedstaaten wieder aufzubauen.

Politisch ist dieser Ansatz jedoch ebenso unrealistisch wie eine Neugründung Schengens. Die 2021 von der EU-Kommission präsentierten Vorschläge zur Re­form des Schengen-Regimes123 verfolgen eine andere Stoßrichtung: Vor­rangiges Ziel ist es, die noch be­stehen­den Binnengrenzkontrollen aufzuheben und das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten zu stärken. Empfehlungen an einzelne Mitgliedstaaten sollen zügiger umgesetzt und durch die Erkenntnisse verschiedener EU-Agenturen angereichert werden. Ergänzend soll der Schutz von Grundrechten größere Beachtung finden, ins­besondere mit Blick auf soge­nannte Push-backs von Schutzsuchenden an einigen EU-Außengrenzen. Wenn sich die Kommission und das Europäische Parlament in dieser Frage gegenüber denjenigen Mitgliedstaaten durchsetzen können, in denen mutmaßlich derartige Push-backs stattfinden, könnte ein reformierter Schengen-Evaluations­mecha­nismus bewirken, dass geltendes EU-Asylrecht besser durchgesetzt wird. Die Problematik der Lastenteilung bliebe indes unberührt.

Die weiteren Prioritäten der EU-Kommission für eine Reform des Schengen-Grenzkodex124 sind ver­schärfte Begründungspflichten für ausnahmebedingte Grenzkontrollen der Mitgliedstaaten und zusätzliche Möglichkeiten, um gesundheitsbedingte Einreise­ver­bote zu verhängen. Allgemein sollen die EU-Staa­ten mit Hilfe technischer Maßnahmen im Grenzraum besser kontrollieren und irregulär eingereiste Perso­nen in ein anderes Schengen-Mitgliedsland unmittelbar zurückschieben können.125 Weiterhin sollen, wenn schwerwiegende Sicherheitsrisiken in mehreren Staaten bestehen, länger anhaltende Binnengrenzkontrollen koordiniert werden.126 Flankierend soll ein neuer Kodex für die polizeiliche Zusammenarbeit dazu beitragen, den Datenaustausch und ge­meinsame Operationen in Grenzregionen zu erleich­tern.127

Schließlich ist mit der Krise zwischen Belarus und Polen bzw. Belarus und Litauen eine neue Dimension im Umgang mit der sogenannten »Instrumentalisierung« irregulärer Migration hinzugekommen. Künftig sollen in vergleichbaren Krisensituationen der Zugang zu und die Durchführung von Asylverfahren zeit­weise stark eingeschränkt werden, die Versorgung irregulärer Zuwanderer und Schutzsuchender auf ein humanitäres Minimum reduziert sowie die Rück­führung abgelehnter Asylsuchender aus Grenznähe erheblich leichter werden.128 Mit Blick auf die Lage an den EU-Außengrenzen zu Belarus soll ein ein­ma­li­ger Ratsbeschluss diese Notfallregelung mitsamt der Einschränkung von Asylverfahren in Litauen, Polen und Lettland einführen. Die Schutzsuchenden auf andere Staaten zu verteilen ist nicht vorgesehen.129

Diese Reformvorschläge der EU-Kommission gehen in vielen, aber nicht allen Belangen auf die Interessen mehrerer zentral- und südosteuropäischer Mitgliedstaaten ein.130 Unter anderem fordern diese zusätz­liche EU-Investitionen in physische Grenzzäune. Polen bleibt grundsätzlich skeptisch gegenüber allen euro­päischen Regelungen, die seinen Handlungsspielraum beim Grenzschutz einschränken. Frankreichs Präsi­dent Macron hat derweil eine stärkere intergouverne­mentale Kontrolle durch einen neuen Schengen-Rat auf ministerieller Ebene angestoßen und will zudem eine weitere Eingreiftruppe zur Verteidigung der euro­päischen Außengrenzen schaffen.131 Ob und wie diese Eingreiftruppe Frontex unterstützen und eine »robuste« Grenzsicherung garantieren soll, ist zum Zeitpunkt der Finalisierung dieser Studie nicht abzu­sehen – insbesondere mit Blick auf die mittelfristigen Folgen der Invasion Russlands in die Ukraine. Jeden­falls setzt Macron deutlich andere Prioritäten als 2019 in seinen Äußerungen zur Neugründung Schen­gens.

Neue Vorreitergruppen in der Schengen-Zone stehen nicht in Aussicht, erst recht nicht, was die Frage der Verteilung von Asylsuchenden anbelangt. Parallel bleibt das Thema der Vollmitgliedschaft Kroatiens, Bulgariens und Rumäniens auf der Agenda, wird aber voraussichtlich in dieser EU-Legislatur­periode nicht abschließend behandelt. Insgesamt be­trachtet kann also die aktuelle dynamische Reform­debatte zum Schengen-Regime wenig dazu beitragen, die zentralen Konflikte in der EU-Asylpolitik zu überwinden.

Optionen der Verstärkten Zusammen­arbeit für eine bessere Lastenteilung

Das sehr umfangreiche132 wie hochumstrittene133 Paket für Migration und Asyl soll für sich genommen einen Kompromiss zwischen gegensätzlichen Vor­stellungen der Mitgliedstaaten erreichen. Diese Studie kann sich nicht vertieft mit allen Vorschlägen des Pakets auseinandersetzen. Die Lastenteilung ist aber der entscheidende Streitpunkt, an dem bisherige Re­for­men des Gemeinsamen Europäischen Asyl­systems gescheitert sind.

So soll laut dem neuen Paket die Dublin-Verord­nung durch eine Verordnung über Asyl- und Migrations­­management ersetzt werden. Letztere würde viele Aspekte der Dublin-Verordnung zur Festlegung, wel­cher Mit­gliedstaat jeweils für einen Asylantrag zu­stän­dig ist, fortführen oder verschärfen – mit dem Ziel, die Sekundärmigration zu verringern. Darüber hinaus soll die Verordnung über Asyl- und Migrations­manage­ment einen flexiblen und dennoch verläss­lichen Me­cha­nismus zur Lastenteilung enthalten. Er sieht vor, dass nur, wenn die irreguläre Zuwanderung in Außen­grenzstaaten besonders hoch ist, eine Ver­tei­lung von Personen zum zwingenden Bestandteil euro­päischer Solidarität würde. Ansonsten könn­ten andere Maß­nahmen zur Unterstützung des Grenzschutzes, zur Rück­führung abgelehnter Asylbewerber oder zur Mig­rationskontrolle in Drittstaaten als Solidar­beitrag angerechnet werden.

Trotzdem erhalten mehrere EU-Staaten ihren prin­zipiellen Widerstand gegen eine Übernahme von Schutzsuchenden aufrecht. Ein politischer Mehrheits­beschluss ist gemäß den geltenden Entscheidungs­verfahren für die EU-Asylpolitik möglich, wird aber als nicht gangbar erachtet. Eine Reform der Dublin-Regeln gegen den expliziten und harten Widerspruch mehrerer Mitgliedstaaten könnte das bereits vorhandene Umsetzungsdefizit verschärfen oder bewirken, dass sich die bewusste Umsetzungsverweigerung als De‑facto-Alternative zu formalisierten Opt-outs »verfestigt«.134 Die zentrale Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement – und damit der Kern des Pakets für Migration und Asyl – bleibt in dieser Gemengelage auf absehbare Zeit blockiert. Demgegen­über werden der Reform des Schengen-Regimes – einschließlich neuer Notfallmechanismen für eine erleichterte Zurückweisung irregulärer Zuwanderer und zeitweiser starker Einschränkungen von Asyl­verfahren – höhere Priorität und bessere Erfolgschancen eingeräumt.

Zusammengefasst führen die bisher verfolgten oder angedachten Ansätze für eine europäische Lastenteilung aus drei Gründen nicht weiter:

  • Erstens sind rein freiwillige Formate zur Verteilung von Schutzsuchenden zu reaktiv, außerdem unzuverlässig und zu klein;

  • zweitens erscheint eine strukturelle Reform des Schengen-Regimes, um eine Beteiligung an der Lasten­teilung zu erzwingen, nicht verhältnismäßig und entspricht nicht den aktuellen politischen Prioritäten;

  • drittens bleibt der Vorschlag einer Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement, die eine Lastenteilung beinhaltet, auf absehbare Zeit blockiert, weil einzelne Mitgliedstaaten grundsätz­liche Vorbehalte haben, selbst wenn Optionen zur sogenannten flexiblen Solidarität geplant sind.

Ein substanzieller Teil der EU-Mitgliedstaaten strebt an, die irreguläre Zuwanderung und das Recht auf Asyl noch weitreichender zu beschränken. Trotzdem können jederzeit größere irreguläre Wanderungs­bewegungen in die EU entstehen, die nicht verlässlich oder in hinreichendem Umfang in Drittstaaten auf­ge­fangen werden können. Der neue Krieg in der Ukraine ist ein tragischer Beleg. Der Einwand, dass eine inner­europäische Verteilung spürbare »Pull-Effekte« auf Asylsuchende aus­üben würde, ist nicht wissenschaftlich belegt.135 Jedenfalls ist bei starken »Push-Fakto­ren«, wie im Fall von Libyen, mit einem erheblichen Aufkommen irregulärer Migration zu rechnen. Des­halb bleibt es notwendig, nicht allein auf Grenzschutz oder eine Verminderung der sekundären Mig­ration zu setzen. Die strukturelle Problematik der Solidarität mit EU-Außengrenzstaaten muss durch weitere Instrumente zur Lastenteilung, einschließlich einer Verteilung von Personen, entschärft werden.

Für diesen Zweck sollte eine Verstärkte Zusammen­arbeit von mindestens neun Mitgliedstaaten geprüft werden. Eine Einigung in einem solchen Rahmen bleibt anspruchsvoll und kann keine umfassende Lösung für die EU-Asylpolitik eröffnen. Dennoch ließe sich ein höherer Grad an Verlässlichkeit errei­chen als in bisherigen freiwilligen Koalitionen der Willigen. Eine Ver­stärkte Zusammenarbeit zur Lastenteilung müsste einen engeren Zuschnitt und Umfang haben als die ineinander verschränkten Vorschläge des Pakets für Migration und Asyl. Die derzeit bestehende Dublin-Verordnung würde für alle Schengen- und EU‑Mitglieder gültiger Rechtsbestand bleiben. Im Unterschied dazu könnten andere Bestandteile des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (bzw. damit verbundener Vorschläge im Paket für Migration und Asyl) in differenzierter Form weiterentwickelt werden.

