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Internationale Politik unter Pandemie-Bedingungen

Tendenzen und Perspektiven für 2021

SWP-Studie 2020/S 26, 17.12.2020, 90 Seiten

doi:10.18449/2020S26

Forschungsgebiete
  • 2020 ist die Covid-19-Pandemie weltweit zu einem maßgeblichen Faktor internationaler Politik geworden. Ihre wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen verstärken bestehende Trends und haben überdies systemverändernde Qualität.

  • Die Dauer der Pandemie und die Fortschritte bei ihrer Bekämpfung sind schwer zu prognostizieren. Darum werden in dieser Studie Szenarien und Handlungsoptionen entworfen, die Entwicklungen der internationalen Ordnung, der Klima- und Nachhaltigkeitspolitik, der Impfstoffverteilung oder Pfade für migrationspolitische Zusammenarbeit betreffen.

  • So schicksalhaft die Pandemie auch in das Leben und die Politik eingegriffen hat, so unabweisbar ist die Notwendigkeit, die Folgen auf nationaler, europäischer und globaler Ebene politisch zu gestalten. Hier bietet der anstehende Wechsel im Weißen Haus eine Gelegenheit für effektive inter­nationale Kooperation und abgestimmtes multilaterales Vorgehen.

  • Noch hat die Pandemie der EU keinen effektiven Anstoß für größere Handlungsfähigkeit in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik gegeben, wohl aber einen wichtigen politischen Impuls für den EU Next Generation Fund und dessen Programmierung auf die Großprojekte Green Deal und Digitalisierung.

  • Die Weltwirtschaft ist in die tiefste Rezession seit den 1930er Jahren gestürzt, die Abstände zwischen armen und reichen Staaten dürften grö­ßer werden. Die Pandemie verstärkt Tendenzen zu Regionalisierung und Relokalisierung von Liefer- und Wertschöpfungsketten. Konzepte für die Stärkung der Resilienz kritischer Wirtschaftssektoren erhalten mehr Auf­merksamkeit, bergen aber die Gefahr von wachsendem Protektionismus.

  • Die Pandemie hat nicht zu einem Lockdown der Gewalt in Krisenzonen geführt. Während das Engagement für ziviles und militärisches Krisenmanagement nachließ, setzten Groß- und Regionalmächte ihre Rivali­täten um Status, Einfluss und Hegemonie fort.

  • Deutschland und Europa stehen 2021 vor vielerlei Herausforderungen: Sie müssen einen Durchbruch bei der globalen Eindämmung der Pan­demie erzielen, die Wirtschaft im EU-Raum wieder ankurbeln, den Großprojekten Green Deal und Digitalisierung Zugkraft verleihen, die multi­laterale Kooperation revitalisieren, den Weg zur strategischen Autonomie Europas fortsetzen, dies mit einem Neustart der transatlantischen Beziehungen verbinden und fragile Länder des Südens stabilisieren. Ziel­konflikte sind dabei unvermeidlich.

Inhaltsverzeichnis

1 Die Pandemie und die internationale Politik: Eine einleitende Übersicht

1.1 Internationale Ordnung und globale Dynamiken

1.2 Europa und sein Umfeld

2 Varianten der kommenden Ordnung: Drei Szenarien

2.1 Szenario 1: Die Stunde Europas

2.1.1 Narrative Entfaltung: Im Lauf der Zeit

2.2 Szenario 2: Von der Staaten- zur Gesellschaftswelt

2.2.1 Narrative Entfaltung: Eine neue Hoffnung

2.3 Szenario 3: Zersplitterung der internationalen Ordnung

2.3.1 Narrative Entfaltung: Jeder kämpft für sich allein

2.4 Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen

3 Covid-19 und die Weltwirtschaft: Herausforderungen für Deutschland und Europa

3.1 Neue Kräfteverhältnisse, struktureller Wandel, soziale Folgen

3.2 Finanzmärkte: Volatilität, Stabilisierungsversuche, Schuldenkrise

3.3 Internationaler Handel: Neue Trends oder alte Reflexe?

3.4 Schlussfolgerung: Komplexe Resilienz für die Wirtschafts-, Handels- und Finanzpolitik

4 Kein Aufwind für populistisches Regieren in Corona-Zeiten

4.1 Regieren unter »Corona«

4.2 Reaktionen populistischer Regierungen

4.3 Kein eindeutiger Trend

5 Kein »Lockdown« der Gewalt: Covid‑19 verschärft die Gefahr von Konflikten und erschwert ihre Bearbeitung

5.1 Zunehmende staatliche Fragilität

5.2 Die Pandemie als potentieller Treiber von Rivalitäten zwischen Groß- und Regionalmächten

5.3 Geschwächte Institutionen und knappere Ressourcen

5.4 Fazit

6 Die Schwellenländer und die Corona‑Pandemie

6.1 Sozioökonomische Folgen

6.2 Folgen für Devisenreserven und Staatsverschuldung

6.3 Politische Folgen

6.4 Trends und Implikationen für die deutsche und die europäische Politik

7 Größere Fragilität in Afrika: Gefragt sind Ansätze auf allen Ebenen

7.1 Pandemiefolgen: Besonders heikel für Transitionsländer und fragile Demokratien

7.2 Kritische Infrastruktur: Vom Kollaps bis hin zu neuen Chancen

7.3 Die Rolle externer Akteure und afrikanisches Engagement

7.4 Afrikanische Lösungen für Afrika

7.4.1 Gesundheitsgerechtigkeit

7.4.2 Schuldenmanagement und Abfederung sozioökonomischer Krisen

7.4.3 Verzahnung kritischer Infrastrukturen

7.4.4 Fragile Demokratien und Transitions­gesellschaften besonders unterstützen

8 Die Auswirkungen der Covid‑19-Pandemie auf das internationale Wanderungs­geschehen

8.1 Aktuelle und künftige Wanderungstrends

8.2 Mögliche Pfade für die migrations­politische Zusammenarbeit

8.3 Handlungsmöglichkeiten

9 An der Kreuzung: Die Verteilung eines Covid-19-Impfstoffes

9.1 Szenario 1: Globales Handeln in alten Mustern

9.2 Szenario 2: Gerechter Zugang

9.3 Empfehlungen

10 Klar zur Wende? Internationale Klima- und Nachhaltigkeitspolitik gestalten

10.1 Zwei Szenarien: Die Welt im Jahr 2030

10.2 Hebel für eine nachhaltige Wirtschaftsordnung ansetzen

10.3 In New York überzeugen

10.4 Klimadiplomatie hochfahren

10.5 Pandiemieerfahrungen nutzen – Wendemanöver bewerben

11 Versorgungssicherheit: Marktdynamiken und Machtverschiebungen einplanen

11.1 Covid-19: Geographische Verschiebungen in Lieferketten

11.2 Covid-19 als Chance für mittelfristige Veränderungen von Lieferketten

11.3 Sektor- und rohstoffbezogene Chancen identifizieren

11.4 Neue Konzepte von Versorgungssicherheit

12 Die Pandemie und die EU: Integrations­impuls mit ungewisser Wirkung

12.1 Chancen für Reformen

12.2 Die Handlungsfähigkeit der EU umfassend stärken

12.3 Brems- und Gegenkräfte

12.4 Ausblick: Die Pandemie – integrationspolitischer Katalysator oder nur Anstoß für eine Reformepisode?

13 Europäische Außen- und Sicherheitspolitik in der Pandemie

13.1 Multilateralismus erodiert – EU hält dagegen

13.2 Vielstimmigkeit in internationalen Krisen und Konflikten besteht fort

13.3 Finanzierung des auswärtigen Handelns verbleibt auf niedrigem Niveau

13.4 Das Budget als Gelegenheit für eine Auf­wertung der Kommission in der Sicher­heits- und Verteidigungspolitik

13.5 Zusammenführen, was zusammengehört

14 Resiliente Versorgung in Krisenzeiten: Mehr politikfeldübergreifende Koordination zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten

14.1 Erste Schritte zur Reform strategisch wichtiger Infrastrukturen und Industrien

14.2 Koordinierung und Kohärenz für Versorgungssicherheit in der Rohstoff- und Handelspolitik

14.3 Gesamtstrategie für vorausschauende Resilienz

15 Ein krisenfester »Green Deal«

15.1 Ökonomische und technologische Herausforderungen

15.2 Politische und regulatorische Herausforderungen

15.3 Notwendige Fortschritte

16 Regionale Unordnung in Europas südlicher Nachbarschaft. Konfliktakteure verfolgen Interessen unbeirrt

16.1 Krisenmanagement und humanitäre Auswirkungen der Pandemie

16.2 Pandemiebewältigung im Konflikt

16.3 Indirekte Auswirkungen der Pandemie

16.4 Unsicherheitskomplex im Nahen/Mittleren Osten und in Nordafrika

16.5 Herausforderungen und Handlungs­optionen für deutsche und europäische Politik

17 Covid-19 und das Krisenmanagement Deutschlands

17.1 Krisen und Krisenmanagement

17.2 Nur geringe Wirkung von Covid-19

17.3 Geringere Handlungsspielräume

17.4 Krisenmanagement – von außen nach innen

18 Ausblick auf 2021: Das zweite Jahr der Pandemie und Chancen, die multilaterale Zusammenarbeit wiederzubeleben

18.1 Corona-Folgen und Transformationsagenda der EU

18.2 Neustart mit den USA und transatlantische Agenda 2021

18.3 Strategische Autonomie Europas, Konflikte und Krisenlandschaften

19 Anhang

19.1 Abkürzungen

19.2 Die Autorinnen und Autoren

Volker Perthes

Die Pandemie und die internationale Politik: Eine einleitende Übersicht

Die Covid-19-Pandemie ist die dritte weltweit spür­bare Erschütterung des noch jungen 21. Jahrhunderts. Im Unterschied zu den Terroranschlägen vom September 2001 und zur Banken- und Finanzkrise von 2007/2008 ist ihre Reichweite tatsächlich global, denn sie betrifft Menschen in fast ausnahmslos allen Ländern der Welt direkt,1 wenngleich in unterschiedlichem Maße. Für definitive Aussagen, wie sich Covid-19 auf die internationale Politik auswirkt, ist es zwar noch zu früh. Doch mit hoher Sicherheit lässt sich annehmen, dass die Pandemie und ihre Folgen die internationalen Verhältnisse, das Niveau der Zusam­menarbeit und die innere Entwicklung sehr vieler Länder bis auf Weiteres auch dann noch prägen werden, wenn wirksame Impfstoffe entwickelt sind und die Seuche unter Kontrolle gebracht sein wird.

Seit Beginn der Pandemie wird diskutiert, ob sie nun ein historischer Gamechanger sei oder den Gang der Geschichte doch eher bloß beschleunige.2 Tat­sächlich zeigen die Beiträge dieser Studie, dass einige internationale Trends, die schon vor Ausbruch der Seuche erkennbar waren, in deren Verlauf an Fahrt gewonnen haben. Aber es gibt, wie sich im Ganzen zeigt, eben auch Trendbrüche. Interessanter und politisch relevanter scheint deshalb die Frage, wo eine Beschleunigung vorhandener Entwicklungen nicht einfach ein Mehr vom Gleichen in kürzerer Zeit bedeutet, sondern in qualitativen Wandel umschlägt oder umschlagen könnte. So besteht zweifellos die Gefahr, dass wachsende Ungleichheit nicht einfach mehr soziale Verwerfungen hervorbringt, sondern zu bewaffneten Konflikten führt, die ganze Regionen destabilisieren. Umgekehrt lässt sich nicht ausschließen, dass es eine Vorbildwirkung entfaltet, sollte bei der Impfstoffverteilung eine erfolgreiche internationale Zusammenarbeit gelingen. Ein solcher Beispielfall könnte dazu beitragen, multilaterale Handlungsblockaden zumindest in einzelnen anderen Politikfeldern auszuräumen.

Ein vergleichender Blick auf unterschiedliche Handlungsbereiche und Weltregionen macht deut­lich, dass Covid-19 zwar durchweg ein Faktor gewor­den ist, die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Krise aber nie gleichförmig sind, sondern immer kontingent. Neben strukturellen Bedingungen wirtschaftlicher, geographischer oder demographischer Art, der Verfügbarkeit materieller Ressourcen sowie technischen und institutionellen Kapazitäten spielen Governancefragen eine große Rolle – also wie auf nationaler oder internationaler Ebene regiert wird. Das heißt auch, dass die lang­fristigen Folgen des Naturphänomens Pandemie von politischer Gestaltung abhängig blei­ben. Absehbar ist, dass Staaten, die relativ gut durch die Krise kommen, sich höheren Erwartungen der internationalen Ge­meinschaft werden stellen müssen – oder positiv aus­gedrückt: als Kooperationspartner gefragt sein werden. Für Deutschland hat sich dies bislang bestä­tigt. Schon deshalb fragen wir in den meisten Bei­trägen auch, was genau Deutschland und die Euro­päische Union aus wohlverstandenem Eigeninteresse beitragen können und müssen, um nicht nur die Pan­demie einzudämmen, sondern auch um andere Staa­ten und Gesellschaften beim Umgang mit den Folgen zu unterstützen, internationale Zusammenarbeit zu stärken und die Welt als Ganze resilienter zu machen. Geopolitische Dynamiken spielen eine Rolle dabei, Covid‑19 zu bewältigen, stehen aber meist wie ein ceterum censeo hinter den eigentlichen Herausforderun­gen, vor die die Seuche die internationale Gemein­schaft stellt. So haben sowohl die Regierung Donald Trumps in den USA wie die chinesische Partei- und Staatsführung die Pandemie innenpolitisch und im Rahmen ihrer strategischen Rivalität instrumentali­siert. Auch für das Bemühen um europäische Selbst­behauptung – um ein Mehr an europäischer Sou­verä­nität oder Autonomie – hat die Krise weitere Gründe geliefert, zumindest mit Blick darauf, wie sicher und verlässlich Lieferketten sind. In der Zu­sammenschau unterstreichen die Beiträge dieser Studie aber vor allem, dass Nachhaltigkeitsthemen zentral sind bei den Gestaltungsaufgaben, die sich als Antwort auf die Pandemie für nationale, europäische und internationale Politik ergeben. Nicht weniger wichtig, vielmehr erweitert werden dadurch Fragen nach der Handlungsfähigkeit Deutschlands und Euro­pas angesichts fortbestehender Großmachtkonkur­renzen, angeschlagener internationaler Ordnungs­strukturen und gewaltsamer Konflikte im geographischen Umfeld.

Internationale Ordnung und globale Dynamiken

Es gibt gute Gründe, anzunehmen, dass der Wahlsieg Joe Bidens und die Art und Weise, wie andere Ak­teure weltweit damit umgehen, die internationale Ordnung in den kommenden Jahren stärker beeinflussen werden als die Pandemie. Wirkungen auf diese Ordnung entfaltet die Seuche gleichwohl. Sze­narien können helfen, unsere Gedanken zu ordnen und Chancen genauso wie unerwünschte Verläufe durchzuspielen. Dabei werden Fragen identifizierbar, wie sie sich gerade auch hinsichtlich der Handlungs­optionen auf jenen Politikfeldern stellen, die in dieser Studie analysiert werden. Bei den drei Szenarien, die Lars Brozus und Hanns Maull in ihrem Beitrag ent­wickeln, sticht die Bedeutung der Handlungsfähigkeit der EU hervor, wozu gerade beim Umgang mit globa­len Risiken auch die Fähigkeit gehört, transnational mit nichtstaatlichen Akteuren zusammenzuarbeiten.

Die Globalität der Pandemie zeigt sich zuvorderst in ihren wirtschaftlichen Auswirkungen. Sie hat die tiefste Rezession seit den 1930er Jahren ausgelöst, hin­terlässt aber in einzelnen Weltregionen unterschiedlich tiefe Spuren. China und Ostasien dürften, wie Hanns Günther Hilpert, Bettina Rudloff und Paweł Tokarski ausführen, weiter an relativem Ge­wicht in der Weltwirtschaft gewinnen. Mit den öko­nomischen Folgen der Pandemie gehen oft heikle Abwägungen einher. So unterstreicht Covid‑19 zwar, wie bedeutend nachhaltiges Wirtschaften ist, doch gleichzeitig werden die Bedingungen schwieriger, unter denen eine Agenda nachhaltigen Wachstums umzusetzen ist. Und sosehr von der EU verlangt wer­den wird, europäische Verwundbarkeiten bei der Ver­sorgung mit kritischen Gütern zu mindern, sollte sie sich für mehr internationale Zusammenarbeit und Koordination einsetzen – entgegen den protektionistischen Tendenzen, die sich im Zuge der Pandemie weltweit verstärkt haben. Nicht zuletzt gilt es, verläss­liche multilaterale Handelsregeln zu bewahren.

Auch politisch zeigt sich, dass Trends nicht immer eindeutig zu bestimmen sind. So hat die Pandemie, wie Kai-Olaf Lang und Claudia Zilla erklären, populis­tischen, polarisierenden oder autoritären Regierungen keineswegs immer dabei geholfen, ihre Macht zu festigen oder auszuweiten. Wohl aber, und das ist eine Lektion, die auch in Deutschland ernst zu neh­men ist, gedeiht polarisierende Politik in Zeiten der Krise fast überall. Inwieweit die Pandemie und ihre Handhabung durch die Trump-Regierung dazu bei­getragen haben, dass der US-Präsident abgewählt wurde, ist noch zu erforschen. Fest steht heute nur, dass Demoskopen den Corona-Effekt auf das Wahl­ergebnis überschätzt haben.

Direkte kausale Zusammenhänge zwischen der Pandemie und gewalttätigen Konflikten lassen sich ebenfalls nicht nachweisen; indirekte Wirkungen sind aber offensichtlich. Schon zuvor fragile Staaten können sich noch weniger um die Grundbedürfnisse ihrer Bevölkerung kümmern und überlassen zum Teil nichtstaatlichen Gewaltakteuren den Raum; konkurrierende Regional- oder Großmächte instrumentalisieren die Pandemie; international und auch in Euro­pa sind weniger Ressourcen verfügbar, um Konflikte zu bearbeiten. Claudia Major, Marco Overhaus, Johan­nes Thimm und Judith Vorrath empfehlen deshalb für eine deutsche und europäische Politik der Krisen­prävention, die Priorität auf jene fragilen Staaten zu richten, in denen sich die innere politische Lage durch Covid-19 zu verschärfen droht.

Wirtschaftlich sind die Schwellenländer in besonderem Maße betroffen. Die Krise beschleunigt zugleich den Trend unter ihnen, sich auseinanderzudifferen­zie­ren. Diese Entwicklung wird wahrscheinlich anhal­ten, schreiben Janis Kluge, Günther Maihold, Stephan Roll und Christian Wagner. Was dabei zählt, ist zum einen der jeweilige Platz auf der Landkarte globaler Wertschöpfungsketten; zum anderen sind es aber vor allem die innenpolitischen Verhältnisse und institu­tionellen Voraussetzungen einzelner Länder. Europa sollte gerade den ärmeren Schwellenländern Unter­stützung anbieten – bei der Lieferung von Impf­stof­fen wie beim Schuldenerlass. Dies ermöglicht dann auch, auf eine klimaschonende Wirtschaftspolitik oder die Einhaltung von Menschenrechten zu drängen.

Die Staaten Afrikas, die hier besonders in den Blick geraten, haben sehr unterschiedlich auf die Pandemie reagiert. Wie aus dem Beitrag von Susan Bergner, Melanie Müller, Annette Weber und Isabelle Weren­fels hervorgeht, hat Covid-19 vor allem da zur Desta­bilisierung beigetragen, wo innere Konflikte den gesellschaftlichen Zusammenhalt ohnehin gefährden. Je weniger es Staaten und Regierungen vermochten, die Bevölkerung zu versorgen und zu schützen, desto größer wurde das Risiko, dass extremistische und bewaffnete Gruppen erstarken. Bei grundsätzlichem Vertrauen in die politische Führung blieben dagegen auch solche Staaten stabil, die institutionell oder in­frastrukturell eher schwach sind. Einige afrikanische Staaten konnten ihre Kapazitäten zur Krisenbewältigung sogar ausbauen, indem zivilgesellschaftliche Akteure aktiv einbezogen wurden, und Regional­organisationen haben wirksam dazu beigetragen, Er­fah­rungen mit früheren Seuchen nutzbar zu machen.

Krisen und Konflikte in Afrika spielen für das globale Migrations- und Fluchtgeschehen eine erheb­liche Rolle. Steffen Angenendt, Nadine Biehler, Raphael Bossong und Anne Koch weisen darauf hin, dass Covid-19 zwar die Triebkräfte von Flucht und Migration nicht verändert hat, »wohl aber die poli­tischen und administrativen Rahmenbedingungen«. Weltweit ist die Mobilität stärker eingeschränkt, und davon sind Migranten und Flüchtlinge besonders betroffen, ebenso Länder, die auf regelmäßige Rück­überweisungen von Arbeitsmigranten angewiesen sind. Auch mit Blick auf den eigenen europäischen Bedarf an Fachkräften – nicht zuletzt im Gesundheitssektor – gewinnt eine »vorausschauende Migra­tionspolitik in Partnerschaft mit den Herkunfts­ländern« deshalb noch an Bedeutung.

Ob die Pandemie und ihre Folgen sich wirksam unter Kontrolle bringen lassen, hängt wesentlich davon ab, ob die EU, deren Mitgliedstaaten, die USA und auch China bereit sind, beim Aufbau resilienter Gesundheitssysteme und bei der Impfstoffverteilung global und partnerschaftlich zu kooperieren. Maßgeb­lich ist auch, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) durch gezielte Reformen gestärkt wird. An­gesichts dieser Herausforderungen sind, wie Maike Voss zeigt, durchaus unterschiedliche Szenarien denk­bar. Letzt­lich entscheidet sich in den Industriestaaten, ob Covid-Impfstoffe als globales öffentliches Gut behan­delt und entsprechend verteilt werden – oder ob trotz ausreichend vorhandener Vakzine der Großteil der Bevölkerung etwa in Afrika ungeimpft bleibt. Deutschland kann mit seinen europäischen Partnern den Weg zu einer fairen Verteilung ebnen und sollte im Übrigen, so die Autorin, der Stärkung der WHO Priorität einräumen.

In der Klimapolitik lässt sich davon ausgehen, dass Bidens Wahlsieg die Chancen für ein koopera­tives Szenario erhöht hat. Doch wird sich dieses nicht von selbst durchsetzen. Deutschland und seine euro­päischen Partner sind daher, so Marianne Beisheim und Susanne Dröge, in zweierlei Hinsicht gefragt. Zum einen sollten die Mittel aus nationalen Corona-Hilfs­paketen und aus dem EU-Wiederaufbaufonds kon­sequent mit Klima- und Nachhaltigkeitszielen verknüpft werden. Zum anderen ist international um willige Partner für »gemeinsame Wendemanöver in der Klima- und Nachhaltigkeitspolitik« zu werben, gegebenenfalls durch Angebote technischer Kooperation und privilegierter Marktzugänge.

Die Pandemie hat in vielen Ländern das Thema Ver­sorgungssicherheit auf die politische Tagesordnung gebracht. Waren Bemühungen, internationale Liefer­ketten zu verlagern oder zu verkürzen, vormals eher geopolitisch motiviert, so gibt es dafür nun weitere Gründe. Dabei wird in den Industriestaaten oft über­sehen, dass viele andere Länder kaum in der Lage sind, handelspolitische Abhängigkeiten auf diesem Wege zu reduzieren. Melanie Müller schlägt deshalb vor, mit Partnerländern einen handlungsorientierten Dialog über die Resilienz von Lieferketten zu führen. Ziel wäre nicht zuletzt, dass Produktionsbedingungen weltweit nachhaltiger gestaltet werden.

Europa und sein Umfeld

Die Pandemie hat die einzelnen EU-Mitglieder unter­schiedlich stark getroffen, gleichzeitig aber für die Union als Ganzes wie ein »Reformkatalysator« ge­wirkt, so Peter Becker, Kai-Olaf Lang, Barbara Lippert und Paweł Tokarski. Mit dem gemeinsam schulden­finanzierten Wiederaufbauprogramm hat die EU einen Integrationsschub erfahren, und sie war in der Lage, die wirtschafts- und klimapolitischen Weichenstellungen des Mehrjahreshaushalts und des Wieder­aufbauprogramms sozialpolitisch zu flankieren. Aber nicht in allen Politikbereichen gibt es Bewegung; so stehen Schritte hin zu einer gemeinschaftlichen euro­päischen Gesundheitspolitik noch aus. Und ob die integrationspolitische Wirkung der Hilfsprogramme nachhaltig sein wird, ist offen. Trotz der gemeinsamen Kraftanstrengung besteht das Risiko, dass wirt­schaftliche Ungleichgewichte in der EU sich durch Pandemie und Rezession weiter verschärfen. Bemü­hungen um mehr Integration auch auf Feldern wie der Innen- und Justizpolitik oder der Währungs­politik werden absehbar für Kontroversen sorgen. Deutschland sollte sich deshalb, so die Autoren, mit einer Gruppe gleichgesinnter Staaten darum bemü­hen, Kernelemente eines ausgewogenen Reform­pakets zu entwickeln, das Handlungsfähigkeit und Legitimität der Union zu stärken verspricht.

Auf die Außen- und Sicherheitspolitik ist der er­wähnte Integrationsschub bislang nur teilweise über­gesprungen. Bei der Pandemiebekämpfung hat die EU effektiv dazu beigetragen, multilaterales Handeln zu wahren und zu fördern. Der Europäische Auswärtige Dienst geht gegen Desinformationskampagnen im Zu­sammenhang mit der Pandemie vor, und der Ansatz für die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik wurde im Haushaltsrahmen 2021–27 deut­lich erhöht. Nicht weitergekommen ist die EU dage­gen, wie Annegret Bendiek und Ronja Kempin erklä­ren, beim gemeinsamen Handeln in geopolitischen Krisen und Konflikten. Geplant ist eine gemeinsame Bedrohungsanalyse der EU; sie mag helfen, zumindest die strategischen Prioritäten miteinander abzustim­men. Größere Wirkung, so die Autorinnen, wird das auswärtige Handeln der Union aber vor allem da­durch erhalten, dass außen- und sicherheitspolitische Instrumente mit solchen der Handels- und Investi­tionspolitik verzahnt werden.

Das Bemühen um Resilienz gegenüber externen Schocks steht schon seit einiger Zeit im Zentrum europäischer Sicherheitspolitik. Mit der Pandemie ist ins allgemeine Bewusstsein gerückt, wie sehr Gesell­schaften abhängig sind von sicheren Kommunika­tions­netzwerken und Dateninfrastrukturen, aber auch von der zeitnahen Versorgung mit »kritischen« Low-tech-Produkten wie etwa Schutzmasken. Verbes­serungen im Sinne einer vorausschauenden Resilienz können, wie Raphael Bossong und Bettina Rudloff ausführen, die Abwehrkräfte gegen trans­nationale Risiken – zum Beispiel einer weiteren Pandemie – stärken und gleichzeitig zur strategischen Autonomie oder Souveränität Europas beitragen. Dies gilt etwa gegenüber anhaltenden Versuchen Dritter, die innere Ordnung der Union oder einzelner Mitgliedstaaten zu unterminieren.

Die Pandemie hat zudem deutlich werden lassen, wie wichtig eine Umorientierung auf nachhaltiges Wirtschaften ist. Innerhalb der EU hat dies dazu beigetragen, dem Wiederaufbauprogramm eine grüne Note zu geben und den European Green Deal krisen­fester zu machen, schreiben Oliver Geden und Kirsten Westphal. Auch wenn die Herausforderung bestehen bleibt, mittelfristige Ziele wie die Klimaneutralität tatsächlich umzusetzen, sind zumindest die Ziele an sich kein umstrittenes Thema mehr. Innereuropäisch werden jedoch Verteilungskämpfe um Emissions­berechtigungen auszustehen sein. International sind Differenzen nicht zuletzt mit Schwellenländern zu erwarten, wenn die EU sich für einen CO2-Grenz­ausgleichsmechanismus entscheidet. Umso wichtiger ist es, so die Autoren, Partnerländer auf dem Weg »in die neue Energiewelt mitzunehmen«. Wenn bisherige Öl- und Gaslieferanten etwa als Produzenten klima­freundlichen Wasserstoffs ins Spiel kommen, könnte dies sogar dabei helfen, Europas geographische Um­gebung zu stabilisieren.

In der südlichen Nachbarschaft, im Nahen und Mittleren Osten sowie in Nordafrika, hat die Pandemie vorhandene Krisen und Konflikte lediglich um eine weitere Kalamität erweitert. Wo sich die Dyna­miken einzelner Konflikte verändert haben, liegt das eher an geopolitischen Verschiebungen, wie Muriel Asseburg, Wolfram Lacher und Guido Steinberg er­klä­ren. Russland und die Türkei haben im Mittelmeer­raum an Einfluss gewonnen – nicht wegen der Pan­demie, sondern weil sie zu riskanten Interventionen bereit waren. Europa hat im Ganzen an Einfluss in der Region verloren, trotz aktiver Bemühungen gerade Deutschlands, den Konflikt in Libyen beizulegen.

Tatsächlich hat Covid-19 die Krisen und Konflikte, an deren Bearbeitung sich Deutschland beteiligt, nir­gendwo weniger virulent gemacht. Corona hat aller­dings, schreibt Markus Kaim, die internationale Krisen­agenda und auch jene der EU überlagert. Da in Zu­kunft nicht weniger Herausforderungen im Umfeld Europas zu erwarten sind, werden Deutschland und seine Partner in der EU das Instrumentarium erwei­tern müssen, mit dem sich Krisen angehen lassen. So werden neben den entsprechenden politischen und militärischen Fähigkeiten künftig wohl auch gesund­heitspolitische Instrumente zum Regelinventar deut­scher wie europäischer Außen- und Sicherheitspolitik gehören.

Internationale Ordnung und globale Dynamiken

Lars Brozus / Hanns W. Maull

Varianten der kommenden Ordnung: Drei Szenarien

Die Frage nach der Gestalt der internationalen Ord­nung »post Corona« lässt sich gegenwärtig nicht eindeutig beantworten. Daher sollte in Szenarien gedacht werden. Wir skizzieren drei alternative Ent­wicklungsmöglichkeiten für die kurz- bis mittelfristige Zukunft (2021–2025), die jeweils in einem kon­zep­tionellen und einem narrativen Teil beschrieben werden. Zu den wichtigsten Einflussfaktoren, die in unterschiedlicher Ausprägung auftreten, zählen die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie, die Entwicklungen in den USA, in China und der EU sowie die Handlungsfähigkeit und Ko­operationsbereitschaft politischer Akteure. Geord­net sind die Szenarien nach dem Umfang der Spielräume, die deutschen Entscheidungsträgern offenstehen. Während im ersten Szenario die Handlungsmöglichkeiten relativ groß sind, nehmen sie danach suk­zessive ab.

Szenario 1: Die Stunde Europas

Die Pandemie verändert die Machtbeziehungen auf internationaler Ebene spürbar. Die USA und China verstricken sich in ihrem geopolitischen und ideo­logischen Antagonismus, verursachen dabei Kollateralschäden und verlieren an Ansehen und Einfluss. Zugute kommt dies der Europäischen Union. Dabei spielt Berlin eine zentrale Rolle: Es investiert in die europäische Zusammenarbeit und nutzt die Handlungsspielräume, die sich durch die wachsenden Vorbehalte gegenüber China und den USA ergeben. Die EU überwindet den Reformstau und führt Mehr­heitsentscheidungen in der Außenpolitik ein, um ihre politischen Anliegen auf internationaler Ebene energischer zu vertreten. 2025 gelten die Erfolge des erneuerten »Modells Europa« als Beispiel für die Ver­bindung von wirtschaftlicher Prosperität, einem Regieren, das an Nachhaltigkeit ausgerichtet ist, und liberal-demokratischer Stabilität.

Die treibende Kraft in diesem Szenario ist die Staats­kapazität – verstanden als die Fähigkeit poli­tischer Ordnungen, auf die Herausforderungen der dreidimensionalen Krise (Gesundheit,1 Wirtschaft, Politik) effektiv zu reagieren und notwendige An­passungen voranzutreiben. Der EU gelingt es, gemein­sam mit gleichgesinnten Staaten und internationalen Organisationen die zukunftsfähigen Elemente der internationalen Ordnung zu stabilisieren und neue Regelwerke zu erarbeiten. Kollektiv können die spe­zifischen Fähigkeitsdefizite kompensiert und beste­hende Stärken zu einem handlungsfähigen Multilateralismus kombiniert werden. Dabei werden gesellschaftliche Akteure in Governance-Arrangements ein­gebunden, die aber weiterhin staatlich dominiert bleiben.

Narrative Entfaltung: Im Lauf der Zeit

Unter Präsident Biden gelingt den USA die Rückkehr zu einer multilateralen Außenpolitik nur in Ansätzen. Das innenpolitische Klima bleibt angespannt und wird von Ex-Präsident Trumps neuem Medienimperium weiter vergiftet. 2022 erobert die Republikanische Partei die Mehrheit im Repräsentantenhaus. Die innere Zerrissenheit der USA beeinträchtigt die Handlungsfähigkeit Washingtons. China und Russ­land stoßen in das Führungsvakuum, wobei sich die laten­ten Gegensätze zwischen ihnen vergrößern. Spannungen verursachen insbesondere die chinesischen Wirtschaftsaktivitäten in den Grenzregionen und die wachsende Präsenz chinesischer Arbeiter und Klein­unternehmer im Fernen Osten. Die Rivalitäten zwischen den USA, China, Russland und zunehmend auch Indien tragen dazu bei, dass auf regionaler Ebene Konflikte aufbrechen. 2021 erhöht China den Druck auf Taiwan und erreicht eine faktische Unter­werfung, die Washington hinnimmt.

Die sichtbare Schwäche der USA führt in Verbindung mit fortgesetzten russischen Provokationen dazu, dass sich die EU auf grundlegende Reformen einigt. Unter französischer Ratspräsidentschaft gelin­gen 2022 weitreichende Schritte: Außen- und sicher­heitspolitische Entscheidungen werden nunmehr per Mehrheitsbeschluss getroffen, die Fiskal- und Wirt­schaftsunion wird ausgebaut. Washington sieht diese Entlastung positiv. Eine erste Bewährungsprobe besteht die reformierte EU-Architektur, als sich das Migrations- und Fluchtgeschehen im Mittelmeer erneut zuspitzt. Immer mehr Menschen versuchen, aus Nordafrika nach Europa zu gelangen. Getrieben werden sie durch die Folgen der Pandemie und den Klimawandel. In einer großen Kraftanstrengung ge­lingt es der EU, die Lage mittels eines militärisch und polizeilich flankierten humanitären Einsatzes zu sta­bilisieren. Um den Kristallisationskern EU entsteht eine lose Koalition globaler Mittelmächte, an der sich Staaten wie Australien, Großbritannien, Japan, Kanada und Südkorea beteiligen. Sie halten nach neuen Partnern Ausschau, da die USA ihre traditio­nelle Rolle als ordnungspolitischer Partner immer weniger wahrnehmen. Erfolgreiche Projekte wie die Initiative zur Verbindung des Green Deal mit gesund­heitspolitischen Aspekten unter dem Schlagwort »One Health« festigen die Kooperation ebenso wie die flächendeckende Verbreitung eines effektiven Covid-19-Impfstoffs. Am 1. Februar 2025 begründen die 27 Staats- und Regierungschefs mit 17 weiteren Ländern des Nordens und des Südens die »Demokratische Allianz für globalen Fortschritt«, die sich dazu ver­pflichtet, ernst zu machen mit »Building Back Better«.

Szenario 2: Von der Staaten- zur Gesellschaftswelt

Der Schock der Corona-Krise führt zu einer tief­greifenden Transformation der globalen Ordnung. Nichtstaatliche Akteure beginnen, Verantwortung für eine transnational verstandene politische Gemeinschaft zu übernehmen. Maßgeblicher Treiber ist der Unmut über die Unfähigkeit der Regierungen, die Bewältigung der planetarischen Herausforderungen anzupacken. Die Pandemie ist nur das aktuellste Bei­spiel, Klimawandel, sozioökonomische Ungleichheit und die Verbreitung von Nuklearwaffen folgen dicht­auf. In der Weltöffentlichkeit wächst das Bewusstsein dafür, dass die wechselseitigen Abhängigkeiten in einer Vielzahl von Politikfeldern eine kollektive Her­ausforderung darstellen. Es wird nicht mehr toleriert, dass notwendige Problemlösungen fortwährend in die Zukunft verschoben werden, weil es lähmende Positionsdifferenzen zwischen mächtigen Regierungen gibt.

Reformimpulse gehen von substaatlichen Gebietskörperschaften wie Ländern, Regionen und Großstädten aus, die sich mit zivilgesellschaftlichen Akteuren, Unternehmen und internationalen Organisationen ver­netzen. Einige Regierungen, darunter die deutsche, britische, kanadische und mehrere skandinavische, fördern diese Initiativen, auch die Vereinten Natio­nen (UN) und die Europäische Union (EU) signalisieren ihre Unterstützung. Die kosmopolitische Stoß­richtung der Reformbemühungen löst zwar Widerstände bei politischen Kräften aus, die sich pri­mär über religiöse oder ethnische Gruppenidentitäten definieren. Aber einer breiten Allianz substaatlicher und transnationaler Akteure gelingt es, mit dem Leit­bild einer konsequent globalen Nachhaltigkeitspolitik politischen Gestaltungswillen zu mobilisieren.2 Der gesellschaftliche Rückenwind trägt dazu bei, dass sich mehr und mehr Regierungen kooperationswillig zeigen.

Narrative Entfaltung: Eine neue Hoffnung

Die Pandemie kann 2021/22 eingedämmt werden: Die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit auf den Weg gebrachte Kampagne Access to COVID-19 Tools (ACT) Accelerator zeigt Wirkung. Die Impfstoffhersteller kooperieren mit globalen Logistikkonzernen wie UPS und DHL und nichtstaatlichen Akteuren wie der Bill & Melinda Gates Stiftung. Organisiert wird die Verteilung von Impfstoffen, Medikamenten und Diagnoseinstrumenten in enger Abstimmung mit der WHO. Der Erfolg der Initiative bestätigt den An­satz, dass lokal und interregional koordiniertes Han­deln mit entsprechender gesellschaftlicher Unter­stützung funktioniert; ein so verstandener Multilateralis­mus erfährt neue Wertschätzung in der Welt­öffentlich­keit. 2023 schließen sich Aktivisten und Unternehmer um Greta Thunberg, Melinda Gates, Mark Andreesen und Jeff Bezos zur »Earth Future Alliance« zusammen, um diesen Governance-Ansatz auf weitere globale Herausforderungen zu übertragen. Unterstützt wird die Alliance von etablierten Orga­nisationen der Zivilgesellschaft wie Amnesty International und Greenpeace. Aber auch Philanthropen stellen beträchtliche Teile ihres Privatvermögens für die Entwicklung innovativer »Global Solutions« für die vielen »Global Problems« zur Verfügung. Zu­nächst geht es der Alliance um die Regulierung tech­nischer Detailfragen, etwa die einheitliche Datenerhe­bung für effektivere Pandemiebekämpfung. Daran schließt sich aber schon bald die Beschäftigung mit komplexeren Herausforderungen auf globaler Ebene an, darunter die Eindämmung des Klimawandels, die Ausgestaltung eines globalen Migrationsregimes und die Schaffung fairer Wirtschaftsbeziehungen.

US-Präsidentin Kamala Harris setzt noch ent­schiedener als ihr Vorgänger auf internationale Zusammenarbeit.

