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Die neue Liebe zur Autarkie

Risiken für die deutsche und europäische Exportwirtschaft

SWP-Aktuell 2021/A 18, 23.02.2021, 8 Seiten

doi:10.18449/2021A18

Forschungsgebiete

In wichtigen Volkswirtschaften zeigt sich eine überraschende und gefährliche Renaissance protektionistischen Denkens. China, Indien und die USA, die drei bevölkerungsreichsten Staaten der Welt, haben ihre handelspolitischen Prioritäten verändert. Präsident Donald Trump warb vehement für den Kauf amerikanischer Produkte, und sein Nachfolger Joe Biden wird den in der Demokratischen Partei ohnehin unpopulären Freihandel vermutlich nicht fördern. Der indische Premier­minister Narendra Modi propagiert nicht nur die Produktion von Waren im eigenen Land (»Make in India«), sondern setzt inzwischen auf eine weiterreichende Selbst­versorgung. Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping hat schon 2018 gefordert, die Abhängigkeit der Volksrepublik von Im- und Exporten zu reduzieren. Und auch Europa ist keineswegs frei von protektionistischen Reflexen. Der französische Präsi­dent Emmanuel Macron hält es für notwendig, die Globalisierung anders zu gestalten, und will weg von ihrer bisherigen auf Liberalisierung drängenden Form. Der Ruf nach Selbstversorgung ist vielerorts plötzlich wieder populär.

Die SARS-Covid-2-Krise ist keineswegs der Hauptgrund, sondern bestenfalls ein Kata­lysator für die neue Liebe zur Autarkie. Wichtigste Triebkraft dieser handelspolitischen Wende ist der geopolitische Konflikt zwischen China und einer Reihe anderer Länder. Die USA ebenso wie Indien wollen künftig weniger Handel mit der Volks­republik treiben. Aber auch Peking selbst wendet sich vom Weltmarkt ab und möchte früher oder später nicht mehr auf den Im­port wichtiger Vorprodukte angewiesen sein, was insbesondere für Halbleiter gilt. Versorgungssicherheit hat heute gegenüber wirtschaftlicher Effizienz weltweit an Be­deutung gewonnen.

Großer Verlierer dieser Wende werden die exportorientierten Volkswirtschaften Europas sein. Gerade deutschen Unter­nehmen könnten mittelfristig die Absatzmärkte für ihre Produkte ausgehen. Aller­dings hat die Handelspolitik der Europäischen Union in den letzten Jahren zu einem gewissen Verdruss an der Globa­li­sierung beigetragen. Der partiell protektionistische Kurs der EU hat nicht nur den Zugang zum europäischen Markt erschwert, sondern ihr auch erhebliche Handels­bilanzüberschüsse ein­gebracht. Durch das Ausscheiden Groß­britanniens, dessen Bilanz im europäischen und außer­europäi­schen Handel seit vielen Jahren Defizite verzeichnet, wird der merkantilistische Charakter der europäischen Politik noch deutlicher werden.

Indien: Zurück zu Gandhi

Noch 2019 galt Indien als eine vielversprechende Volkswirtschaft, die dem ökonomischen Entwicklungspfad anderer asiatischer Länder folgen könnte. Die Liberalisierung des Warenhandels hätte in diesem Modell eine zentrale Rolle gespielt. Doch dazu wird es nicht kommen. Die Regierung von Pre­mierminister Narendra Modi hat 2020 einen drastischen Kurswechsel vollzogen und strebt seither eine partielle Abkopplung Indiens von den Weltmärkten an. Dabei fällt auf, dass die Begründung für diese handelspolitische Kehrtwende sowohl ökonomische als auch geopolitische Argu­mente enthält.

Protektionistische Handelspolitik hat in Indien eine lange Tradition. Schon Mahat­ma Gandhi (1869–1948) schwärmte von »Swadeshi«, einer wirtschaftlichen Autarkie des Subkontinents. Seine Vision waren selbstverwaltete Dörfer, die weitgehend ohne Außenhandel existieren. Den Ein­wand, eine solche auf Selbstversorgung setzende Politik sei ineffizient, wies Gandhi mit dem Argument zurück, wirtschaftliche Entwicklung sei mehr als materieller Wohlstand. Ebenso wichtig seien ethische und spirituelle Dimensionen.

