Die tschechische Regierung kündigte am 17. April an, sie werde 18 Mitarbeiter der russischen Botschaft in der Tschechischen Republik zur Ausreise auffordern. Prag wirft Moskau vor, russische Agenten seien verantwortlich für zwei Explosionen in einem Munitionslager im osttschechischen Vrbětice, die sich 2014 ereigneten. Russland reagierte mit der Ausweisung von 20 Botschaftsmitarbeitern, woraufhin Prag verkündete, das russische Botschaftspersonal weiter zu reduzieren. Auch hat Russland wohl kaum noch Chancen, beim geplanten Ausbau des Atomkraftwerks Dukovany zum Zug zu kommen. Angesichts des tiefsten bilateralen Zerwürfnisses mit Russland seit 1989 (bzw. seit der Unabhängigkeit des Landes 1993) wirbt die Tschechische Republik nun um die Unterstützung der Verbündeten in Nato und EU. Deutschland sollte den Umgang mit Russland sowie das Thema hybride Bedrohungen zu einem sichtbaren Element des Dialogs mit Prag machen.
Am 17. April erklärte die tschechische Regierung, sie werde 18 russische Diplomaten und Botschaftsangestellte ausweisen, denen nachrichtendienstliche Tätigkeit vorgeworfen wird. Dieser Schritt resultierte aus Erkenntnissen der tschechischen Geheimdienste, die russischen Agenten die Verantwortung für zwei Explosionen in einem Munitionsdepot in der Gemeinde Vrbětice zuschreiben. Bei dem Vorfall im Jahr 2014 kamen zwei tschechische Staatsbürger ums Leben. Die tschechischen Dienste gehen davon aus, dass die Geschehnisse in Vrbětice das Werk zweier Mitarbeiter des russischen Militärgeheimdienstes GRU waren, die auch den Giftanschlag im britischen Salisbury verübt haben sollen. Die Anschläge sollen sich gegen eine bulgarische Firma gerichtet haben, die die in Vrbětice von einem tschechischen Unternehmen gelagerte Munition möglicherweise in die Ukraine verkaufen wollte. Nach den bislang öffentlich gewordenen Informationen hätten die Explosionen vermutlich erst später stattfinden sollen, das heißt, wenn sich das Material bereits außerhalb des Landes befunden hätte, um so eventuell den Händler oder die Endabnehmer zu treffen. Mutmaßlich kam es aber durch Fehler schon in Vrbětice zu den Detonationen.
Russland dementierte die Anschuldigungen und verwies umgehend 20 tschechische Diplomaten bzw. Botschaftsangestellte des Landes. Prag betrachtete diese Reaktion als unverhältnismäßig und verlangte daraufhin eine weitere Reduktion des russischen Botschaftspersonals, und zwar um weitere 63 Personen. Da die russische Vertretung in Prag einen ungleich höheren Personalbestand aufweist als die tschechische in Moskau, zielte die tschechische Regierung auf die Herstellung von Parität. Laut offiziellen tschechischen Angaben lag das Verhältnis vor den Ausweisungen bei 58 Personen in den tschechischen Vertretungen in Russland zu 129 in den russischen Vertretungen in der Tschechischen Republik. Diese Zahlen umfassen Diplomaten und sonstiges Botschaftspersonal ohne Ortskräfte und berücksichtigen Botschaften ebenso wie Konsulate. Moskau erklärte sich hierzu bereit, verfügte aber auch eine Deckelung für Verwaltungspersonal und Ortskräfte, wodurch die tschechische Seite stärker betroffen ist.
Prag wirbt bei den Verbündeten in EU und Nato um politische Unterstützung und hofft, dass weitere Staaten klare Zeichen setzen, beispielsweise indem sie Diplomaten ausweisen. Der Nordatlantikrat äußerte seine »tiefe Besorgnis« über von Russland ausgehende »destabilisierende Aktivitäten«, der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik drückte seine Solidarität mit der Tschechischen Republik aus. Als Erste hatten die Außenminister der Visegrád-Staaten der Tschechischen Republik ihre Unterstützung zugesichert, die Regierungschefs der vier Länder folgten Ende April mit einer gemeinsamen Erklärung. Zu weitergehenden Maßnahmen entschloss sich zunächst die Slowakei, die drei russische Diplomaten auswies, sowie die baltischen Staaten, Rumänien und Bulgarien.