Im Windschatten dieser Entwicklungen gelingt es den Demokraten in den USA, ihre Machtposition trotz der Obstruktionspolitik der republikanischen Oppo­sition zu festigen. 2025 wird Kamala Harris Nachfolgerin von Joe Biden. Getrieben von den transnatio­nalen Initiativen, die sich durch einen erfolgsorientierten Pragmatismus auszeichnen, betreibt sie den Kurswechsel der amerikanischen Politik hin zu ver­stärkter internationaler Zusammenarbeit noch ent­schiedener. Auch der Nachfolger von Xi Jinping an der Spitze Chinas geht ab 2024 zu einer vorsichti­geren Politik über und nutzt internationale Koopera­tionsmöglichkeiten, um das Ansehen der Volksrepu­blik aufzubessern. Die Aussichten für tragfähige und global wirksame Vereinbarungen erscheinen in­zwischen so günstig, dass die UN zum Jahresende 2025 zu einem »Summit of Humanity« einlädt, auf dem Regierungen, internationale Organisationen, Unternehmen und Vertretungen verschiedenster zivilgesellschaftlicher Stakeholder gleichberechtigt über einen »New Global Compact« verhandeln.

Szenario 3: Zersplitterung der internationalen Ordnung

Die Pandemie hat nur geringen Einfluss auf die Ent­wicklungsrichtung der internationalen Beziehungen. Den großen Mächten USA, China, Russland und EU misslingt es weiterhin, sich auf wirksame Regelsetzungen in wichtigen Feldern wie Gesundheit, Klima, Migration3 und Sicherheit4 zu einigen. Die Welt­wirtschaft leidet unter den Folgen der Pandemie, die durch eine verbreitete »My country first«-Politik schwer­wiegender als erhofft ausfallen: Anhaltende Kapitalabflüsse aus dem Globalen Süden einschließlich der Schwellenländer und die Relokalisierung vieler international integrierter Produktions- und Lieferketten in die Industriestaaten vertiefen sozio­ökonomische Ungleichheiten und verschärfen Ver­teilungskonflikte.5

Weltweit nimmt die politische Polarisierung zwischenstaatlich wie auch innerstaatlich zu, was die internationale Handlungsfähigkeit selbst koopera­tions­bereiter Regierungen lähmt. Die Konnektivitätskrise zieht eine Governance-Krise nach sich, die sich innenpolitisch wie international immer weiter ver­festigt. Gewaltkonflikte häufen sich. Auch innerhalb der EU verstärken sich die Zentrifugalkräfte. Die Ver­suche gesellschaftlicher Akteure, transnationale Ordnungen aufzubauen, werden blockiert. Bis 2025 verdichten sich die Defizite bei der Bewältigung der gesundheits-, wirtschafts- und sozialpolitischen Fol­gen der Pandemie mit dem innenpolitischen Still­stand in den USA, dem außenpolitischen Vordringen Chinas und der Stagnation der europäischen Politik zu einem düsteren Szenario.

Narrative Entfaltung: Jeder kämpft für sich allein

In den USA gelingt es den Demokraten nur begrenzt, Reformen anzustoßen, um die Auswirkungen der Pan­demie zu überwinden. Der Widerstand der Repu­blikaner auf allen Ebenen blockiert Veränderungen und befeuert sporadische Gewaltausbrüche. 2024 setzt sich bei den Präsidentschaftswahlen die Repu­blikanerin Nikki Haley durch. Der Wahlkampf wird durch den »neuen Kalten Krieg« mit China bestimmt, der sich nach militärischen Zwischenfällen im süd­chinesischen Meer verschärft. Die Niederlage der Demokraten ist auch auf die Folgen des Börsenkrachs 2023 zurückzuführen, der durch Chinas erfolgreiche Einführung einer eigenen Digitalwährung ausgelöst worden war. Haley verspricht, die USA durch eine totale Mobilisierung gegen China wieder zur Nummer eins zu machen. Dabei setzt sie auf eine Zusammenarbeit mit den Tech-Konzernen, die sich in den ver­gangenen Jahren immer enger mit der Regierung in Washington verbündet haben, um im Wettbewerb mit den chinesischen Kontrahenten bestehen zu kön­nen (»China Inc. vs. America Inc.«). Ziel ist es, den verlorengegangenen Vorsprung der USA in der Rüs­tungstechnologie zurückzugewinnen.

Die europäische Politik bleibt in wichtigen Bereichen zerstritten, beispielsweise in der Asyl- und Migra­tionspolitik und bei institutionellen Reformen, etwa der Abschaffung der Mehrheitsregel. Die um­fang­reichen Finanz­mittel des Wiederaufbaufonds kom­men primär politisch gut vernetzten Akteuren zugute und wirken so strukturkonservierend, bei­spielhaft im Agrarsektor. Mit dem inneren Zusammenhalt der Union schwindet auch ihr internatio­nales Ansehen; Mitte der 2020er Jahre übt China in etlichen Mit­glieds­ländern erheblichen Einfluss aus. Durch die spürbaren Auswirkungen des Klima­wandels verschärfen sich gleichzeitig die Notlagen an der Peripherie Europas. Politische Krisensymptome, wirtschaftliche Misere und wiederkehrende Gewaltkonflikte verstär­ken den Migrationsdruck, der sich trotz aller Eindäm­mungsversuche der EU immer wieder Bahn bricht.

Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen

Die Szenarien verdeutlichen erstens, wie entschei­dend außen- und sicherheitspolitische Handlungs­fähigkeit für die EU ist, und zwar im Sinne sowohl einer Begrenzung der Risiken als auch der Nutzung von Chancen. Diese Handlungsfähigkeit ist, zweitens, Voraussetzung für Koalitionsfähigkeit jenseits der EU, zum einen mit Staaten und nichtstaatlichen Akteuren auf der Basis geteilter Werte, zum anderen aber auch mit Partnern, deren Interessen kompatibel sind. Die Szenarien legen zudem nahe, dass unter den gegen­wärtigen internationalen Rahmenbedingungen Effek­tivität wichtiger sein wird als prozedurale Legitimität. Dies impliziert, drittens, den Vorrang der Handlungs­fähigkeit vor der Geschlossenheit: Außenpolitisch voranzuschreiten und zögernde Partner nachzuzie­hen erscheint besser, als alle mitnehmen zu wollen und dabei Zeit zu verlieren. Schließlich verweisen die Szenarien, viertens, auf die Bedeutung nichtstaat­licher Akteure: Gerade im Zusammenwirken mit der transnationalen Zivilgesellschaft verfügt die deutsche Diplomatie über die Möglichkeit, ihren Einfluss auf den Gang der Entwicklung zu erhöhen. Für all dies gilt es, fünftens, die innenpolitischen Voraussetzun­gen für eine gestaltungsfähige Außenpolitik zu ver­bessern. Sie braucht die Unterstützung der Gesell­schaft ebenso wie geeignete Instrumente und Strategien.

Hanns Günther Hilpert / Bettina Rudloff / Paweł Tokarski

Covid-19 und die Weltwirtschaft: Herausforderungen für Deutschland und Europa

Die von der Pandemie ausgelösten Angebots- und Nachfrageschocks haben die Weltwirtschaft in die tiefste Rezession seit der großen Depression der 1930er Jahre gestürzt. Produktion, Einkommen und Beschäftigung sind auf breiter Front eingebrochen. Alle Prognosen zur weiteren wirtschaftlichen Ent­wicklung sind angesichts der anhaltenden Covid-19-Virulenz höchst unsicher. Sehr wahrscheinlich aber dürfte sein, dass die nahe und fernere Zukunft von einem ständigen Abwägen zwischen »Gesundheitsschutz« auf der einen und »wirtschaftlicher Stabilität« sowie der Verfolgung weiterer Ziele wie »Bildung«, »Nahrungssicherheit« und »sozialer Frieden« auf der anderen Seite geprägt sein wird. Und dies in einer Zeit, in der die Ordnung, die Strukturen und Hier­archien der Weltwirtschaft vielfachen Belastungen und Veränderungen ausgesetzt sind. Die Wirtschaftspolitik und insbesondere die Finanzpolitik und die Handelspolitik stehen vor großen Herausforderungen.

Neue Kräfteverhältnisse, struktureller Wandel, soziale Folgen

Je nach Weltregion und Land sind die Spuren, die die Covid-19-Pandemie hinterlässt, unterschiedlich tief und breit. Der vergleichende Blick über den Globus zeigt, dass Ostasien, vor allem Nordostasien, die un­mittelbaren Folgen der Gesundheitskrise ökonomisch relativ gut meistert. Praktisch alle übrigen Weltregionen – auch die westlichen Industrieländer, und unter diesen gerade auch die USA – erleiden erheb­lich größere wirtschaftliche Verluste, teilweise mit zweistelligen prozentualen Rückgängen des Brutto­inlandsprodukts (geschätzt für 2020). In Europa fällt der wirt­schaftliche Einbruch in Deutschland und Skandinavien etwas geringer aus als in den Nachbarländern. Geradezu dramatisch ist der ökonomische Kollaps und daraus folgend die humanitäre Situation in einigen Schwellenländern (Brasilien, Mexiko, Indien).

Wenn sich, was durchaus plausibel ist, die gegen­wärtigen Trends fortsetzen, dürfte auch künftig die wirtschaftliche und soziale Entwicklung global und regional divergent verlaufen, womit neue Spannungsfelder entstehen. Zu erwarten ist, dass infolge der Pandemie China und Ostasien an relativem ökonomischem Gewicht gewinnen und noch rascher als pro­gnostiziert zum Gravitationszentrum der Weltwirtschaft werden. Politisch könnte daraus eine Kräfte­verschiebung erwachsen.

Die pandemiebedingten Angebots- und Nachfrageschocks werden die Strukturen der Wirtschaft nach­haltig verändern. Während sich die Nachfrage nach sozialen Dienstleistungen, zum Beispiel in den Berei­chen Tourismus, Personenverkehr, Messewesen, auf absehbare Zeit kaum erholen dürfte, besteht im Gesundheitssektor ein enormer Versorgungsbedarf. Auf der Angebotsseite hat die Digitalisierung einen nachhaltigen Schub erfahren. Dabei bergen die Auto­matisierung der Produktion und die Verlagerung der Geschäftsprozesse in den virtuellen Raum Chancen und Risiken. Die Chancen liegen etwa für Deutschland und Europa in den Potentialen für eine Renais­sance der Industrieproduktion. Andererseits könnte die Digi­talisierung den Trend zu einer Verstärkung der sozialen Ungleichheit weiter beschleunigen, etwa indem Arbeit durch Roboter und Algorithmen ersetzt und Geringqualifizierte abgehängt werden. Ein wei­teres Risiko besteht in der Tendenz der Digitalwirtschaft, Unternehmen mit monopolartiger Marktmacht hervorzubringen und den Wettbewerb zu be­schränken.

Die Corona-Krise hat die Bedeutung des Klimaschutzes und von Nachhaltigkeit ein­drucksvoll unter­strichen. Die von der Pandemie ausgehenden öko­nomischen Belastungen erschweren indes die Um­setzung klimapolitischer Maßnahmen – finanziell und politisch-argumentativ. Wichtig sind daher eine höhere Kosteneffizienz und Zielgenauigkeit im Klima­schutz.

Graphik 1

Die Pandemie trifft soziale Schichten und fachliche Qualifikationsniveaus unterschiedlich. Die ungleiche Verteilung von Einkommen, Vermögen und Lebenschancen dürfte sich verstärken, soziale und gesell­schaftliche Spannungen und Konflikte werden sich voraussichtlich verschärfen.1 Wo sozialpolitisch nicht gegengesteuert wird, werden Gesellschaften weiter auseinanderdriften. Erhöhte öffentliche Ausgaben für Soziales, Arbeit und Gesundheit können zwar einen gewissen Ausgleich leisten und die entstehenden sozialen und politischen Krisen abmildern. Sie wer­den aber auch den langfristigen Trend zum Anwachsen staatlicher Sozialausgaben weiter festigen.

Finanzmärkte: Volatilität, Stabilisierungsversuche, Schuldenkrise

Die erste Welle der Covid-19-Pandemie löste sehr heftige Reaktionen an den internationalen Aktien-, Anleihe- und Rohstoffmärkten aus. Ende Februar und Anfang März 2020 verzeichneten die wichtigsten US-Börsenindizes höhere Rückgänge als während der globalen Finanzkrise. Ein weiterer starker Indikator für die Unsicherheit der Märkte hinsichtlich einer künftigen wirtschaftlichen Erholung ist das Verharren des Goldpreises in der Nähe seines im Sommer 2020 erreichten Rekordniveaus.

Als Reaktion auf die Covid-19-Pandemie haben die großen Zentralbanken (Federal Reserve, Europäische Zentralbank, Bank of England, Bank of Japan) das vollständige Arsenal der geldpolitischen Instrumente eingesetzt, um die Realwirtschaft und den Bankensektor zu unterstützen und die Kosten des öffent­lichen Schuldendienstes niedrig zu halten. Die Sta­bilisierungserfolge, die mit dieser expansiven Geld­politik erreicht wurden, haben die Zentralbanken in ihrem Selbstverständnis bestärkt, sich in erster Linie auf die Aufrechterhaltung der Finanzstabilität und – ausgehend von einer flexibleren Interpretation des Inflationsziels – auf die Unterstützung der Realwirtschaft zu konzentrieren.

Der starke Anstieg der weltweiten Nachfrage nach Dollar zu Beginn der Pandemie hat die Dominanz der US-Währung im internationalen Finanzsystem und der Federal Reserve als Kreditgeber letzter Instanz einmal mehr unter Beweis gestellt. Allerdings haben die starke fiskalische Reaktion der EU und das im Vergleich zu den USA bessere Pandemie-Krisen­management Europas den Euro-Wechselkurs gegen­über dem Dollar wieder etwas ansteigen lassen. Das ist ein Signal des Vertrauens, könnte aber auch die wirtschaftliche Erholung verlangsamen. Eine dauer­hafte Stärkung der internationalen Rolle des Euro wird jedoch kaum zu erreichen sein, ohne die wirt­schaftlichen Grundlagen des Südens der Eurozone zu verbessern und ohne Fortschritte bei der Integra­tion der europäischen Finanzmärkte zu erzielen. Die dominante Stellung der US-Währung im internationalen Finanzsystem dürfte daher Bestand haben, was die USA weiterhin in die Lage versetzen wird, die Ver­weigerung des Zugangs zum globalen Zahlungssystem als Druckmittel zu nutzen. Auf der anderen Seite ist die EU auf dem Weg, ihre Währungssouveränität und finanzielle Stabilität besser zu schützen, indem sie der erste große Wirtschaftsraum wird, der Krypto-Assets um­fassend reguliert.2

In der durch die Pandemie verursachten Wirtschaftskrise hatte die G20 die Chance, ihre Führungsrolle als einziges global koordinierendes Finanzforum wiederherzustellen. Sie scheiterte jedoch an den eher nationalistisch orientierten USA und China sowie an der Steuerungsunfähigkeit Saudi-Arabiens, das als Gastgeber des G20-Gipfels fungierte. Die fiskalpoliti­schen Reaktionen auf Covid-19 erfolgten daraufhin eher unkoordiniert und eingebettet in nationale Kon­junkturpakete von historischem Ausmaß.

Fiskalische Stimuli und rezessionsbedingte Steuerausfälle führen zu einem starken Anstieg der welt­weiten öffentlichen Verschuldung. Zugleich zehrt die Krise Ersparnisse und Rücklagen auf, so dass auch die privaten Schulden anwachsen. Die Hypothek hoher öffentlicher und privater Schuldenstände dürf­te einen Aufschwung, der von privatem Konsum und von Investitionen getragen wird, nachhaltig konterkarieren. Aber ohne Wirtschaftswachstum wird die Eurozone mit dem sich verschärfenden Problem über­mäßiger Staatsverschuldung konfrontiert sein und nur ungünstige Optionen (Haushaltskonsolidierung, Schuldenrestrukturierung oder Schuldenvergemein­schaftung) zur Auswahl haben.

Um eine Schuldenkrise der Schwellenländer ab­zuwenden, sind die internationalen Institutionen bereits aktiv geworden. Im April einigten sich die G20-Finanzminister auf eine Initiative zur Aussetzung des Schuldendienstes für die ärmsten Länder. Diese können ihre Tilgungszahlungen bis Ende 2020 im Umfang von bis zu 11,5 Milliarden Dollar auf­schieben.3 Die Covid-19-Pandemie hat auch bereits zu einer beispiellos hohen Nachfrage nach Finanzhilfen des Internationalen Währungsfonds (IWF), der Welt­bank und der spezialisierten multilateralen Entwicklungsbanken geführt.

Internationaler Handel: Neue Trends oder alte Reflexe?

Stärker noch als die nationale Produktion und Ein­kommensentstehung beeinträchtigt die Corona-Pandemie den internationalen Handel. Ohnehin stagniert der Prozess der Globalisierung seit einigen Jahren. Tatsächlich ist seit längerem ein Rückbau des Handels in Wertschöpfungsketten in Richtung Regio­nalisierung und Renationalisierung zu beobachten.4 Parallel zu einem Schwinden des Vertrauens in multilaterale Regelungswerke hat ein schleichender Protektionismus um sich gegriffen, und Handelskonflikte nehmen zu. Auch Ansätze zu einer Stärkung der ökonomischen Resilienz waren schon vor Corona zu beobachten, etwa im Kontext von Naturkatastro­phen wie dem Tsunami 2011 in Japan. Zusätzlich wirken Entwicklungen wie die Digitalisierung und Robotisierung zum einen renationalisierend, denn sie ermöglichen es, arbeitsintensive Fertigung dank neuer Technik an einem zentralen Produktionsstand­ort stattfinden zu lassen, statt sie wie bisher wegen geringer Lohnkosten auszulagern. Auf der anderen Seite aber können digitalisierungsfähige Dienst­leistungen auch leichter in Niedriglohnstandorte ver­lagert werden. Ein weiterer Treiber der Renationali­sierung ist die stärkere Berücksichtigung des Aspekts Nachhaltigkeit, angeheizt durch die größer gewordene Skepsis – zumindest in den Industrieländern –gegenüber der Globalisierung und offenem Handel als Ziel per se. Diese Tendenz wird noch gestützt von den Bestrebungen, sich von der empfundenen chine­sischen Dominanz unabhängig zu machen.

Die Erwartungen und Ansprüche an Berlin steigen durch die Pandemie – in Europa wie in der Welt.

Insgesamt ist das Volumen von Handel und In­vestitionen seit Beginn der Corona-Krise deutlich geschrumpft. Über das Jahr gerechnet dürfte der Welt­handel gut doppelt so stark zurückgehen wie das Welt-Bruttoinlandsprodukt.5 Auch bei Auslandsinvesti­tionen prognostiziert die UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) für 2020 einen Rückgang von 40 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.6 Der Han­delseinbruch war unmittelbar zurückzuführen auf Unterbrechungen der Wertschöpfungsketten infolge nationaler Lockdowns und Grenzschließungen: Über­all auf der Welt reagierten Staaten seit Ende Februar mit mittlerweile bald 300 handelspolitischen Maß­nahmen, die vor allem medizinische Güter und Dienst­leistungen betrafen. Negativ wirken sich vor allem Exportbegrenzungen aus.

Die EU zählt dabei nach Brasilien, Indonesien und Russland zu jenen Akteuren, die seit Krisenbeginn die meisten Handelsmaßnahmen ergriffen haben.7 Sogar innerhalb der Union kam es zu bislang im Binnenmarkt unbekannten Ausfuhrverboten, die etwa für deutsche und französische Schutzausrüstung galten.

Allerdings haben Staaten weltweit und auch die EU viele Maßnahmen beschlossen, die den Handel erleichtern, zum Beispiel Senkungen der Zölle für Schutzausrüstung oder beschleunigende Prüfverfahren für Standards.8

Schlussfolgerung: Komplexe Resilienz für die Wirtschafts-, Handels- und Finanzpolitik

Für die Außenwirtschaftspolitik Deutschlands ist die EU der relevante Handlungsrahmen. Die deutschen Einfluss- und Wirkungsspielräume leiten sich zu­vorderst von der Wirtschaftskraft und der Resilienz des Standorts Deutschland ab. Insofern sollte die politische Reaktion der Bundesregierung auf die welt­wirtschaftlichen Herausforderungen, die sich mit der Pandemie stellen, sowohl die nationale wie die euro­päische Ebene im Auge haben.

So ist zunächst festzustellen, dass im Gefolge der Gesundheitskrise das relative Gewicht Deutschlands zunehmen wird. Die Erwartungen und Ansprüche an Berlin wachsen sowohl in Europa als auch in der Welt. Wirtschaftliche Größe als Machtressource taugt aber nur, wenn sie mit wirtschaftlicher Leistungs- und politischer Handlungsfähigkeit verbunden ist. Vordringlich muss es der Bundesregierung daher all­gemein – und auch unabhängig von der Corona-Krise – um »gute« Wirtschaftspolitik für den Stand­ort Deutschland gehen, die einen sozialen Ausgleich schafft, dabei aber sozial- und finanzpolitisch nach­haltig bleibt, den digitalen und klimapolitischen Strukturwandel fördert, ohne dabei die Gesellschaft zu überfordern, und sich auf Wachstum, Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit ausrichtet.

Finanzpolitisch wird es sowohl in Deutschland als auch für Europa notwendig sein, die Wirtschaft wei­ter mit fiskalischen Stimuli zu unterstützen. Ange­sichts des starken Anstiegs der öffentlichen und pri­vaten Verschuldung werden die Zentralbanken über einen längeren Zeitraum Stabilisierungsmaßnahmen ergreifen müssen. Übermäßige Staatsverschuldung in Verbindung mit einem geringen Wirtschafts­wachstum wird zu einem wachsenden wirtschaft­lichen und politischen Problem in der Eurozone und in der EU werden. In Anbetracht dessen wird von Deutschland mehr Führung und eine größere Bereit­schaft gefordert werden, Risiken im Bereich der Fis­kalpolitik, der Geldpolitik und des Bankensektors zu teilen.

Der Einbruch der Weltwirtschaft hat auf globaler Ebene keine ausreichende, koordinierte Reaktion aus­gelöst. Ohne internationale Zusammenarbeit wird es aber sehr viel schwerer werden, die Weltwirtschaft wieder auf einen Wachstumspfad zurückzuführen und eine internationale Schuldenkrise abzuwenden. Die G20-Finanzminister sollten daher ihre Bemühungen um eine Koordination der Finanzpolitik verstärken und die Niedrigeinkommensländer durch Locke­rung der Kreditbedingungen unterstützen.

Die handelspolitischen Strategien der EU werden sich im Spannungsfeld von Renationalisierung und Internationalisierung bewegen,9 zwischen Maßnahmen einerseits, die die europäische Produktion stär­ken oder deren Verwundbarkeit bei strategischen Gütern mindern, und andererseits solchen, die Bezugsquellen und Wertschöpfungsketten diversifizieren und den Handel erleichtern. Dabei kann es nicht im Interesse eines großen Exporteurs sein – wie es die EU und auch Deutschland sind –, einer kurz­sichtigen Devise wie »Reshoring ist die neue Globalisierung« zu folgen. Die EU sollte daher dem Trend zur Schwächung der multilateralen Handels­regulierung im Verbund mit gleichgesinnten Part­nern entgegenwirken: Ein Beispiel dafür ist der ge­mein­sam mit Kanada und Neuseeland bei der WTO eingebrachte Vorschlag, strengere Kriterien für Ver­bote zu definieren, sogenannte essentielle Güter zu exportieren. Auch eine Nutzung plurilateraler Abkom­men kann kollektivem Agieren wieder mehr Raum verschaffen und überdies den Handel Covid-relevan­ter Güter und Dienstleistungen stärken: Das Pharma­zieabkommen etwa ließe sich über Arzneimittel hin­aus auch auf Ausrüstungsgüter ausdehnen.10

Kai-Olaf Lang / Claudia Zilla

Kein Aufwind für populistisches Regieren in Corona-Zeiten

In Krisensituationen geraten eingeübte oder institu­tionalisierte Handlungsrepertoires unter Druck. Das gilt auch für die Covid-19-Pandemie, während der sich in beinahe sämtlichen Ländern der Welt zu­mindest temporär das herkömmliche Regieren ver­ändert hat. Diese Veränderungen können Inhalt und Modus politischer Entscheidungen sowie die Kon­stellation der daran beteiligten Personen und Insti­tutionen betreffen. Bildet die von der Covid-19-Pan­demie geprägte Situation einen fruchtbaren Boden dafür, dass populistisches Regieren Aufwind erhält?

Unter populistischem Regieren verstehen wir einen Führungsstil, der auf einem Deutungs-, Diskurs- und Beziehungsmuster basiert, mit dem Regierende ver­suchen, das von ihnen umworbene »Volk« unter dem Vorzeichen einer moralisch aufgeladenen Freund-Feind-Dichotomie gegen einen bestimmten Sektor der Gesellschaft (»Establishment«, »politische Klasse«, »Olig­archie« etc.) in Stellung zu bringen. Typische Handlungsweisen bzw. Tendenzen populistischen Regierens sind: (1) Konstruktion eines antagonistischen Moments in der Gesellschaft und darauf bezo­gene Förderung politischer Polarisierung und gesell­schaftlicher Mobilisierung, (2) Personalisierung der Politik, Machtkonzen­tration in den Händen des bzw. der Regierenden und in der Folge Abbau institutio­neller Kontrollen, (3) Einschränkung des Pluralismus und der Rechte insbesondere der Opposition und von Minderheiten.1

Im internationalen Vergleich lässt sich keine durch­gehende Intensivierung dieser Handlungs­weisen im Kontext der Pandemie beobachten, denn es müssen stets weitere Faktoren hinzukommen, die populistisch-autoritäre Tendenzen beim Regieren för­dern oder bremsen. Besondere Relevanz haben dabei die Situationsdeutung durch die Exekutive sowie die Rolle von Legislative und Judikative.

Regieren unter »Corona«

Eine weit verbreitete und wichtige Komponente des anfänglichen epidemiologischen Krisenmanagements waren in populistisch wie in nichtpopulistisch regier­ten Staaten restriktive Maßnahmen zur Eindämmung der Virus-Ausbreitung. Sie erforderten einerseits rasches und entschlossenes Regierungshandeln und erlegten andererseits Gesellschaft und Wirtschaft zahl­reiche Einschränkungen auf. Vielerorts haben Regierungen den Ausnahmezustand erklärt oder Not­standsgesetze erlassen, um gesundheits- und wirt­schaftspolitische Ressourcen effektiv zu mobilisieren. Während die Öffentlichkeit auf Corona fokussiert war, wurden in zahlreichen Fällen unpopuläre Gesetze mit Konfliktpotential zügig erlassen. Verschiedene Ein­heiten des Sicherheitsapparats wurden eingesetzt, um Quarantänen abzusichern (etwa die Polizei in den Straßen) und das Gesundheitssystem zu unterstützen (beispielsweise durch die Ausweitung der Aufgaben von Streitkräften). Viele Regierungen nutzten bei ihrem Krisenmanagement einen martialischen Dis­kurs: Sie erklärten dem Virus den Krieg oder sagten ihm den Kampf an. Fragen einer weit verstandenen nationalen Sicherheit rückten hoch auf die politische Agenda, der Staat gewann an Zentralität.

Dieses Handlungsrepertoire lässt sich aber nicht nur und auch nicht in allen Ländern beobachten, die populistisch regiert werden. Einerseits finden sich viele seiner Aspekte im Krisenmanagement nicht­popu­listischer Regierungen wieder. Andererseits setzt ein solches Handlungsrepertoire voraus, dass die Covid-19-Pandemie als Krise aufgefasst bzw. dar­gestellt wird, als Corona-Krise, und das ist keineswegs zwingend.

Reaktionen populistischer Regierungen

Die USA und Brasilien gehören zu den am stärksten von der Pandemie getroffenen Ländern. Ende Novem­ber verzeichneten sie die höchsten Zahlen an Covid-19-Todesfällen weltweit; gemessen an der Zahl der Infizierten, die seit Ausbruch der Krankheit registriert wurden, lagen sie auf dem ersten bzw. auf dem drit­ten Rang.2 Doch Donald Trump und Jair Bolsonaro, ihre populistisch regierenden Präsidenten, haben die Pandemie lange nicht als bedeutende Gesundheitsgefährdung aufgefasst (bzw. tun sie das bis heute nicht), die eine besondere Bewältigungsstrategie erfordert. Ähnlich verzögert reagierten Boris Johnson in Groß­britannien, Manuel López Obrador in Mexiko, Daniel Ortega in Nicaragua und Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei – allesamt Staatschefs, die das Infektions­risiko monatelang herunterspielten.

Ihre relativierende Haltung nährt sich häufig zum einen aus der Verachtung der akademischen Elite, von Expertentum und fachlich spezialisierten inter­nationalen Organisationen, die mehrheitlich vor den Gefahren warnten; damit geht bei Trump und Bol­sonaro das Bemühen einher, das Testen zu stoppen und Statistiken zurückzuhalten oder zu manipulieren, die ihre Deutung in Frage stellen. (Diese Art von restriktiver Informationspolitik war allerdings auch schon vor der Pandemie zu beobachten.) Bolsonaro und Trump entschieden sich zum anderen für die Priorisierung der Wirtschaft und gegen einen Lock­down, womit sie sich gegen entsprechende Maßnahmen der Gouverneure stellten. Bolsonaro versuchte sogar, die Entscheidungen der Bundesstaaten auf­zuheben, doch wurde er durch Urteile des Obersten Gerichtshofs zugunsten der Gouverneure gebremst.3 Der populistische, polarisierende Diskurs Trumps und Bolsonaros wird so um eine Corona-Komponente an­gereichert: Wer im Lande Eindämmungsmaßnahmen befürwortet, ist gegen das Volk, das unbeeinträchtigt seiner Arbeit nachgehen und an seiner Freiheit fest­halten will. International wird das als Feind wahr­genommene China nun auch als Virusexporteur und die Weltgesundheitsorganisation als autoritäre, fremd­artige, von chinesischen Interessen dominierte Ein­richtung charakterisiert.

Wird hingegen die Covid-19-Pandemie als Krise an­gesehen bzw. deklariert, kann sie zum Anlass genom­men werden, politisch durchzugreifen. Ob dabei die Tendenzen populistischen Regierens virulenter wer­den, hängt stark vom Kontext ab. In Indien schränkte die Regierung von Narendra Modi die Meinungs- und Pressefreiheit ein, um sowohl die kritische Bericht­erstattung über das Krisenmanagement als auch die Verbreitung von Fake News zu unterbinden. Der Lock­down bot auch einen willkommenen Vorwand, die anhaltenden Proteste gegen die Änderung des Staatsbürgerrechts aufzulösen. In El Salvador schloss das menschenrechtsverletzende Krisenmanagement von Präsident Nayib Bukele »Eindämmungszentren« für die Internierung von Personen ein, die gegen die Ausgangssperre verstießen. Dies erfolgte auf der Grundlage mehrerer Notstandsdekrete der Exekutive und unter expliziter Missachtung der Beschlüsse des Verfassungsgerichtshofs.

Sind aber diese Angriffe auf Demokratie und Rechts­staatlichkeit Ausdruck eines Corona-bedingten, neu­artigen oder verschärften autoritären Regierungs­handelns? Nicht in jedem Falle: Der venezolanische Präsident Nicolás Maduro macht in erster Linie Rück­kehrende aus dem verfeindeten Nachbarland Kolum­bien für den Ausbruch der Pandemie im eigenen Land verantwortlich, bezeichnet sie stigmatisierend als »Biowaffen« und lässt sie in Quarantänelager ein­sperren. Unter Verweis auf die Corona-Krise rief er bereits im März 2020 per Dekret den Alarmzustand aus. Allerdings hebt sich dieses politisch-juristische Vorgehen nicht vom autokratischen Hintergrund ab: Spätestens seit 2015 wird in Venezuela – mit den verschiedensten Begründungen und unter Zustimmung der gleichgeschalteten Gewalten – konsekutiv und lückenlos der Ausnahmezustand immer wieder neu erklärt oder verlängert.4 Dass die Regierung sich nun auf die Pandemie zur Begründung des jüngsten Notstandsdekretes bezieht, ist ein eher willkürlicher Akt.

In der Europäischen Union (EU) waren es zunächst Maßnahmen der Regierungen in Polen und Ungarn, die während der Pandemie Aufmerksamkeit erregten. In Polen ging es vor allem darum, dass die größte Regie­rungspartei PiS und deren Parteichef Jarosław Kaczyński an dem Termin für die erste Runde der Prä­sidentschaftswahlen festhalten wollten, der ursprüng­lich für den 10. Mai vorgesehen war. Unter den Bedin­gungen der Pandemie und des Lockdowns war aber kein fairer Wahlkampf möglich, und die geplante Um­stellung auf eine ausschließliche Briefwahl hätte sich aufgrund der Kürze der Zeit technisch nur schwer umsetzen lassen. Der PiS wurde denn auch vorgeworfen, sie wolle unter Inkaufnahme von gesundheit­lichen Risiken und Verfahrensmängeln die Wahlen um jeden Preis durchboxen. Dies nicht zuletzt des­halb, weil die Chancen für Amtsinhaber Andrzej Duda, den Kandidaten der Regierungspartei, her­vor­ragend waren, aber im Laufe der folgenden Monate zu schwinden drohten. Erst als ein kleinerer Koali­tions­partner der PiS sich querlegte, wurde ein späte­rer Wahltermin (zwei Runden, im Juni und Juli) angesetzt.

In der Pandemie riskieren die Regierenden, an Glaubwürdigkeit, Autorität und Legitimität zu verlieren.

In Ungarn kreiste die Diskussion um ein Gesetz zum »Gefahrenzustand«, das der konservativen Regie­rung, die aus den Parteien Fidesz und KDNP besteht, Sondervollmachten zur Bekämpfung der Pandemie gab. Das Parlament verabschiedete das Gesetz Ende März mit einer Zweidrittelmehrheit. An dem Gesetz wurde unter anderem kritisiert, dass es keine Befris­tung der außerordentlichen Befugnisse für die Regie­rung vorsehe und die Verbreitung von Fake News im Kontext der Pandemie unverhältnismäßig sanktioniert werde. Tatsächlich enthielt das Gesetz aber Bestimmungen, die dem Parlament Kontrollrechte einräumten, insbesondere die Beendigung des Gefah­renzustandes zu jedem von ihm gewählten Zeitpunkt. In der Tat betrieb Ungarn ein konsequentes Krisenmanagement und führte eine Vielzahl teils umstrittener Regelungen ein. Seitens der Opposition wurde unter anderem kritisiert, dass die Hälfte der Mittel zur Finanzierung politischer Parteien einem neugeschaffenen Spezialfonds zur Pan­demiebekämpfung zukommt, womit angeblich das deutlich sichtbarere Regierungslager favorisiert werde. Gleichwohl unter­schied sich das Gros der ergriffenen Maßnahmen kaum von denen in anderen europäischen Ländern. Das umstrittene Gesetz wurde in der zweiten Juni-Hälfte zurückgenommen. Ein anschließend verabschiedetes neues Gesetz weist der Regierung für künf­tige »gesundheitliche Krisensituationen« allerdings weiterhin ähnliche Spezialkompetenzen zu, die eine wirksame Bewältigung medizinischer Notlagen ermöglichen sollen. Trotz der Kritik, die von der Op­position und im Ausland geübt wurde, sah die EU jen­seits der Artikulierung allgemeiner Besorgtheit keinen Anlass dafür, als Reaktion auf das ungarische Pan­demiemanagement und konkret auf das Notstands­gesetz neue Maßnahmen gegen Ungarn einzuleiten.

Sowohl in Polen als auch in Ungarn waren die Regierungen bei der Eindämmung der Covid-Pan­demie zumindest während der ersten Welle recht erfolgreich. Die Regierungsparteien nahmen die Pandemie ernst und reagierten rasch und restriktiv. In keinem der beiden Länder hat die Pandemie diese Parteien bisher substanziell geschwächt, ebenso wenig hat sie dazu geführt, die Machtfülle der Regie­rungsparteien zu bereichern. Umstrittene Maßnahmen wie Reformen der Kommunalfinanzen in Un­garn, infolge derer Einkommensquellen der Städte auf Regionen oder auf die nationale Ebene verlagert wurden, hätten auch vor oder nach der Pandemie getroffen werden können.

Kein eindeutiger Trend

In der Gesamtschau zeigt sich somit bisher kein kla­rer qualitativer Trend: Die Corona-Krise wirkt nur in einigen populistisch regierten Ländern als Katalysator für eine Intensivierung polarisierender Politik bzw. autoritärer Maßnahmen. Populistisch Regierende, die die Gefahren der Covid-19-Pandemie herunterspielten und sich gegen Eindämmungsmaßnahmen wandten, haben (zumindest zeitweise) an Zustimmung in der Bevölkerung eingebüßt. Die Corona-Krise erweist sich insofern keineswegs als große Chance für polarisierendes Regieren und neue Formen der Machtsicherung oder ‑ausweitung. Sie stellt für Regierende eher ein Risiko dar, an Glaubwürdigkeit, Autorität und Legitimität zu verlieren – insbesondere durch den Umgang mit den sozialökonomischen Folgen. Höchst relevant in diesem Zusammenhang ist der Grad an Machtdiffusion im politischen System: Föderalismus und (noch) unabhängige Gerichtshöfe können als Gegenkraft zum »Durchgreifen« aus der Hauptstadt fungieren. Zudem ist von Belang, ob der Notstand per Gesetz vom Parlament oder per Dekret vom Präsidenten verhängt wird. Nicht jeder Notstand stellt eine Gefahr für Demokratie und Rechtsstaat dar.

Die außenpolitischen Konsequenzen sind bislang ebenfalls eher überschaubar. Das vielfach prognostizierte Neuarrangement im Wettkampf der großen Mächte, das auch durch neue Gegenmachtallianzen populistisch geführter Länder eintreten sollte, ist nicht erkennbar – genauso wenig die Entstehung einer neuen Internationalen der Populisten. Die Effekte der chinesischen »Maskendiplomatie« sind nicht so drastisch wie erwartet, und wo sie spürbar sind, betreffen sie Staaten unabhängig vom Politikstil ihrer Regierungen. Populistische Regierungen streben infolge der Krise auch nicht durchgängig danach, sich aus internationalen bzw. weltweiten Strukturen und Vernetzungen zurückzuziehen. Auch für Populisten ergab sich aus der Pandemie bislang kein manifester Deglobalisierungsimpuls – obschon gerade größere oder industriell entwickelte Länder bzw. Volkswirtschaften künftig Bestrebungen zeigen könnten, mehr wirtschaftliche, industrielle oder infrastrukturelle Autonomie zu erlangen (was auch wieder ein An­sinnen ist, das nicht allein populistische Parteien cha­rakterisiert) und diese Ambitionen in einen souveränistischen Diskurs einzubinden.

Populistische Regierungen handelten in der Pandemie unterschiedlich: Einige sahen darin keine Krise, andere demonstrierten Entschlossenheit, wieder andere beriefen sich auf Covid-19, um schon zuvor übliches Regierungshandeln zu begründen. Insgesamt lässt sich also kein eindeutig populistisches, rechtspopulistisches oder autoritäres Handlungsmuster im Kontext von Corona identifizieren. Einige problematische Züge waren bereits vor der Pan­demie charakteristisch für das Regierungshandeln. Andere Komponenten ihrer Handlungsrepertoires sind nicht »Markenzeichen« polarisierender Politik, sondern schlicht Elemente aus dem Maßnahmen­spektrum »entschlossener« Pandemiebekämpfung, die sich auch in nichtpopulistischem Regierungshandeln ausmachen lassen.