Asylgrenzverfahren

Von zentraler Bedeutung ist dabei die Asylverfahrensrichtlinie. Das Paket für Migration und Asyl sieht im Vorschlag zu einer novellierten Asylverfah­rens­verord­nung136 vor, sogenannte Asylgrenzverfahren einzu­füh­ren. Asylsuchende aus Herkunftsländern mit einer durchschnittlichen Anerkennungsquote von unter 20 Prozent – was im Rahmen einer vorgeschalteten Überprüfung festgestellt würde137 – sollen demnach ein beschleunigtes Asylverfahren in Erstankunfts­zentren in Grenznähe durchlaufen und im Falle einer Ablehnung möglichst umgehend rückgeführt werden. Damit ist die politische Erwartung verbunden, dass solche irreguläre Migrantinnen und Migranten ab­geschreckt würden, die ohne substanzielle Erfolgs­aussichten einen Asyl­antrag stellen und in der Folge Rechtsmittel und Verfahrensfristen ausnutzen – oder untertauchen –, um einen langfristigen Auf­enthalt in einem EU-Mitgliedsland zu erlangen. Dar­über hinaus, folgt man dem Kommissionsvorschlag, soll es einfacher werden, Asyl­suchende aus Erst­ankunfts­staaten auf andere EU-Länder zu verteilen, wenn davon nur noch Personen mit relativ hohen Aussichten auf Anerkennung betroffen sind. Auf diese Weise sei dem Vorwurf zu begegnen, das Asyl­system werde missbraucht oder Außengrenzstaaten würden ihren Sorgfaltspflichten nur mangelhaft nach­kommen. Nicht zuletzt würde durch vorgeschaltete Personenüberprüfungen (Screenings) die Gesamt­menge der Anträge reduziert, die die Asylsysteme der Mitgliedstaaten zu bearbeiten hätten.

Dieser politischen Konzeption stehen massive Ein­wände aus grund- und verfahrensrechtlicher Sicht entgegen.138 Die negativen Erfahrungen auf den grie­chischen Inseln unterstreichen, dass große Aufnahme­lager nahe der EU-Außengrenzen einer menschenwürdigen Behandlung bisher nicht gerecht werden konnten. Der Anspruch auf zügige und faire Asyl­verfahren konnte noch weniger eingelöst werden.139 Selbst wenn man annimmt, neue Grenzzentren für Asylsuchende verfügten über eine deutlich ­bessere Ausstattung und die Verwaltungskapazität würde ausgebaut, bleibt die Sorge, dass eine Vorprüfung der Schutzberechtigung und beschleunigte Asylverfahren dazu führen, dass individuelle Umstände nicht hin­reichend berücksichtigt werden und das Recht auf Asyl zu stark beschnitten würde. Bei einer Ablehnung ist schließlich zu erwarten – wiederum mit Blick auf die bisherigen Erfahrungen in Griechenland –, dass in den meisten Fällen eine zeitnahe Rückführung ins Herkunftsland oder einen mutmaßlich sicheren Transit- und Drittstaat kaum realisiert werden kann.

Mögliche Vor- und Nachteile eines solchen Systems von Asylgrenzverfahren abzuwägen bleibt in poli­ti­scher Verantwortung. Eine leichter handhabbare Option könnte sein, unter einer kleineren Zahl von Mitgliedstaaten angemessene Einrichtungen in Grenz­nähe aufzubauen und dabei die Einhaltung von Grund­rechten zu kontrollieren. Die bisherigen Erfah­rungen mit EU-Hotspots, die im Nachgang der Migra­tions­krise eine solche Pilotfunktion übernehmen sollten, geben zwar Grund anzuzweifeln, dass tatsäch­lich menschenwürdige Verfahren geschaffen werden können.140 Es bieten sich aber keine realen Alterna­ti­ven, als die Defizite der bisherigen Hotspots zu über­winden, indem mehr politische und finanzielle Res­sourcen eingesetzt werden. Ohne neue gemein­same Anstrengungen kommt es aller Wahrscheinlichkeit nach dazu, dass die Grundrechte von Schutz­suchen­den weiterhin eingeschränkt und der Grenz­schutz immer stärker betont wird.

Asylgrenzverfahren können und sollten mit verlässlichen Mechanismen zur Verteilung von Schutzsuchenden kombiniert werden.

Ein Weg, die bisherigen Vorbehalte von EU-Außen­grenzstaaten auszuräumen und in grundrechtskonforme Einrichtungen für Asylbewerber zu investieren, könnte darin liegen, Asylgrenzverfahren mit verläss­licheren Mechanismen zur Verteilung von Schutz­suchenden zu kombinieren. Im Rahmen des Pakets für Migration und Asyl wäre die Regelung zur Vertei­lung von Schutzsuchenden hingegen in der reformierten Dublin-Verordnung bzw. der neu zu verabschiedenden Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement verankert, deren Erarbeitung blockiert ist. Außer­dem wäre diese Regelung explizit nicht auf Bewerber in Asylgrenzverfahren ausgerichtet. Verbind­liche Bestimmungen, wann und in welcher Höhe eine Ver­teilung von Schutzsuchenden aus Asylgrenzzentren erfolgen sollte, wären – ebenso wie im vorliegenden Paket der Kommission – mit schwierigen politischen Verhandlungen verbunden. Eine Einigung zwischen denjenigen EU-Staaten, die einen Solidarmechanismus prinzipiell für notwendig erachten, sollte dennoch möglich sein. Ein Berechnungsschlüssel zur Aufnahme­fähigkeit bzw. ‑verpflichtung einzelner Staaten gegen­über der Gesamtzahl der Asylanträge ist in Grund­zügen seit langem anerkannt.141 Ohne diese Annahme erübrigen sich alle wei­teren europäischen Reform­anstrengungen.

Die Bereitschaft der Mitgliedstaaten zu einer solchen Verstärkten Zusammenarbeit kann hier nicht pro­gnos­tiziert werden. Das rechtlich festgelegte Minimum von neun Staaten stellt auch aus praktischer Sicht eine plau­sible Untergrenze dar, um einen Mehrwert zu er­reichen. Angesichts der jüngsten Initiativen für eine neue Koalition der Willigen, die womöglich bis zu zwölf Staaten umfassen könnte,142 erscheint diese Zahl ebenso erzielbar. Deutschland dürfte jedenfalls nicht der einzige größere und nordwesteuropäische Staat sein, der sich an einer formalisierten Lasten­teilung beteiligen und Personen aus Außengrenz­staaten und Asylgrenzverfahren aufnehmen würde.

Um die Verhandlungen zu vereinfachen, sollten besonders umstrittene Alternativen zur Übernahme von Personen gestrichen werden. Dies gilt beispielsweise für die Idee sogenannter Rückführungspatenschaften, bei denen ein anderer EU-Staat die Ver­antwortung für die Rückführung eines abgelehnten Asylbewerbers übernehmen soll. Dieser Vorschlag hat sowohl auf Seiten derjenigen Staaten, die sich mit einer relativ hohen irregulären Zuwanderung kon­frontiert sehen, wie auch bei anderen Staaten, die sich einer regelmäßigen Über­nahme von Asylsuchenden verweigern, das Misstrauen vertieft.143 Die Ver­bin­dung von Asylgrenzverfahren mit einer unmittelbaren Rückführung ist insofern nicht glaubwürdig, als ein solcher Ablauf in den vergangenen Jahren auf den griechischen Inseln trotz des explizit dafür vor­gesehenen EU-Türkei-Abkommens nicht realisiert werden konnte.144 Weitere Bestimmungen zur erleich­terten Rückführung irregulärer Zuwanderer, etwa im Rahmen einer novellierten EU-Rück­führungs­richtlinie, können ohnehin nur von der Gesamtheit der Schengen-Mitglie­der ver­abschiedet werden. Asyl­grenzverfahren unter einer Minderheit von Mit­glied­staaten könnten somit von breiteren europäischen Anstrengungen für mehr Rückfüh­run­gen profitieren, aber nicht unmittelbar daran ge­koppelt werden.

Krisenmechanismen

Auch ein Krisenmechanismus im Bereich Migration und Asyl145 kann als Verstärkte Zusammenarbeit vorangetrieben und mit einem gesonderten Verfahren zur Lastenteilung verknüpft werden. Die soge­nannte Massenzustrom-Richt­linie146 konnte in der Migrationskrise von 2015 nicht angewendet werden und wurde bislang als nicht praktikabel erachtet.147 Ihre am 3. März 2022 erstmalig erfolgte Aktivierung soll zur Folge haben, dass geflüchteten Ukrainern und Ukrainerinnen in allen EU-Staaten ein subsidiärer bzw. humanitärer Schutzstatus ohne individuelles Asylverfahren zuge­sprochen wird. Die Richtlinie sieht auch weitere gemeinsame Standards und Verfahren für den Umgang mit Geflüchteten vor. Maßnahmen zur europäischen Solidarität bzw. finanziellen Lasten­teilung und etwaigen Verteilung von Schutzsuchenden sind möglich, aber nicht detailliert vorgegeben, und erfordern einen politischen Beschluss des Rates.148 Insofern bleibt in diesem alten Rechtsinstrument poli­tisch weitgehend offen, ob tatsächlich eine belast­bare gemeinsame Krisenreaktion organisiert werden kann.

Das Paket für Migration und Asyl sieht einen stärker verbindlichen Pro­zess vor, dem zufolge in Ausnahme­situationen149 vereinfachte Verfahren zur zeitweisen Anerkennung von Schutzsuchenden erlaubt sein sollen ebenso wie Anpassungen von Asylverfahren, zum Beispiel längere Registrierungs- und Inhaftierungs­zeiten.150 Das Verhältnis zwischen restriktiven und liberalen Elementen dieses novellierten Krisenmecha­nismus bleibt umstritten. Kritiker sehen die Gefahr, dass die Rechte von Schutzsuchenden übermäßig beschnitten werden.151 Im Falle einer Aktivierung des novellierten Krisenmechanismus würde es im Gegen­zug für alle EU-Mitgliedstaaten verpflichtend, an einer Verteilung von Schutzsuchenden mitzuwirken oder Rückführungspatenschaften zu übernehmen – an­stelle anderer Beiträge zur »flexiblen Solidarität« wie etwa Maßnahmen zum Grenzschutz.152 Die Grund­satzkonflikte zur Lastenteilung bleiben somit bestehen, so dass auch dieser Krisenmechanismus im Rat kon­t­rovers diskutiert wird.

Die jüngeren Erfahrungen an der Grenze zu Belarus erschweren eine gemeinsame Herangehensweise zusätzlich. Die EU-Kommission hat einen weiteren Krisenmechanismus vorgeschlagen, und zwar für die Schengen-Zone,153 um diesem Szenario Rechnung zu tragen: Bei einer mutmaßlichen politischen Instrumen­talisierung der irregulären Migration durch Dritt­staaten sollen sehr weitreichende zeitweise Ein­schrän­kungen des Asylrechts und der Unterbringung von irregulären Zuwanderern zulässig sein. EU-Agen­turen sollen zum Grenzschutz, zu Personenüberprüfungen und Rückführungen beitragen. Das Anliegen, schutz­suchende Personen innerhalb der EU zu verteilen, rückt in den Hintergrund.

In dieser Situation kann die differenzierte Integration einen Ausgleich eröffnen. Alle Mitglieder der Schengen-Zone sollten für den Fall, dass irreguläre Mig­ration instrumentalisiert wird, Ausnahmeregelun­gen vereinbaren, die aber den Anspruch auf ein individuelles Asylverfahren sowie das Verbot unmenschlicher Behandlung aufrechterhalten. Eine kohärente Vor­gehensweise in diesen Fragen leitet sich aus dem be­stehenden Schengen-Recht ab und stärkt die Position gegenüber Drittstaaten, die vulnerable Personen missbrauchen.