Bis zur großen Wirtschaftskrise des Jahres 1991 setzten indische Regierungen stets auf handelspolitische Konzepte, die den einheimischen Produzenten ein hohes Maß an Schutz boten. Indien war mit die­sem Kurs, der sich an »autozentrierter Ent­wicklung« orientierte, keine Ausnahme unter den Entwicklungsländern. Vielmehr verfolgte das Land eine Handelspolitik, die lange Zeit auch andernorts populär war und die im Europa des 19. Jahrhunderts etwa Friedrich List vertreten hatte. Zu Be­ginn der 1990er Jahre erfolgte die Wende. Der damalige Finanzminister und spätere Premier Manmohan Singh pries die Erfolge ostasiatischer Volkswirtschaften, schwor die indische Bevölkerung auf ökonomische Reformen ein und verordnete dem Land eine deutliche Liberalisierung des Außenhandels. Die Zölle auf Industrieprodukte (einfacher Durchschnitt) sanken von 82,1 Prozent (1990) auf 7,9 Prozent (2018).

Die Erfolge dieses Kurses waren beachtlich. Indiens Wirtschaftsleistung wuchs von 270 Milliarden US-Dollar im Jahr 1991 (in laufenden US-Dollar) auf 2.869 Milliarden US-Dollar 2019. Trotz des starken Bevölkerungswachstums vervierfachte sich die Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung im selben Zeit­raum von 576 US-Dollar (in US-Dollar des Jahres 2010) auf 2.152 US-Dollar. Gewiss sind diese Fortschritte nicht ausschließlich auf die Liberalisierungspolitik zurückzuführen, doch trug der Abbau von Handelsschranken dazu bei, Millionen von Indern mehr Wohlstand zu verschaffen.

Allerdings waren die Abkehr von der Importsubstitution und die Hinwendung zum Weltmarkt nie unumstritten. Nach Indiens Unabhängigkeit 1947 galt Frei­handel immer wieder als eine Spielart des Imperialismus und als Hemmnis für die Erlangung völliger Selbständigkeit. Das Land führte lebhafte Debatten über den Außenhandel, und regelmäßig zeigten sich dabei protektionistische Reflexe. In der Welthandelsorganisation WTO gehörte Indien schon zu den skeptischen Stimmen, bevor man sich in jüngster Zeit davon ab­wandte, die internationale Arbeitsteilung weiter zu vertiefen. Indien war einer der Hauptgegner der Doha-Runde ab 2001 und widersetzte sich auch plurilateralen Ab­kommen unter dem Dach der WTO. Lange hielten indische Beobachter das eigene Land für zu wenig wettbewerbsfähig, um mit anderen Volkswirtschaften konkur­rieren zu können.

Hinzu kommt, dass Indien besonders im reinen Güterhandel chronische Defizite aufweist. Von 2010 bis 2019 betrug hier das kumulierte Minus rund 1.542 Milliarden US-Dollar. Die Überschüsse im Dienstleistungshandel konnten die Defizite im Warenhandel nur teilweise kompensieren. Im genannten Zeitraum betrug das kumu­lierte Defizit im Waren- und Dienstleistungshandel 850 Milliarden US-Dollar. Per Saldo war Indien bislang durchweg auf Kapitalimporte angewiesen und damit von den Einschätzungen der Kapitalgeber ab­hängig. Einige indische Beobachter sehen in dieser Abhängigkeit ein Problem.

Historisch verwurzelte Skepsis

Indiens Wirtschaftsgeschichte spielt eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, wie die Effekte liberalisierten Handels bewertet werden. Viele Inder haben nicht vergessen, dass die Kolonialmacht Großbritannien den Freihandel just in dem Moment durchsetzte, als deren eigene Textilindustrie dank Einführung mechanisierter Webstühle wett­bewerbsfähig geworden war. Im frühen 18. Jahrhundert hatten indische Textilien noch einen Anteil von 25 Prozent am Welt­textilhandel. Im 19. Jahrhundert jedoch wuchsen Indiens Importe von britischen Textilien rasch an – von 54 Millionen Meter Stoff im Jahr 1830 auf 870 Millionen Meter 1858.