Allerdings sollten im Kontext konfrontativ-pola­risierenden Politikaustrags die längerfristigen Folgen der Pandemie nicht unbeachtet bleiben. Polarisierende Politik gedeiht in Krisenzeiten. Eine langanhaltende Wirtschaftskrise könnte populistischen Parteien und Akteuren durchaus Rückenwind verleihen. Derlei Gruppierungen und Persönlichkeiten mit Regierungs­verantwortung mögen oftmals außerstande sein, öko­nomische Krisen zu meistern. Aber sie können Auf­trieb erfahren, sofern sie das Vertrauen der Bevölkerung behalten und in der Lage sind, Konflikte umzu­deuten oder zu generieren, welche die Krise über­lagern. Denn solche Akteure mobilisieren Unzufriedenheit und machen sich Orientierungslosigkeit und Verunsicherung zunutze. Dies gilt insbesondere für Parteien in der Opposition. Aber auch populistische Akteure in Regierungs­verantwortung könnten pro­fitieren, wenn es ihnen gelingt, die Unzulänglich­keiten in ihren Ländern als extern verursachte und durch innere Konkurrenten verschlimmerte Unbill darzustellen.

Claudia Major / Marco Overhaus / Johannes Thimm / Judith Vorrath

Kein »Lockdown« der Gewalt: Covid‑19 verschärft die Gefahr von Konflikten und erschwert ihre Bearbeitung

Die globale Covid‑19-Pandemie hat das Bewusstsein dafür geschärft, dass die Folgen einer Gesundheits­krise für das gesellschaftliche Zusammenleben, die Wirtschaft und den Handel ähnlich disruptiv sein können wie die Bedrohung durch Gewalt, zum Bei­spiel in Form eines bewaffneten Konflikts oder des internationalen Terrorismus.

Gleichzeitig kann sich die Pandemie auch auf »klassische« Sicherheitsbedrohungen auswirken. Klare Aussagen über kausale Zusammenhänge zwischen der Infektionskrankheit und globaler (Un-)Sicherheit sind zwar praktisch nicht möglich. Zu vielfältig und komplex sind etwa Ursachen und Dynamiken bewaff­neter Konflikte. Indirekt könnte die Pandemie jedoch negative Konsequenzen für aktuelle Gewaltkonflikte haben oder die Gefahr neuer Gewaltausbrüche erhö­hen, indem sie das Verhalten beteiligter Akteure oder die Kontextbedingungen negativ beeinflusst und so als Konflikttreiber wirkt.

In den ersten Monaten, als sich Covid‑19 weltweit ausbreitete und Maßnahmen zur Eindämmung ergriffen wurden, hatten 75 Staaten keinen Rückgang gewaltsamer Ereignisse oder sogar eine Zunahme zu verzeichnen. In deutlich weniger Staaten waren die Zahlen rückläufig. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen (UN), António Guterres, rief nach Ausbruch der Pandemie zu einem globalen Waffenstillstand auf, doch hat das bislang nicht dazu geführt, dass Kämpfe dauerhaft eingestellt oder gar bewaffnete Konflikte beigelegt worden wären. Zwar sank die Zahl einzelner Gewaltereignisse anfangs, aber das lag vor allem an einer starken Abnahme der Gewalt in Syrien und Afghanistan, die wenig mit der Pandemie zu tun hatte.1 Besonders in Libyen, Nigeria und im Jemen, wo es nach Guterres’ Appell zunächst positive Signale gegeben hatte, nahm die Gewalt anschließend wieder zu. Im Oktober 2020 plädierte der UN‑Generalsekretär vor dem Sicherheitsrat erneut für eine Waffenruhe im Jemen; dies zeigt, dass sich in laufenden Konflikten durch die Pandemie als solche wenig am Kalkül der Akteure geändert hat.2

Dennoch lassen sich drei Mechanismen identifizieren, über die sich die Pandemie negativ auf die glo­bale Sicherheit auswirken kann, die also potentielle Konflikttreiber sind: Erstens werden Staaten durch die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Folgen von Covid‑19 fragiler. Zweitens wachsen die Spannungen zwischen Groß- und Regionalmächten aufgrund der Instrumentalisierung von Covid‑19 und der Verschiebungen bei internationalen Wertschöpfungsketten weiter. Und drittens fehlt es (sowohl kurz- als auch langfristig) an Kapazitäten für die Krisenprävention, Stabilisierung und Friedenssicherung, weil Entscheidungsstrukturen blockiert und finanzielle Ressourcen knapper werden.

Zunehmende staatliche Fragilität

Der Bericht »States of Fragility 2020« der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) sieht in Covid‑19 einen systemischen Schock für fragile Staaten, der Risiken für sie verschärft, wäh­rend ihre Kapazitäten zur Bewältigung dieser Risiken schrumpfen. Vielerorts hat die Pandemie wirtschaft­liche Probleme verstärkt, die fragile Staaten schon zuvor geplagt hatten. Entwicklungsländer, die bereits mit Leistungsbilanzdefiziten, Abwertung ihrer Wäh­rung und steigender Auslandsverschuldung konfrontiert waren, geraten in zusätzliche Schwierigkeiten. Einbrüche bei der weltweiten Nachfrage nach Roh­stoffen, aber auch im Tourismussektor treffen einige dieser Staaten schwer. Hinzu kommt, dass externe Quellen wie Rücküberweisungen versiegen und inter­nationale Hilfsmaßnahmen sich auf sehr viele betrof­fene Staaten verteilen. In zahlreichen Entwicklungs- und Schwellenländern steigen die Preise für Güter des täglichen Bedarfs, Arbeitslosigkeit und sozioökonomische Ungleichheit nehmen zu. Bereits als fragil ein­gestufte Staa­ten sind besonders von den erwähnten Folgen betroffen, zumal sie in der Regel einen sehr hohen Anteil an Beschäftigten im informellen Sektor aufweisen.

Wenn sich Verteilungskonflikte zuspitzen, kommt es umso mehr auf die Steuerungsfähigkeit der Regie­rungen an. Doch die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie verringern den ohnehin begrenzten Handlungsspielraum vieler Regierungen in fragilen Staaten. Zudem dürfte das Vertrauen in staatliche Institutionen in solchen Ländern sinken, in denen der Zugang zu sowieso schon mangelhafter medizi­nischer Versorgung und öffentlichen Dienstleistungen während der Pandemie sehr ungleich ist oder die Be­schränkungen des öffentlichen Lebens mit »har­ter Hand« und unter Verletzung von Menschenrechten durchgesetzt wurden.

Teilweise haben nichtstaatliche Gewaltakteure in der Pandemie Hilfe und quasistaatliche Leistungen erbracht. So unterschiedliche Gruppierungen wie die Taliban in Afghanistan, Kartelle in Mexiko und Gangs in Südafrika haben Lebensmittel und Gesundheits­informationen verteilt und mitunter Ausgangssperren durchgesetzt. Ob sie damit ihre Kontrolle und ihren Rückhalt in der Gesellschaft dauerhaft ausbauen kön­nen, ist offen. Doch im Wettstreit um Autorität und Legitimität drohen ohnehin schon schwache Staaten weiter an Boden zu verlieren.

Der Gefahr einer von Covid‑19 verstärkten Abwärts­spirale sind nicht nur Staaten ausgesetzt, die laut OECD bereits als extrem fragil gelten, etwa Afgha­nistan, Haiti oder die Demokratische Republik Kongo. Besorgniserregend ist die Situation gerade in Ländern, die noch nicht zu dieser Kategorie gezählt werden, wo die Folgen der Pandemie aber auf eine erodierende Sicherheitslage oder eine stark polarisierte politische Landschaft treffen. Ersteres ist beispielsweise in Mosambik, Letzteres in Simbabwe der Fall.

Die Pandemie als potentieller Treiber von Rivalitäten zwischen Groß- und Regionalmächten

Die Corona-Pandemie kann auch als zusätzlicher Trei­ber bestehender Konflikte zwischen Groß- und Regio­nalmächten wirken. Diese Konflikte bergen einerseits die Gefahr, in eine direkte militärische Konfrontation zu eskalieren. Andererseits verleiten sie die involvierten Mächte dazu, in laufende bewaff­nete Auseinandersetzungen zwischen oder innerhalb von Drittstaaten einzugreifen und so deren Lösung zu erschweren.

Bereits vor dem Ausbruch der Pandemie sahen sich Groß- und Regionalmächte wie die USA und China, Indien und China, die Türkei und Russland sowie Iran und Saudi-Arabien in einem mehrdimensionalen Wettbewerb um Einfluss und Ressourcen. Solche Riva­litäten sind meist durch Nullsummendenken und Sicherheitsdilemmata gekennzeichnet. Die Pandemie ist dann Konflikttreiber, wenn ihre wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen diese Länder unterschiedlich hart treffen und darüber hinaus zu Ver­änderungen in den internationalen Wertschöpfungsketten und Investitionsbeziehungen führen. Denn eine solche Entwicklung schürt die bereits vorhan­denen Ängste vor einem relativen Machtverlust und schafft zugleich Anreize, die Auswirkungen der Pan­demie zum eigenen Vorteil zu nutzen.

Besonders deutlich wird dies in den Beziehungen zwischen den USA und China. Zum einen befinden sich Washington und Peking in einem Deutungskampf darüber, wer für den Ausbruch und die rasante Ausbreitung von Covid‑19 verantwortlich ist. Zum anderen hat die Pandemie die globale Gesundheits­politik, in der die Rivalen bis 2020 entgegen aller son­stigen strategischen Konkurrenz kooperiert hatten, nun ebenso zum Schauplatz ihres Antagonismus gemacht.

Die Erwartung, dass China sich erheblich schneller von den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie erho­len könnte als die USA und andere westliche Länder,3 dürfte in Washington einen konfrontativen Kurs gegen­über Peking begünstigen.

Auch die weit zurückreichende Rivalität zwischen Indien und China, die Anfang Mai 2020 in gewalt­samen Grenzstreitigkeiten in der Kaschmir-Region kulminierte, wird durch die Pandemie eher befeuert. So sah die indische Regierung nach dem Ausbruch der Seuche die Chance, ausländische Investitionen, die in China getätigt werden sollen, ins eigene Land zu lenken – und wird von den USA ausdrücklich dazu ermutigt, »Wertschöpfungsketten von China ab[zu]werben«.4 Sowohl Indien als auch China ver­suchen zudem, durch Hilfslieferungen medizinischer Güter ihren internationalen Einfluss vor allem in Süd- und Südostasien auszuweiten.

Statt mehr Kooperation zu bewirken, wurde Corona nur ein weiterer Faktor im Kalkül machtpolitischer Interessen.

In anderen Konstellationen gibt es allerdings wenig Anzeichen dafür, dass die Corona-Pandemie tatsächlich als unmittelbarer Konflikttreiber wirkt. Das gilt beispielsweise für Russland und die Türkei, die mit­einander um Einfluss unter anderem im Schwarzen Meer und im südlichen Kaukasus ringen, zuletzt auch, indem sie im Konflikt um Bergkarabach unter­schiedliche Seiten unterstützten.

In der Gesamtschau hat die Pandemie nicht zu mehr Kooperation zwischen Groß- und Regionalmächten geführt. Stattdessen wurde sie zu einem weiteren Faktor im Kalkül bestehender macht­politischer Interessen.

Geschwächte Institutionen und knappere Ressourcen

Die Rivalitäten zwischen den Groß- und Regionalmächten schwächen nicht nur die Weltgesundheitsorganisation (WHO), und dies just in einer Zeit, in der sie am meisten gebraucht wird. Sie ziehen dar­über hinaus auch fast alle Foren globaler Kooperation in Mitleidenschaft. Das betrifft ebenfalls den Sicher­heitsrat der Vereinten Nationen, der bislang kaum auf die friedens- und sicherheitspolitischen Heraus­forde­rungen durch Covid‑19 reagiert hat. Vielmehr behin­derten und verwässerten insbesondere die USA und China vor dem Hintergrund der Pandemie dessen Beschlüsse.

Anders als bei der Ebola-Epidemie in Westafrika 2014–2016 hat Washington bis dato keine Versuche unternommen, die globale Reaktion auf die Corona-Pandemie zu koordinieren. Während der Präsidentschaft Donald Trumps haben sich die USA weniger in einer internationalen Verantwortung gesehen; sie vermittelten kaum noch in aktuellen Auseinandersetzungen mit hohem Konfliktpotential, sei es zwi­schen Staaten, wie der Türkei, Griechenland und Frankreich, oder innerhalb von Organisationen, etwa den UN. Bisher sind andere Länder weder willens noch in der Lage, die USA in dieser Rolle zu ersetzen. Nicht nur politisch, vor allem finanziell geraten die UN zusehends in schweres Fahrwasser. Der Bericht des Generalsekretärs vom Oktober betont, dass die finanzielle Situation 2020 schlechter geworden ist im Vergleich zum Vorjahr, das bereits von einer tief­greifenden Liquiditätskrise der UN gekennzeichnet war.5 Wie weitgehend die Kurskorrektur unter Präsi­dent Joseph Biden ausfallen wird, ist noch nicht ab­sehbar. Doch die Zahlungsmoral vieler anderer Staa­ten hinsichtlich der jährlichen Beiträge wird sich in Anbetracht schrumpfender Budgets kaum verbessern.

Generell stehen infolge der Corona-Pandemie weni­ger Ressourcen zur Konfliktbearbeitung zur Verfügung. Die meisten entwickelten Länder, auch die Staaten der Europäischen Union (EU), mobilisieren erhebliche öffentliche Finanzmittel für ihre eigene wirtschaftliche Erholung. Während die Kosten für Maßnahmen zur Unterstützung der eigenen Gesellschaft massiv steigen, brechen gleichzeitig Steuer­einnahmen weg, mit denen typischerweise internatio­nale Stabilisierungsmaßnahmen finanziert werden.

Internationale Akteure wie die EU und die Nato haben ebenso wie die beteiligten Staaten seit dem Ausbruch der Pandemie im Frühjahr 2020 ihre Ein­sätze angepasst. Temporäre Einschränkungen, etwa bei Aufgaben, Kontakten und Bewegungsfreiheit, sowie Teilevakuierungen und Quarantänezeiten bei Rotationen haben internationale Einsätze beeinträchtigt, was die lokale und regionale Sicherheitslage zum Teil verschlechtert hat. Zum Beispiel ging das zeit­weilige Einfrieren der internationalen Ausbildungsmissionen im Irak und in Mali mit mehr Unsicherheit einher. Zudem erschweren Reisebeschränkungen und die Aussetzung von Konferenz- und Gipfelformaten klassische diplomatische Initiativen und informelle Verhandlungsansätze. Schließlich hat die öffentliche und poli­tische Aufmerksamkeit für sich anbahnende oder eskalierende Gewaltkonflikte mit der Pandemie merklich abgenommen.

Fazit

Angesichts der Gleichzeitigkeit verschiedener sicher­heitspolitischer Negativtrends infolge der Corona-Pandemie und der aus ihr resultierenden Verknappung von Ressourcen ist es nötig, klare Prioritäten zu setzen bei der Prävention und Bearbeitung von Konflikten. Krisenprävention ist ein traditionelles Kernanliegen der deutschen Sicherheitspolitik. Dabei sollte der Fokus auf jenen fragilen Staaten liegen, in denen sich die (sicherheits-)politische Situation mit den Folgen von Covid‑19 zuzuspitzen droht. Außerdem gilt es zu verhindern, dass internationale Insti­tutionen wie die Vereinten Nationen kapitulieren müssen, weil die Zahlungsmoral einiger ihrer Mit­glieder weiter sinkt. Priorisierung kann dabei auch eine regionale Dimension haben. So wird mit euro­päischen Partnern am ehesten ein ausgeweitetes Engage­ment in der europäischen Nachbarschaft möglich sein, etwa in der Sahelzone.

Grundsätzlich ist es weiterhin notwendig, die Resi­lienz von Staaten und Gesellschaften zu stärken. Regie­rungen, die Vertrauen genießen, sind handlungsfähiger, ob bei der Eindämmung von Infektions­krankheiten oder im Umgang mit gesellschaft­lichen Spannungen. Die Bekämpfung von Armut und sozia­ler Ungleichheit macht Gesellschaften weniger anfäl­lig für externe Schocks, darüber hinaus sichert sie gesellschaftlichen Frieden. Die Leitlinien der Bundes­regierung »Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern« und die ressortgemeinsamen Stra­tegien bieten hierfür viele Ansatzpunkte. Was die Maßnahmen angeht, muss das Rad also nicht neu erfunden werden.

Trotz knapper Finanzen ist es wichtig, der Versuchung zu widerstehen, beim internationalen Engage­ment zu stark zu kürzen. Während reiche Staaten billig Geld leihen können, bleibt den armen Ländern häufig nur die Austerität. Solidarität mit schwächeren Staaten, sei es im Rahmen des Europäischen Aufbau­plans oder durch Schuldenerlasse in außereuro­päischen Regionen, könnte sich als gute Investition in globale Sicherheit erweisen. Lassen sich Mittelkürzun­gen nicht vermeiden, sollten diese in der EU und der Nato mit den USA abgestimmt werden, um durch Syn­ergien negative Folgen zu minimieren.

Auf die Rivalitäten zwischen Groß- und Regionalmächten kann deutsche und europäische Politik nur sehr begrenzt Einfluss nehmen. Entsprechende Ver­mittlungsangebote oder ‑versuche sollten dann gemacht werden, wenn eine realistische Perspektive für Deeskalation besteht. Die jüngste Vereinbarung zwischen den libyschen Konfliktparteien zeigt, dass durchaus Fortschritte möglich sind, mit einem langen Atem und wenn alle relevanten Akteure eingebunden werden – immer vorausgesetzt, die betroffenen Par­teien haben daran ein Interesse.

Janis Kluge / Günther Maihold / Stephan Roll / Christian Wagner

Die Schwellenländer und die Corona‑Pandemie

Sind die Schwellenländer die großen Verlierer der Corona-Krise? Zumindest zu Beginn der Pandemie kamen viele Analysen zu diesem Schluss.1 Als große Profiteure der dynamischen Globalisierung der letz­ten drei Jahrzehnte schien diese Ländergruppe, die, je nach Abgrenzung, große Volkswirtschaften wie China und Indien, Rohstoffexporteure wie Brasilien, Russ­land und Saudi-Arabien sowie kleinere Staaten wie Marokko oder Chile umfasst, in besonderem Maße unter den wirtschaftlichen Auswirkungen der Pan­demie zu leiden.

Die Argumente für diese These liegen auf der Hand: Wie Industrieländer sind die Schwellenländer auf vielfältige Weise durch ihre Kapital- und Güter­märkte, durch Migration und Tourismus in die Welt­wirtschaft eingebunden und von dieser Verflechtung existenziell abhängig. Im Unterschied zu diesen ver­fügen sie aber oftmals nicht über die finanziellen und institutionellen Voraussetzungen, um dem externen Schock einer Pandemie zu begegnen.

Die meisten Schwellenländer sind zudem wirtschaftlich vorgeschwächt in die Krise geraten. Bereits vor der Pandemie geriet das Wachstum der großen Volkswirtschaften Indiens und Chinas ins Stocken. In China machte sich unter anderem der Handelsstreit mit den USA bemerkbar. Die Ökonomien der Rohstoff­exporteure Brasilien, Russland und Saudi-Arabien stagnierten bereits seit dem Einbruch der Weltmarkt­preise 2014/15.

Acht Monate nach Beginn der Pandemie zeigt sich indes: Covid-19 trifft zwar alle Schwellenländer, aber die sozioökonomischen, finanziellen und politischen Folgen sind sehr verschieden. Bereits bestehende Diver­genzen innerhalb dieser Staatengruppe werden durch die Pandemie noch verstärkt. Auch vor der Gesundheitskrise waren die Schwellenländer keines­wegs eine homogene Staatengruppe – durch Corona werden sie sich aber in Zukunft noch stärker von­einander unterscheiden.

Sozioökonomische Folgen

Der Kontrast beim Erfolg der Corona-Eindämmung könnte in der Gruppe der Schwellenländer kaum größer sein. Äußerst erfolgreich waren die Staaten der Mekong-Region, allen voran Vietnam und Thai­land. Auch in China gelang es, das Virus weitest­gehend unter Kontrolle zu bringen. Das schützte nicht nur die örtlichen Gesundheitssysteme vor einer Überlastung, sondern erlaubte es auch, auf dauer­hafte Eingriffe in das Wirtschaftsleben zu verzichten.

Wo die Eindämmung über massive Lockdowns nicht gelang, etwa weil zu spät reagiert wurde oder die politischen Voraussetzung eine effektive Eindäm­mung des Virus unmöglich machten, geriet die Pan­demie schnell außer Kontrolle. So verloren die Regie­rungen Brasiliens und Indonesiens wertvolle Zeit, in­dem sie die Gefahren der Pandemie verharmlosten.2 Heute finden sie sich mit vielen anderen Schwellenländern unter den weltweit am stärksten von Corona betroffenen Staaten, zu denen auch Indien, Russland und Südafrika gehören.

Besonders die ärmeren Schwellenländer wie beispielsweise Indien waren früh gezwungen, die voll­ständige Eindämmung des Virus als Ziel aufzugeben. Einen langen und harten Lockdown, der für ein Un­terbrechen von vielen Tausend Infektionsketten not­wendig gewesen wäre, konnten sie sich weder leisten, noch ließ er sich organisatorisch im Land durchsetzen. Eine gezielte Unterstützung für wirtschaftliche Opfer der Pandemiebekämpfung war alleine schon aufgrund des großen Anteils an Beschäftigten im informellen Sektor nicht möglich. Damit musste die Gesundheitskrise hingenommen werden, um eine möglicherweise bedrohlichere wirtschaftliche Krise und die damit einhergehenden Folgen für die poli­tische Stabilität abzuwenden.

Für das Ausmaß der ökonomischen Schäden ist allerdings nicht nur der Grad der Ausbreitung der Infektionskrankheit, sondern auch die Struktur der Wirtschaftssysteme entscheidend. Exportorientierte Staaten konnten von einer relativ schnellen Erholung der Güternachfrage profitieren, wobei die Energie­exporteure länger auf den Turnaround warten müs­sen. Wo den Exportnationen auch noch die Eindämmung des Virus gelang, wie in China und Vietnam, wird im Jahr 2020 trotz Weltwirtschaftskrise ein Wachs­tum des Bruttoinlandsprodukts erwartet.

Wo hingegen Tourismus oder Rücküberweisungen von Arbeitsmigrantinnen und ‑migranten wesentliche Säulen der Wirtschaftssysteme sind, war die Wirtschaft auch durch eine erfolgreiche Bekämpfung von Corona nicht zu retten. So rechnet das tourismus­orientierte Thailand infolge der internationalen Reise­beschränkungen mit einer Reduzierung seines Brut­to­inlandsprodukts (BIP) um 8,5 Prozent.3 Besonders für die ärmeren Schwellenländer, in denen die Eindämmung des Virus nicht gelungen ist, wie etwa in In­dien, Südafrika und Mexiko, wird ein Einbruch des BIP um mehr als 10 Prozent erwartet.4

Folgen für Devisenreserven und Staatsverschuldung

Zu Beginn der Pandemie kam es in allen Schwellenländern zu starken Kapitalabflüssen. In der Folge schrumpften alleine im März 2020 die Devisenreserven der wichtigsten Schwellenländer um insgesamt rund 100 Milliarden US-Dollar.5 Der Internationale Währungsfonds (IWF) verzeichnete eine Rekordzahl von Hilfeersuchen.6 Für einige Wochen herrschte die Sorge, dass die Corona-Krise viele der Staaten in eine Schuldenkrise treiben könnte. Noch im Vorfeld der Pandemie war die öffentliche und private Kredit­aufnahme der Schwellenländer auf ein Rekordniveau gestiegen, weil internationale Investoren hände­ringend Alternativen zu den Niedrigzinsen der Indus­trieländer suchten.

Im Mai 2020 entspannte sich die Situation bei der Liquidität zumindest teilweise wieder. Einige Schwel­lenländer konnten sich in großem Umfang frisches Kapital verschaffen. Insgesamt wurden Anleihen in Höhe von 100 Milliarden US-Dollar begeben.7 Pro­fitieren konnten dabei zwar in erster Linie die Staaten mit guten Bonitäts-Ratings und solche, die sich bereits unter dem Schutzschirm des IWF befanden.8 Nur wenige Länder nahmen allerdings neue große Ret­tungsprogramme des IWF in Anspruch (Ägypten und Ukraine). Zu Ausfällen beim Schuldendienst kam es nur bei solchen Staaten, bei denen sich die Zahlungsunfähigkeit schon vor der Pandemie angekündigt hatte (z.B. Argentinien).

Die vorübergehende Entspannung an den inter­nationalen Finanzmärkten bedeutet allerdings nicht, dass die finanziell schwächer aufgestellten Schwellenländer aus dem Schneider sind. Auch wenn die akute Krise durch steigende Verschuldung im In- und Aus­land gemeistert werden kann, drohen chronische Folgewirkungen. Beispielsweise lässt es die soziale Situation in Brasilien auf absehbare Zeit gar nicht zu, dass die Regierung eine nachhaltige Haushaltspolitik verfolgt. Diese Staaten müssen daher bei der Ver­schuldung höhere Risikoprämien bezahlen. Die wachsenden Schuldenberge der von Corona schwer getroffenen Staaten könnten sich insbesondere dann rächen, wenn sich die finanziellen Bedingungen auf dem Kapitalmarkt ähnlich wie im März noch einmal deutlich verschlechtern.9

Im Verlauf der Pandemie hat China seine Sonderrolle unter den Schwellenländern noch einmal unterstrichen.

Unter den Schwellenländern stechen allerdings einige wenige Staaten hervor, denen keine externe Verschuldungskrise droht, die vielmehr selbst Geld­geber notleidender Staaten sind. Das gilt in erster Linie für China.10 Durch seine gewaltigen Währungsreserven wäre Peking auch dann kaum in Schwierigkeiten geraten, wenn die Eindämmung der Pandemie nicht gelungen wäre. Darüber hinaus ist das Land selbst in der Lage, ärmeren Schwellenländern unter die Arme zu greifen und ihnen gegebenenfalls auch Schulden zu erlassen.11 Auch Russland verfügt über große Reserven, die der Ölexporteur überdies in der Krise kaum angerührt hat.12

Politische Folgen

Die innenpolitischen und institutionellen Voraus­setzungen waren mitentscheidend dafür, dass die Schwellenländer das Virus mit sehr unterschied­lichem Erfolg bekämpften. In China wurde das robus­te Vorgehen der Regierung durch die gefestigten auto­ritären Strukturen und die intensive Überwachung der Bevölkerung begünstigt. In anderen Schwellenländern waren die Regierungen wegen der schwachen staatlichen Strukturen nicht in der Lage oder nicht willens, weitreichende Kontaktbeschränkungen durch­zusetzen. Bra­silien, Mexiko, Indien und Indo­nesien verzeichnen auch aufgrund mangelnder staatlicher Eingriffsmöglichkeiten anhaltend hohe Ansteckungs- und Todeszahlen.

Die politischen Rahmenbedingungen konditionieren nicht nur den Verlauf der Krise, sie werden ihrer­seits von der Pandemie verändert. Auch hier wurden große Unterschiede zwischen den Schwellenländern sichtbar. Einige Regierungen waren in der Lage, die Krise zu nutzen, um politische Ziele durchzusetzen oder Macht zu konsolidieren. So konnte in Indien die Modi-Regierung im Windschatten der Pandemie­bekämpfung ihre protektionistische Wirtschafts­politik weiter vorantreiben und ihre Macht gegen­über den Bundesstaaten stärken. In Brasilien erwies sich die subnationale Ebene im Vergleich zur Staats­führung als deutlich effektiver bei der Umsetzung der Eindämmungsmaßnahmen, was allerdings der Beliebtheit von Präsident Jair Bolsonaro keinen Ab­bruch tat. In Russland wiederum minderten die Corona-Politik und die Wirtschaftskrise das Vertrauen der Bevölkerung in die politische Führung drastisch. In Belarus war der Umgang mit Corona ein Mitauslöser der poli­tischen Krise nach den Präsidentschaftswahlen.

Im Verlauf der Pandemie hat China seine Sonderrolle unter den Schwellenländern noch einmal unter­strichen. Obwohl das Land Ausgangspunkt der Pan­demie war, geht die politische Führung gestärkt aus der Krise hervor. Nach der erfolgreichen Eindämmung des Virus könnte das Land daher neue Strahl­kraft für Regierungen anderer Schwellenländer ent­falten, insbesondere wenn es als Geldgeber oder als Lieferant von Impfstoffen auftritt. Im Gegensatz dazu haben Regionalorganisationen, die von Schwellenländern getragen werden, bislang kaum eine Rolle gespielt. Als Ausnahme ist hier die Afrikanische Union hervorzuheben, die sich durch ihre koordinierende Rolle bei der Bekämpfung der Pandemie auf dem afrikanischen Kontinent bewährt hat.

Trends und Implikationen für die deutsche und die europäische Politik

Die starke Ausdifferenzierung der Schwellenländer hat nicht erst mit der Corona-Pandemie begonnen, doch sie hat durch die Gesundheitskrise deutlich an Fahrt gewonnen. Das gilt insbesondere für China, das seine Stellung festigen oder gar ausbauen konnte, aber auch für jene Staaten, die aufgrund sehr ver­schiedener Dynamiken im Zuge der Pandemie eher geschwächt wurden. Es steht zu erwarten, dass sich diese Ausdifferenzierung zukünftig fortsetzt.

Treibender Faktor könnte dabei neben Umfang und Geschwindigkeit der wirtschaftlichen Erholung, der Tragfähigkeit der Staatsverschuldung und der allgemeinen politischen Stabilität vor allem die Ver­lagerung von Produktionsprozessen sein. Bereits seit Jahren zeichnet sich diesbezüglich in den Industriestaaten eine Tendenz zum »Insourcing« ab: In vielen dieser Länder sehen die Gesellschaften die »ungebremste« Globalisierung aufgrund ökologischer und ethischer Erwägungen zunehmend kritisch. Diese Haltung verknüpft sich mit der Forderung, Produkte wieder »näher am Kunden« zu fertigen.

Die Pandemie dürfte hier zumindest in einigen Wirtschaftsbereichen als Trendverstärker wirken. Bei wichtigen Branchen (wie medizinischem Equip­ment) werden Industrieländer zusehends auf regio­nale Wertschöpfungsketten bestehen. Auch Unternehmen werden versuchen, ihre Lieferketten besser vor Unter­brechungen zu schützen, indem sie teil­weise wieder in die Staaten der Endmontage verlegt werden.

Dabei werden auch von diesem Prozess keineswegs alle Schwellenländer gleichermaßen betroffen sein. Neben der direkten Rückverlagerung von Produk­tions­stätten in Industriestaaten könnten Schwellen­länder wie Mexiko, Vietnam oder Indien auch von dem Bemühen um eine größere Diversifizierung von Produktionsketten profitieren – möglicherweise in Teilen auch zu Lasten Chinas. Insgesamt ist das Land aufgrund seiner Kostenvorteile, Infrastruktur und seiner schieren Größe als Handelspartner allerdings nicht zu ersetzen.

Die Unterschiedlichkeit der Entwicklungsdynamiken der Schwellenländer verdeutlicht, dass der Nut­zen einer entsprechenden Kategorisierung dieser Staaten begrenzt ist. Für Deutschland und seine euro­päischen Partner empfiehlt sich vielmehr, diese Staaten während und nach der Pandemie differenziert zu betrachten.

Politische Spielräume und Handlungsbedarf ergeben sich dabei für Deutschland vor allem gegenüber denjenigen Staaten, die von der Pandemie besonders betroffen wurden. Sie könnten zwar wirtschaftlich an Bedeutung verlieren, bleiben aber aus deutscher und europäischer Sicht ein wichtiger Bezugspunkt für inter­nationale und regionale Zusammenarbeit. Unter den betreffenden Ländern finden sich viele mittelgroße Volkswirtschaften, die von einem offenen inter­nationalen Handelssystem abhängig und damit, etwa in der Allianz für Multilateralismus, für Deutsch­land auch Partner sind.

Im Rahmen der Pandemiebekämpfung sollten die Europäer gerade diesen Staaten Angebote machen. So sollte die Frage der Lieferung von Impfstoffen zu bezahlbaren Preisen genutzt werden, um die Bezie­hun­gen zu den ärmeren Schwellenländern zu inten­sivieren. Gelingt es nicht, sich hier als Partner der geschwächten Schwellenländer zu positio­nieren, besteht das Risiko, dass zwei andere Akteure aus die­ser Gruppe in die Lücke stoßen: China und Russland. Beide Staaten unterhalten fortgeschrittene Impfstoff­programme und bringen sich gegenüber anderen Schwel­lenländern als Impfstofflieferanten in Stellung.

Vor allem aber werden die ärmeren Schwellen­länder zunehmend auf internationale Finanzhilfen, Schuldenmoratorien und Umschuldungen angewiesen sein. Deutschland und seine europäischen Partner haben in den internationalen Finanzinstitutionen und multinationalen Entwicklungsbanken diesbezüglich eine gewichtige Stimme. Zugleich sind sie für viele Schwellenländer bedeutende bilaterale Geber. Gerade wenn es darum geht, größere Hilfsprogramme der internationalen Finanzinstitutionen mit bilateralen Hilfen oder Schuldenerlass zu flankieren, sollte diese Position genutzt werden, um auf die Verbesserung mangelhafter politischer Rahmenbedingungen, auf eine klimaschonende Wirtschaftspolitik und die Einhaltung von Menschenrechten zu drängen.

Susan Bergner / Melanie Müller / Annette Weber / Isabelle Werenfels

Größere Fragilität in Afrika: Gefragt sind Ansätze auf allen Ebenen

Die Covid-19-Pandemie trifft den gesamten afrika­nischen Kontinent, denn Nord- und Subsahara-Afrika sind durch gesellschaftliche, wirtschaftliche und religiöse Strukturen, gemeinsame Institutionen und den Einfluss externer Akteure miteinander verflochten. Im Zuge der Pandemie hat die Afrikanische Union (AU) ihre Bemühungen um ein kontinentales Vorgehen intensiviert, die oft durch subregionale Initiativen ergänzt werden. Externe Akteure wie die EU oder Deutschland können und sollten diese Ansätze unterstützen.

Pandemiefolgen: Besonders heikel für Transitionsländer und fragile Demokratien

Zu Beginn der Pandemie wurden bereits vorhandene Dynamiken verstärkt, die mit Gesellschaftsverträgen und politischen Systemen zusammenhängen. Das gilt für autoritäre Staaten ebenso wie für Transitions­länder und junge Demokratien. In fast allen Staaten mit autoritären Tendenzen, wie in Simbabwe oder Alge­rien, lieferte die Pandemie Regierungen einen Vor­wand, Repressionen gegen unliebsame politische Akteure zu verschärfen, die digitale Kontrolle über Gesellschaften auszubauen und unabhängige Medien zu gängeln. Wirtschaftliche Schieflagen wurden in­folge von Covid-19 noch dramatischer. Das erschwert den Erfolg von Herrschaftsmodellen, mit denen man­gelnde politische Freiheiten durch Chancen auf wirt­schaftlichen Aufstieg und durch einen effektiven Staat kompensiert werden sollen, wie etwa in Marokko. Die schon vor der Pandemie existierende enorme soziale Ungleichheit nahm zu, als Lockdowns verhängt wur­den, die wirtschaftliche Einbrüche zur Folge hatten.

Äthiopien, Sudan und Tunesien reagierten schnell und entschieden auf Covid-19, setzten auf Abschirmung der Bevölkerung und schlossen Flughäfen und Grenzen. Äthiopien tat sich zudem dadurch hervor, dass es die Verteilung medizinischer Hilfsgüter in der Region und zeitweilig auf dem gesamten Kontinent koordinierte. Sudan und Tunesien können als Staaten gelten, in denen das Vertrauen zwischen Bevölkerung und Regierung erhalten oder gestärkt wurde, etwa durch das Demonstrationsrecht, proaktive Kommunikation und Beteiligung der Bevölkerung an schwierigen Entscheidungen. Dort ist das Vertrauen in die Regierung gewachsen, so dass die Maßnahmen gegen die Pandemie zunächst weitgehend befolgt wurden. Erst in deren weiterem Verlauf schwand die Unterstützung seitens der politischen Opposition, nahmen Querelen unter den Eliten zu. In Tunesien brach die Regierung auseinander, im Sudan bröckelt die Tran­sition, allerdings vorwiegend wegen des wirtschaft­lichen Drucks. Diese Ereignisse machten in beiden Ländern die Eindämmung der Pandemie schwieriger.

Auch in Staaten mit demokratischer Tradition wie beispielsweise Südafrika wurden Grundrechte ein­geschränkt, und teilweise gingen Sicherheitskräfte gewaltsam gegen die Zivilbevölkerung vor. Unterschiede beim Umgang mit demokratischen Freiheitsrechten zeigten sich gerade in Transitionsländern: Im Sudan etwa wurde im Staatsfernsehen unparteiisch über Proteste berichtet, wohingegen die Regierung in Äthiopien das Internet nach ähnlichen Vorkommnis­sen für Wochen sperrte.

Der Einbruch der afrikanischen Volkswirtschaften dürfte ebenfalls negative Konsequenzen für die poli­tische Verfasstheit zahlreicher Staaten haben. Schät­zungen der Vereinten Nationen (UN) zufolge ist das Bruttoinlandsprodukt in einigen afrikanischen Län­dern um bis zu 7,8 Prozent gesunken.1 Die corona­bedingte Verschärfung von Wirtschaftskrisen wird voraussichtlich eine mehrjährige Rezession nach sich ziehen und daher mittelfristig ungünstige Auswirkungen auf die Länder haben. Sehr wahrscheinlich werden Armutsrate und soziale Ungleichheit weiter steigen.2 Destabilisierende Proteste und weiter schwin­dendes Vertrauen in die fragilen Demokra­tisierungsprozesse dürften die Folge sein.

Für 2021 ist in Afrika mit deutlich mehr politischen Unruhen und Konflikten zu rechnen.

Es hängt von Weitsicht und Präsenz der Reformer in Regierungen und Gesellschaften ab, ob die in eini­gen Staaten buchstäblich lebensbedrohenden Wirt­schaftskrisen mehr demokratische Öffnungen oder aber stärkere Repressionen bewirken werden. Für 2021 ist damit zu rechnen, dass der Druck der Bevöl­kerungen auf Regierungen massiv steigt und dass deutlich mehr politische Unruhen und Konflikte auftreten. In bestehenden Konflikten, Bürgerkriegen und klimabedingten Verteilungskämpfen spielt Covid-19 als zusätzlicher Faktor eine destabilisierende Rolle. Je weniger die Regierungen in der Lage sind, die Bevölkerung ihrer Länder vor den Folgen der Pandemie zu schützen und sie zu versorgen, desto mehr wächst die Gefahr, dass bewaffnete Gruppierungen Zulauf erhalten, die bessere Lösungen ver­sprechen. Dies ist bereits in Mosambik und in Soma­lia geschehen. Im Sudan hingegen hat die Ausbreitung von Covid-19 die Bereitschaft der bewaffneten Opposition befördert, sich mit der Regierung zu ver­ständigen.