Ein Teil der EU-Mitgliedstaaten sollte jedoch darüber hinaus an dem Ziel festhalten, noch einen wei­te­ren Krisenmechanismus für eine schnelle Auf­nahme von Schutzsuchenden einzurichten. Auch in diesem Rahmen kann es zu krisenbedingten Ein­schränkun­gen des Asylverfahrens und weiterer Grund­rechte kom­men. Entscheidend ist aber die Frage der Lastenteilung, die in der angedachten Schengen-Reform unberührt bleibt. Außengrenz­staa­ten wie Griechenland müssen die ver­lässliche Per­spek­tive erhalten, dass im Falle sub­stan­zieller Migra­tions­krisen die Schutzsuchenden zeit­nah auf einige andere EU-Staaten verteilt werden können. Die Erfahrungen von 2015 und der darauf folgenden anhaltenden Misere auf den griechischen Inseln dürfen sich nicht wieder­holen. Ansonsten ver­tiefen sich die Anreize zur Weiter­leitung von Asyl­bewerbern inner­halb der Schengen-Zone sowie zu massiven Grundrechtsverletzungen.

Nachdem die Massenzustrom-Richtlinie erstmalig aktiviert worden ist, könnten Solidaritätsmaßnahmen weiterentwickelt werden.

Die Kosten und praktischen Hürden einer rechtlich ver­bindlichen Verstärkten Zusammenarbeit zu einem Krisenmechanismus sind wie in der Frage von Asyl­grenzverfahren erheblich. Bei einer differenzierten Betei­ligung der Mitgliedstaaten stellt sich immer die Frage nach der Fairness. Mindestens aber erhöhte sich die Komplexität des europäischen Asylsystems, wenn ein weiteres, getrenntes Verfahren zur Verteilung von Schutzsuchenden vereinbart würde. Zudem könnte sich die Gruppe der beteiligten Mitgliedstaaten anders zusammensetzen als diejenige zur Verstärkten Zusam­men­arbeit zu Asylgrenzverfahren. Jeder Rechtsakt wäre einzeln zu verabschieden und dabei gemäß den ver­trag­lichen Bestimmungen prinzipiell offen für alle EU-Mitgliedstaaten. Diese Abkehr vom Ansatz der EU-Kommission im aktuellen Paket für Migration und Asyl bietet indes auch Chancen: Angesichts der schwer­wiegenden Konflikte und Bedrohungen in der gesam­ten europäischen Nachbarschaft könnten sich die Posi­ti­onen der Mitgliedstaaten so weit annähern, dass sie in der Lage sind, einen solchen inhaltlich fokus­sier­ten Krisenmechanismus ins Leben zu rufen. Die aktuelle Lage in der Ukraine könnte hierfür den Ausschlag geben und womöglich bewirken, dass die Solidaritäts­maßnahmen nach der erstmaligen Aktivierung der Massenzustrom-Richtlinie weiterentwickelt werden.

Schlussfolgerungen

In der Vergangenheit hat die differenzierte Integration dazu beigetragen, fundamentale Interessenkonflikte zwischen den EU-Mitgliedstaaten zu entschärfen, neue Integrationsfelder zu eröffnen und nationale Umsetzungsprozesse zu erleichtern. Vor allem bei der Entwicklung der EU-Innenpolitik hat die differenzierte Integration eine hervorgehobene Rolle gespielt. So wurde das Schengen-Regime in das EU-Recht über­nommen und seine Mitgliedschaft flexibel erweitert. Staaten mit grundsätzlichen Integrationsvorbehalten wurden bei den jeweiligen Vertragsreformen um­fassende Opt-outs eingeräumt. Bis heute findet ein substanzieller Teil der operativen grenzüberschreiten­den Zusammenarbeit von Sicherheitsbehörden in Formaten jenseits der EU statt.

Diese Erfahrungen mit der differenzierten Integration helfen jedoch nur noch bedingt für die Zukunft. Angesichts des Brexits und grundsätzlicher Ausein­andersetzungen über Rechtsstaatlichkeit ist es vor­rangig, den Zusammenhalt des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu stärken. Die verblei­ben­den Opt-out-Regelungen erhöhen die Kosten. Ins­besondere Dänemark wird weitere Integrationsschritte womöglich nicht nachvollziehen kön­nen, wie sich in der Vergangenheit bereits mit Blick auf Euro­pol zeigte. Vielmehr droht sogar ein deutliches Ab­driften Dänemarks, bis hin zu dauerhaften Einschrän­kungen bei der grenzüberschreitenden Personenfreizügigkeit, sollte das Land seine überaus restriktive asylpolitische Linie fortsetzen. Der Druck auf Irland, möglichst alle Opt-ins wahrzunehmen, wird hingegen – ohne die Rückendeckung Großbritanniens – zunehmen. Und nicht zuletzt stehen Arrangements, um den Austausch von sicherheitsrelevanten Daten über die EU und die Schengen-Zone hinaus zu ermög­lichen, vor wachsenden datenschutzrechtlichen Herausforderungen.

Indessen steigt die Bedeutung von rechtlich formalisierten Verfahren zur Verstärkten Zusammenarbeit unter EU-Mitgliedstaaten. Die Europäische Staats­anwaltschaft ist das aktuell wichtigste Beispiel, das sich in den kommenden Jahren praktisch bewähren muss. Auch wenn sich fünf EU-Staaten aus unterschiedlichen Motiven nicht beteiligen, sollte der Akzent der EUStA darauf liegen, Korruption möglichst flächendeckend zu bekämpfen. Noch wichtiger ist, dass keine strukturelle Spaltung der strafrechtlichen Zusammenarbeit entsteht, wenn etwa der EUStA wei­tere Kompetenzen übertragen werden sollten. Eine dauerhafte Peripherie von Staaten im RFSR, die zu den historischen Sonderfällen Irland und Dänemark hinzutreten, sollte vermieden werden.

Langfristig ist ein schlüssiges Gesamtgefüge für die EU-Innenpolitik entscheidend. Die EU-Kommission spricht zunehmend von einer »Sicherheitsunion«, was Ansporn für eine inhaltlich vernetzte Herangehensweise sowie eine aktive Beteiligung aller EU-Staaten geben soll. Das vertraglich vorrangige Integrations­ziel ist jedoch die Ausgestaltung eines gemeinsamen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, der auf den Grundwerten der Union und den Verfassungs­traditionen ihrer Mitglieder aufbaut. Demgegenüber betonen einige Mitgliedsländer ihre nationale Verant­wortung für die öffentliche Ordnung, die im Zweifel über dem europäischen Rechtsrahmen stehen soll. Um diesen Ansprüchen nicht unnötig Vorschub zu leisten, ist eine Neugründung Schengens oder die Schaffung neuer intergouvernementaler Formate zur innenpolitischen Zusammenarbeit nicht zu empfehlen.

Umso wichtiger ist es, präzise zu fassen, wo die differenzierte Integration einen Beitrag zu aktuellen Problemen leisten kann. Die strukturelle Krise in der europäischen Migrations- und Asylpolitik schwelt weiter. Der Fokus auf eine umfangreiche Reform der Dublin-Verordnung hat in den letzten fünf Jahren nicht weitergeführt. Freiwillige Koalitionen der Willigen sind wieder möglich geworden, seitdem sich die neue Bundesregierung dafür einsetzt. Es ist aber unwahrscheinlich, dass eine einfache Neuauflage ohne geänderte rechtliche Verpflichtungen deutlich bessere Ergebnisse liefern wird als in den vergangenen Jahren. Substanzielle Sanktionen gegenüber Staaten, die sich einer Übernahme von Schutzsuchen­den und Migranten verweigern, bleiben ebenso unrealistisch. Wenn die Mitgliedstaaten bis Ende der aktuellen EU-Legislaturperiode ihre Positionen nicht grundlegend ändern, so dass das vorliegende Paket für Migration und Asyl verabschiedet werden könnte, kann das Inst­rument der Verstärkten Zusammenarbeit einen Aus­weg aufzeigen. Sich auf Asylgrenzverfahren und einen Krisenmechanismus zu verständigen könnte leichter sein, wenn sich nur diejenigen Staaten betei­ligen, die zu einer Umverteilung von Schutzsuchenden bereit sind.

Dieser Ansatz kann nicht als umfassende Alternative zur europäischen Rechtssetzung gelten. Die EU darf nicht davon abrücken, die Einhaltung der Mindest­standards des bereits geltenden Gemeinsamen Euro­päischen Asylsystems von allen Mitgliedstaaten ein­zufordern. Rechtsbrüche und strukturelle Grundrechts­einschränkungen dürfen nicht normalisiert werden, weder innerhalb der EU noch in benachbarten Dritt­staaten. Die Kritik am Status quo und poli­tische Vor­würfe gegen einzelne Mitgliedsländer, ihnen mangele es an Solidarität, helfen aber nicht weiter. Eine Ver­stärkte Zusammenarbeit von min­des­tens neun EU-Staa­ten dagegen bietet eine Perspektive, über schwache und unzuverlässige Koalitionen der Willigen hinaus­zuwachsen. Es muss unter Beweis gestellt werden, dass die teilnehmenden Staaten auf ihre gegenseitige Unterstützung zählen können, um die anhaltenden migrations- und asylpolitischen Herausforderungen zu bewältigen.

Abkürzungen

AEUV

Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union

CARIN

Camden Asset Recovery Inter-Agency Network

CEAS

Common European Asylum System

CTA

Common Travel Area

CTG

Counter Terrorism Group

EASO

Europäisches Unterstützungsbüro für Asylfragen

ECRIS

Europäisches Strafregisterinformations­system

EEA

Europäische Ermittlungsanordnung

EPPO

European Public Prosecutor’s Office

EU

Europäische Union

EUAA

Asylagentur der Europäischen Union

EuGH

Europäischer Gerichtshof

EuHB

Europäischer Haftbefehl

EU IDEA

EU Integration and Differentiation for Effectiveness and Accountability

Eurodac

Europäisches System für den Abgleich der Fingerabdruckdaten von Asylbewerbern

Eurojust

Agentur der Europäischen Union für justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen

Europol

Agentur der Europäischen Union für die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Strafverfolgung

EUStA

Europäische Staatsanwaltschaft

EUV

EU-Vertrag

Frontex

Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache

GASP

Gemeinsame Außen- und Sicherheits­politik

GEAS

Gemeinsames Europäisches Asylsystem

JCMS

Journal of Common Market Studies

MEP

Member of the European Parliament

Nato

North Atlantic Treaty Organization

OECD

Organisation für wirtschaftliche Zusammen­arbeit und Entwicklung

PCCC

Police and Customs Cooperation Centre

PESCO

Permanent Structured Cooperation

PNR

Passenger Name Record

PWGT

Police Working Group on Terrorism

RFSR

Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

SIS

Schengener Informationssystem

SSZ

Ständige Strukturierte Zusammenarbeit

UK

United Kingdom

Endnoten

1

 Benjamin Leruth/Christopher Lord, »Differentiated Integration in the European Union: A Concept, a Process, a System or a Theory?«, in: Journal of European Public Policy, 22 (2015) 6, S. 754–763.