Der Niedergang der indischen Textil­industrie erwies sich als verhängnisvoll. Erwerbslos gewordene Weber drängten in die Landwirtschaft, wo sie für ein Über­angebot an Arbeitskräften und für sinkende Löhne sorgten. Die gesamte indische Wirt­schaft litt unter den Importen aus Groß­bri­tannien. Im 19. Jahrhundert priesen die britischen Kolonialherren den Freihandel, was leicht war, weil die Fabriken im Ver­einigten Königreich die wettbewerbsfähigsten der Welt waren. Dagegen hatte Groß­britannien noch im 18. Jahrhundert mit restriktiven Handelsgesetzen (insbesondere dem Calico Act von 1701) den Import von Textilien weitgehend verboten und damit auch die Entwicklungschancen der indi­schen Mitbewerber verschlechtert.

Der Verfall der indischen Textilbranche wurde nicht kompensiert durch andere, neue Industrien. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs, 1913, lag der Anteil der indus­triellen Produktion an der Wirtschafts­leistung des Landes gerade einmal bei 3,8 Prozent. Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit 1947 war dieser Anteil zwar auf 7,5 Prozent gestiegen, aber die Zahl der Beschäftigten in der Industrie betrug ledig­lich 2,5 Millionen – bei einer damaligen Gesamtbevölkerung von 350 Millionen Menschen.

Die Corona-Pandemie war Katalysator der erneuten Rückbesinnung auf eine Han­delspolitik, die der inländischen Produktion Vorrang gibt. Premierminister Modi betonte im Mai 2020, Indien müsse auf Selbstversor­gung setzen. Er skizzierte ein Spannungsverhältnis zwischen einer wirtschafts­zent­rierten Globalisierung und einer sol­chen, die auf menschliche Bedürfnisse zielt. Indien müsse den Menschen in den Vorder­grund stellen, nicht ökonomischen Profit. Im Mai 2020 lancierte Modi eine Kam­pa­gne, mit der Indiens Selbstversorgung – »Atmanirbhar Bharat« – gestärkt werden soll. Der Premier pries die Vorzüge einer auf Autarkie setzenden Wirtschaftspolitik; als deren Ergebnis prognostizierte er einen Zuwachs an »Glück, Zufriedenheit und Selbstbestimmung«. Wie weit Indiens pro­tektionistischere Politik reichen soll, ist bislang aber unklar. Modi überlässt es seinen Ministern, die Konturen des neuen Kurses zu schärfen.

Auf den ersten Blick scheint es, als hätte die Regierung Modi schlicht den Reform­eifer ihrer ersten Jahre abgelegt und durch eine romantisierende Wende ersetzt, die zurück zu den handels- und entwicklungspolitischen Konzepten der 1950er Jahre führen soll. Gewiss gibt es gute Gründe, etwa bei wichtigen Medizinprodukten nicht von ausländischen Lieferungen abhängig sein zu wollen. In Indien stehen aber vor allem geopolitische Überlegungen hinter der restriktiven Handelspolitik. Das Land erlebte 2020, wie sich der Konflikt mit China deutlich verschärfte. Bislang haben die Grenzstreitigkeiten im Himalaya nicht mehr als einige Dutzend Menschenleben gekostet. Aber die indische Regierung hat angesichts der wachsenden Spannungen beschlossen, die Volksrepublik nicht länger als potentiellen Bündnispartner, sondern als Konkurrenten einzustufen und auf unterschiedlichen Ebenen zu bekämpfen. Das Konzept einer Entkopplung von China ist für die indische Regierung somit attrak­tiver geworden.

Bislang waren vor allem chinesische Software-Anbieter von Indiens neuer Politik betroffen. Mit dem sogenannten digitalen Angriff wurden in zwei Schüben über 260 chinesische Apps vom indischen Markt ausgeschlossen, darunter auch populäre Anwendungen der Firmen Tencent und Alibaba. Auf Anordnung Neu-Delhis muss­ten Apple und Google die Apps von ihren Servern löschen. Jenseits des Dienstleistungshandels ist allerdings auch der Waren­handel betroffen. Im März 2020 legte die indische Regierung ein industriepolitisches Maßnahmenpaket vor, mit dem Anreize zur Produktion ausgewählter Güter geschaf­fen wurden. Solche »Production-Linked Incentives« (PLI) unterstützen die Schaffung nationaler Produktionsnetzwerke etwa für Mobilfunktechnik, Arzneimittel, Autos, Textilien, Akkus, Solartechnik, Stahl und nicht zuletzt Lebensmittel.