Kritische Infrastruktur: Vom Kollaps bis hin zu neuen Chancen

Covid-19 hat vor Augen geführt, wie schwach die kritische Infrastruktur in Afrika ist. Nationale Lock­downs und regionale Grenzschließungen hatten punk­tuelle Versorgungsengpässe zur Folge. In Ost­afrika etwa bewirkten Ausgangssperren, die Schließung von Häfen und Flughäfen sowie Mobilitäts­beschränkungen, dass wichtige Lieferketten von Nahrungsmitteln, Ersatzteilen und anderen Gütern behindert oder unterbrochen wurden. Agrarprodukte gelangten nicht mehr auf städtische Märkte, der innerregionale Warenverkehr war durch Grenzschließungen blockiert. Gleiches gilt für das südliche Afrika. Simbabwe und Mosambik litten bereits 2019 unter Nahrungsmittelkrisen, deren Verschärfung schon prognostiziert worden war, bevor sich die Pan­demie ausbreitete. In zahlreichen Ländern waren es vor allem die ausgedehnten informellen Sektoren, die von Lockdowns und erliegender lokaler Produktion besonders hart getroffen wurden.

Die Eindämmung der Covid-19-Pandemie hat gezeigt, dass einzelne kritische Infrastrukturen nicht isoliert betrachtet werden können. Nicht nur die Ver­fügbarkeit von Krankenbetten und Beatmungsgeräten spielt eine entscheidende Rolle, sondern auch die Versorgung der Gesundheitseinrichtungen mit Strom und Wasser und die Anzahl an ausgebildetem Per­sonal. Wegen der unsicheren Stromversorgung konn­ten in vielen afrikanischen Staaten Beatmungsgeräte nicht ordnungsgemäß verwendet werden. Gleichzeitig fehlt es an Personal, das in der Lage wäre, solche Geräte zu bedienen und instand zu halten. In Uganda können aus diesem Grund manche Krankenhäuser ihre Kapazitäten nicht ausschöpfen. Generell sind die Kapazität der Verwaltungen und der Zugang zu Dienstleistungen ein wichtiger Indikator für die Leis­tungsfähigkeit von Staaten.

Auf dem afrikanischen Kontinent gibt es aber auch positive Beispiele dafür, wie vorhandene (Gesundheits-) Infrastruktur erfolgreich genutzt wird, Schwach­stellen erkannt und gezielte Gegenmaßnahmen ergrif­fen werden. So hat die Pandemie auch Chancen eröffnet und unerwartet schnelle Modernisierungsschritte ermöglicht. Das gilt besonders für Staaten mit einem höheren Infrastrukturniveau und der Bereit­schaft, flexibel und zielgerichtet zu han­deln, um die Gesundheitskrise abzufedern. Marokko und Tunesien haben während der Pandemie die Entbürokratisierung vorangetrieben. Dazu haben sie beispielsweise den informellen Sektor in die Krisenhilfen einbezogen, Akteure im Gesundheitswesen digitalisiert und vernetzt sowie Ausgangssperren mit Hilfe von Apps überwacht. Letzteres ist allerdings eher als zweischneidige Maßnahme zu werten, da sie zugleich autoritäre Tendenzen stärken könnte.

Die Rolle externer Akteure und afrikanisches Engagement

Staatliche Akteure, prominente Geschäftsleute und Philanthropen, regionale und subregionale Organisationen sowie lokale Zivilgesellschaften waren zu An­fang der Pandemie sichtbarer als gewichtige multi­laterale Akteure wie die UN oder die EU. Gerade was materielle Unterstützung betrifft, waren nichtstaat­liche Akteure im März und April 2020 sehr präsent, während die EU erst im Juni mit finanziellen Bei­trägen zur afrikanischen Kontinentalstrategie zur Eindämmung von Covid-19 in Erscheinung trat und Länder wie Deutschland oder Japan erst im Juli folg­ten. Bei einigen afrikanischen Ländern schwand nicht nur das Vertrauen in die EU, sondern zunächst auch in multilaterale Krisenbewältigung.

Vor allem China versuchte sich zu profilieren, indem es öffentlichkeitswirksam für schnelle Hilfs­lieferungen sorgte und diese medial in Szene setzte. Doch weder diese Inszenierungen noch der im Juni kurzfristig anberaumte China-Afrika-Gipfel können darüber hinwegtäuschen, dass sich das Chinabild in vielen afrikanischen Staaten gewandelt hat. Animositäten erzeugte China nicht nur durch seinen intrans­parenten Umgang mit dem Ausbruch von Covid-19. Ebenso unbeliebt machte es sich durch die Ungleichbehandlung von Afrikanerinnen und Afrikanern in China während der Pandemie und dadurch, dass es in den Handelsbeziehungen mit afrikanischen Ländern auf deren einseitige Abhängigkeit aus war. Positiv da­gegen werden die Überlegungen der EU zur Entschuldung und Unterstützung des Schuldenmanagements gesehen, denn viele hoch verschuldete Länder in Afrika befürchten, dass die Schuldenspirale sich im­mer schneller drehen wird.

Besonders wichtig waren aber auch die afrika­nischen Initiativen. Materiell besser ausgestattete Staa­ten des Kontinents, zum Beispiel Marokko, betrie­ben ungeachtet eigener Infrastrukturdefizite Gesund­heitsdiplomatie und lieferten Medikamente sowie medizinische Ausrüstung in zahlreiche afrikanische Länder. Multilaterale Akteure wurden im Laufe der Krise immer besser sichtbar, vor allem die AU mit den Africa Centres for Disease Control and Prevention (CDC) und die übrigen afrikanischen Regionalorganisationen. Die Westafrikanische Gesundheitsorganisation (WAHO) der Westafrikanischen Wirtschafts­gemeinschaft (ECOWAS) bündelt zusammen mit afri­kanischen und externen Partnern Ressourcen für regionale Kapazitäten. Sie bietet ihren Mitgliedstaaten technische wie finanzielle Unterstützung an und kann auf Governance-Strukturen zurückgreifen, die anhand der Erfahrungen mit früheren regionalen Ge­sundheitskrisen aufgebaut wurden. Das Engagement von Africa CDC, teilweise gefördert von Deutschland und anderen europäischen Staaten, erstreckt sich mittlerweile auf Initiativen zur gemeinsamen Beschaffung von Material, zur kontinentalen Ko­ordi­nierung von Gesundheitsfachkräften und zur Model­lierung von Szenarien.

Mehr Koordination innerhalb der AU lässt sich auch bei den sozioökonomischen Herausforderungen erkennen. Der Vorsitzende der AU-Kommission, Moussa Faki, setzte sich für die Entschuldung afrika­nischer Staaten ein, wobei ihm etliche afrikanische Staats- und Regierungschefs den Rücken stärkten. Und obwohl der für Juli geplante Start des Handels im Rahmen der Panafrikanischen Freihandelszone (AfCFTA) wegen Covid-19 zunächst verschoben wurde, hält die AU an dem Vorhaben fest. Sie hofft, dass ein Schnellstart nach dem Ende der Pandemie positive Auswirkungen auf die regionale Wirtschaftsentwicklung haben wird.

Afrikanische Lösungen für Afrika

Die vielfältigen Herausforderungen in Afrika offen­baren, wie wichtig koordiniertes Handeln auf allen Ebenen von lokal bis kontinental ist, um die Pan­demie und ihre sozioökonomischen Folgen einzudämmen und afrikanische Staaten widerstandsfähiger gegenüber künftigen Krisen zu machen. Covid-19 und die Folgen haben auf dem afrikanischen Kontinent neue Initiativen und Unterstützung für regionale Kooperation ausgelöst. Externe Akteure sollten solche Initiativen behutsam voranbringen helfen, ohne sie zu vereinnahmen oder mit unrealistischen Anfor­derungen zu blockieren. Dabei sollten sie an viel­verspre­chende Politikansätze anknüpfen, etwa regio­nales Gesundheitsmanagement, Infrastrukturentwick­lungsprojekte, AfCFTA, Förderung und Ausbau loka­ler Wirtschaftsentwicklung sowie regionaler Liefer­ketten. Die EU und ihre Mitgliedstaaten sollten sich zudem dafür einsetzen, dass afrikanische Staaten und Institutionen fortan besser in internationalen Gre­mien vertreten sind.

Gesundheitsgerechtigkeit

Schon seit einiger Zeit steht die Frage auf der inter­nationalen Tagesordnung, wie Impfstoffe gerecht verteilt werden sollen. Die AU hat sich zum globalen Verteilungsmechanismus »Access to Covid-19 Tools« der WHO bekannt und fördert auf dem Kontinent klinische Studien zu Impfstoffen. Die EU und ihre Mitgliedstaaten sollten ihre Solidarität in der globalen Impfstoffdebatte unter Beweis stellen. Sie sollten in Zusammenarbeit mit der AU dafür eintreten, dass faire Kriterien für die globale Verteilung aufgestellt werden.

Schuldenmanagement und Abfederung sozioökonomischer Krisen

Für viele afrikanische Staaten wiegen die ökonomischen Auswirkungen der Pandemie besonders schwer. Erste Initiativen internationaler Partner verfolgen das Ziel, die schlimmsten Krisen abzumildern, sie werden aber nicht ausreichen. Zudem ist zu erwarten, dass weitere Staaten in Schuldenkrisen rutschen. Angesichts dringend notwendiger Investitionen in die Infra­struktur könnte es die ohnehin volatile Situation vieler Länder weiter verschärfen, wenn deren staat­liche Handlungsfähigkeit durch Verschuldung blockiert wird. Aus diesem Grund wird eine der wich­tigsten Aufgaben für internationale Partner in den kommenden Jahren darin bestehen, afrikanischen Ländern und der AU beim Umgang mit der Verschuldungsproblematik zur Seite zu stehen.

Zentral ist dabei die Frage der Verteilungsgerechtig­keit. So sollten frei werdende Mittel dazu verwendet werden, steigende Armut und zunehmende soziale Ungleichheit abzufedern und auf diese Weise dazu beizutragen, dass die sozioökonomischen Dif­ferenzen nicht noch größer werden. Programme soll­ten sich dabei aber nicht nur auf Armutsminderung konzentrieren, sondern auch auf den gleichberechtig­ten Zugang zu Dienstleistungen und Infrastrukturen.

Verzahnung kritischer Infrastrukturen

Für den Ausbau kritischer Infrastruktur lohnt es sich, nicht nur nationalstaatliche, sondern auch gesellschaftliche Ansätze zu verfolgen, etwa Gesundheitsakteure auf lokaler Ebene einzubinden. Gleichzeitig müssen kritische Infrastrukturen besser ineinandergreifen, um Krisen bewältigen zu können und so die nötige Resilienz aufzubauen. Die Infrastrukturen lassen sich besser verzahnen, wenn vor allem die Digi­talisierung ausgeweitet wird. Auch hier bestehen Ansätze innerhalb der AU, und schon jetzt lassen sich »best practices« in afrikanischen Staaten identifizieren. Daraus ergeben sich Anknüpfungspunkte für europäisches Engagement.

Fragile Demokratien und Transitions­gesellschaften besonders unterstützen

Vor allem in Transitionsgesellschaften und jungen Demokratien, die sich mit (Gesundheits-)Krisen kon­frontiert sehen, sind Erhaltung und Stärkung oder auch der Verlust von Vertrauen und Legitimität rele­vant. Zivilgesellschaftliche Gruppierungen und die Akteure der demokratischen Transition betrachten hier gerade europäische Staaten als Verbündete. Europa sollte deshalb Staaten in fragilen Übergangsprozessen so unterstützen, dass sie ihre Bevölkerungen dank solider kritischer Infrastruktur zuverlässig versorgen können.

Steffen Angenendt / Nadine Biehler / Raphael Bossong / Anne Koch

Die Auswirkungen der Covid‑19-Pandemie auf das internationale Wanderungs­geschehen

Die Covid‑19-Pandemie verändert die Triebkräfte von Flucht und Migration nicht grundlegend – wohl aber die politischen und administrativen Rahmen­bedin­gun­gen von Flucht und Migration sowie die wirtschaft­lichen Perspektiven der Betroffenen. Weltweit haben Regierungen die inner- und zwischenstaatliche Mobilität in Form von Einreise- und Aufenthalts­beschränkungen massiv begrenzt, um die Pandemie einzudämmen.1 Diese erzwungene Immobilisierung hat schwerwiegende wirtschaftliche Folgen, von denen sich viele Länder – vor allem die wirtschaft­lich weniger entwickelten – nur sehr langsam erholen werden. Migranten und Menschen auf der Flucht sind davon besonders betroffen, da sie oft nur eingeschränkte Rechte haben, häufiger als Einhei­mische prekär beschäftigt sind und in Krisensituationen als Erste ihre Arbeitsplätze verlieren. Die Folgen der Immobilisierung gehen weit über Einzelschick­sale hinaus und haben gesamtwirtschaftliche Bedeu­tung: Schätzungen zufolge wurden vor der Pandemie 9,4 Prozent des globalen Sozialprodukts durch Migran­tinnen und Migranten erwirtschaftet.2 Dieser Beitrag wird spürbar sinken. So zeichnet sich für das Jahr 2020 bereits ab, dass die globalen Geldtransfers von Migranten, die häufig einen beträchtlichen Teil der Haushaltseinkommen und des Bruttoinlands­produkts armer Länder ausmachen, um mehr als 20 Prozent zurückgehen werden.3

Aktuelle und künftige Wanderungstrends

Die verstärkten Grenzkontrollen, temporären Grenz­schließungen4 und das Aussetzen humanitärer Auf­nahme- bzw. Resettlementprogramme5 schlagen sich in einer drastischen Abnahme grenzüberschreitender Wanderungen nieder: Von Februar bis August 2020 lag die Zahl der Menschen auf der Flucht, die im euro­päischen Mittelmeerraum ankamen, jeden Monat deutlich unter der Vergleichszahl aus den Vorjahren.6 Zudem hat die EU-Grenzschutzagentur Frontex in der ersten Jahreshälfte 2020 für den europäischen Raum 20 Prozent weniger irreguläre Einreisen als im Vor­jahr registriert.7 Entsprechend wurden auch weniger Asyl-Erstanträge gestellt: Laut der Europäischen Asyl­agentur EASO waren es im August 2020 insgesamt 36 124, während im Vergleichsmonat 2019 noch 51 256 Anträge eingegangen waren.8 Darüber hinaus wurden 2020 bis Oktober 11 899 Menschen im Rah­men von Resettlementprogrammen in sichere Dritt­staaten gebracht, 2019 waren es insgesamt 63 726.9 Auch bei regulärer Arbeitsmigration ist derzeit ein Rückgang zu beobachten. Die Nachfrage ist einge­brochen, weil die Arbeitsmigration im Kontext der Pandemie voraussetzungsvoller geworden ist – etwa aufgrund zusätzlicher Pflichten, Auskunft über den Reiseweg zu geben, aufgrund medizinischer Nach­weise und erweiterter Gesundheitskontrollen – und weil die Wanderung aus Sicht der Migranten und Mi­grantinnen mit gesundheitlichen Risiken verbunden sein kann. Ähnliches gilt für die Bildungsmigration.

Erstmals seit dreißig Jahren steigt die globale Armutsquote – damit drohen neue Verteilungskämpfe.

Zahlreiche Migranten sind wegen verlorener Ein­kommensmöglichkeiten und unsicherer Zukunfts­perspektiven in ihre Heimatregionen und Herkunftsländer zurückgekehrt. Solche Rückwanderungen haben nicht nur innerhalb von Ländern, sondern auch zwischen Ländern zugenommen, zum Beispiel aus den Golfstaaten nach Indien, aus Kolumbien nach Venezuela oder aus den USA nach Mexiko.

Für die kommenden Jahre sind vier grundlegende Trends beim Wanderungsgeschehen zu erwarten:

Erstens wird die wirtschaftliche Rezession den Bedarf an Arbeitsmigranten für einen noch nicht abseh­baren Zeitraum generell reduzieren. Gleichwohl wird in einigen Wirtschaftssektoren der dringende Arbeits­kräftebedarf anhalten und nicht aus dem inländi­schen Potential gedeckt werden können. Viele Regie­rungen werden sich weiterhin bemühen, Arbeits­kräfte für diese Schlüsselsektoren anzuwerben; die Konkurrenz um diese Migranten und Migrantinnen wird härter werden. Die Pandemie hat – zusätzlich zu dem seit langem bestehenden Bedarf an hoch qua­lifizierten Arbeitskräften – den akuten Bedarf bei einigen geringer qualifizierten Tätigkeiten aufgezeigt. In der ersten Phase der Pandemie hat die Bundes­regierung beispielsweise ermöglicht, dass trotz der strikten Grenzschließungen 80 000 osteuropäische Saisonarbeitskräfte für die Landwirtschaft einreisen konnte.

Zweitens wird die Zahl von Flüchtlingen und Vertriebenen weiter steigen: Laut Weltbank drohen im Jahr 2020 weltweit circa 60 Millionen Menschen in extreme Armut (Einkommen unter 1,90 US-Dollar pro Kopf/ Tag) zu fallen.10 Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) schätzt, dass davon insbesondere Menschen in fragilen Kon­texten betroffen sein werden; dort könnten circa 26 Millionen Menschen (das sind 43 Prozent der ge­nannten 60 Millionen) in extreme Armut geraten.11 Das heißt, die globale Armutsquote wächst zum ersten Mal seit dreißig Jahren wieder an.12 Ziel 1 der Nach­haltigkeitsziele (SDGs) der Agenda 2030 der Vereinten Nationen, Armut in jeder Form und überall zu be­enden, wird somit schwer zu erreichen sein.13 Aller Voraus­sicht nach werden neue Verteilungskämpfe weitere unfreiwillige Wanderungsbewegungen aus­lösen.14

Drittens werden irreguläre Wanderungen zunehmen: Werden die legalen Zuwanderungswege weiter redu­ziert, während der Wanderungsdruck in vielen Her­kunftsländern aufgrund der schlechten wirtschaft­lichen Lage zunimmt, wird es zu mehr irregulären Wanderungen kommen. Zum Teil wird es sich hier­bei um einen Nach­holeffekt handeln, da Migrationswillige, die in der ersten Jahreshälfte 2020 durch die Mobilitätskontrollen und das Infektionsgeschehen abgeschreckt wurden, sich nun wieder auf den Weg machen. Gerade die wohlhabenden Staaten werden jedoch ihre Instrumente zur Mobilitätskontrolle aus­bauen, etwa in Form biometrischer Reisedokumente, vernetzter Datenbanken und anderer Techniken zur Überwachung von Kommunikationsmitteln und Grenzräumen. Angesichts der engmaschigen Kon­trollen werden die Betroffenen immer riskantere Routen nutzen und dabei größere Gefahren eingehen, die Nachfrage nach den Diensten professioneller Schlepper wird steigen. Bedeutende Regularisierungs­programme für undokumentierte Einwanderer – wie etwa im ersten Halbjahr 2020, als in Portugal und Italien Tausende Erntehelfer legalisiert wurden – werden vermutlich die Ausnahme bleiben.

Viertens ist mit einem Anstieg von Binnenwanderungen zu rechnen: Zum einen ist die Binnenmigration für viele, die ihre Heimatorte auf der Suche nach bes­seren wirtschaftlichen Perspektiven verlassen, die näherliegende Option. Schon vor Beginn der Pan­demie gab es mehr als zweieinhalbmal so viele Bin­nen- wie grenzüberschreitende Migrantinnen und Migranten.15 In Ermangelung legaler Zuwanderungswege und angesichts verschärfter Grenzkontrollen dürfte sich dieses Verhältnis weiter in Richtung Bin­nenmigration verschieben. Zum anderen gilt Ähn­liches für Menschen, die vor gewaltsamen Konflikten fliehen: Weil das Konfliktpotenzial gerade in beson­ders fragilen Staaten wächst, wird wahrscheinlich auch die Binnenvertreibung zunehmen.

Mögliche Pfade für die migrations­politische Zusammenarbeit

Die internationale und die europäische Kooperation zu Flucht und Migration haben den Stresstest der Pandemie nicht bestanden. Die Regierungen haben auf die Herausforderungen durch die Pandemie in erster Linie mit unilateralen Maßnahmen reagiert. Im Bereich Migration und Flucht werden die Steuerungsprobleme voraussichtlich größer werden: Auf der einen Seite stehen die erhöhte Schutzbedürftigkeit von Migranten und Menschen auf der Flucht sowie der wachsende Bedarf an wirtschaftlicher und hu­ma­nitärer Hilfe, auf der anderen Seite auf absehbare Zeit deutlich weniger staatliche Ressourcen und vermutlich auch ein nachlassender Handlungswille. Zwei Ent­wicklungspfade sind denkbar:

Einerseits eine fortgesetzte Renationalisierung und Bilateralisierung der europäischen und globalen Migrationspolitik. Getrieben werden könnte eine solche Politik durch rechtspopulistische globalisierungskritische oder nationalistische Bewegungen, wenn diese an­gesichts der stark geschwächten Arbeitsmärkte und Volkswirtschaften neuen Aufwind erhalten und rassistische Ressentiments gegenüber Migranten mit Blick auf vermeintliche Gesundheitsgefahren schü­ren. Vereinbarungen mit Herkunfts- und Transit­staaten würden noch stärker auf Grenzsicherung und Kontrolle von Wanderungsbewegungen ausgerichtet, zu Lasten regionaler Kooperationsansätze. Die Zu­gangswege für Asylsuchende blieben eingeschränkt, lang andauernde Internierungen, Push-backs und erzwungene Rückführungen von Schutzsuchenden in unsichere Herkunfts- und Transitländer könnten zunehmen. Menschen auf der Flucht würden kaum noch internationale Hilfe erhalten, und Regierungen und Zivilgesellschaften in Entwicklungsländern wären bei der Bewältigung von Flucht und Vertreibung weitgehend auf sich allein gestellt. Die derzeit schon unhaltbaren Zustände in vielen Flüchtlings­lagern würden sich mit großer Sicherheit verschlechtern, weitere humanitäre Katastrophen wären wahr­scheinlich. Auf mittlere Sicht wäre es noch schwieriger als bisher, Migration partnerschaftlich zu steuern und die Ziele für nachhaltige Entwicklung zu ver­folgen.

Andererseits wäre ein gegenläufiger Entwicklungs­pfad vorstellbar, nämlich eine Stärkung der partner­schaft­lichen Zusammenarbeit mit anderen Aufnahme-staaten, vor allem aber mit Herkunfts- und Transitländern. Die bestehenden internationalen Rahmenabkommen und Governancestrukturen wurden bis­lang kaum genutzt, insbesondere die Möglichkeiten des 2018 beschlossenen Globalen Paktes für Migration (GCM). Dieser von 164 Staaten gebilligte Pakt böte zahlreiche Möglichkeiten für zwischenstaatliche Ko­operation unter Krisenbedingungen.16 Bislang haben die Unterzeichnerländer sich jedoch nur ansatzweise um eine Umsetzung bemüht. Einen Kooperationsrahmen könnten außerdem bieten: die Abkommen über den Schutz von Arbeitsmigranten der Internatio­nalen Arbeitsorganisation (ILO), internationale Ver­einbarungen und Prozesse wie der ebenfalls 2018 verabschiedete Globale Pakt für Flüchtlinge (GCR) oder das Globale Forum für Migration und Entwick­lung (GFMD). Ziel wäre es, aufnehmende Länder auch bei der Pandemieeindämmung in deren Gesundheits­bereich zu unterstützen, gemeinsame Vorgehens­weisen für Gesundheitskontrollen an Grenzübergängen einzurichten und standardisierte Gesundheits- bzw. Impfnachweise für Migranten zu etablieren.

Grundsätzlich wäre die Gelegenheit für eine engere Kooperation günstig: Der Mangel an ausländischen Ar­beitskräften auch in Sektoren, die für die Pan­demie­bewältigung relevant sind, und die gesamt­gesell­schaftliche Aufgabe der Infektionsreduzierung könn­ten neue Möglichkeiten der Integration eröff­nen, etwa durch neue Regularisierungsprogramme. Vor­nehmlich die Notwendigkeit einer flächendeckenden Immunisierung könnte dazu genutzt werden, die Lebens­situation und Verwundbarkeit von Flüchtlingen und Migranten stärker in den Blick zu nehmen. So könnte das Menschenrecht auf Gesundheit in den EU-Mitgliedsländern zunehmend auch Menschen unabhängig vom Aufenthaltsstatus ge­währt werden, nicht zuletzt um zu verhindern, dass sich das Virus unter undokumentierten Migrantinnen und Migranten ausbreitet. Internationale Hilfsleistungen für die Verteilung eines Covid‑19-Impfstoffes könnten damit ver­bunden werden, die Situation in humanitären Einrichtungen für Menschen auf der Flucht zu stabi­lisieren, indem zum Beispiel medizinisches Personal in Flüchtlingslagern bei Impfkampagnen bevorzugt wird.17

Handlungsmöglichkeiten

Die skizzierten Entwicklungspfade sind nicht natur­gegeben, vielmehr hängen sie von politischer Ent­scheidung und Gestaltung ab. Da zwischenzeitlich die Zuwanderungszahlen gesunken sind, außerdem Grenzschließungen und harte Abschreckung wirk­samer zu sein scheinen als erwartet, ist zumindest in Europa die Versuchung groß, unilaterale Wege zu beschreiten. Doch die Kosten dafür wären hoch: Mittel- und langfristig wäre der wirtschaftliche, gesell­schaftliche und politische Bedarf an einer wirksamen, kohärenten und entwicklungsfördernden Migrationspolitik nicht zu erfüllen, und auch eine an menschen­rechtlichen Grundsätzen orientierte Flüchtlings­politik wäre nicht zu erreichen.

Im Einklang mit der Ausrichtung der deutschen Politik auf multilaterale Ansätze sollte die Bundes­regierung daher alles vermeiden, was nationalen Allein­gängen weiteren Vorschub leisten könnte. Oberstes Ziel sollte weiterhin sein, die multilaterale Zusammenarbeit bei Flucht und Migration zu stär­ken, um auf dem oben skizzierten Entwicklungspfad der internationalen Kooperation voranzukommen. Die Bundesregierung sollte sich der Aushöhlung des internationalen Asylregimes und der Verletzung völkerrechtlicher Pflichten entgegenstellen. Auch in Zukunft sollte sie sich trotz aller Widerstände für eine europäische Verantwortung und Lastenteilung bei der Bewältigung der Fluchtbewegungen einsetzen. Schließlich sollte sie Mittel mobilisieren, um im EU-Rahmen Lösungen für Menschen auf der Flucht und in den Erstaufnahmeländern zu finden, um Zugangs­wege für Asylsuchende offen zu halten und um die Resettlementprogramme für Flüchtlinge wieder auf­zunehmen und auszubauen. Hierbei sollte die Bun­des­regierung darauf drängen, die Potentiale des im September 2020 von der EU-Kommission vorgeschlagenen Pakets für Asyl und Migration18 auszuschöpfen; eine Fokussierung auf Abschreckung sollte allerdings verhindert werden.

Im Migrationsbereich gilt es, die künftigen strukturellen Bedarfe (vor allem an Gesundheitsfachkräften) zu identifizieren und eine vorausschauende Migra­tions­politik in Partnerschaft mit den Herkunfts­ländern zu entwickeln. Dazu gehören innovative For­men der Zusammenarbeit, zum Beispiel transnatio­nale Ausbildungs­partnerschaften, ein erweiterter Zugang zu (Aus-)Bildungsvisa sowie »talent partner­ships« oder »talent pools«. Dabei wird es mittelfristig nicht ausreichen, bei der Rekrutierung vorrangig auf die EU- bzw. die Staaten der Europäischen Frei­handelszone (EFTA) zu setzen: Künftig wird ein großer Anteil der benötigten qualifizierten Arbeitskräfte aus Drittstaaten stammen müssen.

Maike Voss

An der Kreuzung: Die Verteilung eines Covid-19-Impfstoffes

Die anhaltende Unsicherheit über den weiteren Ver­lauf der Covid‑19-Pandemie lässt keine zuverlässigen Aussagen darüber zu, welche langfristigen Auswirkungen die Pandemie auf Politik, Gesellschaft, Wirt­schaft und die internationale Ordnung haben wird. Der Verlauf bleibt abhängig von der staatlichen Hand­lungsfähigkeit, was ein effektives Gesundheitskrisen­management angeht sowie die Abfederung unerwünschter sozialer und ökonomischer Nebenwirkungen der eingeführten Gesundheitsschutzmaßnahmen. Eine Rolle spielen ferner die Ergebnisse der inter­natio­nalen Zusammenarbeit, die die Resilienz von Gesundheitssystemen stärken soll. Impfstoffe gelten als ein effektives Mittel zur Eindämmung von Infek­tionskrankheiten. Sollte die Entwicklung eines wirk­samen und sicheren Covid‑19-Impfstoffes erfolgreich sein, muss dieser in ausreichender Menge schnell produziert und gerecht verteilt werden.

Im weiteren Verlauf der Covid‑19-Pandemie sind zwei Szenarien für die globale Gesundheitspolitik und insbesondere für die Verteilung eines Impfstoffes denkbar.

Szenario 1: Globales Handeln in alten Mustern

Trotz massiver Anstrengungen und hohem Mittelaufwand von Industriestaaten und privaten Akteuren gelingt es erst im Frühjahr 2021, einen wirksamen und sicheren Impfstoff gegen SARS-CoV‑2 zu entwickeln. Nichtpharmazeutische Gesundheitsschutzmaßnahmen wie Abstands- und Hygieneregeln sowie Früh­erkennung durch effektive Test- und Meldestrategien blieben bis dahin das politische Mittel der Wahl. Die Maßnahmen erforderten von den Gesellschaften eine hohe Akzeptanz und Durchhaltevermögen; Kontaktbeschränkungen und der ständige Nachweis eines negativen Testergebnisses bestimmten den Alltag auf allen Ebenen.

Als die neue US-Administration unter Joseph Biden als eine der ersten politischen Handlungen den Ver­bleib der USA in der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verkündete, atmete die »Global Health Com­munity« auf. Jedoch ist damit die Krise der globalen Gesundheitsgovernance nicht überwunden. Andere WHO-Mitgliedstaaten, etwa Deutschland, Japan und Frankreich, aber auch die Europäische Union (EU) haben wegen des Schocks eines möglichen Austritts der USA eigene Reformvorschläge und Ideen erar­beitet, wie sich die Sonderorganisation für Gesundheit in Zukunft aufstellen könnte. Diese Länder erheben nun einen Führungsanspruch, den zuvor die USA innehatten. Die USA, stark betroffen von der Covid‑19-Pandemie im eigenen Land, priorisieren weiterhin Gesundheitssicherheitsprogramme der WHO. Dazu gehören Frühwarn- und Monitoring­systeme, Polio-Programme im Nahen und Mittleren Osten sowie Biosicherheitsprojekte vor allem in Regionen mit schmelzenden Permafrostböden. An­dere, drängende WHO-Prioritäten wie die flächen­deckende allgemeine Gesundheitsversorgung (Uni­versal Health Coverage, UHC)1 werden von den USA nicht weiterverfolgt.

In den G-Formaten schlägt Präsident Biden gegenüber China und den chinesischen Versäumnissen zu Beginn der Pandemie zwar einen anderen Ton an, bleibt politisch aber auf der gleichen Linie wie sein Vorgänger Donald Trump. Biden fordert eine lücken­lose Aufklärung sowie künftig die Möglichkeit, un­abhängige Expertinnen und Experten der WHO in Länder zu entsenden, in denen der Verdacht auf ein Ausbruchsgeschehen besteht. China hat während­dessen die Gesundheitskontrollmaßnahmen hart durchgesetzt und es geschafft, das Infektionsgeschehen im eigenen Land dauerhaft einzudämmen. Inter­national wirbt es mit der Effektivität seines politischen Handelns.

Bei der 74. Weltgesundheitsversammlung im Mai 2021 können sich die Mitgliedstaaten auf keine um­fassende WHO-Reform einigen – zu unterschiedlich sind die Reformvorschläge Europas und der USA. Die USA, Brasilien, Russland und China lehnen es ab, über Sanktionsmöglichkeiten der WHO bei Nicht­befolgung ihrer Empfehlungen und Regelwerke zu verhandeln. Brasilien kündigt seinen Austritt aus der WHO an. Das Programm für Gesundheitskrisen erhält zwar dank freiwilliger Mittel einzelner Staaten eine kurzfristig gesicherte Finanzierung, indes gilt dies keineswegs für das priorisierte Arbeitspaket zur UHC.

Schon früh in der Pandemie haben Deutschland, Frankreich, Japan und China für einen potentiellen Impfstoff das Narrativ des globalen öffentlichen Gutes geprägt. Der gleichberechtigte Zugang zu Impfstoffen ist von der Europäischen Kommission als Zielvorgabe übernommen und von Entwicklungsländern, Nicht­regierungsorganisationen und der WHO sehr begrüßt worden. Die EU unterstützt die Bemühungen der WHO, mit Hilfe der Multi-Akteurs-Partnerschaft (Access to COVID‑19 Tools [ACT] Accelerator)2 einen Mechanismus für die gerechte Verteilung eines Impfstoffs (COVAX)3 zu erreichen. Doch wird dieses Versprechen nicht eingehalten.

Einerseits stehen aufgrund der weltweiten und gleichzeitigen Nachfrage nach einem Impfstoff vor allem diejenigen Staaten unter Druck, die über leis­tungsfähige Forschungs- und Entwicklungskapazitäten verfügen. Solange Impfstoffe nicht in ausreichender Menge produziert werden können – und dür­fen –, ist keine gerechte Verteilung möglich. Staaten mit eigener Produktionskapazität sind nicht willens, alle Mittel des internationalen Patentsystems aus­zuspielen. So werden Zwangslizenzen bisher nicht dafür verwendet, die Produktion der Impfdosen an möglichst vielen Standorten hochzufahren. Nur die Unternehmen, die den Impfstoff selbst entwickelt haben, produzieren ihn auch. Als Folge stehen ge­eignete Produktionsstandorte still, zum Beispiel in Brasilien und Indien.

Die EU-Mitgliedstaaten ziehen es vor, die Lizen­zierung neuer medizinischer Produkte weiterhin auf nationaler Ebene zu kontrollieren, weshalb sie die traditionelle freiwillige Lizenzierung wählen. Hierbei macht die eigene Pharmaindustrie ihren Einfluss gel­tend, die verhindern will, dass durch eine Verände­rung der Patentvergabe ein Präzedenzfall geschaffen wird. Sie befürchtet, dies könne Debatten über Patente für Behandlungsmethoden anderer Krankheiten die Tür öffnen und zu Preisminderung bzw. Gewinn­einbußen führen. Selbst massive Kritik hat kein Um­denken hinsichtlich Patentregelungen bewirkt; bei­spielsweise fordern Ärzte ohne Grenzen und Oxfam Zwangs­lizenzen, um Preise für Gesundheitsgüter zu senken. Afrikanische Staatsoberhäupter äußerten in offenen Briefen die Bitte um Technologietransfer und einen Covid‑19-Patentpool – sie blieb ungehört.

Andererseits übernehmen Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Japan Teile der Finanzierung von Impfstoffentwicklung, ‑produktion und ‑verteilung für die Länder des Globalen Südens, wie es COVAX vorsieht. Die Impfstoffdosen für ihre eigenen Bevölke­rungen beziehen sie allerdings direkt von den Phar­ma- und Biotechnologieunternehmen, da sie Abnah­megarantien und Vorkaufsrechte verhandelt haben.

Der in Kooperation zwischen dem deutschen Bio­technologieunternehmen BioNTech und dem US-amerikanischen Pharmakonzern Pfizer entwickelte Impfstoff wird im Sommer 2021 in den USA und in Deutschland zugelassen. Die Verhandlungen dieser Unternehmen mit der WHO, der Impfallianz Gavi und der Coalition for Epidemic Preparedness Inno­vations (CEPI) scheitern mit der Folge, dass dieser Impfstoff vertraglich nicht Teil von COVAX wird. Mit diesem ersten zugelassenen, sicheren und wirksamen Impf­stoff werden daher zuerst die US-amerikanische und die deutsche Bevölkerung geimpft sowie die Be­völkerungen jener Länder, die sich bei diesen Unter­nehmen Vorkaufsrechte gesichert und Abnahme­garantien vertraglich geregelt haben.

Die EU gerät in eine heikle Lage: Sie muss entscheiden zwischen etablierter Praxis, Wirtschafts­interessen und globaler Solidarität.

Deutschland als ein Staat, der in der Außenpolitik intensiv für den Impfstoff als globales öffentliches Gut warb, verteilt ihn nun vorrangig an die eigene Bevöl­kerung. Die EU gerät in die unbequeme Lage, dass sie entscheiden muss zwischen etablierter Praxis, Wirt­schaftsinteressen ihrer Mitgliedstaaten und globaler Solidarität. Es kommt zu Verteilungskonflikten zwischen den EU-Staaten, den USA und Großbritan­nien, die in transatlantischen Handelsbeschränkun­gen münden. Die Afrikanische Union (AU) kritisiert das Vorgehen der EU und ihrer Mitgliedstaaten heftig und sieht das Versprechen globaler Solidarität gebro­chen. Die Hoffnung, mittels freiwilliger Lizenzierung den Zugang zu Impfstoffen auch für ärmere Länder zu gewährleisten, wird enttäuscht. Appelle der WHO an globale Solidarität werden ignoriert, wodurch sie in ihrer Rolle geschwächt wird. Schließlich tritt General­direktor Tedros Adhanom Ghebreyesus nach großem Druck afrikanischer Staaten von seinem Amt zurück.

Die traditionelle Marktlogik und die staatliche Kauf­kraft bestimmen über den Zugang zu einem Impfstoff, nicht aber Kriterien wie der Grad an Be­troffenheit, Vulnerabilitäten des Gesundheitssystems oder die Fähigkeit, Konflikte zu bewältigen. Die viel­versprechende Impfstoffsäule des ACT-Accelerators, COVAX, die die Versorgung mit Impfstoffen beschleu­nigen sollte, verfehlt damit ihren Zweck. Alte Vor­gehensweisen dominieren, erst spät wird der Über­schuss an lebensnotwendigen Gesundheitsgütern Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen über öffentlich-private Partnerschaften gespendet. Auf diese Weise manifestieren sich bestehende inter­nationale Abhängigkeiten und Machtverhältnisse.

Durch die etablierte Praxis der Vergabe von Rechten geistigen Eigentums wird zwar die Pharma­indus­trie zufriedengestellt, jedoch wird die Zahl der Impf­stoffproduzenten künstlich begrenzt. Dies hat zur Folge, dass die benötigte Menge an Impfstoffdosen nicht schnell genug produziert werden kann, um die globale Nachfrage bei steigenden Covid‑19-Fallzahlen zu decken. Während in reichen Staaten innerhalb weniger Monate mehr als 50 Prozent der Bevölkerung geimpft sind, haben Staaten südlich der Sahara keinen Zugang zu einem Impfstoff.

Szenario 2: Gerechter Zugang

Die Einhaltung von Kontaktbeschränkungen, neue Frühwarnsysteme und effizientere Test- und Melde­strategien führen dazu, dass die Covid‑19-Fallzahlen in der EU und in vielen anderen Staaten auf einem akzeptablen Niveau gehalten werden können. Der internationale Reise- und Handelsverkehr ist dadurch weitgehend möglich.

Die vom ehemaligen US-Präsidenten Trump aus­gelöste Krise der globalen Gesundheitsgovernance endet, als die Biden-Administration den Verbleib der USA in der WHO erklärt. Die 74. Weltgesundheits­versammlung im Mai 2021 nimmt die Empfehlungen des Independent Panel for Pandemic Preparedness and Response4 größtenteils an. Es wurde beauftragt, die weltweite Krisenbewältigung und die Rolle der WHO zu begutachten. Auch die von Frankreich und Deutschland eingebrachten Reformvorschläge finden Unterstützung, sogar bei der Biden-Regierung. So ver­doppeln und flexibilisieren die WHO-Mitgliedstaaten ihre Pflichtbeiträge an die Organisation und stärken das Mandat des WHO-Programms für Gesundheits­krisen. Die Internationalen Gesundheitsvorschriften (International Health Regulations, IHR),5 das bindende Regelwerk für die internationale Infektionskontrolle, werden reformiert. Die Mitgliedstaaten beschließen unangekündigte Inspektionen nationaler Gesundheitssysteme und Ausbruchsgeschehen. So kann die WHO bei Verdacht auf ein Ausbruchsgeschehen ohne Ankündigung Fachleute in Mitgliedsländer entsenden.