Schwierige Beziehungen …
Die tschechisch-russischen Beziehungen waren seit der Selbständigkeit der Tschechischen Republik 1993 nie völlig frei von Komplikationen. Mit der breiteren, geopolitisch beförderten Verschlechterung der Beziehungen des Westens zu Russland seit Mitte des vergangenen Jahrzehnts trübte sich die Atmosphäre des bilateralen Verhältnisses ein, zudem regte sich immer mehr Widerspruch gegen einen pragmatischen Kurs im Umgang mit Russland.
Sichtbar wurden nicht zuletzt erinnerungspolitische Konflikte. So entfernten im Frühjahr 2020 im sechsten Prager Bezirk örtliche Behörden eine Statue des sowjetischen Marschalls Konjev, nachdem es bereits zuvor zu Kontroversen gekommen war, unter anderem weil das lokale Rathaus das Denkmal verhüllen ließ. Konjev gilt in der Tschechischen Republik einerseits als wichtiger Befehlshaber, der an der Befreiung großer Teile Böhmens von der deutschen Besatzung Ende des Zweiten Weltkriegs beteiligt war, andererseits halten ihm manche vor, an der Unterdrückung des ungarischen Aufstands 1956 oder des Prager Frühlings 1968 mitgewirkt zu haben. Die russische Seite betrachtete den Abbau des Denkmals als Schmälerung der historischen Verdienste der Roten Armee und als Verstoß gegen Konsultationsregelungen aus dem bilateralen (tschechisch-russischen, im Jahr 1993 unterzeichneten) Vertrag. Tschechische Stellen bestreiten Letzteres und verweisen auf die Regelungen eines bilateralen Abkommens von 1999 zum Erhalt von Kriegsdenkmälern. Diesem Abkommen zufolge muss sich die Tschechische Republik nur um Kriegsgräber und Gedenkstätten für gefallene sowjetische Soldaten kümmern, zu denen das Denkmal für den umstrittenen Marschall nicht gezählt wird.
Verstimmungen gab es auch, nachdem 2019 der 21. August in der Tschechischen Republik als Gedenktag an den Einmarsch sowjetischer Truppen zur Niederschlagung des Prager Frühlings statuiert wurde. Weitere Streitpunkte waren: Die Stadt Prag hat die an die russische Botschaft in Prag grenzende Straße in Boris-Nemzov-Platz umbenannt, in Erinnerung an den 2015 im Zentrum Moskaus erschossenen Oppositionspolitiker; die Tschechische Republik hat einen auch von Russland gesuchten Hacker an die USA ausgeliefert; Staatspräsident Miloš Zeman behauptete nach der Vergiftung des früheren Doppelagenten Sergej Skripal im britischen Salisbury, Kampfstoff vom Novitschok-Typ, der in Großbritannien verwendet worden war, sei zu Forschungszwecken ebenfalls in der Tschechischen Republik produziert worden. Diese Äußerungen sorgten für Verwirrung und wurden von Russland aufgegriffen, um Prag zu bezichtigen, in den Giftanschlag verwickelt gewesen zu sein.
Unabhängig davon weisen die tschechischen Geheimdienste in ihren öffentlichen Berichten immer wieder auf Agententätigkeit und intransparente russische Netzwerke in der Tschechischen Republik hin. Der Inlandsgeheimdienst BIS betont in seinem Jahresbericht für 2019 die Risiken von Desinformation und manipulativer Berichterstattung im Zusammenhang mit russlandnahen Gruppierungen und Aktivisten.