Schon 2019 entschied Premier Modi, dass Indien darauf verzichtet, sich der Frei­handelszone »Regional Comprehensive Economic Partnership« (RCEP) anzuschließen, die von der ASEAN-Gruppe initiiert wurde. Die Teilnahme Chinas dürfte der wichtigste Grund für Neu-Delhis Rückzug gewesen sein. Außenminister Subrahmanyam Jaishankar kritisierte im November 2020, Indien habe sich in der Vergangenheit zu oft von Produkten überschwemmen lassen, die im Ausland produziert und dort subventioniert würden. Diese Politik der Offenheit werde nun durch eine Politik er­setzt, die auf Selbstversorgung ziele. Dabei tut sich die indische Regierung auch bei geopolitisch unverfänglichen Akteuren wie Australien oder Sri Lanka schwer, Handels­liberalisierungen zu vereinbaren.

Unbeantwortet bleibt bislang die zen­tra­le Frage, welche ökonomischen Folgen die neue Autarkiepolitik hat. Arvind Pana­ga­riya, früherer G20-Sherpa der Regierung Modi, lässt Zweifel erkennen, wie die indi­sche Regierung ihre erklärten Wachstumsziele von 8 bis 10 Prozent pro Jahr errei­chen will, ohne das Schutzniveau der natio­nalen Wirtschaft zu reduzieren. Zugespitzt for­muliert: Es wird Indien schwerfallen, in seinem Binnenmarkt, der weniger als 3 Billionen US-Dollar ausmacht, die glei­chen Wachstumseffekte zu erzielen wie auf dem etwa 30-mal so großen Weltmarkt.

Indiens Abwendung vom Weltmarkt ist aber auch deshalb erstaunlich und wenig überzeugend, weil die allgemein zunehmende Skepsis gegenüber China dem Land die Chance böte, sich rascher zu entwickeln. Viele Unternehmen warten gerade jetzt auf eine Öffnung Indiens und wären vermutlich auch bereit, dort massiv zu investieren. Wenn Neu-Delhi chinesische Anbieter ausschließen möchte, wären bila­terale Handels- und Investitionsabkommen ein Ausweg. Sowohl ein Freihandelsabkom­men mit der EU – wie von Brüssel seit Jahren angestrebt – als auch eine Freihandelszone mit den Vereinigten Staaten wür­den es Indien ermöglichen, die wirtschaft­lichen Beziehungen mit der Volksrepublik zu reduzieren, ohne auf den Nutzen der internationalen Arbeitsteilung verzichten zu müssen. Ende 2020 verdichteten sich Hinweise aus der Regierungspartei BJP, dass Neu-Delhi entsprechende Verhandlungen mit den USA und der EU aufnehmen möchte.

China: Die Freihandelsaversion der Kaiserreiche

Für den heutigen Besucher Chinas und ins­besondere seiner Sonderverwaltungs­zone Hongkong scheint das Land ein Modell für effiziente Produktion und liberalen Handel zu sein. Innerhalb von vier Jahrzehnten hat sich die Volksrepublik zur größten Handels­macht entwickelt. 2018 lagen sechs der zehn wichtigsten Containerhäfen der Welt in China, rechnet man Hongkong dazu, waren es sieben.

Allerdings ist die Präferenz für Handel und Warenaustausch ein sehr junges Charakteristikum der chinesischen Gesell­schaft. Mao Zedong setzte nach dem Bruch mit der Sowjetunion in den 1960er Jahren auf eine selbstbestimmte Entwicklung der Volksrepublik (zili gensheng). Für das kommunistische China war es wichtig, die wirtschaftliche und politische Abhängigkeit vom Ausland und die Ausbeutung durch die UdSSR und kapitalistische Länder zu reduzieren. Dabei konnte Mao auf wirt­schaftspolitischen Traditionen aufbauen, von denen die chinesischen Kaiserreiche über Jahrhunderte hinweg geprägt worden waren.