Sanktionsmöglichkeiten seitens der WHO bei Nichtbefolgung von WHO-Regeln lehnen die Mit­glieder jedoch weiterhin ab. Zu sehr befürchten China, Russland und die USA die Verletzung ihrer staatlichen Souveränität. Daher gewinnt die WHO zwar in einzelnen Programmen an Handlungs­möglichkeiten, aber nicht an Durchschlagskraft. Die Diskrepanz zwischen den Erwartungen der Mitgliedstaaten an die WHO und ihrer tatsächlichen Leistungsfähigkeit bleibt also bestehen. Dennoch können sich europäische Konzepte in WHO-Gremien und ‑Re­solutionen durchsetzen: Sie zielen darauf ab, öffent­liche Gesundheitssysteme auszubauen und sie be­darfs­gerecht und resilient zu gestalten, außerdem Gesundheit als öffentliches Gut sowie die Rolle der WHO als Wissenschaftsorganisation zu stärken.

Nachdem Deutschland und Kanada Zwangs­lizenzen für essentielle Impfstoffe und Behandlungs­methoden dauerhaft gesetzlich verankert haben, ziehen Frankreich, Italien und Großbritannien nach. In der EU werden neue Modelle und Rahmenbedingungen in der Gesundheitsforschung und der Ent­wicklung von Medizinprodukten diskutiert und er­probt, die sich nicht auf das etablierte Verfahren des Patentschutzes stützen. Um künftig hohe Preise für lebensnotwendige Gesundheitsgüter zu vermeiden, werden die Kosten für Forschung und Entwicklung von den Endpreisen essentieller Impfstoffe und Medi­kamente entkoppelt (Delinkage). Forschung und Ent­wicklung werden durch Forschungsprämien, öffent­lich-private Produktionspartnerschaften und sozial­verträgliche Lizenzierung so finanziert, dass die Verkaufspreise nur geringfügig über den Herstellungs­kosten liegen und die Produkte infolgedessen erschwinglicher werden.

Nach China und den EU-Mitgliedstaaten, die sich bereits seit Sommer 2020 an COVAX beteiligen, treten nun auch die USA bei. All diese Staaten haben ge­meinsam entschieden, über die Plattform Impfstoffdosen sowohl für die eigene Bevölkerung zu beziehen als auch für Länder mit weniger Finanzspielraum mitzufinanzieren. Für humanitäre Impfstoffkontingente wurde ebenfalls gesorgt. Zum Jahreswechsel 2020/21 wird der von BioNTech und Pfizer entwickelte Covid‑19-Impfstoff als erster Impfstoff gegen SARS-CoV‑2 zugelassen. Als Teil des von der WHO koordinierten ACT-Accelerators und seiner Impfstoffsäule COVAX6 erfolgt die weltweite Verteilung über einen durch COVAX festgelegten und gerechten Schlüssel.

Aufgrund der Verwendung von Patentpools und Technologietransfers im Rahmen von COVAX sind Produktionsstandorte in den USA, Japan, Frankreich, Deutschland, der Schweiz, Großbritannien und Indien in der Lage, den Impfstoff in großen Mengen schnell nachzuproduzieren. In Ländern mit schwachen Gesundheitssystemen wurde die Zeit genutzt, um Infrastruktur dort zu verbessern und zu schützen, wo eine sichere und gekühlte Verteilung des Impf­stoffes besonders schwierig ist. Gleichberechtigt erhal­ten alle Länder, die COVAX beigetreten sind, im ers­ten Schritt für 3 Prozent ihrer Bevölkerung den BioNTech/Pfizer-Impfstoff.

Um weltweit die gerechte Verteilung zu kontrol­lieren und mögliche Verteilungskonflikte zu mode­rieren, haben die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen (P5) mit Un­terstützung der WHO die neue Kontrollinstanz »Access2Health« geschaffen. Die italienische Präsidentschaft initiiert im Rahmen der G20 zusammen mit der EU, der AU und der WHO das Programm »Resilient One Health Systems – Achieving SDG 3«7. Hochrangige Politikerinnen und Politiker führen regel­mäßig Simulationen zur Reaktion auf Gesundheitskrisen durch, etwa während der Weltgesundheits­versammlung und der Gipfeltreffen der G20- und G7-Staaten.

Das Versprechen, einen Impfstoff als globales öffent­liches Gut auf der ganzen Welt gerecht und zügig zu verteilen, wird eingelöst mit Hilfe einer brei­ten Allianz von Staaten mit und ohne eigene Produk­tionskapazitäten sowie mit tatkräftiger Unterstützung durch die EU. Am 21. November 2022 verkündet der wiedergewählte WHO-Generaldirektor Dr. Tedros, 65 Prozent der Weltbevölkerung seien nun gegen das neuartige Coronavirus geimpft.

Empfehlungen

Um den Zugang zu einem Impfstoff als globales öffent­liches Gut zu gestalten, müssen jetzt die Weichen gestellt, die passenden Instrumente gewählt und wei­ter­entwickelt werden. Dazu zählen unter anderem:

  • Die Stärkung der WHO sollte für die deutsche glo­bale Gesundheitspolitik oberste Priorität haben. Notwendig sind dafür die Begleitung des IHR-Re­formprozesses, die Bereitschaft, die Pflichtbeiträge zu erhöhen, sowie weitere Entsendung und Nachwuchsförderung.

  • Um durch die COVAX-Plattform einen gerechten Zugang sicherzustellen und Solidarität zu beweisen, könnte Deutschland erstens die eigenen be­reits verhandelten Abnahmegarantien und gesicherten Vorkaufsrechte mit Pharma- und Biotechnologieunternehmen in die COVAX-Plattform über­führen, zweitens bei den G20 für ein vergleich­bares Verhalten werben.

  • Eine Sonderinitiative, zum Beispiel in Form einer »Coalition for Resilient Health Systems – Build Back Better after Covid‑19«, könnte zusammen mit der EU und der WHO Gesundheitssysteme umfassend stärken.

  • Bei allen Entscheidungen zur Impfstoffentwick­lung, ‑beschaffung und ‑verteilung sollte geprüft werden, ob die Anschlussfähigkeit an eine euro­päische und globale Verteilung gegeben ist.8

Marianne Beisheim / Susanne Dröge

Klar zur Wende? Internationale Klima- und Nachhaltigkeitspolitik gestalten

Die Covid-19-Pandemie bremst die Klima- und Nach­haltigkeitspolitik merklich. Obwohl die Folgen des Klimawandels, beispielsweise die Waldbrände in den USA oder Dürren in Europa, weiterhin eine hohe mediale Präsenz haben, sind die Verhandlungen zur Umsetzung des Pariser Abkommens ins Stocken gera­ten. Die Gespräche über das Regelbuch des globalen Klimaabkommens sollen auf der 26. Vertragsstaaten­konferenz (COP26) abgeschlossen werden, die aber erst mit einem Jahr Verspätung stattfinden kann. Ein Blick auf die Daten zu den Zielen für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) macht deutlich, dass es teils noch langsamer voran­geht (beispielsweise bei SDG 4: Hochwertige Bildung) und auch Rückschritte zu verzeichnen sind (SDG 1 Keine Armut, SDG2: Kein Hunger). Auf politischer Ebene zeigt das Scheitern der Verhandlungen über eine Ministererklärung des Hochrangigen Politischen Forums für nachhaltige Entwicklung (HLPF) im Juli 2020, dass Begriffe wie »Green Recovery« oder »De­carbonization« aktuell nicht konsensfähig sind.

Dieses »Lahmen« der internationalen Klima- und Nachhaltigkeitspolitik ist fatal, müssen doch für das als kritisch deklarierte Zieljahr 2030 zügig die Wei­chen gestellt werden. Dies gilt insbesondere für die 2030-Agenda für nachhaltige Entwicklung und die SDGs, aber auch für die Klimapläne der Europäischen Union (EU). Die Bundesregierung und die EU müssten also schleunigst nachlegen, um die selbstgesteckten Ziele bis 2030 zu erreichen und die dazu erforderliche inter­nationale Kooperation voranzubringen.

Zwei Szenarien: Die Welt im Jahr 2030

Anhand von zwei Szenarien für 2030 lässt sich illus­trieren, wie es aussehen könnte, wenn entweder »Alle an Deck« kämen, um sich für wirksamem Klimaschutz und nachhaltige Entwicklung einzusetzen, oder aber Deutschland und die EU »Allein im Sturm« stünden.

Szenario »Alle an Deck« – Im Jahr 2030 sind viele SDGs nahezu erreicht. Beim Klimaschutz gibt es große Fortschritte, bis auf wenige Ausnahmen berich­ten die UN-Mitgliedstaaten regelmäßig, wie im Pariser Abkommen vereinbart, und bessern ihre nationalen Ziele nach. Wichtiger Wendepunkt war die Initiative, die US-Präsident Joe Biden im Jahr 2021 zur Stärkung der multilateralen Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Pandemie gestartet hatte. Bei vielen UN-Mit­gliedstaaten hatte sein Vorstoß die Erkenntnis gefes­tigt, dass sie letztlich mehr davon profitieren werden, wenn sie mit anderen Staaten in die gleiche Richtung arbeiten. In der Folge setzten sie sich für eine bessere Koordination von Politiken und eine ausreichende Finan­zierung multilateraler Anstrengungen ein.

Die Europäische Union konnte in diesem positiven Umfeld Kernelemente ihres über 50 Projekte umfas­sen­den Green Deals erfolgreich umsetzen.1 Das Ziel von minus 55 Prozent Treibhausgasemissionen wird erreicht. Darüber hinaus realisierte die EU in der ver­gangenen Dekade Pilotprojekte, die die Machbarkeit des für 2050 ausgerufenen Ziels der Klimaneutralität erweisen. So ist es inzwischen möglich, »grünen« (klimaneutralen) Stahl zu wettbewerbsfähigen Pro­duktionskosten herzustellen, ein Resultat der EU-weiten Wasserstoffoffensive.2 Zudem ist es gängige Praxis, dass die Union und ihre wichtigen Handelspartner den jeweiligen Marktzugang für nachhaltig und klimafreundlich produzierte Waren erleichtern. Klimafreundliches Planen und Produzieren hat sich in den Geschäftsmodellen der Finanzinstitute und des über­wiegenden Teils der Unternehmen etabliert. Die Kreis­laufwirtschaft hat einen Anteil von über 50 Pro­zent am Ressourcenumsatz erreicht. Die Investitionsstimmung in der EU für weitere umwelt- und klima­schonende Projekte ist positiv, da der Markt dafür ständig wächst. Erwartet wird, dass die EU über Tech­nologien zur Entnahme von CO2 ihre weiteren Klima­ziele sogar übererfüllen könnte.

Szenario 2 »Allein im Sturm« – Im Jahr 2030 sind die SDGs und die Prozesse des Pariser Abkommens nur noch Makulatur. Die UN ist schwächer denn je. Auf­grund ihrer inneren politischen Spaltung sind die USA weitgehend mit sich selbst beschäftigt, die poli­tische Aufmerksamkeit für globale Güter ist gering.3 Andere Mitgliedstaaten konnten oder wollten den damit verbundenen Ressourcenverlust nicht kom­pensieren. Auch in Europa erschwerte es die anhal­tende interne Uneinigkeit der EU, in New York posi­tive Impulse zu setzen. Die in der 2030-Agenda und im Pariser Abkommen festgelegten Prozesse werden nur noch von wenigen Staaten befolgt. Die großen Ver­schmutzerstaaten können ihre nationalen Interessen verfolgen, ohne dass sie Widerstände erwarten müs­sen. 2021 und 2022 enttäuschte die EU viele Entwicklungsländer, weil sie ihnen keine zusätzliche Unter­stützung für die Umsetzung der Ziele gewährte. An­gesichts der massiven Vertrauenskrise scheiterten auch alle Anläufe, Post-2030-Zielkataloge zu etablie­ren. Das Klimaregime ist 2030 vor allem ein Nebenschauplatz der verschärften Verteilungskämpfe um Ressourcen. Einige Länder hatten sich in der letzten Dekade an plurilateralen Club-Lösungen versucht, aber jenseits von Absichtserklärungen war keine kri­tische Masse handlungswilliger und ‑fähiger Staaten zusammengekommen.

Die EU hält zwar am Green Deal fest, aber wegen der fehlenden internationalen Hebelwirkung sind die Fortschritte bescheiden. Auch innerhalb Europas kann der Green Deal kaum Erfolge verbuchen. Zen­trale Vorhaben sind in Anbetracht leerer Kassen vertagt, unter anderem die EU-weite Wasserstoff­offensive. Das Vertrauen in eine EU-weite Solidarität ist gering. Die Energiepolitik ist geopolitisch deter­miniert, viele EU-Staaten setzen auf althergebrachte Konzepte der Versorgungssicherheit. Die Entkoppelungs- und Autarkiebestrebungen wichtiger Handelspartner haben dafür gesorgt, dass den EU-Unterneh­men überregionale Marktzugänge fehlen. Aus Wett­bewerbsgründen liegt das Vorhaben auf Eis, die CO2-Preise stetig steigen zu lassen. Aufgrund der Ent­kopp­lung von wichtigen Rohstoffmärkten hat die Kreis­laufwirtschaft zwar einen Anteil von gut 30 Prozent am Ressourcenumsatz erreicht, international nicht nachhaltige Lieferketten werden aber in Kauf genom­men. Die Investitionsstimmung in der EU für weitere umwelt- und klimaschonende Projekte ist negativ.

Jenseits dessen wäre ein »Business As Usual«-Szenario denkbar, bei dem Deutschland und die EU ab 2021 zwar keine zusätzlichen wirkmächtigen Maßnahmen ergreifen würden, aber auch nicht hinter die bisheri­gen Pläne zurückfielen. Dies würde nicht ausreichen, um längerfristige Impulse in Richtung USA und China zu senden oder auch zahlreiche weitere Länder mitzuziehen. Was also könnte die Bundesregierung 2021 tun, um die deutschen und EU-weiten Vorhaben in der Klima- und Nachhaltigkeitspolitik so zu för­dern, dass international möglichst viele mit an Deck kommen? Und welche Signale sollten vermieden werden, damit Deutschland und die EU nicht »allein im Sturm« manövrieren müssen?

Hebel für eine nachhaltige Wirtschaftsordnung ansetzen

Die internationale Lage wird 2021 weiterhin von pandemiebedingten Un­sicher­heiten geprägt sein. Wegen der Folgen der Gesundheitskrise wird die Agenda von kurzfristigen politischen Zwängen be­herrscht; 2021 sollte die Bundesregierung aber wieder stärker Kosten-Nutzen-Analysen mit einem längeren Zeithorizont in den Blick nehmen. Rufe nach einer resilienten, sozialverträglichen und die Versorgung sichernden Wirtschaftsordnung wurden bereits laut. Die Klima- und Nachhaltigkeitsagenden enthalten wichtige Bausteine für eine solche Ordnung. Vorhaben des Green Deal zielen etwa darauf, den Umgang mit natürlichen Ressourcen auf Kreisläufe auszurichten, was nicht nur die Umwelt weniger belasten würde, sondern auch sozialverträglicher und krisenfester wäre. Auch das Lieferkettengesetz sollte entsprechend weiterentwickelt werden. Die Wasserstoffstrategien der EU und Deutschlands könnten als Vorzeigeprojekte internationale Signalwirkung entfalten, wenn es gelänge, diese im Jahr 2021 schneller umzusetzen. Hier­für sollte eine Zusammenarbeit mit Angebots­ländern vorangetrieben werden, bei der die klimafreundliche Erzeugung von Wasserstoff und dessen Transport im Mittelpunkt stehen. Dies könnte unter anderem mit Hilfe langfristiger Verträge gelingen.4

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler halten ambitionierte, rasche und kohärente Politikwenden für unumgänglich, sollen die Klima- und Nachhaltigkeitsziele erreicht werden.5 Die Bundesregierung und die im Wahlkampf stehenden Parteien sollten 2021 dem Drängen widerstehen, beim Umgang mit den Folgen der Pandemie auf vermeintlich »bewährte« Silo-Politiken zurückzufallen oder auf Wachstum durch Ressourcenverbrauch zu setzen. Stattdessen sollten die Mittel der Corona-Hilfspakete konsequent mit Klima- und Nachhaltigkeitszielen verknüpft wer­den. Dies würde die intergenerationale Gerechtigkeit erhö­hen, denn so würde die Generation, denen diese Schulden aufgebürdet werden, von den Investitionen auch profitieren. Auf die Bedeutung der intragenerationalen Gerechtigkeit inmitten der Pandemie hat der UN-Generalsekretär hingewiesen: Wir säßen eben nicht in einem Boot – zwar trieben wir alle auf dem­selben Meer, aber einige in Superjachten, während andere sich an schwimmende Trümmer klammern müssten.

In New York überzeugen

Die Bundesregierung sollte 2021 deutlich stärkere Akzente setzen, um international als Zugpferd in der Klima-und Nachhaltigkeitspolitik glaubwürdig zu sein. Besonders wichtig ist dies im Juli, wenn Deutsch­land den zweiten Bericht zur Umsetzung der SDGs beim HLPF in New York präsentieren wird.6 Dies ist eine Chance, die internationale Debatte über Wege aus der Krise mitzugestalten. Das wird aber nur Aus­sicht auf Erfolg haben, wenn Deutschland auf über­zeugende eigene Anstrengungen verweisen kann. Dafür müsste es der Bundesregierung gelingen, bei der Weiterentwicklung der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie 2021 Maßnahmenpakete zu schnüren, die eine entschiedene Transformation hin zu nachhaltiger Entwicklung ermöglichen und sowohl den Her­aus­forderungen gerecht werden als auch die Folgen und Lehren aus der Pandemie schlüssig aufnehmen. Im Entwurf der Strategie werden für Deutschland sechs Transformationsbereiche identifiziert, in denen Fortschritte besonders relevant seien, nämlich Ener­gie­wende und Klimaschutz, Kreislaufwirtschaft, nach­haltiges Bauen und Verkehrswende, nachhaltige Agrar- und Ernährungssysteme, schadstoff­freie Um­welt und schließlich menschliches Wohlbefinden, Fähigkeiten und soziale Gerechtigkeit. Die bislang genannten Maßnahmen sind jedoch nicht geeignet, kohärente Wendemanöver mit internationaler Signal­wirkung zu vollziehen.

Die Bundesregierung könnte auch ausloten, welche Transformationsbereiche bei ihren internationalen Partnern auf Interesse stoßen, um dann um Verbündete für gemeinsame Initiativen zu werben. Grundsätzlich sollten solche Koalitionen der Willigen mit Angeboten an die Partner verbunden sein, wie etwa eine Ko­operation bei technologischen Innovationen oder ein privilegierter Marktzugang. Deutschland sollte sich gezielt dafür einsetzen, entsprechende stra­tegische Überlegungen in der EU-Koordination in New York aufs Tapet zu bringen und zu fördern, um die von der UN ausgerufene Aktionsdekade rasch mit Leben zu erfüllen.

Klimadiplomatie hochfahren

Die pandemiebedingten finanziellen Unsicherheiten werden 2021 ein großes Hemmnis sein bei allen Bemü­hungen, die Weichen in der Klimapolitik auf Kooperation zu stellen. Auch deshalb ist es notwendig, dass die britische und italienische Leitung der COP26 in Glasgow und des G7- (Großbritannien) bzw. G20-Gipfels (Italien) durchsetzungsstark auftritt. Deutschland und die EU sollten ihre Klimadiplomatie noch intensiver betreiben und zusammen mit Groß­britannien 2021 einen werbenden und zugleich for­dern­den Ton gegenüber den Nachzüglern anstimmen. Der Wahlsieg Bidens bringt es mit sich, dass die EU und Deutschland der neuen US-Administration zügig zurück ins Boot helfen können, ebenso den klima­politisch unentschlossenen Ländern. Mittelfristig sollte dann vor allem ein »Race to the top« für klima­schonende Technologien initiiert werden.

Flankierend zur Allianz für den Multilateralismus soll­ten Deutschland und die EU erwägen, weitere Clubs zu etablieren, um dauerhaft jene Länder bei der Stange zu halten, die den USA folgen würden, sollten diese erneut den Rückzug antreten wollen. Immerhin ist es nicht auszuschließen, dass in vier Jahren der »Trumpism« in die US-Außenpolitik zurückkehrt und die EU auf lange Sicht »allein im Sturm« steht. Um diesem Szenario zu begegnen, sollte bereits 2021 mit größerer Intensität die Idee verfolgt werden, eine proaktive Gruppe wirtschaftlich stärkerer Länder zu bil­den. Aus der Riege der G20 müssten Australien, Indien, Japan, Kanada, Mexiko, Südafrika und Süd­korea angesprochen werden. Weitere mittlere und kleine Staaten wie Chile, Marokko oder Neuseeland kämen ebenfalls in Frage. Attraktive Projekte wie der Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft (siehe oben) oder handels­politische Initiativen könnten dabei helfen, das Inter­esse an klimapolitischer Zusammenarbeit zu ver­stetigen.

Sys­te­mische Krisen fordern extreme Kosten, wenn man nicht rechtzeitig handelt – diese Einsicht könnte durch Corona wachsen.

Schon jetzt ist die Reform des klimapolitischen Instrumentenkastens der EU (»Fit for 55« mit grü­nen Investitionsregeln, CO2-Bepreisung, Wasserstoff­offensive, Energiepolitik) ein Signal in Richtung USA und anderer Handelspartner. Die Europäische Union wird damit als wichtiger Markt und Akteur in inter­nationalen Organisationen (OECD, IWF, Weltbank, WTO) eine Marschroute vorgeben. Deutschlands Rolle sollte sein, die gesetzgeberischen Grundlagen der Hauptprojekte des European Green Deal mit voran­zubringen. Starke diplomatische Signale gehen vom Vorhaben der Europäischen Kommission aus, die Wettbewerbsnachteile europäischer Unternehmen an­gesichts stei­gender Kosten für CO2-Emissionen an den EU-Grenzen mit einem Ausgleichsmechanismus abzufedern. Die Einführung eines CO2-Preises auf importierte Güter energieintensiver Branchen, wie Stahl oder Zement, wäre für die in Corona-Zeiten besonders strapazierten Außenwirtschaftsbeziehungen ein Stress­test. Die Maßnahme könnte aber ein Hebel für mehr klimapolitische Zusammenarbeit sein. Hier sollte das diplomatische Engagement ansetzen.

Pandiemieerfahrungen nutzen – Wendemanöver bewerben

Die Bundesregierung und die EU sollten das Jahr 2021 nutzen, um mit den oben genannten Maßnahmen Impulse für die nächste Dekade zu setzen. Der Green Deal hat, ebenso wie die nachhaltige Ausgestaltung der Konjunkturpakete, für die positive Beeinflussung des internationalen Umfelds in der Phase bis 2030 einen hohen Signalwert. Im weiteren Verlauf der Pandemie könnte die Einsicht wachsen, dass syste­mische Krisen extrem hohe Kosten verursachen, wenn nicht rechtzeitig und umfassend gehandelt wird. Die Reaktionen in Deutschland und Europa zeigen, dass eine gesellschaftliche Unterstützung für drastische Veränderungen und Eingriffe des Staates möglich ist, dass sich Chancen für eine ernsthafte Bearbeitung kritischer Zukunftsthemen wie Digitalisierung und Bildung auftun. Die Bundesregierung könnte auf diesen Erfahrungen aufbauen und für gemeinsame Wendemanöver in der Klima- und Nach­haltigkeitspolitik werben. Dafür sollte sie im Innern wie in den Außenbeziehungen ein Narrativ nutzen, das menschliche Sicherheit und Wohlfahrt in den Mittelpunkt stellt, und verdeutlichen, wie wichtig dafür der Schutz globaler Güter ist.

Melanie Müller

Versorgungssicherheit: Marktdynamiken und Machtverschiebungen einplanen

Die Covid-19-Pandemie und der von ihr verursachte Einbruch des globalen Handels haben in verschiedenen Weltregionen eine Debatte über Abhängigkeiten von globalen Lieferbeziehungen entfacht. Mittler­weile deuten sich geographische Machtverschiebungen in Lieferketten an. Noch ist ungewiss, wie sich diese Verschiebungen entwickeln werden, doch fest steht, dass politische Entscheidungsträger darauf Einfluss nehmen können. Für politische Akteure in Europa bietet sich eine Gelegenheit, neue Konzepte von Versorgungssicherheit zu entwerfen, die nicht nur den Zugang zu Gütern sicherstellen, sondern auch ein neues Verständnis der Resilienz von Liefer­ketten definieren, auch über die Herausforderungen der Pandemie hinaus. Gemeinsam mit den Partnern des Globalen Südens können Ansatzpunkte erarbeitet werden, um Handelsbeziehungen mittelfristig diver­ser und nachhaltiger zu gestalten. Auf diese Weise ließen sich die Partnerländer besser in Lieferketten einbinden und die regionale Wertschöpfung steigern.

Covid-19: Geographische Verschiebungen in Lieferketten

Als zu Beginn der Covid-19-Pandemie medizinische Schutzausrüstung knapp wurde, offenbarte sich, dass zahlreiche Regierungen in der akuten Phase des Lock­downs keinen gesicherten Zugriff auf essentielle Pro­dukte hatten. Dieser Missstand und Engpässe bei der Versorgung mit nichtessentiellen Gütern haben eine Diskussion über strategische Güter, Produktions­zweige, Versorgungswege und Bevorratung in Gang gesetzt, sowohl in der EU als auch in Ländern des Globalen Südens. Forderungen, welche diese Debatte in der EU prägen,1 reichen von »Nearshoring« und »Reshoring« – also die Zulieferung aus weiter ent­fernten Ländern in die unmittelbare Nachbarschaft zu verlagern oder zurück in das Land, aus dem sie ursprünglich ausgelagert worden war – bis hin zur Entkopplung bestimmter Märkte (»Decoupling«) und innerer Diversifizierung von Lieferketten. Redundante, also zusätzliche Zulieferstrukturen sollen solche internationalen Vernetzungen resilienter machen und damit ihre Funktionsfähigkeit gewährleisten. Verstärkt fordern Akteure in der EU eine strategische Autonomie in kritischen Produktionssektoren.2

Eine Projektionsfläche für diese Überlegungen ist China. Es bildet einen Knotenpunkt internationalen Handels und transnationaler Lieferketten und wird deshalb als Risikofaktor betrachtet. Dies zeigte sich etwa an den Versorgungsengpässen nach dem Lock­down in der Provinz Wuhan. Einige Länder haben bereits konkrete Schritte unternommen, um ihre Abhängigkeit von China zu reduzieren. Die Regierung in Tokio beispielsweise unterstützt Firmen finanziell, die ihre Produktion nach Japan zurückverlagern.3 Auch europäische Unternehmen versuchen, zumindest Teile ihrer Produktion wieder in der EU anzusiedeln. Mittelfristig deuten sich geographische Macht­verschiebungen in Lieferketten an. Sie haben zum Ziel, einseitige Abhängigkeiten zu verringern und damit Risiken für die eigenen Länder oder Regionen zu reduzieren. Bislang ist nicht abzuschätzen, was dies für die Rolle Chinas als wichtigstes Zentrum glo­baler Lieferbeziehungen bedeutet. Absehbar ist aber eine stärkere Verschiebung hin zu regionaler Diver­sität, so dass auch andere Regionen größere Bedeutung in Lieferketten haben werden und Chinas Macht in diesem Bereich wahrscheinlich abnehmen wird.

Covid-19 als Chance für mittelfristige Veränderungen von Lieferketten

Die Ausgangsbedingungen für Veränderungen von Lieferketten sind nicht in allen Weltregionen gleich. Viele Länder in Afrika oder Lateinamerika verfügen kaum über weiterverarbeitende Industrie und sind daher nur am Rande in weltweite Lieferketten ein­bezogen. Deswegen sind sie in hohem Maße abhängig von Importen und Exporten, ein Decoupling ohne eigene zusätzliche Industrialisierung ist ihnen daher nur schwer möglich. In der Afrikanischen Union (AU) beispielsweise wurde der für Juli 2020 geplante Start der Panafrikanischen Freihandelszone (AfCFTA) wegen der Pandemie verschoben. Das hat eine inten­sive Diskussion ausgelöst. Unterstützt durch regionale Industrialisierungsstrategien könnte es afrikanischen Ländern gelingen, die Abhängigkeiten vom Weltmarkt zu verringern und somit regionale Wertschöp­fung zu fördern, argumentieren Befürworter der Frei­handelszone.4

Dazu müsste in etlichen Ländern die lokale und teilweise auch die regionale Infrastruktur ausgebaut werden. Verhindert wird dies jedoch bis auf Weiteres durch die Schuldenkrise, die sich vielerorts aufgrund von Covid-19 noch verschärft.5 Kurzfristig ist ein kom­pletter Umbau der Lieferbeziehungen weder realis­tisch noch ökonomisch sinnvoll, da sich wirtschaftlich starke Länder, oft gefördert von der Politik vor Ort, als geopolitische und ökonomische Machtzentren etabliert haben. Seit dem Ausbruch der Pandemie lassen sich indes Machtverschiebungen in globalen Lieferketten beobachten: Weil unter anderem die Produktion in manchen Bereichen zum Erliegen kam und das Transportwesen zeitweise einbrach, hat sich das Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage ver­ändert. Die Folge waren Schocks sowohl auf der Ange­bots- als auch auf der Nachfrageseite.

Gleichzeitig entstehen aus dieser Lage für Regierungen im Norden und im Süden aber auch Möglichkeiten für gemeinsames Gestalten. Mit Blick auf die Diver­sifizierung von Lieferketten und die Versorgungs­sicherheit ist es angezeigt, einen gründlichen Analyse- und Diskussionsprozess zu starten. Es geht darum, die spezifische Situation verschiedener Roh­stoffe, Sektoren und Versorgungsgüter unter die Lupe zu nehmen. Das schließt deren Marktsituation, die Organisation von Produktions-, Verarbeitungs- und Vertriebsstrukturen ebenso ein wie die Akteure, die in die jeweiligen Lieferketten eingebunden sind. Ein Ziel muss sein, gemeinsam Defizite in der Resilienz der jeweili­gen Lieferketten zu identifizieren. Ins­gesamt ist eine differenzierte sektor- und rohstoff­bezogene Perspektive sinnvoll, die Faktoren wie das Vorkommen von Rohstoffen und ihre materielle Beschaffenheit, aber auch ihre Wiederverwertbarkeit berücksichtigt.

Sektor- und rohstoffbezogene Chancen identifizieren

Chancen für die Veränderungen von Lieferketten lassen sich am Handel mit metallischen Rohstoffen verdeutlichen. Sowohl die EU, die stark vom Roh­stoff­import abhängt, als auch Rohstoffe fördernde Länder können Lieferbeziehungen konkret gestalten. Kurz­fristig wird es darum gehen müssen, den Handel und die Lieferbeziehungen zu stabilisieren, da der gegen­wärtige Einbruch auch für die Förderländer negative ökonomische Folgen hat. Staaten, die in hohem Maße von Exporten metallischer Rohstoffe abhängig sind, wurden von dem Handelseinbruch besonders hart getroffen.6 Deswegen dehnten einige von ihnen, wie zum Beispiel Südafrika, ihre Lockdowns nur teilweise auf den Berg­bausektor aus, um den Betrieb nicht gänzlich einstellen zu müssen.7

Um die Abhängigkeit vom Rohstoffimport zu ver­ringern, kann es mittelfristig für die EU ein Ansatzpunkt sein, geschlossene Rohstoffkreisläufe zu schaf­fen, denn einige metallische Rohstoffe wie beispielsweise Kupfer können bis zu 90 Prozent recycelt wer­den. Zwar würde eine schnelle Erhöhung der Recyc­lingquote in der EU nicht dazu beitragen, die geschätz­ten Bedarfe in den kommenden Jahrzehnten zu decken. Doch dürften Recycling und Urban Mining – die Rohstoffgewinnung im urbanen Raum8 – als wichtige Elemente der angestrebten Kreislaufwirtschaft auch im Rahmen des European Green Deal9 bedeutsamer werden, mit dem die Netto-Emissionen in der EU bis 2050 auf null gesenkt werden sollen. Im Globalen Süden kann die Wertschöpfung im Roh­stoff­sektor gesteigert werden, wenn die erste Ver­arbeitung bis hin zum Schmelzprozess (zumindest regio­nal) näher an den Abbau verlagert und auf diese Weise regionale Wirtschaftsentwicklung gefördert wird. Hier können die Disruptionen durch die Pan­demie, die womöglich noch länger anhalten, eine Chance sein, notwendige Strategien für industrielle Produktion weiterzuentwickeln.

Risiko, Resilienz, Verwundbarkeit – für solche Begriffe lässt sich durch Corona ein tieferes Verständnis gewinnen.

Auch sollten negative externe Effekte des Rohstoffs­ektors mitbedacht werden. Nicht eingepreist in die Produktion zum Beispiel sind nämlich Kosten für den Transport, der wiederum Auswirkungen auf den CO2-Ausstoß hat. Die fehlende Umsetzung von Um­welt- und Sozialstandards verursacht unmittelbare Kosten für Personen, die von den negativen Folgen der Rohstoffgewinnung betroffen sind. Zudem wirkt sie sich auf die Produktionsprozesse aus. Streiks oder Proteste im Bergbausektor bringen Produktionsabläufe ins Stocken. Das bedeutet unmittelbare Kosten für die Unternehmen. Aber auch die betroffenen Staaten werden in Mitleidenschaft gezogen, weil ihnen Devi­sen entgehen. Für die Beseitigung von Umweltschäden wie die Verschmutzung von Wasser oder Boden muss häufig der Staat aufkommen. Hier entstehen also gesamtgesellschaftliche Kosten.10 In die Gewinn­berechnungen fließen solche Aspekte nicht ein, ob­wohl Studien zeigen, dass die negativen externen Fol­gen etwa des Bergbaus besonders schwerwiegend sind.

Neue Konzepte von Versorgungssicherheit

Aus diesen Befunden lässt sich schließen, dass die Bedeutung globaler Versorgungssicherheit spätestens jetzt neu bedacht werden muss. Prävention und Scha­densminderung für den Fall einer eingeschränkten Versorgungsleistung gilt es gleichzeitig in den Blick zu nehmen. Das Verständnis von Begriffen wie Risiko, Resilienz und Verwundbarkeit, über die gerade inten­siv diskutiert wird,11 kann nun angesichts der neuen Erfahrungen mit einer Pandemie, aber auch vor dem Hintergrund anderer Herausforderungen weiter­entwickelt werden.

In nächster Zeit stehen vielfältige Abstimmungs- und Entscheidungsprozesse an, sowohl auf unternehmerischer als auch auf politischer Ebene: Wie soll das Verhältnis von Staat und Markt neu aus­gehandelt werden? Wie lässt sich ein Gleichgewicht zwischen Effizienz und Sicherheit herstellen? Wie können Nachhaltigkeitspolitik und konjunkturelle Wieder­belebung in einer neuen Industriepolitik aufeinander abgestimmt und miteinander in Einklang gebracht werden? Welche Möglichkeiten haben (rohstoffreiche) Länder im Globalen Süden, davon zu profitieren?

Noch ist die Politik vorrangig damit beschäftigt, die Krise und ihre Folgen zu meistern, zumal nicht abzusehen ist, in welchem Zeitraum die akuten Her­ausforderungen überhaupt zu bewältigen sind. Doch auch in Europa müssen die politischen Akteure eine Diskussion über die zukünftigen Wege führen, wenn wichtige Weichenstellungen zwischen Marktdynamiken und Machtverschiebungen nicht verpasst werden sollen. Für die anstehende Debatte lassen sich fol­gende Ansatzpunkte neuer Konzepte transnational gedachter Versorgungssicherheit und ihrer Governance identifizieren:

Wenn es um Versorgungssicherheit geht, muss immer das internationale und regionale Umfeld mitbedacht werden. Rein nationale Denkmuster erweisen sich angesichts der inter­national verknüpften Märkte als inadäquat.

Das deutsche und europäische Verhältnis zu macht­vollen Akteuren wie China wird nicht nur politisch definiert, sondern auch durch eine Fülle von Aus­tauschbeziehungen. Zudem spielt hinein, dass viele Länder im Globalen Süden wirtschaftlich und poli­tisch eng mit China verwoben sind. Ohne exorbitante Kosten sind diese internationalen Marktdynamiken nicht kurzfristig umkehrbar. Es gilt, gemeinsame euro­päische Antworten zu finden, denn fatal wäre es, wenn die europäischen Positionen und Ansätze zur Versorgungssicherheit weiter auseinanderdrifteten.

Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, die Ver­sorgungssicherheit verschiedener Weltregionen zu gewährleisten: Lieferketten können sowohl im Up­stream- als auch im Downstream-Bereich regionaler angelegt werden, was eine Reihe von Ländern des Globalen Südens ohnehin anstrebt. Darüber hinaus lassen sich manche Regionen besser in transnationale Lieferketten einbinden. Die EU muss hier eigene Kon­zepte entwickeln, sollte aber auch andere Weltregionen beim Aufbau einer gesicherten Versorgung mit essentiellen Gütern unterstützen. Auf diese Weise ließen sich gravierende Versorgungsengpässe ver­meiden, die finanzielle Unterstützung für die davon Betroffenen erfordern würden. Außerdem können Governance-Strukturen, die Nachhaltigkeits- und sozioökonomische Kriterien einbeziehen, entlang von Verarbeitungs- und Wertschöpfungsketten spezifi­scher Rohstoffe angepasst werden. Langfristig hegt Governance Risiken ein, kurzfristig schafft sie mehr Transparenz.

Versorgungssicherheit ist als Ziel sinnvoll, aber für Deutschland und Europa nur jenseits kurzsichtiger protektionistischer Reaktionen denkbar. Auch die Relokalisierung, also die Ver­legung von Lieferketten – in diesem Fall in die EU –, ist nur in gewissem Maße hilfreich, und wenn, dann jeweils bezogen auf spezifische Produkte und Gütergruppen. Allerdings müsste zunächst geklärt werden, ob und inwiefern sie strategischen Charakter haben.

Bei der strategischen Planung ist es wichtig, in varia­blen Zeithorizonten zu denken. Die Vorlaufzeiten bei verschiedenen Gütern wie Rohstoffen sind extrem lang, so dass sich ein abgestuftes Vorgehen in einer kurz-, einer mittel- und einer langfristigen Dimension anbietet. Da Spezifika von Sektoren mitberücksichtigt werden müssen, helfen keine One-Size-Fits-All-Ansätze, sondern nur sektorbezogene Analysen.

Für politische Entscheidungen ist es zudem nötig, ein erweitertes Verständnis der Resilienz von Liefer­ketten zu entwickeln. Über die Erwartung an die Stabi­lität von Lieferbeziehungen hinaus müssen dabei verschiedene Dimensionen von Nachhaltigkeit mitbedacht, die menschenrechtlichen Folgen ein­bezogen und diese auch vor dem Hintergrund der negativen externen Effekte betrachtet werden. Ein solches Verständnis bietet Möglichkeiten, Produk­tionsbedingungen weltweit nachhaltiger zu gestalten und zu helfen, Lieferbeziehungen resilienter zu machen.