Die tschechisch-russischen Wirtschaftsbeziehungen sind überschaubar; der russische Markt nahm im letzten Jahr vor der Corona-Pandemie nur 2,2 Prozent der tschechischen Ausfuhren auf. Tschechische Unternehmen exportieren vor allem Maschinen, Autos und Kraftfahrzeugzubehör. Im Energiesektor ist die Abhängigkeit des Landes von Russland mäßig. Durch eine bereits in den 1990er Jahren geschaffene Verbindung an das Tanklager im bayerischen Vohburg (IKL-Pipeline) sind die tschechischen Raffinerien nicht allein auf Lieferungen aus der Druschba-Pipeline angewiesen. Das in der Tschechischen Republik verbrauchte Gas stammt zwar letztlich zum Großteil aus Russland, dies spielt aber keine wesentliche Rolle für die Versorgungssicherheit, da Anbindungen zu Deutschland bzw. zum nordwesteuropäischen Marktgebiet bestehen und damit große Mengen aus dem Hub in Rotterdam kontraktiert werden können. Dies ist auch möglich, weil die Reverse-Flow-Kapazitäten des tschechischen Gasnetzes nach der russisch-ukrainischen Gaskrise 2009 verbessert wurden.
… und eine vielstimmige Politik
Die politische Debatte in der Tschechischen Republik über den Umgang mit Russland ist seit langem gekennzeichnet durch die Rivalität zwischen unterschiedlichen Ansätzen. An den Rändern des politischen Gefüges, konkret in der Kommunistischen Partei Böhmens und Mährens (KSČM) und der nationalistischen Partei Freiheit und direkte Demokratie (SPD), finden sich mehr oder minder unverhohlen russophile Strömungen. Die Vorsitzenden der beiden Gruppierungen zweifeln an der Glaubwürdigkeit der Informationen, die tschechische Stellen zu den Explosionen in Vrbětice vorgelegt haben, vermuten ein abgekartetes Spiel der Geheimdienste oder stellen den Zeitpunkt der Veröffentlichung in Zusammenhang mit Entscheidungen über den Ausbau des Kernkraftwerks Dukovany oder mit dem möglichen Kauf des russischen Covid‑19-Impfstoffes Sputnik V. Der frühere Staatspräsident Václav Klaus nannte die Angelegenheit ein »konstruiertes Schreckgespenst« und sprach von einer Atmosphäre wie in der stalinistischen Zeit der 1950er Jahre mit umgekehrten Vorzeichen. Diese russlandfreundlichen Richtungen haben jedoch keinen Einfluss auf die Regierungspolitik. Allerdings finden in derlei Milieus prorussische und antiwestliche Medien besonderen Anklang.
Auf der anderen Seite befindet sich das Lager derer, die stets eine striktere Russlandpolitik gefordert haben. Hierher gehören die euroatlantisch ausgerichteten konservativen Oppositionsparteien, viele Stimmen in der Piratenpartei, unabhängige Mitglieder des Senats, allen voran Pavel Fischer, früherer Präsidentschaftskandidat und Vorsitzender des Ausschusses für Außenpolitik, Sicherheit und Verteidigung der zweiten Parlamentskammer. Ferner zählen zu ihnen Kommunalpolitiker aus Prag, wie dessen Bürgermeister Zdeněk Hřib (Piratenpartei) oder der Bezirksbürgermeister des sechsten Prager Bezirks, Ondřej Kolář (TOP09), die zum Beispiel durch die erwähnte Denkmalspolitik zu Akteuren der tschechisch-russischen Beziehungen wurden und zu Verwicklungen beitrugen.
Innerhalb der Regierung war der sozialdemokratische Außenminister Tomáš Petříček die vielleicht sichtbarste Kraft einer prowestlichen und russland- ebenso wie chinakritischen Linie – wodurch er auch in seiner Partei auf Widerstand traf. Unmittelbar bevor die Umstände der Explosionen bekannt wurden, war Petříček durch seinen Parteifreund Jan Hamáček ausgebootet worden, nachdem Letzterer sich beim Kampf um den Vorsitz der sozialdemokratischen Partei durchgesetzt hatte. Nicht zuletzt war Petříček Staatspräsident Zeman ein Dorn im Auge.