Der Konfuzianismus zählte handel­treibende Menschen zum niedrigsten der vier Stände. Den höchsten Stand bildeten die Gelehrten, gefolgt von den Bauern und den Handwerkern. Das geringste Ansehen hatten jene, die Handel mit dem Ausland betrieben, weil sie damit zeigten, dass China nicht autark sei. Das wirtschaftliche Denken des Landes unterschied sich bemer­kenswert lange von den Theorien west­licher Ökonomen. Der Nutzen einer inter­nationalen Arbeitsteilung wurde dabei nicht bedacht. Konfuzianische Gelehrte betonten die Rolle der Landwirtschaft, was verständlich ist, bedenkt man deren Bedeu­tung für Chinas frühe Entwicklung. Schon vor über 2000 Jahren setzten sich diese Denker mit der Frage nach der Organisation der Wirtschaft auseinander. Auf der »Salz-und-Eisen-Konferenz« im Jahr 81 v. Chr. trugen sie eine Kontroverse aus, deren Ergebnisse China bis ins 20. Jahrhun­dert prägen sollten.

Gegenspieler der konfuzianischen Gelehr­ten war Sang Hongyang (152–80 v. Chr.), der am kaiserlichen Hof der Han-Dynastie über 40 Jahre lang ein einflussreicher Wirt­schaftsberater war. Er stammte aus einer Familie von Händlern. Für konfuzianische Gelehrte war schon diese Herkunft ein schwerer Makel. Sang war der erste Denker und Wirtschaftstheoretiker des antiken China, der die Bedeutung von Handel und Arbeitsteilung thematisierte. Dies führte am kaiserlichen Hof zu Widerstand, der in besagter Konferenz kulminierte.

Dort vertraten Sangs Widersacher die These, dass allein die Landwirtschaft pro­duktiv sei. Die Annahme, auch Handwerk und Handel könnten zum Wohlstand einer Gesellschaft beitragen, lehnten sie ab. Ent­schieden sprachen sich die konfuzianischen Gelehrten gegen Handel mit dem Ausland aus. Einheimische Erzeugnisse reichten ihnen zufolge aus, um die Bedürfnisse des Heimatlandes zu befriedigen. Es sei nicht notwendig, die eigene Produktion durch Waren aus barbarischen Gebieten und weit entfernten Ländern zu ergänzen. An dieser Stelle zeigen sich überraschende Parallelen zu späteren Einschätzungen, wie sie etwa der britische Ökonom John Maynard Keynes vertrat. Er lehnte die in England bis 1914 dominierende und danach weiterhin popu-läre Freihandelsdoktrin ab und plädierte für die einheimische Produktion von Gütern. 1933 forderte er, man möge »Güter im Inland herstellen, wo immer dies ver­nünftigerweise und komfortabel möglich ist«.

Ähnlich wie in Indien assoziiert man auch in China eine liberale Handelspolitik mit Zwängen und traumatischen Erfahrungen, für die ausländische Mächte verantwortlich waren. Die Niederlage Chinas in den beiden Opium-Kriegen gegen Groß­britannien (1839–1842 und 1856–1860) sowie die Rebellion von Taiping (1851–1864) veranlassten konservative Gelehrte, eine Rückbesinnung auf traditionelle wirt­schaftspolitische Konzepte zu fordern. Londons Ziel in beiden Opium-Kriege war, die chinesische Regierung zu niedrigeren Zöllen, weiteren Handelserleichterungen und der Überlassung von Gebieten zu zwin­gen. Am zweiten Opium-Krieg beteiligte sich auch Frankreich. Beide Konflikte dien­ten aus westlicher Sicht dazu, gegen den erklärten Willen der kaiserlichen Regierung der Qing-Dynastie eine liberale Handels­politik durchzusetzen.