Gerade längerfristige Planungshorizonte eröffnen Chancen, Staaten im Globalen Süden gezielt in ihrer Fähigkeit zu unterstützen, Standards umzusetzen. Da­mit ließe sich besser verhindern, dass wegbrechende Lieferbeziehungen kurzfristige negative Folgen zeiti­gen. Um zu tragfähigen Lösungen zu gelangen, müs­sen Politik und Wirtschaft bald den Dialog mit ihren Partnern, aber auch untereinander aufnehmen.

Europa und sein Umfeld

Peter Becker / Kai-Olaf Lang / Barbara Lippert / Paweł Tokarski

Die Pandemie und die EU: Integrations­impuls mit ungewisser Wirkung

Die Covid-19-Pandemie und die von ihr ausgelöste Rezession verursachen hohe ökonomische und soziale Kosten in der gesamten Europäischen Union. In dieser Ausnahmesituation konnten die 27 Mit­gliedstaaten ihre politischen Gegensätze überwinden und sich auf ein Konjunkturpaket einigen, dessen Umfang in der EU-Geschichte beispiellos ist und das durch gemeinsame Schuldenaufnahme finanziert wird. Damit haben die Mitgliedstaaten zumindest vor­übergehend ihre teils erheblichen Positionsdifferenzen überbrückt und Handlungsfähigkeit demonstriert. Allerdings zeigen alle Analysen und viele Pro­gnosen, dass die Mitgliedstaaten und einzelne Wirt­schaftszweige unterschiedlich stark von der Pandemie und deren sozioökonomischen Folgen getroffen wur­den und werden. Das kann trotz des aktuellen Impul­ses für einen stärkeren Zusammenhalt neue Unwuchten und Ungleichzeitigkeiten im Integrationsprozess erzeugen. Darauf muss die Politik reagieren.

Chancen für Reformen

Der politische Kalender und die zeitliche Koinzidenz der Pandemie-Krise mit den europäischen Haushaltsverhandlungen gaben der EU die Möglichkeit, mit grundsätzlichen Veränderungen und Reformen effek­tiv auf die neue Lage zu reagieren. Diese Chance hat sie genutzt. Falls der Mehrjährige Finanzrahmen 2021–2027 (MFR) verabschiedet und die gleichzeitig aufgelegten weitreichenden Hilfs- und Rettungs­pakete umgesetzt werden, sind sie die naheliegenden Ausgangspunkte für weitere Integrationsschritte. Die Kommission erhält die Gelegenheit, selbst Schulden in größerem Umfang aufzunehmen, um Mitglied­staaten in einer gesundheitspolitischen oder öko­nomischen Notlage zu helfen. Mit der Einführung der Plastikabgabe wird erstmals seit 1988 eine neue Finan­zierungsquelle für den EU-Haus­halt geschaffen; wei­tere echte Eigenmittel sollen in den nächsten Jah­ren folgen. Der Schritt zu einer wirklichen europäischen Steuer wird dadurch deutlich kleiner. Diese Verständigung kommt einer integrationspolitischen Zäsur gleich. Die Krise wirkt unmittelbar als Reformkatalysator, so dass sich ungeahnte Perspektiven auftun.

Der Schutz und die Festigung des europäischen Bin­nenmarktes durch neuartige finanzielle Hilfs­programme gehen weit über frühere Konjunkturstützungsmaßnahmen der EU hinaus. Künftig werden die Ausgaben aus dem EU-Budget auf die beiden großen Zukunftsthemen Klima und Digitalisierung ausgerich­tet. Mit dem Europäischen Green Deal haben die EU und die europäischen Volkswirtschaften ihr neues Wachs­tumsmodell für das nächste Jahrzehnt ver­einbart.

Auch die Europäische Zentralbank (EZB) stellt sich mit ihrer Geldpolitik in den Dienst der klima­politischen Transformation der europäischen Wirt­schaft. Durch gezielten Ankauf von Vermögenswerten und mit Sicher­heitsanforderungen kann die EZB die grünen Ziele unterstützen. Einerseits wird die politische Rolle der EZB so über das begrenzte Mandat der Preisstabilität hinaus ausgeweitet und aufgewertet. Andererseits jedoch könnte in Zukunft ihr fiskal­politischer Ein­fluss schwinden, wenn die europäische Wirtschaftspolitik enger abgestimmt und der euro­päische Haus­halt als wirtschaftspolitisches Instrument genutzt wird. Noch spielt die EZB eine entscheidende Rolle, indem sie die Kosten des öffentlichen Schuldendienstes niedrig hält und die Insolvenz hoch verschuldeter Mitglieder der Eurozone verhindert.

Allerdings zeichnen sich in anderen Politikbereichen deutliche Unterschiede in Tempo, Dynamik und Tiefe der Entwicklung ab. Nur zögerlich aufgegriffen werden die Vorschläge zu einem Ausbau der gesund­heitspolitischen Förderinstrumente der EU und die ers­ten Schritte zu einer gemeinschaftlichen europäischen Gesundheitspolitik. Die Personenfreizügigkeit schränk­ten die Mitgliedstaaten zunächst als Folge der Covid-19-Pandemie ein; die Grenzen öffneten sie dann je nach Infektionsgeschehen in ihren Ländern oder Regionen. Zwar gibt es Bestrebungen, die natio­nalen Pandemie-Politiken besser miteinander zu koordi­nieren und mit zusätzlichen Instrumenten wirkungs­voller zu implementieren. Ähnliches gilt für den Schutz der europäischen Außengrenzen. Nationale Souveränitätsreflexe stehen einer effektiveren gemeinschaftlichen europäischen Migrations- und Asylpolitik jedoch weiterhin entgegen. Die Pandemie hat auch in diesem Politikfeld keine erkennbare inte­grationspolitische Hebelwirkung entfaltet; ebenso wenig werden Asyl- und Flüchtlingspolitik Teil grö­ßerer Kompromisspakete.

Die Handlungsfähigkeit der EU umfassend stärken

Die Pandemie hat die bekannten Interessenunterschiede und Konflikte zwischen Nord und Süd, Ost und West sowie zwischen großen und kleinen Mit­gliedstaaten nochmals sichtbar gemacht. Daher müssen die EU-Akteure darauf hinwirken, die zentri­petalen Kräfte zu reduzieren, die Spannungen kon­tinuierlich auszutarieren und damit den Zusammenhalt der EU-27 zu festigen. Dazu reichen intergouvernementale Politikansätze nicht aus, wie die unmittel­bare Reaktion der EU auf die plötzliche Herausforde­rung der Pandemie gezeigt hat.

Der Europäische Rat ist als intergouvernementales Organ par excellence auf die Gemeinschaftsinstitu­tionen und -verfahren angewiesen, um seinen Be­schlüssen und Schlussfolgerungen rechtliche Geltung und politische Wirkung zu verleihen. Auch jene Mitgliedstaaten, die auf ihr Vetorecht und Einstimmigkeit pochen, werden ihre materiellen und poli­tischen Ziele nicht ohne Rückgriff auf die Gemeinschaftsorgane und die gemeinschaftlichen Entscheidungsprozesse erreichen. Über Corona-Zeiten hinaus bleibt der Europäische Rat in der politischen Füh­rungsrolle, trifft die Richtungsentscheidungen und ist die letzte Instanz für Streitbeilegungen. Die inter­gouvernementale Abstimmung oder die Formierung klei­ner Interessengruppen, die spezifische Probleme lösen sollen, ist weiterhin Voraussetzung für Einstiegs­optionen, um den Weg zu gemeinschaftlichen Ant­worten im Kreis aller Mitgliedstaaten vorzubereiten.

Ohne die Initiative und Geschlossenheit des pro­aktiven deutsch-französischen Tandems werden auch künftig keine bedeutenden Integrationsschritte mög­lich sein. Zugleich aber ist offensichtlich, dass ein funktionierender Integrationsmotor allein nicht genü­gen wird, um die EU-27 voranzubringen. Statt­dessen wird eine Dominanz des Tandems die Gräben in der EU-27 nur vertiefen. Wichtig bleiben Paris’ und Berlins enge Zusammenarbeit mit der EU-Kommission und die Pflege intensiver bilateraler oder mehrseitiger Beziehungen.

Allen voran die Europäische Kommission wird gefor­dert sein, als Hüterin des Gemeinschaftsinteresses und als neutraler Makler zwischen den Interessen­gruppen der Mitgliedstaaten zu agieren. Dazu wird es nötig sein, den Irrweg einer exponiert politischen Kom­mission zu verlassen, die sich als weltanschaulich oder parteipolitisch ausgerichtete Leitinstitution geriert. Politisch bleibt die Kommission in dem Sinne, dass sie vertrags- und prinzipiengebunden handelt und so jenen Regierungen die Stirn bieten kann, die gegen sie polemisieren.

Auf welchen Feldern gemeinsame Problemlösungen und der europäische Zusammenhalt gesucht und verstetigt werden können, wird die eigentliche euro­papolitische Frage sein. Die erfolgreiche Implementierung der neuen Instrumente und Ziele der EU – der Green Deal und der Konjunkturimpuls, der euro­päische Außengrenzschutz und eine gemeinschaft­liche Asylpolitik, eine europäische Verteidigungs­politik oder die engere steuerpolitische Zusammen­arbeit – wird zur Messlatte für Stärke und Nach­haltig­keit des Integrationsimpulses durch die Corona-Pandemie. Der (Mehr-)Wert der Integration muss die nationalstaatlichen Bedenken überwiegen. Neben der pragmatischen Kompromissfähigkeit erfordert diese Politik sowohl eine feste gemeinsame Wertebasis, auf der die schwierigen europäischen Aushandlungs­prozesse gemeistert werden können, als auch gegen­seitiges Vertrauen.

Brems- und Gegenkräfte

Die mögliche Schubkraft des Krisenmoments kann in­des durch Gegenkräfte abgeschwächt werden. So wird sich trotz aller Hilfsanstrengungen die Schulden­krise, der manche Staaten ausgesetzt sind, keineswegs be­wältigen lassen, sondern fortsetzen und sogar verschär­fen. Und infolge der Abschwungphase (siehe Graphik), welche die Mitgliedstaaten in unterschiedlicher Weise betrifft, könnte die wirtschaftliche Divergenz in der Eurozone und der gesamten EU weiter zunehmen.

Unklar ist noch, ob die optimistisch dargestellten Reformmaßnahmen der neuen Klima- oder Digitalisierungsoffensive überall erfolgreich umgesetzt wer­den. Erfahrungen zeigen, dass eine unzulängliche Implementierung oder offenkundige Ineffizienzen die Spannungen und das Misstrauen zwischen den Mit­gliedstaaten anfachen und damit den Zusammenhalt beeinträchtigen können. Nicht unterschätzt werden sollte, dass mögliche Gegenbewegungen seitens euro­paskeptischer Regierungen nicht nur die neuen Inte­grationsprozesse stoppen, sondern das normale Funk­tionieren der EU behindern können. Zudem wird es Versuche geben, die jüngsten Tendenzen einer Ver­tiefung im finanz- und wirtschaftspolitischen Bereich zu bremsen. Was die internationalen Beziehungen betrifft, können sowohl vermehrte politische Spalt­versuche von Seiten einiger Großmächte als auch wirtschafts- oder währungspolitische Schwächen wie etwa die fortwährende Dominanz des US-Dollar ge­genüber dem Euro zur Folge haben, dass das inte­grations- und kooperationsfördernde Potential der Krise nicht ausgeschöpft wird.

Ausblick: Die Pandemie – integrationspolitischer Katalysator oder nur Anstoß für eine Reformepisode?

Graphik 2

In vielerlei Hinsicht wird es in der EU weitergehen wie bisher. Die Pandemie hat die Grundlagen der Integration, die bestehenden Institutionen und Ent­scheidungsverfahren weder grundsätzlich in Frage gestellt noch revolutioniert. Weiterhin müssen die gemeinsamen Interessen der 27 Mitgliedstaaten kon­tinuierlich neu erarbeitet, definiert und umgesetzt werden. Auch in Deutschland werden Bundesregierung und Bundestag debattieren, inwieweit die im Zuge der Pandemie angestoßenen Reformen fortentwickelt und als Sprungbrett für Vertiefung genutzt werden oder als Notbehelf bald wieder eingestellt werden sollten. Das weitere Integrationsgeschehen ist keineswegs determiniert. Aber die Erfahrung zeigt, dass ein bloßes Zurück, also zur EU vor der Pandemie, höchst unwahrscheinlich ist.

Der Erfolg der aufgelegten Maßnahmenpakete wird entscheidend dafür sein, ob die finanz- und wirt­schafts­politischen Hilfsprogramme der europäischen Integration weiterreichenden und nachhaltigen Schwung verleihen werden. Dies wird ein zentraler Bestimmungsfaktor dafür sein, ob die Anstrengungen der EU im Kontext der Pandemie zum Integrationssprungbrett werden oder nur eine Reformepisode anstoßen. Erweisen sich die Hilfen als Strohfeuer oder verpuffen wirkungslos, ist kaum damit zu rechnen, dass sich neue politische Dynamiken hin zu mehr Integration entfalten werden. Im Gegenteil, wenn die angestoßenen Maßnahmen europäischer Solidarität nicht zielorientiert und nachhaltig genutzt werden, könnte die Enttäuschung in den europäischen Gesell­schaften dazu führen, dass die Europäische Union grundsätzlich in Frage gestellt wird. Zeichnet sich hingegen ein echter Mehrwert ab und gelingt es mit Hilfe finanzieller Unterstützung, dass sich vor allem die von strukturellen Problemen gebeutelten Volks­wirtschaften spürbar erholen, könnte aus dem wirt­schaftlichen Aufschwung ein Anstoß für mehr poli­tisches Zusammenwirken in der Zukunft ergeben. Entsteht aber ein un­einheitliches und gemischtes Bild, bei dem einige Länder Hilfen effektiv nutzen, andere aber Mittel ohne sichtbaren Erfolg einsetzen oder Geld nicht sinnvoll ausgeben können, wird es schwer werden, einen Konsens für weitere Integration zu erzielen.

Vor diesem Hintergrund lassen sich einige Möglichkeiten skizzieren, die europapolitischen Entwicklungen der nächsten Jahre zu gestalten. Eine Bilanz der Hilfsmaßnahmen in Gestalt einer Halbzeitüberprüfung soll den Blick auf Erfolge und Misserfolge lenken. Sie werden sicher auch bei den politischen Auseinandersetzungen mit Blick auf die 2024 statt­findenden Europawahlen eine Rolle spielen.

Auch wenn der Wiederaufbaufonds erfolgreich implementiert wird, folgt nicht automatisch ein breiter Integrationsschub.

Parallel zu dieser Zwischenbilanz werden wichtige wirtschaftspolitische Debatten über Langzeitziele der Wirtschafts- und Währungsunion sowie des Binnenmarkts geführt werden. Neben einer Überprüfung der geldpolitischen Strategie der EZB, weiterer Risiko­teilung innerhalb der Bankenunion und dem Aufbau der Kapitalmarktunion geht es dabei auch um erste Schritte zur Transformation der europäischen Volks­wirtschaften auf ihrem Weg zur Klimaneutralität und um die Zukunft der europäischen Wettbewerbs­politik. Die richtige Balance zwischen dem Festhalten an eingespielten Strukturen und neuen Mechanismen zur Reaktion auf die fundamentalen Herausforderungen wird die Legitimität der neuen Instrumente be­einflussen und damit die Richtung der weiteren Inte­grationsschritte bestimmen. Wie viel wirtschaftliche Risikoteilung und Übertragung nationaler Regulierungskompetenzen auf supranationaler Ebene wollen die Mitgliedstaaten wagen, wie viel müssen sie akzep­tieren und in welchen Bereichen können sie an ihren nationalen Regulierungsreservaten festhalten?

Mit diesen Richtungsentscheidungen sind zwangsläufig institutionelle Fragen verbunden, aber stets auch Fragen der politischen Verantwortung und der Machtverteilung.

Bedenken sollte die Bundesregierung, dass ein brei­ter angelegter Integrationsschub – gerade in den sen­siblen Feldern Innen- und Justizpolitik, Währungs- und Fiskalpolitik sowie Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – selbst dann nicht automatisch erfolgen wird, wenn der Wiederaufbaufonds erfolg­reich implementiert wurde. Zusätzlich zum integra­tionspolitisch günstigen Moment bedarf es einer ent­schlossenen Führungsgruppe Gleichgesinnter. Diese muss Kernelemente eines ausgewogenen Reform­pakets entwickeln und in einen Entscheidungsprozess einbetten, der auf einen Konvent und eine Regierungskonferenz zuläuft. Für alle Fälle: Noch die jet­zige Bundesregierung sollte damit beginnen, solche offenen Koalitionen zu bilden, und an einer Agenda für mehr Handlungsfähigkeit und Legitimität der EU arbeiten.

Annegret Bendiek / Ronja Kempin

Europäische Außen- und Sicherheitspolitik in der Pandemie

»Europa wird in Krisen geschmiedet werden« – dieser Satz Jean Monnets hat gegenwärtig wieder Aktualität.1 Der »epische Europäische Rat« vom Juli 2020 hat die Handlungsfähigkeit der EU in der Krise unter Beweis gestellt. Den sozioökonomischen Folgen von Covid-19 setzten die Mitgliedstaaten und die EU-Kommission das bisher größte Finanzpaket in der Geschichte der europäischen Integration entgegen: Mit dem neuen Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) für die nächsten sieben Jahre und dem auf vier Jahre befristeten Wie­deraufbauprogramm »Next Generation EU« (NGEU) wurde ein Paket mit einem Volumen von insgesamt 1,8 Billionen Euro geschnürt.2 Die bereitgestellten Mittel zielen in erster Linie auf eine verbesserte finan­zielle Ausstattung der Binnenpolitiken. Die Etats der EU für internationale Solidarität bleiben beschränkt.

Obgleich die globale Pandemie dem Multilateralis­mus zusetzt und China, Russland, aber auch die Türkei ihre expansiven Außen-, Sicherheits- und Ver­teidigungspolitiken fortführen, hat die Gesundheits­krise die EU-Mitgliedstaaten nicht dazu bewegen können, von ihrer außenpolitischen Selbstbezogenheit abzurücken. Mit der Folge, dass die Fortentwicklung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) bestenfalls stagniert. Debatten über eine Ver­gemeinschaftung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik mit der Einführung von qualifizierten Mehrheitsentscheidungen, aber auch Ideen zur Flexibilisierung außerhalb der EU-Verträge, wie sie zuletzt im Kontext der Schaffung eines Europäischen Sicherheitsrats diskutiert wurden, sind versandet. Die im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Ver­teidigungspolitik (GSVP) angestoßenen Prozesse einer Bin­nenintegration werden dagegen fortgesetzt. Der pan­demieinduzierte Integrationsschub, der sich ins­beson­dere in der Wirtschaftspolitik zeigt, greift indes bislang nicht auf die Außen- und Sicherheitspolitik über. Damit sieht sich vor allem die »geopolitische Kommission«3 unter der Leitung von Kommissions­präsidentin Ursula von der Leyen innerhalb und außerhalb der Union enormen Erwartungen gegen­über, die Hebelwirkung, die das Milliardenprogramm EU-intern entfalten wird, nicht nur zur Stärkung der außen- und sicherheitspolitischen Resilienz, sondern auch zur Entfaltung einer ergebnisorientierten EU-Außenpolitik der EU zu nutzen.4 Dies dürfte nur gelingen, wenn die Kommission die Stärke der euro­päischen Wirtschaftskraft und des Binnenmarkts mit einer Außen- und Sicherheitspolitik verbinden kann, die ebenfalls vergemeinschaftet ist. Hier ist die Kom­mission jedoch abhängig von den Mitgliedstaaten: Die Vergemeinschaftung der GASP liegt in der alleinigen Kompetenz der EU-Staaten.

Multilateralismus erodiert – EU hält dagegen

Kurz nachdem die Pandemie Europa erreicht hatte, gelang es der EU, den Multilateralismus zu stärken. Die EU-Kommission trat dem Versuch der US-Admi­nis­tration entgegen, sich die Exklusivrechte an einem Impfstoff gegen das Coronavirus zu sichern. Mit dem Argument, dass Impfstoffe ein öffentliches Gut sind, gründete sie gemeinsam mit vielen anderen Ländern außerhalb der EU die Initiative »Global Response«. Zentrales Ziel des Formats war zunächst die Ausrichtung einer Geberkonferenz und eines Spendengipfels zur Eindämmung der Pandemie und ihrer Folgen, bei dem Ende Juni 2020 insgesamt knapp 16 Milliarden Euro gesammelt werden konnten.5 Empfänger der Gelder sind insbesondere die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und mehrere Allianzen zur Entwicklung von Impfstoffen und Heilmitteln. Der internatio­nale Geber-Marathon der Europäischen Kommission hat zudem bislang 9,8 Milliarden Euro mobilisiert, die dem universellen Zugang zu Covid-19-Behand­lun­gen, ‑Tests und Impfungen gegen Coronaviren dienen sollen. Auch in anderen Bereichen des auswärtigen Handelns arbeitete die EU-Kommission eng mit inter­nationalen Akteuren zusammen, um die Pandemie einzudämmen und deren Folgen zu bekämpfen. Ihr ist es zum Beispiel gelungen, die IV. internationale Geberkonferenz für Syrien durch­zuführen, bei der Hilfszahlungen in Höhe von 6,9 Milliarden Euro zu­gesagt wurden.6 Die EU hat ihr Ansehen als internatio­nale Akteurin zu Beginn der Gesundheitskrise somit dort gefestigt, wo die EU-Kommission autonom gestal­ten kann.

Vielstimmigkeit in internationalen Krisen und Konflikten besteht fort

Schon vor dem Ausbruch der Pandemie hatten sich die Mitgliedstaaten vorgenommen, stärker auf geo­politische Veränderungen einzuwirken. Insbesondere im Umgang mit China, Russland und den USA woll­ten sie die »Sprache der Macht« erlernen.7 Diesen Anspruch konnte die EU in der Corona-Krise bislang nicht einlösen. Der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik (HV), Josep Borrell, hat sich während der Pandemie mit einer Nebenrolle zufrie­den­geben müssen. Allein bei der Abwehr von Des­infor­mationskampagnen gelang es ihm, medial in Erscheinung zu treten.8 Der ihm unterstellte Euro­päische Auswärtige Dienst geht vehement gegen Falschmeldungen – nicht zuletzt über das Virus – vor. Erwogene Vorhaben, die vor der Corona-Pan­demie noch die Diskussion bestimmt hatten, etwa die Einführung qualifizierter Mehrheitsentscheidungen, konnte er bislang ebenso wenig vorantreiben wie die Kommissionspräsidentin. Beide stoßen weiterhin auf den Widerstand einzelner Mitgliedstaaten. Auch bei dem Bemühen, Fragmentierungstendenzen entgegenzuwirken, die innerhalb in der EU im Hinblick auf ihre Partnerschaftsbeziehungen zu den USA und der Türkei wirksam sind, konnte der Hohe Vertreter keine Fortschritte erzielen.9

Im Gegenteil: Die Interessendifferenzen der Europäer in Bezug auf die Türkei haben sich während der Pandemie sogar noch verschärft, weil die südliche und die östliche Komponente der Europäischen Nach­barschaftspolitik gegeneinander ausgespielt wurden. Dass Griechenland und Zypern einer Verhängung von Sanktionen gegen das Regime des belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko erst dann zu­stimmten, als sich die übrigen Mitgliedstaaten bereit erklärten, mit Sanktionen gegen die Türkei zu dro­hen, machte deutlich, wie hinderlich das Einstimmig­keitsprinzip für die EU-Außenbeziehungen ist.10 Ob­gleich bekannt ist, dass die Türkei wiederholt gegen das für Libyen geltende UN-Waffenembargo ver­stoßen hat, ließen die Mitgliedstaaten Ende August 2020 die Aufrufe des HV unbeantwortet, der Opera­tion Irini angemessene militärische Fähigkeiten zur Verfügung zu stellen, um das Embargo durchsetzen.11 Schließlich verhallte der Appell des HV ungehört, dem chinesischen Divide-et-impera-Ansatz gemeinsam entgegenzutreten. Seiner Forderung nach einer »robusteren« Strategie gegenüber der Volksrepublik kamen die Mitgliedstaaten erst nach mehrmaligen Anläufen nach: Als Reaktion auf das für Hongkong erlassene Sicherheitsgesetz einigten sie sich im Juli 2020 auf gemeinsame Maßnahmen wie den Stopp der Ausfuhr von Überwachungstechnologien und Dual-use-Gütern. Die Differenzen mit China vermag indes auch die Europäische Kommission nicht zu bereinigen. Sie veröffentlichte im Juni 2020 ein Weißbuch zur »Gewährleistung fairer Wettbewerbsbedingungen bei Subventionen aus Drittstaaten«. Das Weißbuch kann als Antwort verstanden werden auf die wieder­holt zurückgewiesene Forderung nach einem gleich­berechtigten Marktzutritt für europäische Unternehmen auf den chinesischen Markt. Die EU hatte ihr Ansinnen mehrfach gegenüber der Führung in Peking artikuliert, ohne dass diese sich in der Frage bewegt hätte.

Finanzierung des auswärtigen Handelns verbleibt auf niedrigem Niveau

Dass die Entwicklung der GASP stagniert, macht auch die künftige finanzielle Ausstattung des Haushalts­titels »Nachbarschaft und die Welt« deutlich: Für den Zeitraum 2021–2027 sind dafür im Mehrjährigen Finanz­rahmen (MFR) 98,4 Milliarden Euro veranschlagt.12 Das sind lediglich 1,3 Milliarden Euro mehr als im vorangegangenen Budget (2014–2020). Die GASP im engeren Sinne erfährt sogar eine Abwertung: Im Zeitraum 2021–2027 soll der GASP-Anteil mit 2,4 Milliarden weniger als 2,5 Prozent der gesam­ten außenpolitischen Mittel der EU betragen. Nach aktueller Beschlusslage soll der Etat für dieses Politik­feld sogar um 10,3 Prozent im Vergleich zum vor­herigen MFR gekürzt werden. Die Annahme, dass infolge der Pandemie auch die Krisen und Konflikte in der Nachbarschaft der EU zunehmen werden, fin­det unter den EU-Mitgliedstaaten offenbar keinen Anklang. Vielmehr legt das Volumen der Mittel, die für das auswärtige Handeln der EU veranschlagt werden, die Deutung nahe, dass die Pandemie bei den Mitgliedstaaten den Wunsch bestärkt hat, die Bearbei­tung von Krisen und Konflikten an Dritte zu delegie­ren. Im Zuge der Haushaltsverhandlungen haben die Mitgliedstaaten der Europäischen Friedensfazilität (EFF) ein Finanzvolumen von 5 Milliarden Euro zu­gebilligt. Die EFF soll militärische friedensfördernde Maßnahmen finanzieren, die von Partnern durch­geführt werden. Die EFF-Mittel können außerdem dazu verwendet werden, Partnerländer militärisch aus­zustatten und auszurüsten. Die Friedensfazilität ist außerhalb des EU-Haushalts angesiedelt, weil Arti­kel 41 (2) EU-Vertrag (EUV) verbietet, Maßnahmen mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen aus dem EU-Haushalt zu finanzieren.

Das Budget als Gelegenheit für eine Auf­wertung der Kommission in der Sicher­heits- und Verteidigungspolitik

In der GSVP sind Mitgliedstaaten und EU-Kommission weiter darauf fokussiert, den im November 2016 ver­einbarten »Umsetzungsplan für Sicherheit und Ver­teidigung« zu verfolgen und in Rechtsvorschriften zu gießen. Es drängt sich der Eindruck auf, dass die Corona-Pandemie auch auf die GSVP keinen Einfluss hat. Laufende Prozesse werden ohne Abstriche fort­gesetzt. Augenfällig ist gleichwohl, dass die Mitgliedstaaten – anders als für die GASP – die Finanzmittel für die GSVP deutlich erhöht haben. Im Vergleich zum vorherigen MFR, in dem die Mitgliedstaaten 4,6 Milliarden Euro für die GSVP reserviert hatten, wird die Rubrik 5 (»Sicherheit und Verteidigung«) des Haushalts für die Jahre 2021–2027 mit einer Summe von 13,185 Milliarden Euro ausgestattet.13

Damit Corona in der GASP einen Integrationsschub auslösen kann, müssten sich die Mitgliedstaaten zur Supranationalität bekennen.

Zwei Folgen der Gesundheitskrise dürften die Zusammenarbeit in der GSVP überdies begünstigen: Die Corona-Pandemie hat die Sicht auf die USA ver­ändert. Das wird aller Erwartung nach dazu führen, dass sich die zwischenstaatliche Kooperation der EU-Mitgliedstaaten in der Sicherheits- und Verteidigungs­politik vertieft. Zweitens werden die Mitgliedstaaten mittelfristig ihre Verteidigungsbudgets kürzen müs­sen.14 Dieser Umstand wird es der EU-Kommission erlauben, über ihre Kompetenzen in der rüstungs­industriellen Entwicklung zusehends Einfluss auf die GSVP zu nehmen. Im MFR 2021–2027 haben die Mitgliedstaaten den Europäischen Verteidigungsfonds (EDF) verankert – und mit ihm das »Einfallstor« der Europäischen Kommission zu diesem Politikfeld aufgestoßen. Seit 2017 bemüht sich die Kommission darum, die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf- und auszubauen, indem sie die rüstungsbezogene Industrie-, Beschaffungs- und For­schungspolitik der Mitgliedstaaten integriert. Sie strebt offenkundig danach, die institutionelle Ver­anke­rung der europäischen Sicherheits- und Vertei­digungspolitik zu verschieben: von einem mitgliedstaatlich zu einem supra­national domi­nierten Politik­feld. Nicht ohne Grund stützt sie ihre Vorschläge auf die Artikel 173 und 182 des Vertrags über die Arbeits­weise der Europäischen Union. Sie versucht auf diese Weise, die Begrenzungen der euro­päischen Verteidigungspolitik und die bestehenden mitgliedstaatlichen Vorbehalte zu umgehen und ihre Legislativvorschläge mit industriepolitischen, bin­nen­marktbezogenen Ansatzpunkten zu begründen.15

Zusammenführen, was zusammengehört

GASP und GSVP haben in der Corona-Pandemie also unterschiedliche Entwicklungen genommen. Wäh­rend die GSVP finanziell eher gestärkt wird, stagniert die GASP bzw. wird partiell abgebaut. Mehr noch: Während die EU-Mitgliedstaaten wichtige Entwicklungs­schritte verhindern (Mehrheitsentscheidungen), zerfasern die Zuständigkeiten für das Außenhandeln der EU in der EU-Kommission weiter. Fünf Kommis­sare sind nunmehr für Teilgebiete des auswärtigen Handelns verantwortlich. Die Kompetenzen für Euro­pas digitale Souveränität liegen teilweise bei den Mit­gliedstaaten, teilweise bei den Kommissaren für den Binnenmarkt und für den Verteidigungsfonds, für Wettbewerbs- und Industriepolitik, für Handel, teil­weise aber auch beim Hohen Vertreter. Dessen Stel­lung innerhalb der Kommissionshierarchie blieb die eines regulären Vizepräsidenten und hat damit im Ver­gleich zur Juncker-Kommission formal an Gewicht verloren.

Damit die Corona-Pandemie auch in der GASP einen Integrationsschub auslösen kann, müssten sich die Mitgliedstaaten zur Supranationalität bekennen.16 Sie sollten jene Politikbereiche, in denen die Union bis­her nur über eine begrenzte Kompetenzausstattung verfügt und die nicht der Gemeinschaftsmethode folgen, dem supranationalen Verfahren unterwerfen, indem sie die mit dem Vertrag von Lissabon eingeführte »Brückenklausel« (Art. 48 Abs. 7 EUV) nutzen. Nur so lässt sich die Soft Power der GASP mit der Hard Power der GSVP verzahnen. Nur so können der Binnenmarktschutz, die Absicherung von Lieferketten und Wertschöpfungsprozessen durch eine strategische Lagebildanalyse ergänzt werden. Resilienz, ver­standen als smarte Resilienz, bedeutet, auf Herausforderungen frühzeitig, flexibel und abgestimmt zu reagieren.17 Nur auf diese Weise wird die EU auch das Funktionieren des Binnenmarkts gewährleisten. Drei Kernprojekte sind hierfür zentral:

In dem geplanten Schlüsseldokument der GSVP, dem »Strategischen Kompass«,18 müssen die Grund­lagen zur gemeinsamen strategischen Vorausschau fixiert werden. Die Fähigkeit, mit dem Unerwarteten umzugehen, muss zur zentralen Fähigkeit Europas, zum Attribut seiner Resilienz werden. Unter der deut­schen EU-Ratspräsidentschaft wurde eine gemein­same Bedrohungsanalyse initiiert. Im Juni 2020 hat der Außenministerrat den Hohen Vertreter der EU für die Außen- und Sicherheitspolitik damit beauftragt, dieses Dokument in enger Abstimmung mit den Mit­gliedstaaten zu erarbeiten. Der Kompass soll unter französischer Ratspräsidentschaft Anfang 2022 fertig­gestellt sein.

Die Außen- und die Sicherheitspolitik müssen stra­tegisch miteinander verzahnt werden. Die EU-Kom­mission sollte in ihrem Bestreben unterstützt werden, die verschiedenen Instrumente des auswärtigen Han­delns der EU zu verflechten, vor allem die Handels- und Investi­tionspolitik mit diplomatischen Bemühun­gen, aber auch mit sicherheits- und verteidigungs­politischen Maßnahmen.19 Unter Vorsitz des HV sollte auf intergouvernementaler Ebene ein ständiger Rat der Verteidigungsminister eingerichtet werden. Dieser sollte die strategischen Prioritäten koordinieren, aber auch die Verteidigungsstrategien der Mit­gliedstaaten aufeinander abstimmen. Die Fähigkeit der EU zum Krisenmanagement sollte in Pandemiezeiten durch Rückgriff auf Artikel 44 EUV gestärkt werden. Krisen­managementmaßnahmen im Namen der EU ließen sich auf Gruppen von willigen Mitglied­staaten übertragen.

Allein durch massive Investitionen in die technologische und digitale Struktur der Informations- und Kommunikationstechnik kann die EU widerstands­fähiger gegenüber externen Schocks werden und eine nachhaltigere Wirtschafts- und Sozialpolitik auf­bauen.20 Im Bereich der Digitalisierung werden die Europäer weiterhin nicht mit den USA und China kon­kurrieren können. Die EU-Staaten dürfen ins­besondere bei der Schlüsseltechnologie der Künst­lichen Intelligenz, die für eine künftige Außen- und Sicherheitspolitik von zentraler Bedeutung sein wird, nicht länger hinter den USA herhinken.

Raphael Bossong / Bettina Rudloff

Resiliente Versorgung in Krisenzeiten: Mehr politikfeldübergreifende Koordination zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten

Die Bekämpfung der Covid‑19-Pandemie hat die Europäische Union (EU) und ihre Mitgliedstaaten vor Schwierigkeiten gestellt, die verschiedene strategische Fragen aufwerfen: Wie kann die EU in Zukunft gegen­über solchen heftigen Krisen widerstandsfähiger, also resilienter werden? Dahinter stehen drei Herausforderungen, die zwar seit langem diskutiert werden, aber nun durch die Corona-Krise bei hochrangigen Politi­kern und Politikerinnen Priorität gewonnen haben.

Erstens verdeutlicht die Pandemie, wie schnell durch transnationale Kaskadeneffekte ernsthafte Schä­den entstehen können, und zwar über alle wirt­schaftlichen und gesellschaftlichen Sektoren hinweg. Die Corona-Krise ist vergleichbar mit anderen schwer­wiegenden systemischen Risiken1 – etwa dem Klima­wandel oder der Abhängigkeit von verwundbaren globalen Informationsnetzwerken. Resi­lienz gegen­über diesen Risiken muss deshalb eine große Band­breite sogenannter »kritischer Infrastrukturen« um­fassen, die für das Funktionieren unserer Gesellschaft und Wirtschaft als entscheidend angesehen werden.

Dazu wäre freilich zu klären, was genau einzelne Politikfelder und oft auch einzelne Mitgliedstaaten unter »kritischen« Strukturen verstehen. Die zurzeit vorhandenen Unterschiede diesbezüglich erschweren eine gemeinschaftliche Analyse, wie europaweit wir­kenden Risiken sinnvoll begegnet werden kann.

Daran schließt sich die zweite Herausforderung an: die kohärente Koordinierung meist national beschlossener Krisenmaßnahmen. Wie schwierig dies ist, trat in der ersten Phase der Pandemiebekämpfung offen zutage: Die ersten national angestoßenen Reaktionen erwiesen sich teils als kontraproduktiv, etwa die ein­geschränkte Personenfreizügigkeit und der begrenzte Binnenhandel selbst für dringend benötigte medi­zinische Güter. Die EU-Kommission hatte große Mühe, den Binnenmarkt und die Schengen-Zone auf­rechtzuerhalten. Anders als die Mitgliedstaaten hat die EU jedoch bislang keine eigenständige Notfallkompetenz für den Schutz der öffentlichen Ordnung. Daher müssen andere Mechanismen und Mittel zum operativen Krisenmanagement gefunden werden.2

Drittens ist langfristig abzuwägen, wie Versorgungs­sicherheit und Resilienz am besten gestärkt werden können: ob nach innen durch Protektionismus oder gemeinschaftlich durch internationale Offen­heit und Vernetzung.3 Im akuten Krisen­manage­ment drängen typischerweise protektionis­tische Ansätze in den Vordergrund. Allerdings pro­fitieren gerade Deutschland und die EU von inter­nationaler Arbeitsteilung – nicht nur für die eigene Versorgung, sondern auch als großer globaler Anbie­ter essentieller Dienstleistungen und Güter (der in­des unter versorgungsbedingter Protektion anderer Akteure leidet).

Erste Schritte zur Reform strategisch wichtiger Infrastrukturen und Industrien

Als unmittelbare Antwort auf die Pandemie hat die EU-Kommission das Ziel einer »Gesundheitsunion« ausgegeben.4 Eine vertragliche Änderung der EU-Zuständigkeit für die öffentliche Gesundheit steht derzeit aber nicht in Aussicht. Deswegen werden viele Maßnahmen zur Verbesserung der medizinischen Versorgungssicherheit eher pragmatisch vorangetrieben. So wird angestrebt, die Beschaffung von Medika­menten und Schutzausrüstung europaweit zu ko­ordinieren. Auch die nationalen Gesundheitssysteme sollen stärker koordiniert und in eine grenzüberschreitende Krisenplanung eingebunden werden.5

Die EU kann sich dabei auf den bestehenden, eher technisch als strategisch verstandenen Unionsmechanismus für den Katastrophenschutz stützen.6 Hier­nach teilen die Mitgliedstaaten seit Jahren unterein­ander und mit Drittstaaten freiwillig Schutzgüter, Rettungstechnik und Einsatzkräfte. Seit 2019 können die EU- und die Teilnehmerstaaten dabei auf vorab designierte Ressourcen der Mitgliedstaaten zurückgreifen (rescEU-Programm), müssen also nicht in jedem Katastrophenfall erneut eine Anfrage nach ver­fügbaren Hilfsgütern stellen. In der Corona-Krise wurde das rescEU-Verfahren erweitert, um einen Vorrat an medizinischer Ausrüstung anzulegen und zu verteilen. Beispielsweise wurden im Frühjahr rund 330 000 Schutzmasken nach Italien, Spanien und Kroatien geliefert.7 Nach Vorstellungen der Kommission soll dieses gemeinsame Beschaffungs- und Vor­ratswesen ausgebaut und im Mehrjährigen Finanzrahmen 2021–2027 mit gut 2 Milliarden Euro zu­sätzlich gefördert werden.8 Dieser mögliche nächste Schritt in Richtung EU-eigener Ausrüstung oder sogar europäischer Katastrophenschutzkräfte stößt bei eini­gen Mitgliedstaaten noch auf grundsätzliche Beden­ken: Sie befürchten eine eventuelle ungleiche Las­tenteilung und einen Verlust an Souveränität.

