Direkt zum Seiteninhalt springen

Der Globale Migrationspakt und die öffentliche Gesundheit im Kontext der Covid-19-Pandemie

Ungenutzte Potentiale zur Stärkung von Gesundheitssystemen

SWP-Aktuell 2020/A 75, 16.09.2020, 4 Seiten

doi:10.18449/2020A75

Forschungsgebiete

Die Covid-19-Pandemie hat politische Entscheidungsträger dafür sensibilisiert, welche Herausforderungen es mit sich bringt, in Krisenzeiten die gesundheitliche Regelversor­gung aufrechtzuerhalten. Wichtigster Ansatzpunkt für deren Bewältigung ist die Stär­kung der Gesundheitssysteme. Hier kann die Umsetzung des im Dezember 2018 ver­einbarten Globalen Paktes für sichere, geordnete und reguläre Migration (Globaler Migrationspakt) einen wichtigen Beitrag leisten. Ein Abgleich der Ziele dieses Paktes mit den von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) definierten Grundpfeilern von Gesund­heitssystemen zeigt, wie dieser Beitrag aussehen könnte. Es gibt zahlreiche Synergien und Handlungsmöglichkeiten. Das gesundheitspolitische Potential des Migrationspakts liegt insbesondere darin, den Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen zu ver­bessern und den Fachkräftebedarf im Gesundheitssektor zu decken.

Seit Anfang 2020 beherrschen die Bemühungen um die Eindämmung der Covid-19-Pandemie die internationale Agenda. Dies prägt auch die aktuelle Migrationspolitik. Viele Regierungen suchen grenzüberschreitende Mobilität zu verringern, um die Aus­breitung des Virus zu verlangsamen und In­fektionsketten zu unterbrechen. Dies kann kurzfristig sinnvoll sein. Wer die Debatte über die Wechselwirkungen zwischen Migration und Pandemiegeschehen auf die Notwendigkeit engführt, die Mobilität zu beschränken, verkennt aber das gesundheits­politische Potential migrationspolitischer Instrumente, die statt einer Reduzierung von Migration deren bessere Gestaltung zum Ziel haben. Insbesondere die Umsetzung des Globalen Migrationspakts kann einen wichtigen Beitrag leisten, das aktuelle Infektionsgeschehen einzudämmen und künftigen Pandemien vorzubeugen.

Gesundheitliche Risiken unzulänglicher Migrationspolitik

Die Covid-19-Pandemie wirft ein Schlaglicht auf die Gesundheitsrisiken, die verfehlten migrationspolitischen Entscheidungen an­haften können. Hierzu gehören die gesund­heitlichen Risiken, die mit den prekären Wohn- und Arbeitsbedingungen vieler Migranten und Flüchtlinge verbunden sind. Beispiele aus der deutschen Fleischindustrie und Landwirtschaft zeigen, dass sich zahl­reiche Infektionsketten direkt auf unzurei­chende Hygiene und die beengte Unter­bringung von Saisonarbeitskräften zurück­führen lassen. Ähnliche Probleme gibt es in Sammelunterkünften und Flüchtlings­lagern, die oft gesundheitliche Risiken für die Bewohner bergen und in denen sich Infektionen schnell ausbreiten können.

Darüber hinaus haben Flüchtlinge und Migranten häufig keinen hinreichenden Zu­gang zur Gesundheitsversorgung. Besonders ausgeprägt ist dies bei Migranten ohne regu­lären Aufenthaltstitel, die oft die Daten­erfassung fürchten, die mit der Inanspruch­nahme von Gesundheitsleistungen ver­bunden ist. Dass Infektionsketten im Falle irregulärer Migration nur schwer oder gar nicht nachzuvollziehen sind, bringt zusätz­liche Herausforderungen für Transit- und Zielländer mit sich.

Schließlich offenbart die Pandemie zwei weitere Probleme: Zum einen, wie stark die Gesundheitsversorgung und die Stabilität der Gesundheitssysteme vieler wohlhabender Staaten von grenzüberschreitender Arbeitsmigration abhängen, und zum ande­ren, welche Risiken die Abwerbung medi­zinischen Fachpersonals für die Gesundheitsversorgung in Herkunftsländern birgt.