Zeman war bislang der vielleicht wichtigste Protagonist einer pragmatischen Kooperation mit Russland. Obschon er sich bei Themen wie dem Gedenken an das Jahr 1968 durchaus kritisch gegenüber Moskau äußerte, vertraten er und Teile seiner Entourage in Sachen Geschichtspolitik und Wirtschaft zumeist einen kooperativen Ansatz. Zeman fand bisher in Teilen der sozialdemokratischen Partei Zustimmung für seinen Kurs. Desgleichen gab es in der Partei ANO von Premierminister Andrej Babiš bis jüngst Verfechter einer pragmatischen Politik, etwa Industrieminister Karel Havlíček, der sich noch vor kurzem für eine Teilnahme russischer und chinesischer Bieter an der Ausschreibung für den Ausbau des Kernkraftwerks in Dukovany einsetzte, oder Parlamentspräsident Radek Vondráček, der 2018 eine umstrittene Reise nach Russland unternahm, bei der er sich auch mit Personen traf, die auf der EU-Sanktionsliste stehen. Der Regierungschef selbst hielt sich in der Vergangenheit bezüglich Russland zurück.
Infolge dieser Vielstimmigkeit entwickelte sich in der Tschechischen Republik keine schlüssige Russlandpolitik – Differenzen über die außen- und sicherheitspolitische Beurteilung Russlands oder unterschiedliche Sichtweisen auf die dortige innenpolitische Lage haben einen Ansatz aus einem Guss bislang verhindert. Überdies belasteten die zuvor erwähnten, oftmals eher symbolischen, aber öffentlichkeitswirksamen Streitfragen das bilaterale Verhältnis. Trotz unterschiedlicher Ansätze wurde der Versuch unternommen, den ins Stocken geratenen Dialog wieder in Gang zu bringen, indem im vergangenen Sommer der Posten eines Bevollmächtigten für Konsultationen mit Russland geschaffen wurde. Besetzt wurde er nach Abstimmung zwischen Präsident, Premierminister, Außen- und Innenminister mit Rudolf Jindrák, Abteilungsleiter für Außenpolitik in der tschechischen Präsidialkanzlei und ehemals unter anderem Botschafter in Deutschland. Jindrák erklärte nach seiner Ernennung, Ziel sei es, eine »Inventur« der beiderseitigen Beziehungen vorzunehmen, die jenseits der Treffen der Staatspräsidenten im Grunde nicht existierten. Zu Konsultationen kam es seither nicht.
Auch in der aktuellen Situation sind russlandpolitische Dissonanzen wieder zum Vorschein gekommen. Während die Regierung geschlossen agierte und vor allem von der konservativen Opposition und der (allerdings verhaltener auftretenden) Piratenpartei unterstützt wurde, stellte Präsident Zeman das Vorgehen der Regierung infrage. Nach einer Woche des Schweigens ging er am 25. April an die Öffentlichkeit und forderte eine Aufklärung der Vorgänge in und um Vrbětice »ohne Hysterie«. Der tschechische Inlandsgeheimdienst BIS habe zum Beispiel keine Beweise dafür vorgelegt, dass sich die russischen Agenten auf dem Areal des Munitionsdepots aufgehalten hätten. Ohnehin würden solcherlei Beweise noch nichts darüber aussagen, dass die russischen Agenten tatsächlich in den Anschlag verwickelt gewesen seien. Es bedürfe weiterer Untersuchungen. Man müsse neben der Hypothese eines Anschlags durch ausländische Geheimdienstaktivitäten auch in Richtung eines unsachgemäßen Umgangs oder der Manipulation mit eingelagerter Munition ermitteln. Sollte sich die zuletzt genannte Version bestätigen, so Zeman, sei von einem Spiel der tschechischen Geheimdienste auszugehen.
In Russland wurden diese Äußerungen umgehend aufgegriffen und als Beleg dafür gewertet, dass die tschechischen Vorwürfe unbegründet seien. Zemans Einschätzungen können das Bemühen der tschechischen Regierung um internationale Unterstützung erschweren, denn sie begünstigen Debatten um die Glaubwürdigkeit der Ermittlungsgrundlagen. Zudem wird es einfacher, Gegennarrative zu den von der Regierung bzw. den Sicherheitsorganen vorgelegten Informationen zum Tathergang zu lancieren. Zemans Kommentare fielen darüber hinaus bei den nationalistischen Kräften und den Kommunisten im eigenen Land auf fruchtbaren Boden.