Umfassender wirkt die schuldenfinanzierte »Aufbau- und Resilienzfazilität« von über 670 Milliarden Euro. Dieser Fonds soll nicht nur die finanziellen Folgen der Pandemie abfedern, sondern – zumindest nach Meinung der Kommission – überdies die wirt­schaftlichen Strukturen in den Mitgliedstaaten öko­logischer und widerstandsfähiger gegen künftige Herausforderungen machen. Nationale Pläne, die für die Vergabe der europäischen Hilfen der Kommission vorgelegt werden müssen, können auch Investitionen in sogenannte kritische Infrastrukturen und in stra­tegische Technologien vorsehen.9 Die EU hat bereits vor der Corona-Pandemie Reformprozesse angestoßen, die sich auf solche Investitionen auswirken können.

Der Schutz kritischer Infrastrukturen umfasst auf EU-Ebene bisher nur zwei Bereiche: Verkehr und Energie, die zudem wenig vernetzt betrachtet werden. Auf mit­gliedstaatlicher Ebene dagegen sind weit mehr Sektoren ausgewiesen – in Deutschland beispiels­weise neun: neben dem derzeit vordring­lichen Sektor Gesundheit unter anderem Ernährung, Wasser, Trans­port und Verkehr, Medien und Kultur.10 Im Rahmen der für 2021 geplanten Novellierung der EU-Richtlinie zur Ermittlung und Ausweisung europäischer kri­tischer Infrastrukturen11 sollten nationale und euro­päische Konzepte deshalb besser abgestimmt werden. Parallel soll die EU-Richtlinie zur Netzwerk- und Informationssicherheit (NIS-Richtlinie) überarbeitet werden,12 sodass sie neue technische Risiken und Mög­lichkeiten berücksichtigt, Informationsinfrastrukturen anzugreifen.

Der Kommunikationssektor profitiert schon heute vom europäischen Mehrwert, wenn es um die Bewertung von Risiken geht.

Schon jetzt veranschaulicht die NIS-Richtlinie den europäischen Mehrwert, von dem auch andere kri­tische Infrastrukturen profitieren könnten:13 Im Kom­munikationssektor erfolgt die Bewertung von Risiken, die für bestimmte Wirtschaftsbereiche oder Produkte bestehen (können), mit Hilfe einer eigenen EU-Agen­tur für Cybersicherheit (ENISA) und eines operativen Netzwerks von IT-Notfallteams auf nationaler wie europäischer Ebene (CSIRTs-Netzwerk). Die Pandemie und die damit einhergehenden Einschränkungen des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens haben die Abhängigkeit von Kommunikationsnetzwerken und Dateninfrastrukturen verschärft. Darüber hinaus ist die Vernetzung zwischen Sektoren einmal mehr deut­lich geworden.

Die Investitionsschutzpolitik wird bereits seit längerem aus Gründen der Wettbewerbssicherung ausgebaut. Sie kann einen weiteren Beitrag zur Resilienz leisten: Die neue EU-Verordnung zur Überprüfung ausländischer Direktinvestitionen (EU-Screening-Verordnung) verpflichtet die EU-Mitglieder ab Oktober 2020 dazu, Investitionen aus Drittstaaten daraufhin zu prüfen, ob die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet werden könnte, etwa durch zu starke Dominanz aus­ländischer Unternehmen und die damit verbundene gefürchtete Abhängigkeit.14 Als besonders schutzwürdig werden nicht nur die Wirtschaftsbereiche angesehen, die üblicherweise auf nationaler Ebene als kritische Infrastrukturen designiert sind, sondern auch strategische europäische technologische Ent­wick­lungen und Investitionen, wie das Satelliten­navigationssystem Galileo.

In ähnlicher Weise wird die EU-Industriepolitik als Bestandteil einer umfassenden Resilienz verstanden. Die Corona-Krise hat zum einen der Forderung Nach­druck verliehen, europäische Unternehmen vor aus­ländischen Übernahmen zu schützen. Zum anderen hat sie den Wunsch nach mehr europäischer Auto­nomie in medizinischer Forschung und Produktion befeuert. Neben einer möglichen Rückverlagerung von Teilen der Arzneimittelproduktion nach Europa wird angestrebt, eine europäische Agentur für fort­geschrittene biomedizinische Forschung und Ent­wicklung (BARDA) zu gründen,15 die enger im Ver­bund mit der Industrie agieren könnte.

Koordinierung und Kohärenz für Versorgungssicherheit in der Rohstoff- und Handelspolitik

Mit Blick auf ein All-Gefahren-Risikomanagement ist für die kommenden Jahre wichtig, die genannten Politikfelder (Schutz kritischer Infrastrukturen, Inves­titionsschutz- und Industriepolitik) stärker miteinander und mit weiteren EU-Politikbereichen zu koordi­nieren. Exemplarisch für den Bedarf an Kohärenz stehen die Agrarpolitik als eine historisch gewachsene Politik zur Rohstoffversorgung und die europäische Handelspolitik.

Eine sichere Versorgung mit Nahrung ist in allen Län­dern der Welt explizites Politikziel, gilt als Menschenrecht und ist in der EU bereits 1958 in den Römischen Verträgen definiert worden. Die frühe Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) brachte indes oft widersprüchliche Wirkungen zwischen innereuropäischer Versorgung und der Versorgung in Drittländern hervor.16 Sie gilt als Paradebeispiel einer protektionistischen Politik, die durchaus zunächst große Versorgungserfolge er­zielte. Zur Umsetzung nutzte sie vor allem Typen von Subventionen, die die heimische Produktion anheiz­ten und durch hohe Zölle den europäischen Markt gegen günstigere Importe abschotteten. Regeln der Welt­handelsorganisation (WTO) für mehr Markt­offenheit haben zum Abbau dieser Subventionsart und der Zoll­niveaus geführt, sodass die für andere Länder preisdrückenden und versorgungsriskanten Exporte europäischer Überschüsse abnahmen.

Durch die »Bedrohungskulisse« der Corona-Krise bekommen jedoch konservative agrarpolitische Posi­tionen für die Haushaltsphase ab 2021 neuen Auf­trieb: Hiernach wird die EU wieder stärker als »Ver­sorger« aufgefasst, sowohl für die eigenen Mitgliedstaaten als auch für die Welt. Diese Sichtweise er­schwert möglicherweise weitere Agrarreformen, die auf weniger Mengen- und mehr Qualitätsproduktion abzielen, ebenso wie die begonnene stärkere öko­logische Ausrichtung der GAP.

Dass die Agrarpolitik mit anderen Politikfeldern übergreifend koordiniert werden muss, hat die Schlie­ßung der Binnengrenzen zu Beginn der Pandemie ge­zeigt. Die Folge war ein zeitweiliger Fachkräftemangel nicht nur im Gesundheitswesen, sondern auch ein Mangel an landwirtschaftlichen Saisonarbeitskräften. Ferner gibt es Berührungen mit den Politikfeldern Katastrophenschutz und kritische Infrastrukturen. In Deutschland wird die Ernährungsversorgung als kritische Infrastruktur nach wie vor durch eine Kri­senreserve des Katastrophenschutzes sichergestellt. Anders auf EU-Ebene: Die Reserven der GAP zur Markt­stabilisierung werden zusehends abgebaut. Wegen hoher Kosten stand die strategische Vorratshaltung von Lebensmitteln immer wieder in der Kritik. Dies könnte sich durch die Corona-Krise nun ändern. Andere Mitgliedsländer wenden alternative Krisenmaßnahmen an, indem sie die Privatwirtschaft verpflichten, die Versorgung für einen bestimmten Zeitraum zu garantieren.

Auch in der EU-Handelspolitik als europäisierter Politik steht zur Debatte, wie offener Handel und Versorgungssicherheit in Einklang gebracht werden können.17 Ausdruck dafür ist das übergeordnete und in sich widersprüchlich anmutende Ziel der jüngsten EU-Handelsstrategie, die »open strategic autonomy«.18 Handelspolitik und WTO-Regeln kennen diese Am­bi­valenz zwischen Offenheit und Abschottung, zum Beispiel werden Versorgungskrisen und der Schutz nationaler Sicherheit anerkannt als Ausnahmen vom ansonsten geltenden Leitprinzip des offenen Handels. So sind für »essentielle« oder »sensible« Produkte sogar die am stärksten handelsbegrenzend wirkenden Exportverbote möglich. Seit März 2020 wurden circa 300 neue handelsbeschränkende Maßnahmen wie Exportverbote für Medizin- und Lebensmittelprodukte bei der WTO notifiziert, die mit der Corona-Pandemie begründet wurden.19 Etwa 20 davon kamen von Sei­ten der EU und ihrer Mitglieder. Grundsätzlich aber unterstützt die EU offenen Handel auch weiterhin: Beispielsweise verfolgt sie eine Präzisierung der bis­lang schwachen WTO-Kriterien für Exportbeschränkungen und nutzt seit Pandemiebeginn handelsfördernde Maßnahmen wie eine erleichterte Zolldoku­men­tation.

Gesamtstrategie für vorausschauende Resilienz

Europäische Resilienz bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Stärkung der nationalen bzw. innereuro­päischen Versorgung einerseits und weltweiter Offen­heit und Solidarität andererseits. Dabei gilt es, viele verschiedene Gefahren und Risiken für die Zukunft im Blick zu haben, auch jenseits der zurzeit vordringlichen Pandemie. Allerdings werden bei einem All-Gefahren-Ansatz sehr unterschiedliche Sektoren und Infrastrukturen angesprochen, die Kompetenzen in den beteiligten Politikbereichen sind unterschiedlich zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten verteilt. Zugleich muss Resilienz als dezentrale Verantwortung aller Behörden und der gesamten Gesellschaft verstanden werden, wie sich im Umgang mit der Corona-Pandemie wiederholt gezeigt hat. Daher kann es keine allgemeingültige europäische Strategie für die Risikovorsorge geben.

Der aktuelle Vorschlag der Kommission ist dennoch sehr zu begrüßen: Er sieht vor, im Rahmen der strategischen Vorausschau unterschiedliche Krisen und bestehende Resilienz kontinuierlich und syste­matisch zu beobachten sowie Politikfelder zu ver­netzen.20 Auch die Idee, quantitative Indikatoren für Resilienz (»Resilienz-Dashboards«) zu definieren, dient der Frühwarnung.

Vor allem kann die EU bessere Antworten auf die zweite und die dritte der eingangs genannten Her­ausforderungen finden: Für die Kohärenz zwischen Krisenmaßnahmen sollten neue Investitionen und industriepolitische Instrumente der EU abgestimmt werden mit dem neuen Rechtsrahmen für euro­päische kritische Infrastrukturen. Am Beispiel der EU‑Agrar- und -Handelspolitik sollte demonstriert wer­den, wie die Balance zwischen offenem Handel und Versorgungsschutz gelingen kann und dass der Krisenreflex der Versorgungssicherheit nicht mit Pro­tektion gleichzusetzen ist.

Ergänzend sollte die Diskussion über gesamteuropäische Krisenmechanismen fortgeführt werden. So könnte etwa die sogenannte Solidaritätsklausel aus Artikel 222 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) wirksamer genutzt wer­den. Gemäß dieser Klausel hat die EU im Falle einer Naturkatastrophe, einer vom Menschen verursachten Katastrophe oder eines Terroranschlags »alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel« zu mobilisieren, um den betroffenen Mitgliedstaat zu unterstützen. Prak­tisch erschöpft sich dies bisher in einem offenen Koordinationsverfahren (Integrated Political Crisis Response Arrangements).21 Die jüngste Reform des EU-Katastrophenschutzmechanismus wird zwar einige neue finanzielle Mittel erschließen, kann aber den Anspruch auf verlässliche und umfassende Hilfe nicht allein erfüllen. Die Solidaritätsklausel sieht vor, dass sich der Europäische Rat regelmäßig mit europa­weiten Bedrohungen befasst. Dies zumindest könnte in Zukunft besser eingelöst werden. Die Erfahrungen aus der Corona-Pandemie sollten als Anstoß dafür dienen, dass die Staats- und Regierungschefs ihre Prio­ritäten überdenken und dass Reformprozesse ein­geleitet werden, die für mehr vorausschauende Resi­lienz sorgen.

Oliver Geden / Kirsten Westphal

Ein krisenfester »Green Deal«

Eine Pandemie, die mit massiven wirtschaftlichen Einschränkungen einhergeht, hat zwangsläufig gro­ßen Einfluss auf die Klima- und Energiepolitik. Dies gilt nicht nur mit Blick auf die zentralen Stoffströme, etwa Energieverbrauch und Emissionen. Es gilt in mindestens gleicher Weise auch für die politischen Kapazitäten und ökonomischen Voraussetzungen einer gesteuerten Transformation. Als erstaunlich resilient hat sich dabei bislang der European Green Deal erwiesen, eines der Flaggschiff-Projekte der Kommission von der Leyen. Zwar gab es seit Beginn der Pan­demie von Seiten der Visegrád-Staaten und einzelner Branchenverbände Versuche, den Ehrgeiz der EU mit Verweis auf die sozioökonomische Krisenlage zu bremsen. Doch mit der – von Frankreich und Deutschland gestützten – Entscheidung der Kom­mission, dem Wiederaufbauprogramm »Next Gen­eration EU« eine erkennbar grüne Note zu geben, hat sich das in der europäischen Umweltpolitik seit lan­gem etablierte Paradigma einer ökologischen Moder­nisierung nicht nur als krisenfest erwiesen; das Nar­rativ vom Grünen Wachstum etabliert sich nun zunehmend auch im Mainstream.

Allerdings ist noch keineswegs ausgemacht, dass das zentrale Ziel des Green Deal – das Erreichen von Netto-Null-Treibhausgasemissionen bis 2050 – für die EU tatsächlich auf Dauer handlungsleitend bleibt. Das Versprechen, dass sich das klimawissenschaftlich Notwendige mit dem wirtschaftspolitisch Gewünschten vereinbaren lässt, muss in der Wahrnehmung der Regierungen, Parlamente, Unternehmen, Medien und der Bevölkerung auch sichtbar vermittelt werden, um in den kommenden Jahren tragfähig zu bleiben. Dass es der Kommission in der Pandemie gelungen ist, in erheblichem Umfang zusätzliche Mittel zu mobilisieren und diese Ausgaben in den Kontext einer grünen Transformationsagenda zu stellen, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es eine große Herausforderung bleibt, die nachhaltige Transformation europäischer Volkswirtschaften unter (Post-)Krisenbedingungen auch tatsächlich umzusetzen.

Ökonomische und technologische Herausforderungen

Im Zentrum des Green Deal steht der Umbau des Energiesystems, das für mehr als 75 Prozent der Treib­hausgasemissionen verantwortlich ist. Die Auswirkungen der Pandemie lassen sich in diesem Bereich bislang nur schwer abschätzen. Temporäre Einschnitte bei Energieverbrauch und Emissionen sind nicht gleich­zusetzen mit den notwendigen Strukturbrüchen und dem grundlegenden Umbau, die Voraussetzung sind für eine Dekarbonisierung des Energiesystems. Meist wirken kurzfristige Überbrückungshilfen strukturkonservativ, weil sie primär auf die Erhaltung von Unternehmen und Branchenstrukturen (z.B. im Luft­verkehr) setzen, nicht auf deren Transformation.

Politische Rhetorik und langfristige Zielsetzungen sind dem Status quo inzwischen weit enteilt. Zwar hat Europa einen Boom bei erneuerbaren Energie­trägern erlebt. Da dieser bislang aber im Wesent­lichen auf den Stromsektor beschränkt bleibt, liegt der Erneuerbaren-Anteil am gesamten Energie­verbrauch (inkl. Verkehr, Industrie und Gebäude) erst bei knapp 20 Prozent. Auch der Blick auf den zentra­len Indikator für den Green Deal ist eher ernüchternd: Von 1990 bis 2019 – also auf knapp der hal­ben Wegstrecke bis 2050 – sind die Emissionen der EU-27 erst um 24 Prozent gesunken. In den kommenden dreißig Jahren soll nun also die drei­fache Reduktionsleistung erbracht werden, wobei sich noch nicht genau abschätzen lässt, in welchem Aus­maß die Emissionen 2020 pandemiebedingt sinken werden und wie stark der Nachholeffekt in den Folgejahren ausfallen wird.

Neben dem weiteren Ausbau der Erneuerbaren werden nun verstärkt der Umbau langlebiger Infra­strukturen, vor allem die Modernisierung des Gebäude­bestands sowie der Strom- und Verkehrsnetze, und der Aufbau einer klimafreundlichen Versorgung mit Wasserstoff ins Zentrum der Transformation der Ener­gieversorgung rücken.

Die Pandemie wird auf die Bereitschaft privater Investoren, Infrastrukturen zu modernisieren und in neue Anlagen zu investieren, eher dämpfend wir­ken, so dass vielfach mit massiven Staatshilfen gegen­gesteuert werden muss. Bei der energetischen Sanie­rung des Gebäudebestands besteht ebenso gro­ßer Nachholbedarf wie bei der Modernisierung der Strom­netze. Dies gilt zum einen für den grenzüberschreitenden Aus- und Umbau der Netze, auch bei geo­politisch wichtigen Projekten wie der geplanten, bis 2025 zu vollziehenden Einbindung des Baltikums und der Ukraine in das kontinentaleuropäische Stromsystem. Zum anderen betrifft es die Digitali­sierung, die auch wegen der erforderlichen Integra­tion volatiler Wind- und Solarenergie in die Strom­versorgung immer dringlicher wird. Benötigt wird ein intelligentes Management, das nicht nur das Strom­netz stabilisiert und Angebot und Nachfrage effi­zienter managt, sondern auch die Sektorenkopplung erleichtert, das heißt die Vernetzung bislang ge­trennter Teilsysteme. Dazu zählt etwa der weitgehend zu elektrifizierende Individualverkehr. Hier sind schon die Erfahrungen der Vorkrisenzeit ernüchternd. So gibt es beim Ausbau der Ladeinfrastruktur für Elektrofahrzeuge große Rückstände. Die negativen Folgen machen sich bei der nur schleppend vor­anschreitenden Dekarbonisierung des Individual­verkehrs ebenso bemerkbar wie bei der mangelhaften Resilienz des Systems gegenüber Cyberangriffen. Der Einsatz smarter Messgeräte in der EU gleicht einem Flickenteppich, nicht nur in Bezug auf die Sicherheitsstandards und die Messleistungen, sondern auch auf den Roll-out.

Während es bei Gebäudebestand und Stromnetzen eher darum gehen wird, Versäumnisse der Vergangenheit wettzumachen, liegt für Deutschland und Europa in der nun anstehenden Dekarbonisierung energieintensiver Industriezweige und des Luft- und Schwerlastverkehrs die Chance, eine neue energie-, technologie- und industriepolitische Erfolgsstory zu schreiben. Nicht zuletzt deshalb ist der Aufbau einer klimafreundlichen Wasserstoffwirtschaft – obwohl ursprünglich nicht im Green-Deal-Konzept enthal­ten – inzwischen zu einem Schlüsselprojekt gewor­den. Zwar zählen Deutschland und die EU in techno­logischer Hinsicht zu den globalen Vorreitern bei der Herstellung von Wasserstoff mittels Elektrolyse, doch im Hinblick auf den industriellen Einsatz von »grü­nem« Wasserstoff auf der Basis erneuerbaren Stroms stellen sich immer noch grundlegende Fragen: Ist die Anwendung wirtschaftlich? In welchem Umfang und wie schnell kann die Technik eingesetzt werden? Die Kosten für die Herstellung von grünem Wasserstoff lagen 2018 mehr als doppelt so hoch wie für den bis­lang dominierenden »grauen« Wasserstoff auf fossiler Basis, während sich »blauer« Wasserstoff (auf Basis von Erdgas mit CO2-Abscheidung und Speicherung) kostenmäßig dazwischen bewegt. In Deutschland wird in der kommenden Dekade allerdings ein großer Teil des Erneuerbaren-Ausbaus zunächst dafür be­nötigt, wegfallende Atom- und Kohlestromkapazitäten zu ersetzen. Da bislang zugleich fast 60 Prozent des Primärenergiebedarfs der EU-27 durch Einfuhren gedeckt werden, werden Wasserstoffimporte zukünf­tig eine große Rolle spielen, allerdings nicht not­wendigerweise aus jenen Ländern, die gegenwärtig das Gros der Öl- und Gaslieferungen bereitstellen.

Politische und regulatorische Herausforderungen

Das inzwischen von allen Mitgliedstaaten akzeptierte Ziel, EU-weit Netto-Null-Emis­sionen bis 2050 zu errei­chen, lässt sich nur realisieren, wenn auch das geltende Reduktionsziel für 2030 deutlich verschärft wird. Es wurde 2014 im Konsens der Staats- und Regierungschefs auf 40 Prozent (im Vergleich zum Basisjahr 1990) festgelegt und soll nun nach dem Willen der Kommission auf mindestens 55 Prozent angehoben werden – eine mehr als deutliche Stei­gerung für einen nur noch kurzen Zeitraum. Sobald sich der Europäische Rat auf ein höher gestecktes Gesamtziel festgelegt hat und die Verhandlungen über das EU-Klimagesetz abgeschlossen sind, müssen auch die bestehenden klimapolitischen Rechtsakte angepasst werden. Dies betrifft nicht nur die Gewichtung zwi­schen den drei zentralen Säulen – dem europäisier­ten Emis­sionshandel, der mitgliedstaatlichen Lasten­teilung für die Sektoren jenseits des Emissionshandels und der Verordnung über Landnutzung und Forst­wirtschaft –, es erfordert auch die Festlegung neuer Ziele für den Anteil erneuerbarer Energieträger, für die Steigerung der Energieeffizienz und vermutlich verschärfte CO2-Grenzwerte für PKWs und LKWs. Daneben wird das stark erhöhte Dekarbonisierungs­tempo auch neue regulatorische Lösungen notwendig machen, etwa zum Einbezug von Emissionssenken. Die entsprechenden Verhandlungen zwischen Rat und Parlament werden erst 2022 abgeschlossen.

Während die Auseinandersetzungen um den Stellenwert der Green-Deal-Agenda in der ersten Phase vor allem diskursiv ausgetragen und in der zweiten Phase mit zusätzlichen Mittelzuweisungen aus dem Wiederaufbauprogramm »Next Generation EU« abgefedert wurden, folgt nun eine Phase der Ver­tei­lungskämpfe um die bis 2030 deutlich reduzierten Emissionsberechtigungen. Diese werden sich – für die breitere Öffentlichkeit deutlich erkennbar – vor allem als Konflikte zwischen Gruppen von Mitgliedstaaten und zwischen Branchen materialisieren. Es wird dabei nicht nur innerhalb Europas, sondern auch in der internationalen Wahrnehmung des Vor­reiters EU schnell deutlich werden, dass das Para­digma der ökologischen Modernisierung in der kon­kreten Praxis nach wie vor auf große Vorbehalte stößt. Zwar handelt es sich beim Green Deal um eine zunehmend populäre Chiffre, aber es fällt den zen­tralen Akteuren keineswegs leicht, sich auch wirklich auf einen Deal zu einigen.

Damit das Narrativ vom Grünen Wachstum glaubwürdig bleibt, könnte ein CO2-Grenzausgleich nötig werden.

Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass sich der Euro­päische Rat noch unter deutscher Präsidentschaft auf ein Emissionsminderungsziel von 55 Prozent eini­gen wird. Gleichwohl dürfte es nicht gelingen, mit dem bisherigen Muster zu brechen, dass die klima­politischen Nachzügler in Mittel- und Südosteuropa Zielverschärfungen nur dann akzeptieren, wenn sie von einem Großteil der zusätzlichen Anstrengungen ausgenommen werden. Dies wird nicht zuletzt zu Reibungen mit den Frugal Four (Dänemark, Nieder­lande, Österreich, Schweden) führen, die seit langem auf ein höheres Maß an Konvergenz in der EU-Klima­politik drängen. Diese Konflikte werden sich zumin­dest teilweise durch ein verändertes Policy-Design einhegen lassen. Dazu zählt etwa die Einbeziehung forstwirtschaftlicher Senken in die EU-Zielkalkula­tion, eine mögliche Wiederzulassung von Emissionsgutschriften aus Klimaschutzprojekten in Drittstaaten oder eine Abschwächung der Bedeutung nationaler Reduktions­ziele durch Verschiebung des Verkehrs- und des Gebäudesektors in den Emissionshandel. Mit der letztgenannten Maßnahme könnte die Höhe der Strafzahlungen begrenzt werden, die den West- und Nordeuropäern bei Verfehlung vergleichsweise hoher Vorgaben drohen.

Unabhängig von internen Verteilungskonflikten wird sich die EU mit einem zunehmenden Regulierungsbedarf konfrontiert sehen, der sich bei dem Bemühen ergeben wird, die Dekarbonisierung des Energiesystems zügig zu steuern. Auch die Zahl der geoökonomischen Konflikte wird nicht sinken. Im Mit­telpunkt dürfte dabei stehen, den Abstand zwischen den europäischen Produktionskosten und jenen der wichtigsten Handelspartner zu begrenzen. Zwar wird der Ausbau der Kapazitäten für die Pro­duktion und den Trans­port von Wasserstoff groß­zügig aus öffent­lichen Mitteln gefördert. Doch dürfte es bei angespann­ten Post-Krisen-Budgets nicht möglich sein, in großem Maßstab finanzielle Hilfen bereitzustellen, um Differenzkosten in der Produktion – etwa zwi­schen »grünem« und konventionellem Stahl – zu über­brücken. Sollten sich andere Industrie- und Schwel­lenländer nicht in naher Zukunft auf einen deutlich ehrgeizigeren Klimaschutzpfad begeben, wird die EU deshalb entscheiden müssen, ob sie bereit ist, durch den Einsatz eines CO2-Grenzausgleichs­mechanismus (etwa einer CO2-Steuer auf Importe) ihren klimapolitischen Ehrgeiz auch in handelspoli­tischen Konflikten unter Beweis zu stellen. Falls nicht, wird das Narrativ vom Grünen Wachstum an Glaub­würdigkeit einbüßen – entweder weil industrielle Wertschöpfung in andere Weltregionen abwandert oder weil die EU sich gezwungen sieht, ihre Transfor­mationsbestrebungen erkennbar zurückzuschrauben.

Notwendige Fortschritte

Die angesichts des fortschreitenden Klimawandels gebotene Transformation der europäischen Volkswirtschaften sähe sich auch ohne die Pandemie viel­fältigen Herausforderungen gegenüber. Ein radi­kales Umsteuern in relativ kurzer Zeit kollidiert mit einer Fülle technischer, wirtschaftlicher und politisch-regulatorischer Pfadabhängigkeiten. Zwar hat sich das Paradigma der ökologischen Modernisierung, das dem European Green Deal zugrunde liegt, während der eska­lierenden Corona-Krise behauptet. Aber es ist nicht ausgemacht, dass die Überzeugung, vorsorgendes Han­deln zahle sich langfristig aus, dauerhaft hand­lungsleitend bleibt. Je einschneidender die öko­nomischen Folgen der Pandemie ausfallen, desto geringer dürfte die Bereitschaft der Mitgliedstaaten sein, forcierte Strukturbrüche zu organisieren, die kurzfristig negative Auswirkungen auf Arbeitsmärkte und Sozialsysteme haben könnten.

Die EU hat sich in den vergangenen dreißig Jahren das Image eines klimapolitischen Vorreiters erarbeitet, gemessen am neuen Langfristziel Klimaneutralität aber erst ein Viertel des Wegs zurückgelegt. Es wird nun darauf ankommen, auch unter heraus­fordernden Rahmenbedingungen zu zeigen, dass die­ser Weg sowohl umwelt- als auch wirtschaftspolitisch erfolgreich ist. In den kommenden Jahren sollte die EU ihr Augenmerk deshalb vor allem auf Fortschritte in drei Feldern legen:

Klimapolitisch muss es der EU gelingen, sich intern auf ein ehrgeiziges Ziel für 2030 zu einigen, das ihr nicht nur international Anerkennung einbringt, son­dern zugleich ermöglicht, die anschließenden Legis­lativverhandlungen zügig und ohne große politische Ver­werfungen unter den Mitgliedstaaten abzuschließen. Das verschafft den betroffenen Branchen ein Mindestmaß an Planungssicherheit bis 2030.

Industriepolitisch muss die EU insbesondere den Ein­stieg in eine klimafreundliche Wasserstoffökonomie entschieden vorantreiben, konkret durch das Poolen von Kompetenzen und Ressourcen. Hierin liegt nicht nur eine große Chance für die Dekarbonisierung der europäischen Industrie und des Luft- und Güter­verkehrs. Damit einhergehen könnten eine sichtbare globale Technologieführerschaft und die Möglichkeit, international frühzeitig Regulierungsstandards zu setzen.

Außenwirtschaftspolitisch schließlich muss es der EU gelingen, ihren Vorreiterstatus abzusichern, indem sie bei den Produktionskosten die Kluft zu anderen Industrie- und Schwellenländern nicht zu groß wer­den lässt. Dabei wird sie zum einen Wege finden müssen, ihre Öl- und Gaslieferanten in die neue Ener­giewelt mitzunehmen, etwa als Produzenten für klimafreundlichen Wasserstoff. Zum anderen dürfte es notwendig werden, die eigenen Klimaschutzambi­tionen mit dem dosierten Einsatz handelspolitischer Instrumente zu untermauern.

Muriel Asseburg / Wolfram Lacher / Guido Steinberg

Regionale Unordnung in Europas südlicher Nachbarschaft. Konfliktakteure verfolgen Interessen unbeirrt

Die Covid-19-Pandemie hatte in den drei internatio­nalisierten Bürgerkriegen im Nahen/Mittleren Osten und in Nordafrika (Jemen, Libyen, Syrien) in erster Linie zur Folge, dass sich die ohnehin schon katastrophale humanitäre Situation weiter verschlechterte. Lokale, regionale und internationale Akteure haben die Pan­demie nicht als Anlass gesehen, zu gemein­samem Handeln zu finden. Dabei haben die Konflikt­dyna­miken eine effektive Reaktion auf Covid-19 noch erschwert. Sekundäre Auswirkungen der Pandemie zwangen einige Akteure zwar dazu, ihre operativen Prioritäten anzupassen. Ihre langfristigen Interessen hat dies aber nicht verändert. Daher ist die Pandemie in keinem der drei Fälle zu einer relevanten Determinante des Konfliktgeschehens geworden, und sie hat auch keine Wende in den Konfliktdynamiken herbei­geführt. Dies ist auch für die Zukunft nicht zu erwar­ten. Denn lokale, regionale und internationale Ak­teure verfolgen ihre zentralen Interessen unbeirrt wei­ter. Dabei konzentrieren sich die geostrategischen und geoökonomischen Auseinandersetzungen stärker als zuvor auf den Mittelmeerraum, und damit auf Europas direkte Nachbarschaft. Das größere Maß an Aufmerksamkeit, die das von Deutschland und seinen Partnern in der EU erfordern würde, wird den Ent­wick­lungen bislang allerdings nicht zuteil.

Krisenmanagement und humanitäre Auswirkungen der Pandemie

Die im Frühjahr 2020 weit verbreitete Befürchtung, die Covid-19-Pandemie würde die drei größten Kon­fliktherde im Nahen/Mittleren Osten und in Nordafrika besonders hart treffen, schien sich zunächst nicht zu bestätigen. Zwar waren die offiziellen Infektions­zahlen zunächst relativ niedrig, was unter anderem auf fehlende Testmöglichkeiten und Vertuschung durch die Regierungen zurückzuführen ist. Seit spä­testens Sommer 2020 steigt die Zahl der Infizierten zumindest in Syrien und Libyen aber stark an.

Dabei sind alle drei Länder denkbar schlecht für die Bewältigung der Pandemie gerüstet: Die Gesundheitsinfrastruktur hat unter dem Staatszerfall und den bewaffneten Auseinandersetzungen der letzten Jahre massiv gelitten; Krankenhäuser und Erstversorgungseinrichtungen sind großenteils zerstört oder geplündert; medizinisches Personal ist vielfach geflo­hen; es mangelt an Ausrüstung (vor allem an Test­equipment und Beatmungsgeräten) und Medikamenten. Ausländisches medi­zinisches und humanitäres Personal hat keinen Zugang zu vielen Regionen. Flücht­linge, Binnenflüchtlinge und Insassen von Haft­anstalten und Gefangenenlagern sind aufgrund kata­strophaler hygienischer Bedingungen und der Un­mög­lichkeit, sich in den dort herrschenden beengten Verhältnissen physisch Abstand zu halten, besonders hohen Risiken ausgesetzt.

Maßnahmen, die in den Ländern selbst oder in Nachbarländern ergriffen wurden, um die Pandemie einzudämmen, verschlechterten die ohnehin schon prekäre humanitäre Situation vor allem im Jemen und in Syrien weiter. Insbesondere nahm die Arbeits­losigkeit zu, Einkommensmöglichkeiten und Rück­überweisungen verringerten sich; die Lebensmittelpreise stiegen (vor allem in Syrien) enorm an, und den Menschen vor Ort fiel es zusehends schwerer, sich selbst zu versorgen. Das Corona-Krisenmanage­ment verschärfte infolgedessen die sich ohnehin zuspitzende Wirtschafts- und Währungskrise, etwa in Syrien. Im Juni 2020 warnten die UN vor einer Hun­gersnot in Syrien; im Jemen hat schon vor Jahren eine Hungerkrise eingesetzt.

Pandemiebewältigung im Konflikt

UN-Generalsekretär António Guterres forderte im März 2020 einen globalen Waffenstillstand, um die Eindämmung der Pandemie und humanitäre Hilfe zu erleichtern. Dieser Forderung kamen – auch nach deren Bekräftigung durch Sicherheitsratsresolution 2532 (Juli 2020) – die Konfliktparteien in den drei internationalisierten Bürgerkriegen im Nahen/Mitt­leren Osten und in Nordafrika nicht nach. In Libyen eskalierten die Kampfhandlungen ab März sogar massiv. Eine Ausnahme bildete eine einseitig von den kurdisch dominierten Syrischen Demokratischen Kräften (Syrian Democratic Forces, SDF) verkündete Feuerpause im Nordosten Syriens, die allerdings nur die Waffenruhe bestätigte, die mit dem türkisch-russischen Abkommen vom Oktober 2019 für das nordöstliche Grenzgebiet beschlossen worden war. Eine weitere Ausnahme war eine sechswöchige Feuer­pause Saudi-Arabiens im Jemen, die jedoch schon im Mai endete, woraufhin die Kampfhandlungen erneut aufflammten.

Eine effektive Eindämmung der Pandemie und die Gewährung humanitärer Hilfe wurden in allen drei Fällen erschwert oder konterkariert: durch fortgesetzte Kampfhandlungen, die Fragmentierung der terri­toria­len Kontrolle, Zu­gangsbeschränkungen für huma­nitäre Akteure und deren Weigerung, mit lokalen De‑facto-Autoritäten zusammenzuarbeiten. Die Kon­flikt­parteien unter­liefen Grenzschließungen und Reiseverbote, indem sie fortwährend Kämpfer verleg­ten. Auch änderte keiner der entscheidenden exter­nen Akteure seinen Kurs, um die Möglichkeit zu eröffnen, den aus der Pandemie resultierenden huma­nitären Bedürfnissen wirksam zu entsprechen. Auf­grund russischer (und chinesischer) Vetos wurde etwa der Zugang nach Syrien für grenzüberschreitende Hilfsleistungen der UN immer weiter eingeschränkt (so dass zuletzt Sicherheitsratsresolution 2533 vom Juli 2020 nur noch einen internationalen Grenz­übergang für solche Lieferungen vorsah).

Indirekte Auswirkungen der Pandemie

Primäre und sekundäre Effekte der Pandemie zwan­gen regionale und inter­nationale Konfliktakteure in unterschiedlichem Ausmaß, ihre Prioritäten und Vor­gehensweisen vor Ort anzupassen. Dabei hängt der Anpassungsdruck in hohem Grade davon ab, wie stark die Akteure in ihrer eigenen Heimat von der Pan­demie betroffen waren bzw. sind (und sich in der Folge gezwungen sahen, Personal nach Hause zu be­ordern, damit es dort im Kampf gegen die Pandemie hilft), in welchem Ausmaß ihr Einsatz am Konflikt­schauplatz von der Pandemie berührt wird (Militär­berater und Bodentruppen mussten Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, während Luftwaffen kaum Ein­schränkungen hatten, ebenso wenig wie Akteure, die vor allem auf Anschläge setzten) und wie sehr ihre Ressourcen durch die sekundären Effekte der Pan­demie beschnitten werden (etwa durch das jähe Fallen des Öl- und Gaspreises oder den Einbruch der Wirtschaft infolge von Lockdown-Maßnahmen).

Vor allem der Iran, das im Nahen Osten von der Pandemie am stärksten betroffene Land, sah sich gezwungen, seine Präsenz und Aktivitäten in Syrien ein­zuschränken. Nicht nur mussten Armee und Revolutionsgarden bei der Eindämmung der Pan­demie zuhause helfen. Auch Kontingente der wich­tigsten Verbündeten, die libanesische Hisbollah und die irakischen Milizen, wurden in ihre Heimatländer zurückbeordert, um sich an der Bekämpfung des Virusausbruchs zu beteiligen. Im Iran verschärften sich außerdem die wirtschaftlichen Schwierigkeiten als Folge von Lockdown-Maßnahmen und weil der Ölpreis erheblich zurückging, was die Auswirkungen der gegen den Iran ver­hängten US-Sanktionen noch verstärkte. Dadurch wurden die finanziellen Res­sour­cen angegriffen, die dem Land zur Verfügung stehen, um die eigene Präsenz aufrechtzuerhalten und um Milizen und lokale Stammesvertreter zu unter­stützen, etwa in Deir ez-Zor.

Im Jemen erhöhte der Ölpreisverfall infolge der Corona-Krise den Druck auf Riad, den teuren Krieg zu beenden. Allerdings hatte schon das Ausscheiden der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) aus dem Krieg im Sommer 2019 die Saudis in Schwierigkeiten ge­bracht. Ohne die Schützenhilfe seines wichtigsten Verbündeten war an einen Sieg im Kampf gegen die vom Iran unterstützten Huthi-Rebellen nicht mehr zu denken. Infolgedessen verkündete Riad noch im März 2020 eine einseitige Waffenruhe, die sechs Wochen lang weitgehend hielt. Doch im Mai und Juni brachen erneut Kämpfe aus. Dafür waren vor allem die Huthis verantwortlich, die sich nun in einer so starken Posi­tion wähnten, dass sie nicht mehr daran interessiert schienen, den Konflikt in Verhandlungen mit den Saudis beizulegen.

In der Summe hatten diese Anpassungen kaum Aus­wirkungen auf die vorherrschenden Konflikt­dynamiken und führten in keinem der Schauplätze eine Wende herbei. Dies liegt in allererster Linie dar­an, dass die Konfliktakteure ihre Interessen unbeirrt verfolgen. Besonders deutlich ist das in Libyen, wo die Türkei ihre Intervention trotz Pandemie stark aus­gedehnt hat, womit sie Russland, Ägypten und die VAE provozierte, die Gegenseite weiter aufzurüsten. Der Ölpreisverfall könnte die Finanzierung dieser Interventionen allenfalls mittelfristig in Frage stellen.