Das gesundheitspolitische Poten­zial des Globalen Migrationspakts

Die WHO versteht unter öffentlicher Gesund­heit (»Public Health«) alle sozialen, organi­satorischen und politischen Anstrengungen, die die gesundheitliche Lage einzelner Grup­pen oder ganzer Bevölkerungen ver­bessern, die Wahrscheinlichkeit ihres Erkrankens und Versterbens verringern und ihre Lebenserwartung erhöhen.

Entsprechend beruhen Gesundheitssysteme – die Gesamtheit der Akteure und Aktivitäten, die öffentliche und individu­elle Gesundheit fördern, wiederherstellen oder aufrechterhalten – auf sechs Grund­pfeilern: (1) Steuerung und Führung, (2) Ge­sundheitsinformationen, (3) Finanzierung, (4) Gesundheitsfachkräfte, (5) medizinische Güter, Impfstoffe und Technologie, (6) Ge­sundheitsdienstleistungen. Um Gesundheits­systeme zu stärken, müssen diese Teilberei­che einzeln wie auch in ihrem Zusammen­spiel effektiver, effi­zienter und gerechter gestaltet werden. Ein Abgleich der WHO-Grundpfeiler mit den 23 Zielen des Globa­len Migrationspakts zeigt eine signifikante Schnittmenge zwischen beiden Instrumenten: Letztere enthalten zahlreiche gesundheitsbezogene Maßnahmen, deren Umset­zung die Gesundheitssysteme in Herkunfts-, Transit- und Zielländern stärken könnte. Abbildung 1 bietet einen Überblick, welche der im Pakt aufgelisteten Ziele konkrete Handlungsmöglichkeiten eröffnen, Gesund­heitssysteme zu stärken.

Handlungsempfehlungen für deutsche und europäische Politik

Laut Gegenüberstellung kann die Umset­zung des Globalen Migrationspakts einen Beitrag zu fünf der sechs Grundpfeiler leis­ten, die von der WHO definiert wurden. Im Bereich Steuerung und Führung geht es unter anderem darum, durch Stärkung der Rechtssicherheit von Migrationsvorhaben den Gang in die Irregularität unwahrschein­licher zu machen und das Vertrauen der Migranten in Gesundheitsschutzmaßnah­men zu festigen. Eine Verbesserung der Konditionen für Rücküberweisungen und die Übertragbarkeit von im Ausland erwor­benen Leistungsansprüchen kann zur Finanzierung von Gesundheitssystemen beitragen. Fortschritte bei der Sammlung und Analyse sozioökonomischer Migrations­daten würden Lücken bei den Gesundheits­informationen schließen, die für die Funk­tionsfähigkeit von Gesundheitssystemen entscheidend sind. Besondere Wirkung könnte die Umsetzung des Globalen Migra­tionspakts in den Bereichen Gesundheitsfachkräfte und Gesundheitsdienstleistungen entfalten.

Abbildung 1

Gesundheitsfachkräfte stellen das Rück­grat jedes Gesundheitssystems dar. Aktuelle Erhebungen zeigen, wie unverzichtbar die Arbeit migrantischer Pflegekräfte und Ärzte in vielen europäischen Staaten ist. Um dem Bedarf an diesen Kräften gerecht zu werden und gleichzeitig einen Braindrain im Gesund­heits­sektor ihrer Herkunftsländer zu ver­meiden, bedarf es einer kritischen Prüfung der aktuellen Anwerbepraktiken und neuer Impulse zur Steuerung der Arbeitsmigration im Gesundheitssektor. Hier können die Ziele 5 und 6 des Globalen Migrationspakts hilf­reich sein – Förderung regulärer Migra­tions­wege und ethisch vertretbare Rekrutierung von Arbeitskräften. Ein viel­verspre­chender entwicklungspolitischer Ansatz­punkt sind transnationale berufliche Aus- und Weiterbildungspartnerschaften, in deren Rahmen Fachkräfte sowohl für den Bedarf der Herkunfts- als auch für jenen der Ziel­länder ausgebildet werden. Eine ver­einfachte Anerkennung der medizinischen und pflegerischen Qualifikationen von Migranten und Flüchtlingen, wie sie Ziel 18 des Globalen Migrationspakts anregt, haben viele Länder im Kontext der Covid-19-Pan­demie schon in Angriff genom­men; eine Verstetigung dieser Initiativen würde die künftige Leistungsfähigkeit und Resilienz von Gesundheitssystemen weiter steigern.

Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen ist nicht nur ein Menschenrecht, son­dern für eine effektive Pandemieeindämmung alternativlos. Denn nur so lassen sich Neuinfektionen nachverfolgen, ihre Aus­breitung verhindern und Vor- und Begleit­erkrankungen behandeln. Ziel 4 des Glo­balen Migrationspakts (Bereitstellung von Identitätsdokumenten), Ziel 7 (Reduzierung prekärer Migration) sowie Ziel 15 (Migranten den Zugang zu Grundleistungen sichern) bieten wichtige Anregungen, um dem Ziel einer allgemeinen Gesundheitsversorgung (universal health coverage, UHC) näher zu kommen. Sowohl innerhalb Deutschlands als auch im Kontext der Entwicklungs­zusam­menarbeit sollte sich die Bundes­regierung darum bemühen, praktische und rechtliche Hürden abzubauen, die Migran­ten und Flüchtlingen den Zugang zu Gesund­heitsdienstleistungen versperren.

Fazit

Um die weitere Ausbreitung von Covid-19 aufzuhalten, werden viele Regierungen auch weiterhin Mobilitäts- und Migrationsbeschränkungen erlassen. Dies kann kurz­zeitig und situationsbezogen sinnvoll sein. Große Bedeutung hat aber vor allem auch die Stärkung der Gesundheitssysteme, und dafür kann der Globale Migrationspakt wich­tige Impulse geben. Die im Kontext der Covid-19-Pandemie zutage tretenden Wechselwirkungen zwischen Migration und Gesundheit bieten Anregungen, die über die Realisierung einzelner Ziele des Glo­balen Migrationspakts hinausgehen, etwa für die institutionelle Verschränkung beider Politikfelder: So sollten Gesundheitsexperten verstärkt in die Umsetzung des Pakts und in internationale Gremien eingebunden wer­den, die Entscheidungen zu Migrations­fragen treffen. Gleiches gilt umgekehrt für die Einbeziehung von Migrationsexperten in die Pandemiebewältigung. Gelegenheiten für konkrete Zusammenarbeit gibt es viele – auf lokaler Ebene bei beruflichen Aus- und Weiterbildungsprojekten im Rahmen von Klinikpartnerschaften; auf internationaler Ebene bei der Kooperation der WHO mit anderen internationalen Organisationen zur Beschäftigungspolitik im Gesundheitswesen.

Die Covid-19-Pandemie lässt die Verflech­tungen öffentlicher Gesundheit mit ande­ren Politikfeldern erkennen. Eine kluge und vorausschauende Migrationspolitik, die auch gesundheitspolitische Erfordernisse im Blick hat, kann Gesundheitssysteme stär­ken und dazu beitragen, dass eine medi­zinische Regelversorgung für alle auch in Krisensituationen gewährleistet wird.

Dr. Steffen Angenendt ist Leiter der Forschungsgruppe Globale Fragen, Nadine Biehler, Dr. Anne Koch und Maike Voss sind Wissenschaftlerinnen in der Forschungsgruppe Globale Fragen.
Dieses Aktuell wurde im Rahmen von zwei Projekten verfasst, die das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung fördert: »Flucht, Migration und Entwicklung – Herausforderungen und Handlungsmöglichkeiten für deutsche und europäische Politik« sowie »Globale Gesundheit: Herausforderungen und Handlungsmöglichkeiten zur Erreichung der gesundheitsbezogenen nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs) für die deutsche globale Gesundheits- und Entwicklungspolitik«

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020

SWP

Stiftung Wissenschaft und Politik

ISSN 1611-6364