Die Tschechische Republik ist angesichts der politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen aus russischer Perspektive ein Land, das zahlreiche Kooperationschancen und Einhakpunkte bietet und das anfällig für Destabilisierung ist. Anders als zum Beispiel im benachbarten Polen besteht kein übergreifender politischer Konsens, was die Sicht auf Russland angeht. In der Gesellschaft gibt es (historisch gewachsen und trotz Erschütterungen wie dem August 1968) zwar minoritäre, aber bedeutsame russlandfreundliche Tendenzen. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts CVVM vom November 2019 hegt immerhin ein Fünftel der Befragten mehr oder minder starke Sympathien für Russland. Gleichzeitig ist eine relevante Abneigung gegen den Westen und dessen Institutionen zu verzeichnen. Im Lauf des letzten Jahrzehnts waren stets etwa ein Fünftel bis ein Viertel der Befragten unzufrieden mit der Nato-Mitgliedschaft ihres Landes (bei Zufriedenheitswerten zwischen 50 und 60 Prozent (CVVM, März 2020)).
»Alternative« Medien mit ex- oder implizit russlandfreundlicher und vor allem westkritischer Ausrichtung haben daher einen nennenswerten Resonanzraum. Das tschechische Innenministerium soll schon vor vier Jahren an die 40 solcher »alternativer« Websites beobachtet haben. Auch wenn derlei Medien antiwestliche Berichterstattung betreiben, lässt sich vielfach kein direkter Bezug ihrer Redaktionen zu Russland nachweisen. Was Themen zur Corona-Pandemie anbetrifft, stammt angeblich das Gros an Content und (Des-)Information von deutschen Websites.
Kurzfristige Ziele
Das Agieren der tschechischen Regierung seit dem Öffentlichwerden der Erkenntnisse bezüglich der Explosionen in Vrbětice verdeutlicht, dass sie drei Ziele verfolgt. Erstens sollen klare Signale an Moskau gesendet werden, um zu demonstrieren, dass Prag in Anbetracht des Vorfalls nicht zur Tagesordnung übergehen wird, sondern politisch gegenhalten und, wie oft betont wird, als »souveräner Staat« auftreten möchte. Passivität kann sich die Regierung mit Blick auf die prowestliche Opposition und Teile der Medien nicht erlauben. Ein Beleg hierfür ist die Forderung, als Antwort auf Russlands schroffe Ausweisungspolitik das diplomatische Personal symmetrisch zu reduzieren (also die Anzahl akkreditierter Diplomaten auf die gleiche Zahl zu begrenzen). Überdies dürfte die russische Rosatom praktisch keine Chance mehr haben, bei der Ausschreibung für den Bau eines fünften Blocks des Kernkraftwerks Dukovany zum Zug zu kommen. Ebenso wird man in anderen Bereichen rasch versuchen, noch bestehende Abhängigkeiten von Russland abzubauen, etwa bei militärischer Ausrüstung, wo man beispielsweise noch bis 2023 auf Ersatzteile aus Russland für Hubschrauber vom Typ Mil angewiesen ist.
Zweitens wird von den Verbündeten in Nato und EU erwartet, dass sie ihre Solidarität bekunden, denn Prag möchte in seinem Konflikt mit Russland nicht isoliert dastehen. Auch deswegen wurde zunächst versucht, mit einem Narrativ des Salisbury-Moments ähnlich starke Reaktionen der Bündnispartner wie nach dem Fall Skripal herbeizuführen, selbst wenn der Vergleich seine Schwächen hat. Mit Ausweisungen folgten aber bisher nur einige traditionell russlandkritische Länder aus Ostmittel- und Südosteuropa. Ob und welche Maßnahmen westliche Länder nach Konsultationen ergreifen werden, wird in Prag einerseits als Ausweis der Solidarität seitens der Bündnispartner wahrgenommen werden, andererseits als Test für die Effektivität der eigenen Regierung und ihrer Kontakte zu befreundeten Hauptstädten.