Zum Teil versuchen regionale Konfliktakteure auch, die wahrgenommene Schwäche anderer oder deren Fokussierung auf die Pandemie auszunutzen, um ihre Interessen umso zielstrebiger durchzusetzen. Israel etwa intensivierte seine Luftschläge in Syrien (und den Nachbarländern) seit dem Frühjahr 2020 noch, um den Druck auf den Iran und seine nichtstaatlichen Verbündeten in einer Zeit zu erhöhen, die für die Islamische Republik ausgesprochen schwierig ist. Der »Islamische Staat« (IS) sah die Situation in Syrien als Gelegenheit, erneut auf sich aufmerksam zu machen. Die Folgen waren ein Anstieg von An­schlägen, Revolten und (versuchte) Gefängnisausbrüche aus den Haftanstalten der SDF.

Unsicherheitskomplex im Nahen/Mittleren Osten und in Nordafrika

Das Zusammenwirken der Dynamiken an den drei Schauplätzen gibt wenig Anlass, eine dauerhafte Sta­bilisierung der direkten Nachbarschaft Europas zu erwarten. Die Türkei und Russland werden als be­grenzt kooperative Kontrahenten in zunehmendem Maße zu dominanten Akteuren nicht nur im öst­lichen, sondern auch im südlichen Mittelmeerraum. Bei ihrem Konfliktmanagement setzen sie auf bi­lateralen Interessenausgleich statt auf Konflikt­regelung, und sie stufen ihre Eigeninteressen deutlich höher ein als die der lokalen Akteure – von den Zivilbevölkerungen ganz zu schweigen. Die Rück­koppelungen zwischen den Konflikten in Libyen und Syrien mehren sich, nicht zuletzt weil sowohl Russ­land als auch die Türkei in Syrien Personal für den Kampf in Libyen rekrutieren. Damit steigt auch das Risiko, dass Fehlkalkulationen an einem Schauplatz Waffenstillstände und Konfliktmanagement in dem anderen unterminieren. Der Hegemonialkonflikt zwischen dem Iran und den arabischen Golfstaaten, der die Auseinandersetzungen im Jemen überwölbt, ist in Syrien zwar in den Hintergrund getreten, aber noch immer nicht beigelegt. Bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Israel und den USA auf der einen und dem Iran und Iran-geführten Milizen auf der anderen Seiten bergen erhebliches Potential, Aus­einandersetzungen in Syrien, im Irak und im Libanon eskalieren zu lassen. Insbesondere in Libyen ver­binden sich die nahöstlichen Spannungen zwischen den VAE und Saudi-Arabien einerseits und der Türkei sowie Katar andererseits zunehmend mit jenen zwischen den Mittelmeeranrainern Ägypten, Israel, Griechenland, Zypern und Frankreich auf der einen und der Türkei auf der anderen Seite. Diese Konfliktlinien spiegeln sich auch in der Einigung Israels und der VAE auf eine Normalisierung ihrer Beziehungen wider, die von den USA vermittelt wurde.

Europa droht nachhaltig an Einfluss auf Konflikte in seiner unmittelbaren Nachbarschaft zu verlieren.

Im Nahen/Mittleren Osten und in Nordafrika hat sich in den letzten zehn Jahren ein zusehends viel­schichtiger und volatiler »Unsicherheitskomplex« her­aus­gebildet. Geprägt ist er durch die Folgewirkungen des »Arabischen Früh­lings« – Staatszerfall, komplexe, internationalisierte Bürgerkriege, neu kon­figurier­te Hegemonialkonflikte und Wettstreite über die Vor­herrschaft von Ordnungsvorstellungen, unter ande­rem den Einfluss des politischen Islam. Hin­zu kom­men, vor dem Hintergrund von Gasfunden im öst­lichen Mittelmeer, eine sich verschärfende geostra­tegische Konkurrenz um Energieressourcen sowie Handels- und Transportwege im Mittelmeerraum. Dies schlägt sich unter an­derem in einer verstärkten ökonomischen und militärischen Präsenz externer Akteure, in Achsenbildung und provokanten mili­tärischen, diplomatischen und ökonomischen Manövern mit hohem Eskalationspotential nieder – und das in einer Region, in der es keine etablierten Konfliktregelungsmechanismen gibt.

Herausforderungen und Handlungs­optionen für deutsche und europäische Politik

Trotz Pandemie hält der Trend zur Internationalisierung und Verflechtung der Bürgerkriege im Nahen/ Mitt­leren Osten und in Nordafrika an. Diese Entwicklungen laufen deutschen und europäischen Interessen zuwider, denn sie erlau­ben es Akteuren wie Russ­land, der Türkei und den VAE, ihre Militärpräsenz an den regionalen Brennpunkten zu verfestigen. Damit droht Europa ein nachhaltiger Verlust an Einfluss auf Konflikte in seiner unmittelbaren Nachbarschaft. Gleich­zeitig ist Europa von den Auswirkungen dieser Konflikte teils stärker betroffen als die intervenierenden Staaten.

Die in dieser Hinsicht bemerkenswerteste Auswirkung der Pandemie dürfte sein, dass die Europäer mit wirtschaftlichem und gesundheitspolitischem Krisen­management beschäftigt und daher noch weniger in der Lage sind, den neuen Anforderungen in ihrer Nach­barschaft gerecht zu werden. Stattdessen haben sich einzelne EU-Mitgliedstaaten insbesondere in Libyen mit den gegnerischen Lagern assoziiert und sind auf diese Weise selbst zu Konfliktparteien gewor­den. Dies aber macht es der EU unmöglich, eine Ver­mittlerrolle zu spielen.

Um in der geopolitischen Konkurrenz in der Nach­barschaft glaubwürdig als stabilisierender Akteur auftreten zu können, sollten sich die Europäer inten­siver als bisher darum bemühen, die Konflikte ein­zelner Mitgliedstaaten mit den Regionalmächten zu entschärfen. Dafür bedarf es insbesondere der Ver­mittlung im Streit um die Exklusiven Wirtschafts­zonen im östlichen Mittelmeer. Einen größeren Hand­lungsspielraum im Umgang mit schwierigen Regio­nal­mächten könnten sich die Europäer zudem verschaffen, indem sie ernsthaft versuchen, Waffen­lieferungen an Konfliktparteien zu unterbinden – auch wenn diese lediglich verdeckt in Konflikten intervenieren.

Unmittelbar besteht die Notwendigkeit, die Ausbreitung der Pandemie in den regionalen Konfliktherden so wirksam wie möglich einzudämmen. In diesem Sinne sollten sich die Europäer dafür ein­setzen, den Zugang zu humanitärer Hilfe und gesund­heitlicher Unterstützung in allen Gebieten der Krisen­staaten auszuweiten. Europa sollte zudem die Zusam­menarbeit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und anderer internationaler Organisationen mit De-facto-Behörden fördern, nicht zuletzt um die Lage in Haftanstalten und Vertriebenenlagern zu verbessern.

Markus Kaim

Covid-19 und das Krisenmanagement Deutschlands

Die Bundesrepublik Deutschland beteiligt sich seit der Wiedervereinigung am internationalen Krisenmanagement und hat dabei einen spezifischen Ansatz entwickelt. Sie akzeptiert einerseits die Notwendigkeit, sich im gesamten Spektrum militärischer Opera­tionen zu engagieren, hat aber andererseits eine klare Präferenz für ziviles Krisenmanagement. Einsätze im Rahmen der Vereinten Nationen und der Nato sind eher selten (UN, z. B. Mission MINUSMA in Mali) oder quantitativ rückläufig (Nato, z. B. Mission Resolute Support in Afghanistan). Es ist vor allem die Euro­päische Union mit ihrem Profil als zivil-militärischer Akteur, die den bevorzugten Rahmen für deutsche Beiträge bildet.

Krisen und Krisenmanagement

Angesichts einer großen Begriffsvielfalt kommt man bei der Beschäftigung mit dem Thema nicht umhin, anzugeben, was man unter »Krisen« bzw. »Krisen­management« versteht. Hier werden Krisen vor allem als Ereignisse begriffen, die in den Augen internationaler Akteure entweder eine Bedrohung der beste­henden regionalen oder globalen Ordnung und/oder eigener Sicherheitsinteressen darstellen, deren Aus­gang offen ist und die daher aktives Eingreifen erfor­derlich macht. Das unmittelbare Reagieren auf die Gefährdung und die damit verbundene Entscheidungsfindung bilden den Kern des Krisenmanagements. Die internationalen Akteure, die sich für die Lösung bzw. Regelung einer Krise engagieren, verfolgen nicht zwingend das Ziel, die Krise vollständig beizulegen. Oft streben sie lediglich eine Stabilisierung der Lage bzw. Einhegung des Konflikts oder eine Entscheidung an, die ihren eigenen ordnungs- oder sicherheits­politischen Interessen entgegenkommt.1

Fragt man nach der direkten oder indirekten Wir­kung der Covid-Pandemie auf das deutsche Krisenmanagement, so müssten sich eventuelle Effekte an folgenden Kriterien ablesen lassen können:

  • Perception: Nimmt die Bundesregierung existierende Konflikte wegen der Corona-Krise anders (z. B. bezüglich des Konfliktgegenstands, der Kon­flikt­akteure oder der Konfliktaustragung) wahr oder betrach­tet sie deren Regelung plötzlich als vor­rangig?

  • Policy: Agiert die Bundesregierung seit März 2020 aktiver im Krisen­management als zuvor oder hat sie sich zurückgezogen? Hat sie sich seitdem ande­ren oder weiteren Krisen mit dem erklärten Ziel zugewandt, zum internationalen Krisenmanagement beizutragen? Und verfolgt sie in den existierenden Krisen womöglich andere Lösungsansätze, die durch Covid-19 ermöglicht oder erleichtert worden sind?

  • Possibilities: Gibt es erkennbare Auswirkungen auf die institutionellen und/oder operativen sowie materiellen Fähigkeiten Deutschlands, im Verbund mit anderen Staaten Krisenmanagement zu betreiben? Hier ist vor allem an internationale Organisationen zu denken, die Deutschland für das Krisenmanagement nutzt (EU, Nato, UN).

Nur geringe Wirkung von Covid-19

Ungeachtet der Tatsache, dass die mannigfaltigen Aus­wirkungen der Covid-19-Pandemie noch gar nicht recht erfasst werden können, fällt doch ins Auge, dass beim ersten Parameter, der Wahrnehmung und Prio­risierung von Krisen, bislang kaum Veränderungen erkennbar sind: Für die Mehrzahl der Krisen, deren Regelung für Deutschland zu Beginn des Jahres 2020 Vorrang genossen hat, zum Beispiel Libyen, Afghanistan, Mali, Ukraine, gilt dies immer noch. So bemüht sich die Bundesregierung weiterhin um ein Nachfolge­treffen der Berliner Libyen-Konferenz vom Januar 2020 und stellt nach wie vor ihre Mittlerdienste bei der Aushandlung eines afghanischen Friedensabkom­mens zur Verfügung. Der Bundestag hat am 29. Mai 2020 erneut den deutschen Beitrag zu den beiden Missionen in Mali (EUTM Mali sowie MINUSMA) man­datiert, und die Außenminister des »Normandie-Formats« haben am 30. April 2020 ihre Gespräche über einen umfassenden Waffenstillstand zwischen den Konfliktparteien in der Ostukraine fortgesetzt.

Deutschland und die EU haben sich seit März 2020 politisch stark nach innen gewendet.

Damit ist zugleich auch das zweite Kriterium be­reits angesprochen: Berlin bemüht sich weitgehend, unter schwierigeren Bedingungen in der Substanz fortzuführen, was zuvor schon nicht leicht war oder schnellen Erfolg verhieß, zum Beispiel die Vermittlung im Libyen-Konflikt. Hier unterstützt die Bundes­regierung auch weiterhin die UN-Sonderbeauftragte Stephanie Williams, versucht nach wie vor, Druck auf die externen Akteure auszuüben, die mit politischer Unterstützung oder Waffenlieferungen den Konflikt in dem nordafrikanischen Land befeuern, und betei­ligt sich an der Operation EUNAVFOR MED IRINI, mit der die EU das Waffenembargo durchsetzen will.2 Neue Initiativen im bereits laufenden Krisenmanage­ment (in der Form oder in der Sache) sind nicht er­kennbar, waren aber auch trotz der exponierten Rolle Deutschlands als EU‑Ratsvorsitz und nichtständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats nicht zu erwarten. Covid-19 hat die Pfadabhängigkeiten des deutschen Krisenmanage­ments vor dem Hintergrund völlig anderer politischer Prioritäten wenig erschüttert. Zwar sehen manche Beobachter in einer veränderten Konfliktdynamik, die Folge der Pandemie ist, neue Anknüpfungspunkte für das Krisenmanagement, so im Jemen. Aber derartige Bewertungen müssen bis auf Weiteres als vorläufig gelten. Denn die wenigen positiven Effekte der Pan­demie auf Krisen im Sinne eines Abflauens einer mili­tärischen Auseinandersetzung oder der Gewährung humani­tärer Hilfe werden höchstwahrscheinlich nur von kurzer Dauer sein.

Geringere Handlungsspielräume

Anders ist die Frage beim dritten Kriterium zu beant­worten: Die Pandemie und die damit verbundenen ökonomischen Folgen haben in der deutschen Politik die Handlungsspielräume für das Krisenmanagement verengt. Während die Bundesregierung bis vor weni­gen Monaten noch die nichtständige Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat und die EU-Ratspräsidentschaft als Instrumente der Wahl ansah, um eine Reihe inter­nationaler Konflikte einzuhegen, fokussiert sie sich mit ihren Aktivitäten in internationalen Organisationen nunmehr vor allem auf die Eindämmung der nach wie vor grassierenden Pandemie, auf die Abfe­derung der wirtschaftlichen Folgen des Gesundheitsnotstands und die Suche nach einem wirksamen Impfstoff. Die Covid-Agenda hat die internationale Krisenagenda überlagert, und dies erst recht wieder, nachdem im Herbst 2020 die zweite Pandemiewelle hereingebrochen ist.

Genau wie Deutschland hat sich auch die Euro­päische Union seit März 2020 politisch stark nach innen gewendet und sich vorwiegend mit der Bewäl­tigung der Covid-Pandemie befasst. Schlagzeilen machte nicht, wie eigentlich geplant, der EU-China-Gipfel im September, der die geopolitische Bedeu­tung Europas unterstreichen sollte, sondern die Son­der­tagung des Europäischen Rates im Juli mit ihren Beschlüssen für den Wiederaufbaufonds und zum Mehrjährigen Finanzrahmen für die Jahre 2021 bis 2027. Auch werden der Ge­mein­samen Außen- und Sicherheitspolitik sowie der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit ihren jeweiligen Krisenmanagementinstrumenten zurzeit lediglich nachrangige Bedeutung zugemessen, was sich nicht zuletzt an der geringen Ausstattung des Europäischen Verteidigungsfonds im MFR mit 7,014 Milliarden Euro für sieben Jahre ablesen lässt. Der EU fällt es derzeit schwer, politische Impulse außerhalb des Regelbetriebs zu setzen, zum Beispiel in den Bezie­hungen zur Türkei, in Bezug auf die der Rat in seinen Schlussfolgerungen vom 2. Oktober noch eine »posi­tive politische EU-Türkei-Agenda« auf den Weg brin­gen wollte. Unter dem Strich ist somit zu konstatieren, dass die Covid-Pandemie das Krisenmanagement der EU als Rahmen für die deutsche Sicherheitspolitik geschwächt hat, und zwar weniger operativ als politisch.

Trotz der Tatsache, dass die Nato bzw. die natio­nalen Streitkräfte eine wichtige Rolle beim Kampf gegen die Pandemie in den Mitgliedsländern gespielt haben, drohen Verschiebungen in der internen Macht­struktur der Allianz (»politischer« Rückzug der USA; Konflikt Türkei  Griechenland/Frankreich) zurzeit die Fähigkeit des Bündnisses zu lähmen, sich gemeinsam im externen Krisenmanagement zu enga­gieren.3 Gleichwohl laufen die bestehenden Missionen in Afghanistan, im Kosovo und im Irak, wenn auch mit geringeren operativen Beeinträchtigungen, weitgehend gleichförmig weiter. Eine unmittelbare Wirkung der Pandemie auf die Einsätze ist lediglich dadurch erkennbar, dass für die beteiligten Kontingente Covid-Schutzmaßnahmen erlassen wurden und die Aktivitäten im Bereich der humanitären Hilfe zugenommen haben.

Gleiches gilt auch für die Vereinten Nationen, wo sich die bereits zuvor bestehenden Spannungen zwischen den Großmächten durch die Pandemie weiter ver­stärkt haben, wodurch es nahezu unmöglich gewor­den ist, dass der Sicherheitsrat die ihm zugewiesene Rolle beim Konfliktmanagement engagiert spielt. Damit war auch die Wirkung der deutschen Außenpolitik in diesem Gremium zuletzt begrenzt. Dessen Aufruf an alle Parteien in bewaffneten Konflikten, unverzüglich eine humanitäre Feuerpause von min­destens neunzig Tagen einzulegen, ist weitgehend wirkungslos geblieben.4

Offen bleiben muss zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Wirkung der Pandemie auf die materielle Basis des Krisenmanagements. Nicht nur in Berlin, sondern auch in vielen anderen Hauptstädten ist derzeit die Rede von bevorstehenden Haushaltskürzungen. Diese würden auch die Ressourcen des Krisenmanagements betreffen, vor allem dessen militärische Dimension in Form von Minderungen nationaler Verteidigungshaushalte.5 Ob sich diese Befürchtungen bewahrheiten, kann an dieser Stelle nicht sicher prognostiziert wer­den, insbesondere weil es mit der anhaltenden trans­atlantischen Debatte über eine faire Lastenteilung auch Faktoren gibt, die in die entgegengesetzte Rich­tung wirken.

Krisenmanagement – von außen nach innen

Es ist nachvollziehbar, dass die Bundesregierung ihr internationales Krisenmanagement angesichts der skizzierten Rahmenbedingungen erst einmal in den etablierten Bahnen fortgeführt hat und neue Initia­tiven scheut. Sie tut dies nicht zuletzt auch deshalb, weil die dafür notwendigen Partner zum Teil noch viel schwerer von der Covid-Pandemie betroffen sind und außerhalb ihrer Grenzen nur geringes Gestal­tungsinteresse erkennen lassen. Eine Ausnahme bildet hier Frankreich, wo es der Regierung Macron trotz hoher Infektionszahlen nicht am Willen zu einem außen­politisch machtbewussten Auftreten mangelt, zuletzt vor allem im östlichen Mittelmeerraum.

Wenn also auf den ersten Blick Kontinuität im Krisenmanagement zu dominieren scheint, so droht doch ohne ein aktiveres Engagement mittelfristig eine Schwächung dieses Politikfelds. Denn zum einen hat die Covid-Pandemie dessen Zielrichtung verändert: von der Eindämmung oder Regelung eines Konflikts im internationalen System hin zu einer Priorisierung der eigenen Krisenresilienz. Das heißt, Deutschland und Europa sind zuallererst darauf fokussiert, ihre Fähigkeiten zu stärken, mit der Pandemie umzugehen und deren Folgen abzufedern. Damit einher geht eine Ausdifferenzierung des Instrumentariums: von den politischen und militärischen Krisenmanagement­fähigkeiten hin zu finanziellen, gesundheits­politischen und anderen Instrumenten. Schließlich hat sich der Adressat und damit auch der innen­politische Legitimationsbedarf verändert: Geht es beim internationalen Krisenmanagement um die Bewältigung von Konflikten anderer Akteure und um die Bereitstellung der dafür notwendigen Ressourcen, so hat die Covid-Pandemie die Blickachse zu Heraus­forderungen und Defiziten der eigenen Politik ver­schoben.

Dieser mit der Pandemie verbundene »Ausnahmezustand« sollte jedoch nicht zum Normalzustand werden. Angesichts diverser Krisen und Konflikte in der europäischen Nachbarschaft – zuletzt in Bela­rus, in Bergkarabach und dem östlichen Mittelmeerraum –, der geopolitischen Fliehkräfte, die auf die EU aus verschiedenen Richtungen wirken, und der Leerstellen, die andere Akteure im Krisenmanagement hin­terlassen haben, bedarf es, sobald die un­mittelbaren Folgen von Covid abgeklungen sind, wieder eines stärkeren deutschen Engagements in diesem Politik­feld. Angesichts der gewachsenen Bedeutung »neuer« Regionalmächte für zahlreiche Konflikte in der direkten Nachbarschaft der EU (»Kri­senlandschaft Mittelmeer«, Syrien, Libyen), wird es dabei nicht mehr ausreichen, sich ausschließlich den unmittelbaren Konfliktbeteiligten zuzuwenden. In einem derart geopolitisierten Umfeld wird es dann stärker als bisher erforderlich sein, die bilateralen Beziehungen zu Staaten wie zum Beispiel Russland, der Türkei, Ägyp­ten, Saudi-Arabien und den Vereinig­ten Arabischen Emiraten für das Krisenmanagement nutzbar zu machen bzw. das Politikfeld in diese Bezie­hungen zu integrieren. Dies hätte aber auch zur Folge, dass die EU ihre bevorzugte Mediatorenrolle im Krisenmanagement aufgeben und ihre diesbezüg­lichen Interessen häufiger »mit Zähnen und Klauen« verteidigen müsste.

Ausblick

Barbara Lippert / Stefan Mair

Ausblick auf 2021: Das zweite Jahr der Pandemie und Chancen, die multilaterale Zusammenarbeit wiederzubeleben

Zum Jahreswechsel 2020/21 wird die Pandemie welt­weit noch nicht besiegt sein. Aber auch in den USA und Europa, wo weiterhin hohe Zahlen an Infizierten und Toten zu beklagen sind, werden 2021 stärker Post-Corona-Themen in den Vordergrund treten und politische wie wissenschaftliche Aufmerksamkeit ein­fordern. Vorrangig wird es um die Wiederbelebung der Wirtschaft und den Umgang mit den sozia­len Folgen der Pandemie gehen. Quer durch alle Politik­felder wird sich die Frage stellen, wie in Zukunft ein höheres Maß an Resilienz erreicht werden kann. Das gilt natürlich vor allem für Gesundheitssysteme und die Bereitstellung kritischer Güter, es gilt aber auch für Bildung, Pflegeeinrichtungen, Wertschöpfungsketten und öffentliche Verwaltung. Im Lichte dieser Anforderungen ist die Kompetenzverteilung zwischen europäischer, nationaler und lokaler Ebene zu prüfen.

Besonders beachtet werden sollte die gesellschaft­liche Akzeptanz der Pandemiebekämpfung bzw. von Notfallmaßnahmen generell. An den restriktiven Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie haben sich Proteste entzündet, die auch selbsternannte Frei- und Querdenker, Esoteriker und Rechtsextreme zu­sam­menbrachten. Zwar gehören populistische Regie­rungen und Parteien, die die Gefahren der Pandemie relativiert oder gar geleugnet haben, nicht zu den Krisengewinnern. Aber selbst da, wo verfassungs­gemäß und verantwortungsvoll regiert wird und die Bevölkerung die Exekutive mehrheitlich unterstützt, kann die öffentliche Meinung schnell kippen. Dies droht dann, wenn die nationalen Strategien zur Bekämpfung der Pandemie 2021 nicht die erhofften Ergebnisse zeitigen, ein Ende der Einschränkungen unabsehbar wird oder der Wechsel in den Normalbetrieb zu schnell über die Härten für bestimmte Per­sonenkreise und Branchen hinweggeht.

Überall werden deshalb 2021 die innenpolitischen und fiskalischen Entwicklungen kritisch sein. Sie werden sehr wahrscheinlich die materiellen Spielräume in vielen Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik limitieren. Dem steht entgegen, dass die EU-Partner und auch die neue US-Regierung von Deutschland erwarten werden, trotz Corona solche Handlungsspielräume zu ermöglichen und finanzielle bzw. politische Ressourcen in öffentliche Güter und internationale Kooperation zu investieren. Die Kluft zwischen Gestaltungsherausforderungen und der Bereitschaft und Fähigkeit, sie zu adressieren, erfor­dert eine neue Diskussion über Prioritätensetzung in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik und über deren Stellenwert gegenüber anderen Politik­feldern.

Corona-Folgen und Transformationsagenda der EU

In der EU sind 2020 bereits einige Weichen für die Zeit nach Corona gestellt worden, vor allem mit dem Wiederaufbaufonds »Next Generation EU« und einem deutlich größeren EU-Haushalt. Damit soll die wirt­schaftliche Ausrichtung aller Mitgliedstaaten auf ein neues Wachstumsmodell, das aus den Großprojekten Green Deal und Digitalisierung besteht, finanziell unterfüttert und inhaltlich programmiert werden. Zwar stand die wirtschaftliche Transformation hin zu klimaneutraler Kreislaufwirtschaft und durchgreifender Digitalisierung schon vor Corona auf der Tages­ordnung. Ohne die Pandemie wäre es aber sehr viel schwieriger oder gar unerreichbar gewesen, dass die EU entschlossen auf diesen Kurs setzt und ihn finan­ziell massiv fördert. Denn beide Vorhaben sind sys­temischer Natur und verlangen ein gewaltiges Um­steuern und Umlernen der Politik (im Sinne von Ordnungspolitik und Rahmensetzung), der Wirtschaft und der Gesellschaften. Die EU-Kommission stellt Klima- und Digitalpolitik als untrennbare Zwillingsprojekte dar, verschleiert damit allerdings absehbare Zielkonflikte. Aus diesen Modernisierungsprozessen gehen wirtschaftlich wie gesellschaftlich Gewinner und Verlierer hervor, was sich schon während der Pandemie abzuzeichnen begann und sich ihretwegen noch verschärfen dürfte.

Im Prinzip lassen sich die Strategien, die zur Be­kämpfung der Seuche und für künftige Prävention empfohlen werden, in Konzepte der Resilienz­stärkung und Nachhaltigkeit einbetten. Wucht und Dauer der Pandemie haben Schwächen und Verwund­barkeiten bei kritischen Infrastrukturen, bei Vorsorge wie Krisenreaktion offenbart. Corona wird insofern als Weckruf verstanden. Symptomatisch dafür ist, dass Lieferketten überprüft werden und Diversifizierung als erstrebenswert gilt, die ebenso wie Dezentralisierung ein Baustein von Resilienzstrategien ist. Zugleich haben radikalere Überlegungen Nahrung erhalten. Sie zielen darauf, Austauschbeziehungen, insbesondere den Handel, zu entflechten oder zu entkoppeln und damit auf Regression und Autarkie umzusteuern. Deutschland muss sich – als Land mit extremer wirtschaftlicher Außenorientierung und einem notorischen Handelsbilanzüberschuss – im Kreis der EU gegen diese Interpretation von Resilienz wenden. Notwendig hierfür sind aber neben guten Argumenten auch verlässliche europäische Verbündete, damit sich die Offenheit der strategischen Auto­nomie wahren lässt.

Darüber hinaus ist innerhalb der EU pandemie­bedingt eher mit mehr Divergenz der wirtschaftlichen Entwicklung zu rechnen als mit fortschreitender Kon­vergenz. Ökonomisch relativ gesunde Länder, deren Verschuldungslage umfangreiche Staatshilfen zu­lässt – Deutschland, die skandinavischen Länder, Öster­reich, die Niederlande, Irland und die Staaten Ostmitteleuropas –, haben bei weitem bessere Chan­cen als andere, sich schnell wieder zu erholen. Das dürfte die politischen Spannungen in der EU ver­schärfen. Zudem wird im Bemühen, die Krise zu überwinden, wohl auch das Gleichgewicht zwischen Staat und Wirtschaft neu kalibriert werden. Absehbar ist, dass in vielen Marktwirtschaften der Staat über die Krisenbekämpfung hinaus eine stärkere Rolle für sich reklamieren wird, durch eine aktivere Industriepolitik, aber auch durch regulatorische Eingriffe in kritischen Sektoren.

Corona hat vorerst die Aufmerksamkeit von der Klimapolitik abgelenkt. Die Klimakonferenz COP26 in Glasgow wurde um ein Jahr verschoben, die Umsetzung der klimapolitischen Agenda entsprechend abgebremst. Dagegen hat die Digitalisierung in Unter­nehmen und vielen Bereichen der Arbeits- und Lebenswelt durch die Pandemie einen echten Schub erfahren. Dass die Natur sich im Frühjahr und Som­mer 2020 wegen geringerer Wirtschaftsaktivitäten erholen konnte, hat wiederum nur ein kurzes Atem­holen ermöglicht und im schlimmsten Fall für falsche Entwarnung gesorgt. Damit sich die Klimadiplomatie wiederaufnehmen und die Digitalisierung beschleunigen und regulieren lässt, bedarf es auf europäischer wie internationaler Ebene umfangreicher Abstimmun­gen zu Normsetzung, Monitoring und Normenkontrolle. Private und nichtstaatliche Akteure müssen konsequent in die Prozesse einbezogen werden, mit denen Politik formuliert und durchgesetzt wird. Die Erfahrungen mit der Pandemie können das Risiko­bewusstsein der Bevölkerung schärfen, was nicht unmittelbar greifbare, in ihrer Wirkung aber massive Bedrohungen – wie auch den Klimawandel – an­geht. Stärker sensibilisiert werden die Menschen möglicherweise ebenso für Nutzen und Notwendigkeit technologischer Umwälzungen, wie sie die Digi­talisierung oder neue Formen der Gesundheitsforschung darstellen.

Neustart mit den USA und transatlantische Agenda 2021

Mit dem Wechsel im Weißen Haus von Trump zu Biden verbessern sich für Deutschland und Europa die Rahmenbedingungen, um vielen dieser Herausforderungen zu begegnen. 2021 könnte das Jahr werden, in dem die transatlantische Agenda wieder ein bestimmender Faktor internationaler Politik wird. Dafür müssen die EU und ihre Mitgliedstaaten in größt­möglicher Geschlossenheit auftreten und Ver­einbarungen mit Washington auf den Feldern gemein­samen Interesses treffen. Einen ersten Schritt hierzu haben die Kommission und der Hohe Vertreter der EU mit ihrer gemeinsamen Mitteilung »A new EU‑US agenda for global change« gemacht. Die vier Kapitel des Dokuments – (1) eine gesündere Welt, (2) Um­welt­schutz und Wohlstand, (3) Technologie, Handel und Standards, (4) eine sicherere, wohlhabendere und demokratischere Welt – enthalten viele Vorschläge, die auch in der vorliegenden Studie ihren Nie­der­schlag finden. Doch so attraktiv diese Agenda ist, fragt sich doch, ob die geballte Kraft der trans­atlan­tischen Partner ausreichen wird, sie umzusetzen.

Denn wie zu erwarten ist, wird die wirtschaftliche Bedeutung Chinas und damit auch sein politischer Einfluss infolge der Pandemie noch einmal spürbar zunehmen. Das heißt, dass sich die sino-amerika­nische Rivalität weiter zuspitzen dürfte und die syste­mische Konkurrenz zwischen autoritärem Staats­kapitalismus und marktwirtschaftlicher Demokratie eine zusätzliche Qualität bekommen könnte. Peking wird nicht darauf verzichten, seine Erfolge bei der Corona-Eindämmung als neuerlichen Beleg für die Überlegenheit des eigenen Systems herauszustellen. Wie sehr sich Chinas schnelle wirtschaftliche Erho­lung von der Pandemie wiederum auf die internationale Machtkonfiguration auswirken wird, hängt letzt­lich von zwei weiteren Faktoren ab: der Fähigkeit von USA und Europa, die eigenen Wirtschaftskrisen zu überwinden, und ihrem Willen, eine gemeinsame Hal­tung und Strategie gegenüber China zu ent­wickeln. Mit dem Amtsantritt der Biden-Regierung dürf­ten sich die Aussichten für beides deutlich ver­bessern. Ein konstruktives bilaterales Verhältnis, das auf gemeinsamen Werten beruht, kann die europäische Position im Umgang mit China nur stärken.

Strategische Autonomie Europas, Konflikte und Krisenlandschaften

Gerade in den ersten Wochen der Pandemie haben die EU-Staaten erfahren, dass ein intakter Binnenmarkt lebenswichtig ist. Die Außenpolitik der EU beruht nicht zuletzt auf dieser Marktmacht in Kom­bination mit der Regulierungsmacht, also der Fähig­keit, Standards und Normen zu setzen. Corona lieferte zusätzliche Argumente für das Streben der EU nach digitaler und währungspolitischer Souveränität, auch bei medizinischer Forschung und Produktion. Aber wo dergleichen Machtpotentiale nicht im Vor­dergrund stehen, wie beim Krisenmanagement, ist kein Pandemie-Impuls zu erkennen und zu erwarten, eher wohl ein Rückgang des Engagements. 2021 wird die Bundesregierung noch härtere Kontroversen über die Erhöhung der Verteidigungsausgaben, über Ein­satzfähigkeit und Ausstattung der Bundeswehr, Rüs­tungsexportpolitik, Migrationspolitik etc. führen müssen. Die Öffentlichkeit wird drängen, alle Auf­merksamkeit darauf zu richten, dass die wirtschaft­lichen und sozialen Folgen der Pandemie überwunden werden – was in Konkurrenz zu anderen Zielen stehen wird. Deutsche Außen- und Sicherheitspolitik wird es noch schwerer haben als bisher, die materiellen und immateriellen Kapazitäten aufzubauen, die für ihren Erfolg erforderlich sind. Dieses Anliegen muss deshalb in eine Politik der Selbstbehauptung und internationalen Gestaltungsfähigkeit Europas eingebettet werden. Wichtig ist dabei, die abstrakten Begriffe strategischer Autonomie und europäischer Souveränität auf konkrete Politikfelder herunter­zubrechen und dort auf notwendige Fähigkeiten, praktische Konsequenzen und erreichbare Meilensteine. So ließe sich auch dem in manchen EU-Staa­ten aufkeimenden Wunsch nach einer relativ beque­men Juniorrolle im Schlepptau der USA entgegen­wirken. Strategische Autonomie verlangt, dass die EU ihre außenpolitische Agenda selbst bestimmt und in die transatlantischen Beziehungen einbringt.

Zu Beginn der Pandemie keimte kurz Hoffnung auf, das alle vereinende Ziel der Virusbekämpfung könnte zumindest temporär einen internationalen Burgfrieden herbeiführen und Gesellschaften, die unter Gewaltkonflikten leiden, eine Atempause verschaffen. Diese Erwartung hat sich nicht erfüllt. Im Gegenteil: Das Jahr eins von Corona erlebte nicht nur die Fortdauer kriegerischer Auseinandersetzungen in Syrien, Jemen und Libyen, es endet auch mit einer ganzen Reihe an Brennpunkten neuer oder wie­deraufgeflammter Gewalt, unter anderem in Äthio­pien, Nagornyi-Karabach und Nigeria. Die Pandemie hat die Karte internationaler Konflikte nicht neu ge­zeichnet, sondern darauf die bekannten Bruchlinien struktureller Probleme – Hunger, Armut, wider­streitende ethnische und religiöse Identitäten – als Quellen neuer, auch gewaltförmiger Konflikte ver­tieft. In unmittelbarer Nachbarschaft der EU erfasst der Unsicherheitskomplex1 Naher/Mittlerer Osten und Nordafrika immer mehr das östliche Mittelmeer. Bisher nehmen die Europäer hier trotz ihres starken Interesses an einer stabilen (Neu-)Ordnung nur wenig Einfluss bzw. verzetteln sich in konkurrierenden oder gar konfligierenden nationalen Ansätzen. Der Türkei und Russland dagegen gelingt es trotz zum Teil wider­streitender Interessen immer wieder, bei der Neu­gestaltung der Region zusammenzuarbeiten und Kom­promisse – meist zu Lasten Dritter – zu finden.

Nicht nur die Fortdauer von Gewaltkonflikten und Machtrivalitäten wird dazu beitragen, die strukturelle Instabilität in vielen Regionen zu verstärken. Hinzu kommt, dass die Voraussetzungen in den Ländern des globalen Südens, Corona erfolgreich zurückzudrängen, ungleich schlechter sind als in Nordamerika, Europa und Ostasien. Selbst wenn es in den nächsten Mona­ten gelingen sollte, Impfstoffe und Medikamente auf globaler Ebene fair zu verteilen, werden vor allem Länder in Afrika und Lateinamerika noch immer mit Lagerungsproblemen und mangelnder logistischer Infrastruktur konfrontiert sein. Dort wird sich eine ausreichende Immunisierung der Bevölkerung weit später sicherstellen lassen als in den Ländern des Nordens. Die wirtschaftlichen Einbrüche werden im Fall der Schwellenländer und der Länder mit unterem mittleren und mit niedrigem Einkommen bewirken, dass sich bestehende Ausdifferenzierungsprozesse beschleunigen. Folge dürfte sein, dass der Migrationsdruck abermals steigt. Für ein solches Szenario ist die EU nach wie vor nicht gerüstet, da sie strittige Fragen der Asyl- und Flüchtlingspolitik nicht geklärt hat – betreffend harmonisierte Schutz- und Aufnahmenormen, Verteilung von Migranten in der EU, Rück­führungen und Schutz der Außengrenze. Insgesamt sind 2021 in vielen Ländern Afrikas, Lateinamerikas sowie Süd- und Zentralasiens fragile Übergangs­prozesse zu erwarten. Die EU muss hier weiter zu Stabilisierungsversuchen beitragen und Partnerschaftsbeziehungen mit Ländern und Regionalorga­nisationen aufbauen.

Deutschland und die EU stehen 2021 also vor viel­fältigen Herausforderungen. Sie müssen einen Durch­bruch bei der globalen Bekämpfung der Pandemie erzielen, die Wirtschaft im EU-Raum wieder ankurbeln, den Großprojekten Green Deal und Digitalisierung Zugkraft verleihen, die multilaterale Koopera­tion und entsprechende Organisationen revitalisieren, den Prozess hin zur strategischen Autonomie Europas fortsetzen, diesen mit einem Neustart der transatlantischen Beziehungen verbinden und fragile Länder des Südens stabilisieren. Diese Auflistung macht deut­lich, wie dringlich eine Debatte über Prioritäten in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik ist. Wich­tig ist dabei, Prioritätensetzungen, die immer auch Fragen der Lastenteilung mit sich bringen, nicht nur auf Regierungsebene und im Bundestag zu bera­ten, sondern sie auch mit den wichtigsten internationalen Partnern abzustimmen und gleichzeitig in den eigenen Gesellschaften, auf nationaler wie euro­päischer Ebene, zur Diskussion zu stellen. Die an­stehende Konferenz zur Zukunft Europas, die Kom­mission und Europäisches Parlament initiiert haben, bietet hierfür eine ausgezeichnete Gelegenheit.

Anhang

Abkürzungen

ACLED

Armed Conflict Location & Event Data Project

ACT

Access to COVID-19 Tools

AEUV

Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union

AfCFTA

African Continental Free Trade Area

Africa CDC

Africa Centres for Disease Control and Pre­vention

ASEAN

Association of Southeast Asian Nations

AU

Afrikanische Union

BARDA

Biomedical Advanced Research and Development Authority

BBK

Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Kata­strophenhilfe

BIP

Bruttoinlandsprodukt

CEPI

Coalition for Epidemic Preparedness Innovations

CNN

Cable News Network

CO2

Kohlendioxid

COP

Conference of the Parties (Vertragsstaaten­konferenz)

COVAX

COVID‑19 Vaccines Global Access

CSIRT

Computer Security Incident Response Team

CSIS