Im Einklang mit den traditionellen An­sichten, nach denen Kaufleute auf unterster sozialer Stufe standen, warnten konserva­tive Gelehrte im 19. Jahrhundert davor, den Handel zu steigern, neue Formen der industriellen Fertigung zu übernehmen oder Eisenbahn und Bergbau einzuführen. Solche Schritte könnten die traditionelle Ordnung der Gesellschaft untergraben, und das Ausland habe China ohnehin kaum Wertvolles zu bieten. Nach dem Weltbild dieser Denker war internationaler Handel allenfalls dazu gut, Ausländern eine Gunst zu erweisen. China stand demnach im Zentrum einer universellen moralischen Ordnung und hatte als überragendes Vor­bild eine Führungsrolle.

Sehr deutlich sind die Unterschiede gegenüber den wirtschaftspolitischen Para­digmen in Europa, wo sich früh schon Handelswege entwickelten und es seit dem 18. Jahrhundert immer stärker zu grenzüberschreitender Arbeitsteilung kam. Zur Teilnahme an der Globalisierung – eng ökonomisch definiert als Vertiefung des Waren- und Dienstleistungshandels sowie des grenzüberschreitenden Kapitalverkehrs – wurde China genötigt, und ihm fehlt eine lange Tradition liberaler Wirtschaftspolitik.

Xi auf Maos Spuren

Es waren die Reformen Deng Xiaopings Ende der 1970er Jahre, mit denen der Auf­stieg der chinesischen Wirtschaft begann. Deng setzte einen doppelten Traditionsbruch durch. Zum einen gab er die maois­tische Wirtschaftspolitik auf, indem er Raum für Privatinitiative und marktwirtschaftliche Elemente zuließ. Zum anderen überwand er die Aversion chinesischer Wirtschaftspolitiker gegen Außenhandel und grenzüberschreitende Arbeitsteilung. Diese zweite Dimension der Deng’schen Reformen erscheint noch wichtiger als das Zurückdrängen des Staates in der Produk­tion, war die chinesische Wirtschaft zuvor doch jahrhundertelang isoliert und von einer Präferenz für inländische Erzeugung bestimmt.

Seit Xi Jinping 2012 an die Spitze der Kommunistischen Partei Chinas gerückt ist, sucht er die Abhängigkeit der Volksrepublik vom Außenhandel wieder zu reduzieren. China ist zwar noch immer die »Werk­bank der Welt«, doch der Anteil des Exports an seiner Wirtschaftsleistung sank von 31 Prozent im Jahr 2008 auf 17 Prozent 2019. Im November 2018 sah Generalsekretär Xi die Zeit gekommen, Maos alte Kon­zepte wiederkehren zu lassen. Er beklagte, es sei immer schwerer, Hochtechnologie aus dem Ausland zu beziehen. Wachsender Unilateralismus und Protektionismus ande­rer Länder zwängen China, auf den Pfad der Selbstversorgung einzuschwenken. Xi trug diese Überlegungen in der nordöstlichen Provinz Heilongjiang vor, die im Rostgürtel des Landes liegt und einst Ausgangspunkt der chinesischen Industrialisierung war.

Im Oktober 2020 konkretisierte Xi im Rahmen der fünften Plenarsitzung des 19. Zentralkomitees der Kommunistischen Partei seine außenwirtschaftspolitischen Reformen. Die »doppelte Zirkulation« ge­nannte Strategie umfasst zwei zentrale Elemente. Erstens soll China vom Ausland unabhängiger werden, indem es seine in­ländische Produktion und Nachfrage stärkt. Zweitens möchte man sicherstellen, dass China für internationale Produktionsnetzwerke unverzichtbar bleibt. Die Volks­republik will sich also von anderen Märk­ten lösen, während diese von chinesischen Lieferungen abhängig bleiben sollen. Zugespitzt formuliert: Autarkie ist gut für China, aber nicht für den Rest der Welt.

Offen bleibt, ob es Peking gelingen wird, westliche Hochtechnologie vollständig zu ersetzen. Weder in der Computertechnik noch im Flugzeugbau sind die technologischen Hürden trivial, die es dafür zu über­winden gilt. Gleichwohl hat Xi seine Ab­sicht mehrmals bekräftigt, die Volksrepublik von westlichen Importen unabhängig zu machen. Anderslautende Bemerkungen, etwa beim diesjährigen virtuellen Weltwirtschaftsforum, wirken vor dem Hintergrund von Pekings neuem Fünfjahresplan wenig überzeugend und dienen vermutlich dazu, die chinesische Kurskorrektur zu kaschieren.