2

 Jörg Monar, »The Dynamics of Justice and Home Affairs: Laboratories, Driving Factors and Costs«, in: Journal of Common Market Studies (JCMS), 39 (2001) 4, S. 747–764.

3

 Deutscher Bundestag, Unterabteilung Europa, Differenzierte Integration in Europa, Ausarbeitung, PE 6 – 3000 – 090/20, 2020, <https://www.bundestag.de/resource/blob/810866/ e2015ec67fe07f73390cba33eb2fa229/PE-6-090-20-pdf-data. pdf> (eingesehen am 7.9.2021).

4

 Bereits 1994, also kurz nach dem Inkrafttreten des Ver­trags von Maastricht (1. November 1993), entwickelten führende CDU-Politiker entsprechende Ideen zur weiteren Vertiefung der Integration. Der Verweis des aktuellen Koalitionsvertrags auf das Ziel eines europäischen Bundesstaates kann in dieser Tradition verstanden werden, selbst wenn dieses Ziel dort im Zusammenhang mit der Konferenz zur Zukunft Europas unter Beteiligung aller Mitgliedstaaten genannt wird. Vgl. Karl Lamers u. a., »Ein Kerneuropa in der Europäischen Union?«, in: Wirtschaftsdienst, 74 (1994) 10, S. 495–506; SPD u. a., Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Frei­heit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit, Koalitionsvertrag 2021–2025 zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), Bündnis 90/Die Grünen und den Freien Demokraten (FDP), 25.11.2021, S. 131, <https://www.spd.de/file admin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf> (eingesehen am 14.1.2022).

5

 Anja Keutel, Geschichte und Theorie der abgestuften Integration Europas, Leipzig, März 2012 (SEU Working Paper Nr. 2/2012), <https://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/36599/ssoar-2012-keutel-Geschichte_und_Theorie_der_ab gestuften.pdf?sequence=1&isAllowed=y&lnkname=ssoar-2012-keutel-Geschichte_und_Theorie_der_abgestuften.pdf> (eingesehen am 14.1.2022).

6

 Frank Schimmelfennig/Thomas Winzen, »Mapping Differentiated Integration«, in: dies. (Hg.), Ever Looser Union? Differentiated European Integration, Oxford: Oxford University Press, 2020, S. 47–66, doi: 10.1093/oso/9780198854333. 003.0004; Katharina Holzinger/Frank Schimmelfennig, »Differentiated Integration in the European Union: Many Concepts, Sparse Theory, Few Data«, in: Journal of European Public Policy, 19 (2012) 2, S. 292–305.

7

 Einige Autorinnen und Autoren unterscheiden weiterhin rechtliche und andere De‑facto-Differenzierung bei EU-Regelungen, vgl. Sandra Lavenex/Ivo Križić, Conceptualising Differentiated Integration: Governance, Effectiveness and Legitimacy, 29.11.2019 (EU IDEA Research Papers, Nr. 2), <https://euidea. eu/wp-content/uploads/2019/12/euidea_rp_2.pdf> (eingesehen am 8.9.2021). Dies dehnt den Begriff der differenzierten Integration so stark aus, dass fast alle Aspekte der EU-For­schung, einschließlich Europäisierung und Implementierung, miteinbezogen werden, was wenig analytischen Mehrwert bringt. Die vorliegende Studie konzentriert sich deshalb auf formelle Abweichungen von einem einheit­lichen EU-Rechtsrahmen.

8

 Artikel 20 EU-Vertrag (EUV). Zu den genaueren Bestimmungen siehe Seite 16f.

9

 Frank Schimmelfennig/Thomas Winzen, »Grand Theories, Differentiated Integration«, in: Journal of European Public Policy, 26 (2019) 8, S. 1172–1192.

10

 Frank Schimmelfennig/Thomas Winzen (Hg.), Ever Looser Union? Differentiated European Integration, Oxford: Oxford Uni­versity Press, 2020.

11

 Antoaneta L. Dimitrova, »Understanding Europeanization in Bulgaria and Romania: Following Broader European Trends or Still the Balkan Exceptions?«, in: European Politics and Society, 22 (2021) 2, S. 295–304.

12

 Frank Schimmelfennig, »Brexit: Differentiated Disintegration in the European Union«, in: Journal of European Public Policy, 25 (2018) 8, S. 1154–1173.

13

 Benjamin Martill, »Unity over Diversity? The Politics of Differentiated Integration after Brexit«, in: Journal of European Integration, 43 (2021) 8, S. 973–988.

14

 Christa Tobler, »The EU–Swiss Sectoral Approach under Pressure: Not Least Because of Brexit«, in: Stefan Lorenzmeier u. a. (Hg.), EU External Relations Law. Shared Competences and Shared Values in Agreements between the EU and Its Eastern Neigh­bourhood, Cham: Springer, 2021, S. 107–126, doi: 10.1007/ 978-3-030-62859-8_7.

15

 Philipp Genschel/Markus Jachtenfuchs, »From Market Integration to Core State Powers: The Eurozone Crisis, the Refugee Crisis and Integration Theory«, in: JCMS, 56 (2018) 1, S. 178–196; Deutscher Bundestag, Unterabteilung Europa, Differenzierte Integration in Europa [wie Fn. 3], S. 9.

16

 Sergio Fabbrini, »Differentiation or Federalisation: Which Democracy for the Future of Europe?«, in: European Law Journal (2021), doi: 10.1111/eulj.12384.

17

 Christian Kreuder-Sonnen/Jonathan White, »Europe and the Transnational Politics of Emergency«, in: Journal of Euro­pean Public Policy (2021), S. 1–13.

18

 Stefan Telle u. a., Differentiated Integration in the EU – What Do the Member States ›Think‹ About It?, Florenz: European Uni­versity Institute (EUI), April 2021 (EUI Working Paper RSC 2021/50), doi: 10.2139/ssrn.3838761. Diese Positionen lassen sich nicht ohne weiteres auf die öffentliche Meinung der jeweiligen Länder übertragen, da viele Bürger keine Kenntnis der differenzierten Integration haben, vgl. Anna Stahl, Public Opinion on an Ever More Differentiated EU, August 2021 (EU IDEA Policy Papers, Nr. 15), <https://www.iai.it/sites/default/files/ euidea_pp_15.pdf> (eingesehen am 22.2.2022). Es scheint sich aber ein relativer Zuwachs an öffentlicher Unterstützung für die differenzierte Integration abzuzeichnen, vor allem unter Bürgern, die den EU-Integrationsprozess unterstützen, vgl. Lisanne de Blok/Catherine E. de Vries, A Blessing and a Curse? Examining Public Preferences for Differentiated Inte­gration, 28.9.2020, doi: 10.2139/ssrn.3761218.

19

 Sandra Kröger u. a., »The Democratic Dilemmas of Dif­ferentiated Integration: The Views of Political Party Actors«, in: Swiss Political Science Review, 27 (2021) 3, S. 563–581.

20

 Franca König/Florian Trauner, »From Trevi to Europol: Germany’s Role in the Integration of EU Police Cooperation«, in: Journal of European Integration, 43 (2021) 2, S. 175–190.

21

Christian Freudlsperger/Markus Jachtenfuchs, »A Member State Like any Other? Germany and the Euro­pean Integration of Core State Powers«, in: Journal of European Integration, 43 (2021) 2, S. 117–135.

22

 Barbara Lippert u. a. (Hg.), Strategische Autonomie Europas. Akteure, Handlungsfelder, Zielkonflikte, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Februar 2019 (SWP-Studie 2/2019), doi: 10.18449/2019S02.

23

 Ulrich Krotz/Lucas Schramm, »Embedded Bilateralism, Integration Theory, and European Crisis Politics: France, Germany, and the Birth of the EU Corona Recovery Fund«, in: JCMS (2021), doi: 10.1111/jcms.13251.

24

 Telle u. a., Differentiated Integration in the EU [wie Fn. 18].

25

 Vgl. Janis A. Emmanouilidis, Differentiated EUrope 2035: Elaboration and Evaluation of Five Potential Scenarios, September 2021 (EU IDEA Policy Papers, Nr. 16), <https://www.iai.it/sites/ default/files/euidea_pp_16.pdf> (eingesehen am 11.1.2022); Frank Schimmelfennig, »The Conference on the Future of Europe and EU Reform: Limits of Differentiated Integration«, in: European Papers, 5 (2020) 2, S. 989–998, doi: 10.15166/ 2499-8249/409. Für die entgegen­gesetzte Argumentation, dass die EU in den kommenden Jahren grundsätzlich weiter ausdifferenziert werden muss, vgl. Vivien A. Schmidt, »The Future of Differentiated Integration: A ›Soft-Core‹, Multi-Clustered Europe of Overlapping Policy Communities«, in: Comparative European Politics, 17 (2019) 2, S. 294–315.

26

 Europäische Kommission, Weißbuch zur Zukunft Europas. Die EU der 27 im Jahr 2025 – Überlegungen und Szenarien, COM(2017) 2025, Brüssel, 1.3.2017, <https://ec.europa.eu/ info/sites/default/files/weissbuch_zur_zukunft_europas_de. pdf> (eingesehen am 14.1.2022).

27

 Gemäß Artikel 3 (2) EUV sowie Titel V im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV).

28

 Die grenzüberschreitende Anerkennung zivilrechtlicher Entscheidungen ist ebenso Bestandteil des Raums der Frei­heit, der Sicherheit und des Rechts (RFSR), aber nicht Gegen­stand dieser Studie.

29

 Stefan Jagdhuber, »Unexplored Variation in European Integration Research: Mapping and Discussing Vertical Differentiation in the EU’s Area of Freedom, Security and Justice«, in: Politique européenne, 67–68 (2020) 1­–2, S. 54–82; Funda Tekin, »Opt-Outs, Opt-Ins, Opt-Arounds? Eine Analyse der Differenzierungsrealität im Raum der Freiheit, der Sicher­heit und des Rechts«, in: Integration, 35 (2012) 4, S. 237–257. Der Begriff der »Sicherheitsunion«, den die EU-Kommission seit einigen Jahren benutzt, geht über diese Unterschiede hinweg.

30

 Europäische Gemeinschaften, »Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik«, in: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, 22.9.2000, S. 19–62, <https://eur-lex. europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:42000 A0922(02)&from=EN> (eingesehen am 6.1.2022).

31

 Robert Böttner, The Constitutional Framework for Enhanced Cooperation in EU Law, Leiden: Brill Nijhoff, 2021 (Nijhoff Studies in European Union Law, Bd. 17), S. 281ff.

32

 Für Bulgarien und Rumänien liegen entsprechende Resolutionen seit 2011 vor, vgl. Euro­pean Parliament, Euro­pean Parliament Resolution of 13 October 2011 on the Accession of Bulgaria and Romania to Schengen, P7_TA(2011)0443, 2011, <https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-7-2011-0443_EN.pdf> (eingesehen am 7.9.2021).

33

 Die EU-Kommission bekräftigte im Rahmen der neuen Schengen-Strategie 2021, dass allen verbleibenden EU-Staa­ten der Beitritt zu gewähren sei, vgl. Europäische Kommission, »Hin zu einem stärkeren und widerstandsfähigeren Schengen-Raum«, QANDA/21/2707, Pressemitteilung, Brüssel, 2.6.2021, <https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/qanda_21_2707> (eingesehen am 21.2.2022).