Drittens ist man trotz allem nicht an einer Eskalation der Ereignisse interessiert. Die Rhetorik der tschechischen Politik ist entschlossen, aber besonnen. Premierminister Babiš nahm den Begriff des Staatsterrorismus zurück. Auch verläuft der Konflikt neben öffentlichen Verbalscharmützeln bislang vornehmlich im engen diplomatischen Bereich. Bei der Forderung, beim diplomatischen Personal Parität herzustellen, gab man Moskau für die Ausreise weiterer Diplomaten Zeit bis Ende Mai, was Raum für Gespräche über die Details bei der Neubalancierung der Personalstärke in den diplomatischen Vertretungen sowie hinsichtlich anderer Fragen schafft. Dass sich Russland auf die Herstellung von Symmetrie bei den Personalstärken eingelassen hat, bedeutet zwar nicht, dass damit der diesbezügliche Dissens überwunden ist; doch kann die tschechische Regierung diesen Schritt innenpolitisch als Erfolg präsentieren. Jahrelang hatten kritische Stimmen im Land die starke Präsenz russischen Botschaftspersonals als Sicherheitsrisiko oder Überbleibsel von 1968 angeprangert, dennoch konnten in dieser Angelegenheit niemals Fortschritte erzielt werden.
Gleichzeitig ist man bemüht, zum Beispiel die wirtschaftliche Zusammenarbeit aus dem Konflikt herauszuhalten. Im Energiesektor ist jenseits der Frage Atomkraft ebenfalls kein Plädoyer für eine Abkehr von der jetzigen Politik zu vernehmen. Im Hinblick auf Nord Stream 2 wird bisher wenig neue Kritik formuliert. Der tschechische Netzbetreiber Net4Gas hat Anfang 2021 im Rahmen seines Capacity4Gas-Projekts eine neue Hochdruckgasleitung fertiggestellt. Diese verbindet die Eugal-Pipeline, mit der Gas aus Nord Stream 2 verbracht werden soll, mit dem tschechischen System.
Unklar ist das weitere Schicksal der Impfstoffbeschaffung. Ursprünglich sollte der Innen- und zu diesem Zeitpunkt auch noch übergangsweise als Außenminister fungierende Chef der Sozialdemokratie Hamáček an dem Tag nach Moskau reisen, an dem die Erkenntnisse zu den Explosionen veröffentlicht wurden. Dort sollte er über die Lieferung von russischem Sputnik‑V-Impfstoff verhandeln. Hamáček erklärte später, die geplante Reise sei nur ein Ablenkungsmanöver gewesen, um die Aufmerksamkeit russischer Stellen von laufenden Ermittlungen zum Thema Vrbětice wegzuleiten. Noch Mitte April hatte Premierminister Babiš verkündet, die tschechische Regierung habe bereits 300 000 Dosen des Vakzins sowie 150 000 weitere pro Monat bestellt. Nun ist der Einsatz von Sputnik V in der Tschechischen Republik erst einmal fraglich geworden und man setzt auf westliche, im Rahmen der EU-Beschaffungspolitik angekaufte Impfstoffe.
Mittelfristige Auswirkungen
Während sich das Land allein schon aufgrund seiner Lage nach 1989 nie als Front-Line-State in einer neuen geopolitischen Auseinandersetzung mit Russland gesehen hat, hat es nun drastisch gespürt, dass geopolitische Konflikte in Gestalt hybrider Risiken auch auf dem eigenen Territorium in der gefühlt sicheren Mitte Europas ausgetragen werden. Die ohnehin schon hohe Sensibilisierung für hybride Bedrohungen wird deutlich zunehmen. Wenige Tage nach Bekanntwerden der Hintergründe um die Vorfälle in dem Munitionslager wurde die vom tschechischen Verteidigungsministerium schon seit längerem vorbereitete Strategie zur Abwehr hybrider Aktivitäten veröffentlicht. Anfang April ist ein Gesetz in Kraft getreten, das im Einklang mit dem EU-Rahmen das Risiko-Screening von Investitionen ausländischer Herkunft ermöglicht. Bei der Frage des 5G-Netzes und der Politik gegenüber Huawei ist Prag zumindest deklarativ schon länger an die USA herangerückt. Das Augenmerk wird nun besonders auf Desinformationsaktivitäten und die Cybersphäre gerichtet werden. Die private Firma Semantic Visions berichtete über ein rasches, kampagnenartiges Umschalten einschlägiger Nachrichten-Websites von der bislang dominanten Thematik Covid‑19 auf die Problematik um das Munitionsdepot.