Hat die EU-Handelspolitik den Trend zur Autarkie gefördert?

Nun drängt sich die Frage auf, ob es neben geopolitischen Entwicklungen weitere Faktoren gibt, die insbesondere Ländern wie Indien das Interesse an internationaler Arbeitsteilung vergällt haben. Reagiert man dort auf Entscheidungen an anderen Orten der Welt? Tatsächlich könnte die Handelspolitik der Europäischen Union dazu bei­getragen haben, Verdruss über die heutige Form der Globalisierung entstehen zu las­sen. Die Länder der EU propagieren zwar liberalen Handel, neigen selbst aber dazu, ihre Märkte abzuschirmen. Doch haben die Europäer das Schutzniveau für die eigenen Ökonomien in den letzten Jahren etwa erhöht? Die Messung protektionistischer Politik ist schwierig. Es genügt nicht, Zoll­sätze zu betrachten. Eine Rolle spielen etwa auch staatliche Beschaffungsprogram­me und die Präferenzen von Unternehmen wie Verbrauchern. Wenn Letztere zum Beispiel bevorzugt landwirtschaftliche Pro­dukte aus der näheren Umgebung kaufen und auf außereuropäische Importware verzichten, dann beeinflusst das die Han­delsbilanz, ohne dass sich an den Zollsätzen und der Politik Brüssels etwas geändert hätte. Auch bloße Appelle, einheimische Produkte zu erwerben, können sich auf die Handels­bilanz auswirken.

Deshalb ist es sinnvoll, in den Blick zu nehmen, wie sich die Handelsbilanzen der EU entwickeln. Die gegenwärtig der Union angehörenden 27 Volkswirtschaften erzie­len seit Jahren erhebliche Handelsbilanzüberschüsse. Für den Zeitraum von 2012 bis 2019 belaufen sich die kumulierten Über­schüsse der EU-27 im außereuropäischen Handel auf rund 1.442 Milliarden Euro oder 1.730 Milliarden US-Dollar. Dies bedeutet, dass die Handelspartner der EU-27 entspre­chende Defizite hinnehmen und sich ver­schulden müssen. Die anhaltenden Über­schüsse der EU-27 können dazu führen, dass sich der Nutzen der internationalen Arbeitsteilung ungleich verteilt.

Vor dem Austritt Großbritanniens aus der EU fielen diese Überschüsse weniger auf, weil die dortigen Handelsbilanzdefizite einen Teil dessen kompensierten, was die kontinentaleuropäischen Volkswirtschaften an Plus erreichten. Von 2012 bis 2019 betrug das kumulierte britische Handels­bilanzdefizit immerhin 485 Milliarden Euro – gut ein Drittel (34 Prozent) der Überschüsse der EU-27-Länder. Ohne Groß­britannien werden die Überschüsse dieser Ökonomien entsprechend deutlicher zu Tage treten.

Kritiker könnten an dieser Stelle einwen­den, dass Handelsbilanzüberschüsse an sich unproblematisch seien. Doch während dies für den Handel zwischen OECD-Län­dern gelten mag, sind Entwicklungsländer in einer anderen Lage. Diese Volkswirtschaften müssen sich, ebenso wie das Schwellenland Indien, im Ausland ver­schulden, um eine defizitäre Handelsbilanz auszugleichen. Dadurch entstehen nen­nenswerte Kosten. Zudem dämpft ein Handelsbilanzdefizit die inländische Beschäftigung. Schon in den 1960er Jahren hat die engli­sche Ökonomin Joan Robinson darauf hin­gewiesen, dass ein Handelsbilanzüberschuss zu einem Export von Arbeitslosigkeit führt. Die EU-27 hat es in den vergangenen Jahren versäumt, ihre Handelspolitik ge­mäß dieser Erkenntnis zu gestalten.