34

 Council of the European Union, Council Conclusions on the Fulfilment of the Necessary Conditions for the Full Application of the Schengen Acquis in Croatia, 14883/21, Brüssel, 9.12.2021, <https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-14883-2021-INIT/en/pdf> (eingesehen am 3.1.2022).

35

 Protokoll Nr. 19, Artikel 4, zum Vertrag von Lissabon, siehe Europäische Union, »Konsolidierte Fassungen des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union«, in: Amtsblatt der Europäischen Union, OJ C 115, 9.5.2008, S. 290ff, <https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=OJ:C:2008: 115:FULL&from=DE> (eingesehen am 7.9.2021).

36

 Marta Migliorati, »Postfunctional Differentiation, Functional Reintegration: The Danish Case in Justice and Home Affairs«, in: Journal of European Public Policy (2021), S. 1–23.

37

 Protokoll Nr. 22 zum Vertrag von Lissabon, siehe Europäische Union, »Konsolidierte Fassung des Vertrags über die Europäische Union. Protokoll (Nr. 22) über die Position Dänemarks«, in: Amtsblatt der Europäischen Union, OJ C 326, 26.10.2012, <https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/ TXT/?uri=CELEX%3A12012M%2FPRO%2F22> (eingesehen am 28.2.2022).

38

 Falls dies nicht geschehen sollte, können seitens der EU und der anderen Schengen-Mitglieder unbestimmte »Maßnahmen« getroffen werden, vgl. Protokoll Nr. 22 [wie Fn. 37], Artikel 4.

39

 HM Government, The UK’s Cooperation with the EU on Justice and Home Affairs, and on Foreign Policy and Security Issues, 2016 (Background Note), <https://assets.publishing.service. gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/521926/The_UK_s_cooperation_with_the_EU_on_justice_and_home_affairs__and_on_foreign_policy_and_security_issues.pdf> (eingesehen am 7.9.2021).

40

 House of Lords, European Union Committee, The UK’s Opt-in Protocol: Implications of the Government’s Approach, 9th Report of Session 2014‒15, London 2015 (HL Paper 136), <https://publications.parliament.uk/pa/ld201415/ldselect/ldeucom/136/136.pdf> (eingesehen am 7.9.2021); Carole McCartney, »Opting in and Opting out: Doing the Hokey Cokey with EU Policing and Judicial Cooperation«, in: The Journal of Criminal Law, 77 (2013) 6, S. 543–561.

41

 Dies galt etwa für den Europäischen Haftbefehl (EuHB) oder die Vollmitgliedschaft in Europol oder Eurojust, wohingegen andere EU-Rechtsakte für den Schutz von Mindeststandards und Grundrechten von Beschuldigten nicht übernommen wurden.

42

 Vgl. Department of Justice, EU Justice and Home Affairs Measures Subject to Protocol 21 in which Ireland Did Opt-in, <http://www.justice.ie/en/JELR/EU-JHA-Protocol-21-Irl-Opt-In.pdf/Files/EU-JHA-Protocol-21-Irl-Opt-In.pdf> (eingesehen am 7.9.2021). In Einzelfällen entschied sich Irland sogar im Gegensatz zu Großbritannien zu einer Nichtteilnahme, wie bei der Europäischen Ermittlungsanordnung (EEA). Dem­gegenüber verfolgte Irland eine stärkere Beteiligung an der EU-Asylgesetzgebung, vgl. »Ireland to Opt into EU Directive Providing for Asylum Seekers’ Access to Workforce«, in: Irish Legal News (online), 22.11.2017, <https://www.irishlegal.com/ articles/ireland-to-opt-into-eu-directive-providing-for-asylum-seekers-access-to-workforce> (eingesehen am 7.9.2021).

43

 Vielmehr gesellte sich Polen an die Seite Großbritan­niens mit einem nationalen Vorbehalt zur Gültigkeit der Grundrechtecharta (Protokoll Nr. 30, Vertrag von Lissabon/ EUV). Damals ging es Polen um Entschädigungszahlungen, die mutmaßlich aus der Charta abgeleitet werden könnten. Dessen ungeachtet sollten liberale Grundrechte gemäß »gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitglied­staaten« nach Artikel 6 (3) EUV gewährleistet bleiben. Aus heutiger Sicht stellt sich dennoch die Frage, ob der polnische Opt-out von der Grundrechtecharta die europäische Konfrontation zur Rechtsstaatlichkeit verschärft, vgl. Vojtech Belling, »Supranational Fundamental Rights or Primacy of Sovereignty?«, in: European Law Journal, 18 (2012) 2, S. 251–268.

44

 Gemma Davies, »Facilitating Cross-Border Criminal Justice Cooperation between the UK and Ireland after Brexit: ›Keeping the Lights on‹ to Ensure the Safety of the Common Travel Area«, in: The Journal of Criminal Law, 85 (2021) 2, S. 77–97.

45

 Garda, »UPDATE – Commissioner Harris and Minister McEntee Welcome Ireland’s Connection to Schengen Information System (SIS II)«, Pressemitteilung, 19.3.2021, <https://www.garda.ie/en/about-us/our-departments/office-of-corporate-communications/press-releases/2021/march/update-commissioner-harris-and-minister-mcentee-welcome-irelands-connection-to-schengen-information-system-sis-ii-.html> (eingesehen am 9.9.2021).

46

 Europol, Agreement on Operational and Strategic Cooperation between the Kingdom of Denmark and Europol, 3.5.2017; Camino Mortera-Martínez u. a., Europol and Differentiated Integration, Januar 2021 (EU IDEA Policy Papers, Nr. 13), <https://euidea. eu/wp-content/uploads/2021/02/euidea_pp_13.pdf> (einge­sehen am 7.9.2021).

47

 Paul Arnell u. a., »Police Cooperation and Exchange of Information under the EU–UK Trade and Cooperation Agree­ment«, in: New Journal of European Criminal Law, 12 (2021) 2, S. 265–276.

48

 Henrik Stevnsborg, »Frontex and Denmark«, in: European Journal of Policing Studies, 1 (2013) 2, S. 136–152.

49

 Europäische Union, »Beschluss des Rates vom 21. Feb­ruar 2006 über den Abschluss des Übereinkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und dem Königreich Dänemark zur Ausdehnung auf Dänemark der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, sowie der Verordnung (EG) Nr. 2725/2000 des Rates über die Einrichtung von ›Eurodac‹ für den Vergleich von Fingerabdrücken zum Zwecke der effektiven Anwendung des Dubliner Über­einkommens«, 2006/188/EG, in: Amtsblatt der Europäischen Union, OJ L 66, 8.3.2006, S. 37, <https://eur-lex.europa.eu/ legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=OJ:L:2006:066:FULL& from=DE> (eingesehen am 7.9.2021).

50

 Mariam Lau/Paul Middelhoff, »Wie gut ist Dänemarks Migrationspolitik?«, in: Die Zeit (online), 25.7.2021, <https:// www.zeit.de/2021/30/boris-pistorius-kaare-dybvad-migration-daenemark-sozialdemokratie> (eingesehen am 7.9.2021).

51

 Monika Bolliger u. a., »Repressive Asylpolitik: Wie Däne­mark Syrer in die Flucht treibt«, in: Der Spiegel (online), 10.1.2022, <https://www.spiegel.de/ausland/repressive-asyl politik-wie-daenemark-syrer-in-die-flucht-treibt-a-5726a990-ca73-4eaf-b8a8-a84e7f24a8a5> (eingesehen am 11.1.2022).

52

 Artikel 72 und 73 AEUV [wie Fn. 35].

53

 Gemäß Artikel 4 (2) EUV, vgl. Ulrich Karpenstein/Roya Sangi, »Nationale Sicherheit im Unionsrecht: Zur Bedeutung von Art. 4 II 3 EUV«, in: Zeitschrift für das gesamte Sicherheitsrecht, 3 (2020) 4, S. 162–168.

54

 Raphael Bossong, Die nachrichtendienstlichen Schnittstellen der EU-Sicherheitspolitik. Optionen für einen Ausbau des Informa­tionsflusses und der fachlichen Aufsicht, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, November 2018 (SWP-Aktuell 66/2018), <https://www.swp-berlin.org/publikation/die-nachrichten dienstlichen-schnittstellen-der-eu-sicherheitspolitik> (ein­gesehen am 9.9.2021).

55

 Raphael Bossong, »Policy Networks for European Internal Security Governance: Toward a More Systematic Empirical and Normative Assessment«, in: Journal of Trans­atlantic Studies, 18 (2020) 2, S. 190–208.

56

 General Secretariat of the Council, Manual on Cross-Border Operations – Overview of Existing Agreements between the Member States in the Area of Police Cooperation, 13887/20 ADD 1, Brüssel, 16.12.2020, <https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ ST-13887-2020-ADD-1/en/pdf> (eingesehen am 7.9.2021).

57

 Die Benelux-Staaten haben in den letzten Jahren ihre Polizeikooperation weiter vertieft, was ggf. erneut als europa­weites Vorbild gelten kann. Vgl. Secrétariat général Benelux, »Benelux: Coopération policière«, 2018, <https:// www.benelux.int/fr/les-themes-cles/securite-societe/police-justice-migration/traite-de-police-benelux/> (eingesehen am 7.9.2021).

58

 Daniela Kietz/Andreas Maurer, »Der Vertrag von Prüm: Vertiefungs- und Fragmentierungstendenzen in der Justiz- und Innenpolitik der EU«, in: Integration, 29 (2006) 3, S. 201–212.

59

 Bundesministerium der Justiz, Vertrag zwischen dem Königreich Belgien, der Bundesrepublik Deutschland, dem Königreich Spanien, der Französischen Republik, dem Großherzogtum Luxemburg, dem Königreich der Niederlande und der Republik Österreich über die Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus, der grenzüberschreitenden Kriminalität und der illegalen Migration, 27.5.2005, <https://www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF/Themenseiten/Strafrecht/PruemerVertrag.pdf?__blob= publicationFile&v=1> (eingesehen am 7.9.2021).

60

 Europäische Union, »Beschluss 2008/615/JI des Rates vom 23. Juni 2008 zur Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus und der grenzüberschreitenden Kriminalität«, in: Amtsblatt der Europäischen Union, OJ L 210, 6.8.2008, <https:// eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX%3A 32008D0615> (eingesehen am 7.9.2021). Eine signifikante Ausnahme betrifft Regelungen des Prümer Vertrags zum Einsatz sogenannter Air Marshals.

61

 Matthias Monroy, »Prüm Decision: European Criminal Police Offices Agree on Face Recognition System«, 11.3.2020, <https://digit.site36.net/2020/03/11/pruem-decision-european-criminal-police-offices-agree-on-face-recognition-system/> (eingesehen am 7.9.2021); Samuel Stolton, »MEPs Raise Concerns on EU Plans for Police Facial Recognition Database«, Euractiv.com, 22.9.2020, <https://www.euractiv.com/ section/digital/news/meps-raise-concerns-on-eu-plans-for-police-facial-recognition-database/> (eingesehen am 7.9.2021).