Insgesamt ist in der tschechischen Politik das Lager der Russland-Pragmatiker geschwächt, das der Transatlantiker und der Befürworter einer normativen Außenpolitik gestärkt worden. Dieser Effekt wird auch in die im Herbst anstehenden Parlamentswahlen hineinreichen. Die russlandkritische Opposition wird der Regierung Babiš vorwerfen, zu nachlässig agiert und Präsident Zeman nachgegeben zu haben. Russlandfreundliche Gruppierungen (unterstützt von entsprechenden Medien) wiederum werden die Linie der Regierung und der prowestlichen Opposition zu diskreditieren versuchen, um so die in der tschechischen Gesellschaft bestehenden russophilen oder EU- bzw. US-kritischen Wählergruppen zu mobilisieren. Eine Umfrage, die unmittelbar nach der Bekanntmachung der Ereignisse in Vrbětice durchgeführt wurde, ergab, dass selbst in der jetzigen Situation noch knapp 30 Prozent der Befragten Russland für keine Bedrohung halten oder nur für eine geringe. Ein Zehntel gab an, in Russland überhaupt keine Bedrohung zu sehen.
Sicherheits- und Russlandpolitik als Bestandteil des deutsch-tschechischen Dialogs
Deutschland sollte angesichts der tschechisch-russischen Verwerfungen in den Beziehungen zu Prag neben bilateralen und europapolitischen Themen vermehrt sicherheitspolitische und strategische Aspekte betonen. Einige rasche Signale hat Deutschland bereits gesetzt: Ein direkter Austausch auf hoher politischer Ebene hat stattgefunden, also Gespräche zwischen der Bundeskanzlerin und dem tschechischen Premierminister sowie zwischen den Außenministern; beide Länder haben sich gemeinsam für eine Erklärung der EU zu den Vorfällen in Vrbětice eingesetzt; die deutsche Vertretung in Moskau hat der ausgedünnten tschechischen Botschaft praktische Unterstützung angeboten.
Sollte Deutschland bei weiteren Gegenmaßnahmen, konkret bei der Ausweisung von Botschaftspersonal, zurückhaltend agieren, wird dies zunächst keine Schatten auf das deutsch-tschechische Verhältnis werfen, denn in der Diplomatie und in Regierungskreisen, die mit Außen- und Sicherheitspolitik befasst sind, werden die bisher geübte Solidarität und die enge Kommunikation mit Deutschland wertgeschätzt. Überdies ist man sich dort dessen bewusst, dass auch viele andere Staaten aus EU und Nato (namentlich größere) bei der Ausweisungspolitik zurückhaltend sind und dass Deutschland mit seinen breiteren russlandpolitischen Interessen bei Sanktionsmaßnahmen möglicherweise anders handelt als Prag.
Dessen ungeachtet könnte in Teilen der tschechischen Medienlandschaft und des politischen Spektrums (insbesondere in der prowestlichen, atlantisch orientierten Opposition) der Eindruck aufkommen, Deutschland engagiere sich nur zögerlich in der aktuellen tschechisch-russischen Krise und generell in der Russlandpolitik. Das gemeinsame Gespräch mit der tschechischen Seite über den Umgang mit Russland in Nato und EU kann dazu beitragen, dieser Wahrnehmung entgegenzuwirken. Darüber hinaus könnte ein solcher Dialog das laufende Beschaffungsverfahren für 210 Schützenpanzer für die tschechische Armee mittelbar beeinflussen. Bei diesem teuersten Modernisierungsprojekt der tschechischen Streitkräfte, über das in der zweiten Jahreshälfte 2021 entschieden werden soll, ist auch ein deutscher Bieter im Rennen.