Während sich schon vor der Corona-Pandemie kritisch nach den Folgen der EU-Handelspolitik fragen ließ, zeigt sich heute, dass auch Europa gegen die Verlockungen der Autarkie keineswegs immun ist. Nicht vergessen darf man, dass es kein kontinentaleuropäisches Land gibt, in dem der libe­rale Handel traditionell so breiten gesellschaftlichen Rückhalt fand wie in Großbritannien. Im 19. Jahrhundert galt dort ein unbeschränkter Handel als Bürgerrecht und nicht nur als Methode zur Steigerung des Wirtschaftswachstums; es dominierten Freihandelstheorien. Dagegen waren vor allem in Frankreich merkantilistische Stimmen stets präsenter. In Deutschland wiederum wurde und wird liberaler Handel häufig vor allem als bloßes Mittel betrachtet, um die hier erzeugten Güter besser exportieren zu können. Der Nutzen des Freihandels für Konsumenten spielt im Vergleich zum Interesse der Produzenten vielfach nur eine untergeordnete Rolle. Dem Lager der überzeugten Freihändler innerhalb der EU fehlt nach dem Brexit da­her eine gewichtige Stimme.

EU-Protektionismus – der falsche Weg

Wie gesehen, hat es unterschiedliche Grün­de, wenn in den USA, vor allem aber in den beiden bevölkerungsreichsten Staaten der Welt wieder das Interesse erwacht, handels­politisch auf Selbstversorgung zu setzen. Für Indien wie China spielen dabei geo­politische Spannungen eine zentrale Rolle. Zugleich greifen beide Staaten auf handelspolitische Konzepte zurück, die bereits frü­here Entwicklungsphasen ihrer Ökonomien bestimmten.

Für Deutschland ist diese Entwicklung problematisch, vor allem was China betrifft. Sollte Peking mit der Strategie heimischer Produktion erfolgreich sein, dürfte die deut­sche Industrie die besten Jahre ihres China-Geschäfts hinter sich haben. Das bisherige Modell, das Deutschland hohe Beschäftigung und starke Handelsbilanzüberschüsse bescherte, wäre in Frage gestellt. Die deut­sche Wirtschaft müsste sich neu orientieren und verstärkt auf die europäische Binnen- und die Nachfrage aus anderen OECD-Ländern setzen.

Heute fordern einige Stimmen, Europa müsse seine »strategische Autonomie« stär­ken. Ebenso gibt es Appelle, eine Kampagne zum Kauf europäischer Produkte zu starten. Beobachtet wird schon ein »pandemiegeborener EU-Protektionismus«. Auch erwartet man von Brüssels künftiger Handelspolitik, die soziale Lage in den Herkunftsländern von Importen zu berücksichtigen, ebenso die Effekte der ausländischen Produktion auf den Klimawandel. Die Gefahr ist be­trächtlich, dass mit solchen Maßnahmen eine partielle Abkopplung der EU-27 vom Weltmarkt verbunden sein könnte. Ver­mutlich wäre es vor allem für die Entwicklungsländer Afrikas tragisch, sollte die EU künftig dezidiert auf Selbstversorgung setzen.

Gerade weil arme Entwicklungsländer künftig noch stärker auf die EU als Absatz­markt angewiesen sein werden, wäre eine Neuordnung der europäischen Handels­politik ohnehin opportun. Angesichts der volkswirtschaftlichen Schäden, die die Corona-Pandemie vor allem in Entwicklungs- und Schwellenländern verursacht, sollte die EU gerade jetzt ihre Handels­politik liberalisieren. Sowohl bei Industrie­gütern als auch im Agrarsektor gibt es eine Fülle von Optionen zum Abbau von Han­delshemmnissen. Die Europäische Union könnte zugleich das handelspolitische Ziel aufstellen, eine ausgeglichene Handels­bilanz zu erreichen, und sich selbst Sank­tionen verordnen, sollten entsprechende Schwellenwerte überschritten werden.

Ein falscher Weg wäre es dagegen, die protek­tionistischen Entwicklungen in anderen Volkswirtschaften mit eigenem Protektionismus zu kontern. Europa liefe Gefahr, mit einer solchen Politik die von China, Indien und nicht zuletzt den USA angestoßene Welle weiter zu verstärken und die dortigen Rufe nach partieller Autar­kie zu legitimieren.

Prof. Dr. Heribert Dieter ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Globale Fragen und apl. Professor an der Universität Potsdam.

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