62

 Thomas Wahl, »Prüm Cooperation: Agreements with Switzerland and Liechtenstein«, eucrim, 10.9.2020, <https:// eucrim.eu/news/prum-cooperation-agreements-switzerland-and-liechtenstein/> (eingesehen am 7.9.2021). Norwegen konnte 2020 ein Abkommen zu Prüm ratifizieren, was für Island noch offen ist.

63

 Bundeskanzleramt Österreich, Exekutivsekretariat des Österreichischen EU-Ratsvorsitzes 2018, »Westbalkan-Konfe­renz: Prüm-Abkommen für Südosteuropa unterzeichnet«, Pressemitteilung, 13.9.2018, <https://www.eu2018.at/de/ latest-news/news/09-13-Westbalkan-Konferenz--Pr-m-Abkommen-f-r-S-dosteuropa-unterzeichnet-.html> (einge­sehen am 7.9.2021).

64

  Vgl. Oriola Sallavaci, »Strengthening Cross-Border Law Enforcement Cooperation in the EU: The Prüm Network of Data Exchange«, in: European Journal on Criminal Policy and Research, 24 (2018) 3, S. 219–235.

65

 »Policing: EU and UK to Extend Post-Brexit Biometric Data Exchange Agreement«, Statewatch, 27.9.2021, <https:// www.statewatch.org/news/2021/september/policing-eu-and-uk-to-extend-post-brexit-biometric-data-exchange-agree ment/> (eingesehen am 4.1.2022).

66

 Arnell u. a., »Police Cooperation and Exchange of Information« [wie Fn. 47].

67

 Raphael Bossong, Intelligente Grenzen und interoperable Datenbanken für die innere Sicher­heit der EU. Umsetzungsrisiken und rechtsstaatliche Anforderungen, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, April 2018 (SWP-Studie 4/2018), <https:// www.swp-berlin.org/publikation/intelligente-grenzen-und-interoperable-datenbanken-fuer-die-innere-sicherheit-der-eu>; Katrien Luyten/Sofija Voronova, Interoperability between EU Border and Security Information Systems, Juni 2019 (Briefing EU Legislation in Progress, PE 628.267), <https://www.eu monitor.nl/9353000/1/j4nvgs5kjg27kof_j9vvik7m1c3gyxp/ vkuznk8m9xtz/f=/vkuznk8m9xtz.pdf> (jeweils eingesehen am 11.1.2022).

68

Zach Meyers/Camino Mortera-Martinez, The Three Deaths of EU–UK Data Adequacy, London/Brüssel/Berlin: Centre for Euro­pean Reform (CER), 15.11.2021 (CER Insight), <https://www. cer.eu/sites/default/files/insight_ZM_CMM_data_15.11.21.pdf> (eingesehen am 11.1.2022).

69

 Artikel 20 EUV und 326–334 AEUV. Für den Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) gelten Sonderbestimmungen, im Rahmen der sogenannten Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (SSZ, engl. PESCO), gemäß Artikel 42 (6) und 36 EUV.

70

 Im allgemeinen EU-Recht ist dieses Verfahren bisher nur in sehr wenigen Fällen genutzt worden (im Scheidungsrecht und für den Güterstand internationaler Paare sowie für ein einheitliches europäisches Patent), vgl. Wolfgang Wessels/ Carsten Gerards, The Implementation of Enhanced Cooperation in the Europen Union, Oktober 2018 (Study, PE 604.987), <https:// www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/STUD/2018/604987/IPOL_STU(2018)604987_EN.pdf> (eingesehen am 7.9.2021).

71

 Jacob Öberg, »The European Public Prosecutor: Quin­tessential Supranational Criminal Law?«, in: Maastricht Journal of European and Comparative Law, 28 (2021) 2, S. 164–181.

72

 Jörg Monar, »Eurojust and the European Public Prosecutor Perspective: From Cooperation to Integration in EU Crimi­nal Justice?«, in: Perspectives on European Politics and Society, 14 (2013) 3, S. 339–356.

73

 Siehe Artikel 86 (1) AEUV. Im weiteren Bereich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts finden sich ähnliche erweiterte Bestimmungen zur Verstärkten Zusammenarbeit. So kann ein Staat, der sich durch Mehrheitsbeschlüsse im Kern seiner nationalen Strafrechtsordnung bedroht sieht, ein Gesetzgebungsvorhaben auf den Europäischen Rat verweisen. Wenn dadurch keine einstimmige Lösung gefunden wird, können mindestens neun Staaten – wie bei der regulären Verstärkten Zusammen­arbeit – eine eigenständige Regelung verfolgen. Die Option zur Verstärkten Zusammenarbeit besteht auch für eine Erweiterung der strafrechtlichen Harmonisierungskompetenz der EU (Artikel 83 (1) AEUV) oder für die Vertiefung der operativen Zusammenarbeit von Strafverfolgungsbehörden (nach Artikel 87 (3) AEUV), die außerhalb des Schengen-Rechts fallen. Bislang sind diese Verfahren nicht genutzt worden.

74

 Diane Fromage, »The Second Yellow Card on the EPPO Proposal: An Encouraging Development for Member State Par­liaments?«, in: Yearbook of European Law, 35 (2016) 1, S. 5–27.

75

 Alexandre Met-Domestici, »The Hybrid Architecture of the EPPO. From the Commission’s Proposal to the Final Act«, in: eucrim (2017) 3, S. 143–149.

76

 Es ist nicht ausgeschlossen, dass Schweden mittelfristig nachzieht, vgl. Günther Oettinger, »Sweden Open to Join the European Public Prosecutor’s Office«, EU Monitor, 4.4.2019, <https://www.eumonitor.eu/9353000/1/j9vvik7m1c3gyxp/vkxdlvtgl6y6?ctx=vhyzn0ikkwxq> (eingesehen am 7.9.2021).

77

 Dies gilt hauptsächlich für Ungarn, vgl. Transparency International Hungary Foundation/Krisztina Karsai, The Euro­pean Public Prosecutor’s Office and Hungary. Challenge or Missed Opportunity?, 2021, <http://publicatio.bibl.u-szeged.hu/20767/ 1/europai_ugyeszseg_eng_VEGSO.pdf> (eingesehen am 11.1.2022).

78

 Nicholas Franssen, »The Future Judicial Cooperation between the EPPO and Non-Participating Member States«, in: New Journal of European Criminal Law, 9 (2018) 3, S. 291–299.

79

 Daniel Gros u. a., »Rule of Law and the Next Generation EU Recovery«, Brüssel: Centre for European Policy Studies, 15.10.2020, <https://www.ceps.eu/rule-of-law-and-the-next-generation-eu-recovery/> (eingesehen am 7.9.2021).

80

 Benjamin Leruth u. a., »Exploring Differentiated Dis­integration in a Post-Brexit European Union«, in: JCMS, 57 (2019) 5, S. 1013–1030.

81

 Ariane Chebel d’Appollonia, »EU Migration Policy and Border Controls: From Chaotic to Cohesive Differentiation«, in: Comparative European Politics, 17 (2019) 2, S. 192–208.

82

 Eine wachsende Rechtsprechung von nationalen Gerich­ten und des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) kreist darum, ob der Europäische Haftbefehl gegenüber allen anderen Mit­gliedstaaten vor­behaltlos durchgeführt werden kann. Bisher muss im Einzelfall nachgewiesen werden, dass ein Beschuldig­ter nach Überstellung kein faires Verfahren oder keine men­schenwürdige Behandlung erhalten würde. Zugleich unterstreicht der EuGH die strukturelle Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit, vgl. Matteo Bonelli, »Intermezzo in the Rule of Law Play: The Court of Justice’s LM Case«, in: Armin von Bogdandy u. a., Defending Checks and Balances in EU Member States, Berlin/Heidelberg: Springer, 2021, S. 455–476, doi: 10.1007/978-3-662-62317-6_19.

83

 Raphael Bossong, Der ungelöste Streit um die Rechtsstaatlichkeit in der EU. Weitere Sanktionen und schwere Zeiten für Polens Beziehungen zur Union, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Poli­tik, Dezember 2021 (SWP-Aktuell 76/2021), doi: 10.18449/ 2021A76.

84

 R. Daniel Kelemen, »Epilogue: A Note of Caution on Differentiated Integration«, in: Swiss Political Science Review, 27 (2021) 3, S. 672–681.

85

 Emmanuel Comte, The European Asylum System: A Necessary Case of Differentiation, Juli 2020 (EU IDEA Policy Papers, Nr. 3), <https://euidea.eu/wp-content/uploads/2020/07/euidea_pp_ 3.pdf> (eingesehen am 7.9.2021).

86

 Abgesehen von Irland, Großbritannien und Dänemark, siehe Seite 11f und 12ff.

87

 1. Dublin-Verordnung, 2. Eurodac-Verordnung, 3. Asylverfahrensrichtlinie, 4. Qualifikationsrichtlinie und 5. Aufnahmerichtlinie. Weitere relevante Rechtsakte der EU-Asylpolitik sind unter anderem die Rückführungsrichtlinie und die Richtlinie zur Familienzusammenführung.

88

 Natascha Zaun, »Why EU Asylum Standards Exceed the Lowest Common Denominator: The Role of Regulatory Expertise in EU Decision-Making«, in: Journal of European Public Policy, 23 (2016) 1, S. 136–154.

89

 Artikel 18 Grundrechtecharta.

90

 Bernd Parusel, Pieces of the Puzzle. Managing Migration in the EU, Brüssel 2020, <https://fores.se/wp-content/uploads/2021/ 02/Pieces-of-the-puzzle_online.pdf> (eingesehen am 7.9.2021).

91

 R. Daniel Kelemen/Tommaso Pavone, Where Have the Guardians Gone? Law Enforcement and the Politics of Supranational Forbearance in the European Union (APSA Preprints, Public Law and Courts), doi: 10.33774/apsa-2022-c0qjl.

92

 Tineke Strik, »Fundamental Rights as the Cornerstone of Schengen«, in: European Journal of Migration and Law, 23 (2021) 4, S. 508–534.

93

 Iris Goldner Lang, »No Solidarity Without Loyalty: Why Do Member States Violate EU Migration and Asylum Law and What Can Be Done?«, in: European Journal of Migration and Law, 22 (2020) 1, S. 39–59; Evangelia Tsourdi, »Asylum in the EU: One of the Many Faces of Rule of Law Backsliding?«, in: European Constitutional Law Review, 17 (2021) 3, S. 471–497.

94

 Europäische Kommission, Mitteilung der Kommission. Ein neues Migrations- und Asylpaket, COM(2020) 609 final, Brüssel, 23.9.2020, <https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/ TXT/HTML/?uri=CELEX:52020DC0609&from=DE> (eingesehen am 12.1.2022). Zu beachten ist, dass das Paket je nach Über­setzung auch als »Pakt« bezeichnet wird.