Im Bereich hybrider Bedrohungen könnte der Austausch mit tschechischen Einrichtungen ausgebaut werden, etwa mit dem beim dortigen Innenministerium angesiedelten Zentrum gegen Terrorismus und hybride Bedrohungen oder mit der Nationalen Behörde für Cyber- und Informationssicherheit. Denkbar wäre auch seine prominente Verankerung im deutsch-tschechischen Strategischen Dialog. Thematisch könnten dabei Erfahrungen zu strategischer Kommunikation und im Umgang mit Desinformation besprochen oder gemeinsame Resilienzübungen organisiert werden (bislang orientiert sich beispielsweise das tschechische Verteidigungsministerium bei hybriden Fragen an Großbritannien oder Taiwan). Des Weiteren könnten die Außen- und Verteidigungsressorts beider Länder ihre Bedrohungsanalysen auf der Grundlage von EU- und Nato-Dokumenten sowie nationaler Leitlinien strukturiert abgleichen.
Außerdem könnte der Austausch zu Energie- und Versorgungssicherheit vertieft werden. Die Tschechische Republik ist ein Beispiel für eine recht früh angegangene Diversifizierungspolitik, die es dem Land ermöglicht hat, trotz weiterhin bestehender Zusammenarbeit mit Russland seine Verwundbarkeit weitgehend zu reduzieren. Deutsch-tschechische Diskussionsformate unter Einschluss anderer Länder aus Mitteleuropa könnten helfen, die aufgeladenen Debatten um Versorgungssicherheit, etwa im Gassektor, zu versachlichen.
Schließlich könnte mit Blick auf die überspannenden geostrategischen Aspekte eine gemeinsame Reflexion angestrebt werden, und zwar über die Ausrichtung von Nato und EU gegenüber Russland, über Risikoeinschätzungen, die Rolle der USA im Umgang mit Russland, über die Austarierung von Sanktionspolitik gegen und Kooperationsmöglichkeiten mit Russland sowie über Ansätze einer verstärkten Politik gegenüber der Östlichen Partnerschaft (die die Gespräche zwischen Deutschland und der Visegrád-Gruppe konkretisiert).
Es ist nicht notwendig, mit derlei Bemühungen bis nach den Parlamentswahlen in beiden Ländern zu warten. Vielmehr lassen sie sich auch in der jetzigen schwierigen Phase der tschechisch-russischen Spannungen initiieren, um so ein Stück weit Vertrauen und Kontinuität zu generieren.
Insgesamt sollte es Deutschland darum gehen, Solidarität mit seinem tschechischen Nachbarn zu demonstrieren, den tschechisch-russischen Konflikt einzudämmen und mit Prag weiterhin einen Partner zu haben, der eine kritische Russlandpolitik mit Dialogbereitschaft kombiniert. Die weitere Entwicklung des Konflikts um die Ereignisse in Vrbětice wird (abgesehen vom Ausgang der tschechischen Wahlen) ebenfalls Einfluss darauf haben, ob das Land künftig einen stärker russlandkritischen Kurs einschlägt bzw. wie stark auch in Zukunft pragmatische Einstellungen präsent sein werden. Die im Rampenlicht der Öffentlichkeit ausgetragenen geschichtspolitischen und sonstigen Konflikte der vergangenen Jahre haben ohnedies bereits dazu geführt, dass die Tschechische Republik in puncto Russlandpolitik und sicherheitspolitischer Positionierungen näher an die baltischen Staaten und Polen herangerückt ist.
Dr. Kai-Olaf Lang ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU / Europa.
© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2021
Alle Rechte vorbehalten
Das Aktuell gibt die Auffassung des Autors wieder.
SWP-Aktuells werden intern einem Begutachtungsverfahren, einem Faktencheck und einem Lektorat unterzogen. Weitere Informationen zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP-Website unter https://www. swp-berlin.org/ueber-uns/ qualitaetssicherung/
SWP
Stiftung Wissenschaft und Politik
Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit
Ludwigkirchplatz 3–4
10719 Berlin
Telefon +49 30 880 07-0
Fax +49 30 880 07-100
www.swp-berlin.org
swp@swp-berlin.org
ISSN (Print) 1611-6364
ISSN (Online) 2747-5018
doi: 10.18449/2021A37