95

 Unabhängige Evaluierungen durch die EU-Asylbehörde (EASO bzw. EUAA) können erst erfolgen, wenn eine breitere Einigung zur Reform der EU-Migrationspolitik erreicht ist, vgl. Jacopo Barigazzi, »Mediterranean Countries Give Green Light to Deal on EU Asylum Agency«, Politico (online), 8.6.2021, <https://www.politico.eu/article/mediterranean-countries-green-light-deal-eu-asylum-agency/> (eingesehen am 7.9.2021).

96

 Entsprechende Verteilungseffekte sind durch Verfahrens­dauer und Anerkennungsraten teilweise erklärbar, vgl. Simone Bertoli u. a., Do Processing Times Affect the Distribution of Asylum Seekers across Europe?, Bonn: Institute of Labor Eco­nomics (IZA), 2020 (IZA Discussion Papers, Nr. 13018), <https://www.econstor.eu/handle/10419/216330> (eingesehen am 2.3.2022). Allerdings sind andere Faktoren wie der Arbeits­markt oder bereits vorhandene persönliche Netzwerke (An­gehörige, Diaspora) oft wichtiger für die Auswahl des Ziel­lands, so dass keine klaren Aussagen darüber getroffen werden können, welche rechtlichen oder institutionellen Vorgaben einen signifikanten Einfluss auf die Höhe der sekundären Zuwanderung ausüben.

97

 Stand Februar 2017 konnten lediglich knapp 12.000 Personen umgesiedelt werden, vgl. Elspeth Guild u. a., Implementation of the 2015 Council Decisions Establishing Provisional Measures in the Area of International Protection for the Benefit of Italy and of Greece, Brüssel 2017 (Study, PE 583 132), <https:// www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/STUD/2017/583132/IPOL_STU(2017)583132_EN.pdf> (eingesehen am 12.1.2022).

98

 Natascha Zaun, »Fence-Sitters No More: Southern and Central Eastern European Member States’ Role in the Dead­lock of the CEAS Reform«, in: Journal of European Public Policy, 29 (2022) 2, S. 196–217.

99

European Commission, Communication from the Commission to the European Parliament, the Council, the European Economic and Social Committee and the Committee of the Regions on the Report on Migration and Asylum, COM(2021) 590 final, Brüssel, 29.9.2021, S. 10, <https://ec.europa.eu/info/sites/default/files/report-migration-asylum.pdf> (eingesehen am 6.1.2022). Allerdings gilt es zu beachten, dass anscheinend ein Großteil dieser irregulären Zuwanderer aus Italien in andere EU-Länder weiterzieht. Zumindest sind die offiziellen Zahlen von Asyl­gesuchen in Italien deutlich niedriger, vgl. Asylum Information Database/European Council on Refugees and Exiles, »Statistics: Italy«, <https://asylumineurope.org/reports/country /italy/statistics/> (eingesehen am 26.1.2022).

100

 Europäische Kommission, »Umsiedlung unbegleiteter Minderjähriger aus Griechenland«, QANDA/20/1291, Pressemitteilung, Brüssel, 7.7.2020, <https://ec.europa.eu/commis sion/presscorner/detail/de/QANDA_20_1291> (eingesehen am 22.2.2022).

101

 Deutscher Bundestag, Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Michel Brandt, Ulla Jelpke, Zaklin Nastic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Die Linke. Situation in Geflüchtetenlagern auf den griechischen Inseln und humanitäre Aufnahmebereitschaft von Kommunen und Ländern in Deutschland, 3.9.2020 (Drucksache 19/22080), <https://dserver.bundes tag.de/btd/19/220/1922080.pdf> (eingesehen am 7.9.2021).

102

 1.500 Minderjährige im Familienverbund, insgesamt 3.700 Personen, sowie zusätzlich 500 unbegleitete Minderjährige, vgl. Deutscher Bundestag, Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Luise Amtsberg, Filiz Polat, Claudia Roth (Augsburg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Aufnahme von Geflüchteten aus Griechenland in Deutschland, 9.12.2020 (Drucksache 19/25072), <https://dserver.bundestag.de/btd/19/250/1925072.pdf> (eingesehen am 7.9.2021).

103

 Nina von Hardenberg, »Flüchtlinge aus Griechenland: Viele kommen auf eigene Faust«, in: Süddeutsche Zeitung (online), 29.9.2021, <https://www.sueddeutsche.de/politik/ moria-fluechtlinge-deutschland-1.5405102> (eingesehen am 6.1.2022).

104

 European Commission, Communication on the Report on Migration and Asylum [wie Fn. 99].

105

 Jacopo Barigazzi, »EU Powerhouses Ask Greece to Do More to Take Back Migrants«, Politico (online), 3.6.2021, <https://www.politico.eu/article/eu-greece-migration-leaked-letter/> (eingesehen am 12.1.2022). Vgl. Fn. 99 und vergleich­bare Kritik an Italien.

106

 22 EU-Mitgliedstaaten hatten sich seit 2001 (zeitweise) an der Nato-Mission in Afghanistan beteiligt. Die EU-Institu­tionen übernahmen nur die Verantwortung für Personen, die unmittelbar mit der EU-Vertretung vor Ort zusammengearbeitet hatten.

107

 Rat der Europäischen Union, »Wie die EU Migrationsbewegungen steuert«, 8.10.2021, <https://www.consilium. europa.eu/de/policies/eu-migration-policy/managing-migration-flows/> (eingesehen am 29.1.2022).

108

 »EU Member States Agree to Take in 40,000 Afghans«, Euractiv.com, 10.12.2021, <https://www.euractiv.com/section/ justice-home-affairs/news/eu-member-states-agree-to-take-in-40000-afghans/> (eingesehen am 6.1.2022).

109

 Vgl. Artikel 80 AEUV.

110

 Florian Naumann, »Faeser und Macron schmieden an neuem Migrations-Plan – doch Öster­reich setzt 16er-Bünd­nis entgegen«, Merkur.de, 6.2.2022, <https://www.merkur.de/ politik/asyl-migration-europa-deutschland-faeser-macron-oesterreich-allianz-vernunft-lille-schengen-grenzen-91279842.html> (eingesehen am 8.2.2022).

111

 Diese Option zur flexiblen Solidarität orientiert sich vermutlich an den Vorschlägen im offiziellen EU-Paket für Migration und Asyl und an denen für eine neue Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement, siehe Seite 25ff.

112

 Nikolaj Nielsen, »Austria Contests French Claim on Migration Accord«, EUobserver, 8.2.2022, <https://euobserver. com/migration/154312> (eingesehen am 8.2.2022).

113

 Europäische Union, »Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom 20. Juli 2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Auf­nahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten«, in: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, L 212, 7.8.2001, S. 12–23, <https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX: 32001L0055> (eingesehen am 23.2.2022). Siehe auch Seite 29f. Zur genaueren Darstellung des Verfahrens und der bisherigen Bewertung vgl. Hanne Beirens u. a., European Commission, Study on the Temporary Protection Directive, Brüssel, Januar 2016, <https://ec.europa.eu/home-affairs/system/ files/2020-09/final_report_evaluation_tpd_en.pdf> (einge­sehen am 1.3.2022).

114

 Ein klassisches Beispiel sind militärische Allianzen wie die Nato. Noch stärker gilt für die Klimapolitik, dass die Re­duk­tion von Treibhausgasen eine globale Notwendigkeit ist, aber ohne ein rechtlich verpflichtendes Regime die Versuchung besteht, allein auf die Anstrengungen anderer Staaten zu setzen, vgl. Diego Caballero Vélez/Marta Pachocka, »Pro­ducing Public Goods in the EU: European Integration Pro­cesses in the Fields of Refugee Protection and Climate Sta­bility«, in: European Politics and Society, 22 (2021) 1, S. 1–18.

115

 Maïté Sélignan, »Immigration: Macron plaide pour une refonte de Schengen«, in: Le Figaro (online), 25.4.2019, <https://www.lefigaro.fr/international/immigration-macron-plaide-pour-une-refonte-de-schengen-20190425> (eingesehen am 10.9.2021).

116

»France Takes over EU Council Presidency amid Macron’s Demands for Reformation of Schengen Area«, SchengenVisa­Info.com, 1.1.2022, <https://www.schengenvisainfo.com/ news/france-takes-over-eu-council-presidency-amid-macrons-demands-for-reformation-of-schengen-area/> (eingesehen am 12.1.2022).

117

 Comte, The European Asylum System [wie Fn. 85].

118

 Ruben Zaiotti, »The Italo-French Row over Schengen, Critical Junctures, and the Future of Europe’s Border Regime«, in: Journal of Borderlands Studies, 28 (2013) 3, S. 337–354.

119

 Europäische Union, »Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex)«, in: Amts­blatt der Europäischen Union, OJ L 77, 23.3.2016, Artikel 29, <https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri= celex%3A32016R0399> (eingesehen am 7.9.2021).

120

 Ein noch weitreichenderer zeitweiser Ausschluss Griechenlands von der Personenfreizügig­keit stand zur Debatte, wurde aber letztlich analog zur Eurokrise aus übergeordneten Interessen des europäischen Zusammenhalts verworfen. Anstatt dessen wurde der Akzent darauf gelegt, die irreguläre Zuwanderung im östlichen Mittelmeer zu reduzieren, und der sogenannte EU-Türkei-Deal zu diesem Zweck vereinbart.

121

 Diese Binnengrenzkontrollen finden allerdings seit Ende 2017 ohne klare Rechtsgrundlage statt und mit immer gemischteren oder kaum vorhandenen Begründungen, vgl. Raphael Bossong/Tobias Etzold, Die Zukunft von Schengen. Binnengrenzkontrollen als Herausforderung für die EU und die nordischen Staaten, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Oktober 2018 (SWP-Aktuell 53/2018), <https://www.swp-berlin.org/publikation/die-zukunft-von-schengen> (einge­sehen am 21.2.2022).

122

 Vgl. »Verordnung (EU) 2016/399« [wie Fn. 119], Artikel 21, sowie Europäische Kommission, Bericht der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament über die Funktionsweise des Schengen-Evaluierungs- und -Überwachungsmechanismus gemäß Artikel 22 der Verordnung (EU) Nr. 1053/2013 des Rates. Erstes mehrjähriges Evaluierungsprogramm (2015–2019), COM(2020) 779 final, Brüssel, 25.11.2020, <https://eur-lex.europa.eu/ legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52020DC0779&from =EN> (eingesehen am 7.9.2021).

123

 Europäische Kommission, Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat. »Strategie für einen rei­bungs­los funktionierenden und resilienten Schengen-Raum«, COM(2021) 277 final, Brüssel, 2.6.2021, <https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52021DC0277&from=EN> (eingesehen am 7.9.2021).

124

 European Commission, Proposal for a Regulation of the European Parliament and of the Council Amending Regulation (EU) 2016/399 on a Union Code on the Rules Governing the Movement of Persons across Borders, COM(2021) 891 final, Straßburg, 14.12.2021, <https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/ TXT/HTML/?uri=CELEX:52021PC0891&from=EN> (ein­gesehen am 12.1.2022).

125

 Vgl. Artikel 23a des Reformvorschlags [wie Fn. 124].

126

 Vgl. Artikel 28 [wie Fn. 124] als Ergänzung zum bereits geltenden Artikel 29, der systematische Defizite beim Außen­grenzschutz als Begründung für anhaltende Binnengrenzkontrollen erlaubt.

127

 Europäische Kommission, »Kodex für die polizeiliche Zusammenarbeit: Polizei soll intensiver zusammenarbeiten«, IP/21/6645, Pressemitteilung, 8.12.2021, <https://ec.europa. eu/commission/presscorner/detail/de/ip_21_6645> (einge­sehen am 22.2.2022).

128

 Zusätzlich können die betroffenen Staaten durch verschiedene EU-Agenturen (Frontex, Europol, Asylagentur) bei der Bewältigung der Lage unterstützt werden, vgl. Euro­pean Commission, Proposal for a Regulation of the European Parliament and of the Council Addressing Situations of Instrumentalisation in the Field of Migration and Asylum, COM(2021) 890 final, Straßburg, 14.12.2021, <https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/HTML/?uri=CELEX:52021PC0890&from=EN> (eingesehen am 12.1.2022).

129

 Europäische Kommission, Vorschlag für einen Beschluss des Rates über vorläufige Sofortmaßnahmen zugunsten von Lettland, Litauen und Polen, COM(2021) 752 final, Brüssel, 1.12.2021, <https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri =CELEX:52021PC0752&from=EN> (eingesehen am 12.1.2022).

130

 Nikolaj Nielsen, »Dozen Ministers Want EU to Finance Border Walls«, EUobserver, 8.10.2021, <https://euobserver. com/migration/153169> (eingesehen am 29.1.2022).

131

 Dick Roche, »Macron’s Vision of European Sovereignty«, Euractiv.com, 10.1.2022, <https://www.euractiv.com/section/ global-europe/opinion/macrons-vision-of-european-sovereignty/> (eingesehen am 12.1.2022).

132

 Insgesamt umfasst das Paket mindestens zehn Rechtsakte und vier Empfehlungen, die zum Teil Novellierungen des bestehenden Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) darstellen und zum Teil neue Ver­fahren schaffen sollen. Als wichtigste Aspekte gelten 1. die Schaffung eines einheitlichen »Screenings« aller irregulären Zuwanderer, 2. die breite Einrichtung sogenannter »Asylgrenzverfahren«, um zügig Entscheidungen über Anträge von Schutzsuchenden zu fällen, die nur wenig Chancen auf Anerkennung haben, 3. deutlich stärkere europäische Anstren­gungen zur Durchsetzung von Rückführungen und 4. Verfahren zur Verteilung von Personen, deren Asylantrag Aussicht auf Erfolg hat (sowie von Personen, die im Rahmen von Seenotrettungsaktionen angelandet sind). Vgl. Steffen Angenendt u. a., Das neue EU-Migrations- und Asylpaket: Befreiungsschlag oder Bankrotterklärung?, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, September 2020 (SWP-Aktuell 78/2020), doi: 10.18449/2020A78.

133

 Evelien Brouwer u. a., The European Commission’s Legis­lative Proposals in the New Pact on Migration and Asylum, Juli 2021 (Study, PE 697.130), <https://www.europarl.europa.eu/Reg Data/etudes/STUD/2021/697130/IPOL_STU(2021)697130_ EN.pdf> (eingesehen am 10.9.2021).

134

 Nicole Scicluna, »Wilful Non-Compliance and the Threat of Disintegration in the EU’s Legal Order«, in: Swiss Political Science Review, 27 (2021) 3, S. 654–671. Die Konzeption der Kommission für das neue Paket für Asyl und Migration bestätigt derweil die Sonderregeln für Schengen-Drittstaaten sowie Dänemark und Irland. Diese Länder würden nur Reform­bereichen verpflichtet, die in aktuell geltenden Ab­kom­men geregelt sind. Das betrifft etwa die Bestimmung der Zuständigkeit für Asylbewerber sowie deren Überstellung. Für Irland sehen alle zusätzlichen Reformen eine Opt-in-Möglichkeit vor. Vgl. Europäische Kommission, Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Asyl- und Migrationsmanagement und zur Änderung der Richtlinie (EG) 2003/109 des Rates und der vorgeschlagenen Verordnung (EU) XXX/XXX [Asyl- und Migrationsfonds], COM(2020) 610 final, Brüssel, 23.9.2020, <https://eur-lex.europa.eu/resource.html? uri=cellar:2a12bbba-ff62-11ea-b31a-01aa75ed71a1.0012.02/ DOC_1&format=PDF> (eingesehen am 23.9.2021).

135

 Yoo-Duk Kang, »Refugee Crisis in Europe: Determinants of Asylum Seeking in European Countries from 2008–2014«, in: Journal of European Integration, 43 (2021) 1, S. 33–48; Jordi Paniagua u. a., »Asylum Migration in OECD Countries: In Search of Lost Well-Being«, in: Social Indicators Research, 153 (2021) 3, S. 1109–1137; Jasper D. Tjaden/ Tobias Heidland, Does Welcoming Refugees Attract More Migrants? The Myth of the »Merkel Effect«, Kiel: Kiel Institute for the World Economy (IfW), 2021 (Kiel Working Paper Nr. 2194), <https:// www.econstor.eu/handle/10419/240206> (eingesehen am 2.3.2022). Abgesehen von der umstrittenen Gewichtung gegen­über Push-Faktoren gilt es zu unterscheiden zwischen strukturellen Pull-Faktoren, die sich etwa aus der wirtschaftlichen Entwicklung, der allgemeinen Lebensqualität oder sozialen Netzwerken (Diaspora) ableiten, und einzelnen politischen Bestimmungen zum Asylrecht. Letztere haben im Schnitt einen geringeren Ein­fluss. Es könnte jedoch gel­tend gemacht werden, dass der signifikante Effekt, der von bereits vorhandenen Zuwanderer­gruppen auf neue potenzielle Zuwanderer aus denselben Herkunftsländern ausgeht, im Rahmen einer politischen Verteilung von Asylsuchenden zu berücksichtigen ist. Die Erfahrungen mit Belarus, dass eine Weiterreise von Schutzsuchenden oder anderen Zuwanderern in die EU aktiv befördert wurde, ist derweil gesondert zu betrachten, siehe Seite 29f.

136

 Europäische Kommission, Geänderter Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einführung eines gemeinsamen Verfahrens zur Gewährung internationalen Schutzes in der Union und zur Aufhebung der Richtlinie 2013/32/EU, COM(2020) 611 final, Brüssel, 23.9.2020, <https://eur-lex. europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52020PC 0611&from=EN> (eingesehen am 10.9.2021).

137

 Im Rahmen des sogenannten Screening-Verfahrens, dem zufolge alle irregulär ankommenden Personen und Schutzsuchenden einheitlichen Sicherheits- und Vor­überprüfungen an den EU-Außengrenzen unterzogen wer­den sollen. Dies ist ein eigenständiger und wichtiger Reform­vorschlag des EU-Pakets zu Migration und Asyl, vgl. Europäische Kommission, Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einführung des Screenings von Dritt­staatsangehörigen an den Außengrenzen und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 767/2008, (EU) 2017/2226, (EU) 2018/1240 und (EU) 2019/817, COM(2020) 612 final, Brüssel, 23.9.2020, <https://ec.europa.eu/transparency/documents-register/detail ?ref=COM(2020)612&lang=de> (eingesehen am 26.1.2022).

138

 Galina Cornelisse/Marcelle Reneman, »Border Pro­cedures in the Commission’s New Pact on Migration and Asylum: A Case of Politics Outplaying Rationality?«, in: European Law Journal, 26 (2020) 3–4, S. 181–198.

139

 Karoline Popp, »No more Morias«? Die Hotspots auf den griechischen Inseln: Entstehung, Herausforderungen und Perspektiven, Berlin: Sachverständigenrat für Integration und Migra­tion, 2021 (SVR-Policy Brief 2021-1), <https://www.stiftung-mercator.de/content/uploads/2021/03/SVR_Policy-Brief_ Moria.pdf> (eingesehen am 10.9.2021).

140

 Martina Tazzioli/Glenda Garelli, »Containment beyond Detention: The Hotspot System and Disrupted Migration Movements across Europe«, in: Environment and Planning D: Society and Space, 38 (2020) 6, S. 1009–1027.

141

 Demnach werden zu gleichen Teilen die Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft berücksich­tigt, vgl. Pierre Georges Van Wolleghem, If Dublin IV Were in Place during the Refugees Crisis … A Simulation of the Effect of Mandatory Relocation, Mailand: Iniziative e Studi sulla Multietnicità (ISMU), Januar 2018 (Paper ISMU), doi: 10.13140/RG.2.2.16595.89120. Das bedeutet nicht, dass nicht über weitere Faktoren zu verhandeln ist, etwa die Zahl der Neuansiedlungen oder der sekundären Zuwanderer sowie über Asyl-Zweitanträge.

142

 Vgl. Seite 20ff.

143

 Olivia Sundberg Diez/Florian Trauner, EU Return Sponsor­ships: High Stakes, Low Gains?, Brüssel: European Policy Centre, Januar 2021 (Discussion Paper), <https://cris.vub.be/ ws/files/63993486/eu_return_sponsorships_v3.pdf> (ein­gesehen am 22.2.2022).

144

 European Court of Auditors, EU Readmission Cooperation with Third Countries: Relevant Actions Yielded Limited Results, Luxemburg 2021 (Special Report 2021/17), <https://www.eca. europa.eu/Lists/ECADocuments/SR21_17/SR_Readmission-cooperation_EN.pdf> (eingesehen am 12.1.2022).

145

 Europäische Kommission, Geänderter Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einführung eines gemeinsamen Verfahrens zur Gewährung internationalen Schutzes in der Union und zur Aufhebung der Richtlinie 2013/32/EU, COM(2020) 611 final, Brüssel, 23.9.2020, <https://eur-lex. europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52020PC 0611&from=EN> (eingesehen am 10.9.2021).

146

 »Richtlinie 2001/55/EG« [wie Fn. 113].

147

 Danielle Gluns/Janna Wessels, »Waste of Paper or Useful Tool? The Potential of the Temporary Protection Directive in the Current ›Refugee Crisis‹«, in: Refugee Survey Quarterly, 36 (2017) 2, S. 57–83.

148

 »Richtlinie 2001/55/EG« [wie Fn. 113], Artikel 24–26.

149

 Auf Antrag des betroffenen Staates und durch Ver­waltungsentscheid der Kommission – unterstützt durch ein regelmäßiges Monitoring im Rahmen des sogenannten Vorsorge- und Krisenplans für Migration.

150

 Nikolai Atanassov, Crisis and Force Majeure Regulation, Januar 2021 (Briefing EU Legislation in Progress, PE 659.448), <https://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/BRIE/2021/659448/EPRS_BRI(2021)659448_EN.pdf> (eingesehen am 12.1.2022).

151

Brouwer u. a., The European Commission’s Legislative Proposals in the New Pact on Migration and Asylum [wie Fn. 133], S. 122ff.

152

 Die genaueren Mechanismen zur Verteilung bleiben im verschränkten Vorschlag für eine Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement definiert.

153

European Commission, Proposal for a Regulation of the Euro­pean Parliament and of the Council Addressing Situations of Instru­mentalisation in the Field of Migration and Asylum [wie Fn. 128].

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