Die Covid-19-Pandemie hat politische Entscheidungsträger dafür sensibilisiert, welche Herausforderungen es mit sich bringt, in Krisenzeiten die gesundheitliche Regelversorgung aufrechtzuerhalten. Wichtigster Ansatzpunkt für deren Bewältigung ist die Stärkung der Gesundheitssysteme. Hier kann die Umsetzung des im Dezember 2018 vereinbarten Globalen Paktes für sichere, geordnete und reguläre Migration (Globaler Migrationspakt) einen wichtigen Beitrag leisten. Ein Abgleich der Ziele dieses Paktes mit den von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) definierten Grundpfeilern von Gesundheitssystemen zeigt, wie dieser Beitrag aussehen könnte. Es gibt zahlreiche Synergien und Handlungsmöglichkeiten. Das gesundheitspolitische Potential des Migrationspakts liegt insbesondere darin, den Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen zu verbessern und den Fachkräftebedarf im Gesundheitssektor zu decken.
Seit Anfang 2020 beherrschen die Bemühungen um die Eindämmung der Covid-19-Pandemie die internationale Agenda. Dies prägt auch die aktuelle Migrationspolitik. Viele Regierungen suchen grenzüberschreitende Mobilität zu verringern, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen und Infektionsketten zu unterbrechen. Dies kann kurzfristig sinnvoll sein. Wer die Debatte über die Wechselwirkungen zwischen Migration und Pandemiegeschehen auf die Notwendigkeit engführt, die Mobilität zu beschränken, verkennt aber das gesundheitspolitische Potential migrationspolitischer Instrumente, die statt einer Reduzierung von Migration deren bessere Gestaltung zum Ziel haben. Insbesondere die Umsetzung des Globalen Migrationspakts kann einen wichtigen Beitrag leisten, das aktuelle Infektionsgeschehen einzudämmen und künftigen Pandemien vorzubeugen.
Gesundheitliche Risiken unzulänglicher Migrationspolitik
Die Covid-19-Pandemie wirft ein Schlaglicht auf die Gesundheitsrisiken, die verfehlten migrationspolitischen Entscheidungen anhaften können. Hierzu gehören die gesundheitlichen Risiken, die mit den prekären Wohn- und Arbeitsbedingungen vieler Migranten und Flüchtlinge verbunden sind. Beispiele aus der deutschen Fleischindustrie und Landwirtschaft zeigen, dass sich zahlreiche Infektionsketten direkt auf unzureichende Hygiene und die beengte Unterbringung von Saisonarbeitskräften zurückführen lassen. Ähnliche Probleme gibt es in Sammelunterkünften und Flüchtlingslagern, die oft gesundheitliche Risiken für die Bewohner bergen und in denen sich Infektionen schnell ausbreiten können.
Darüber hinaus haben Flüchtlinge und Migranten häufig keinen hinreichenden Zugang zur Gesundheitsversorgung. Besonders ausgeprägt ist dies bei Migranten ohne regulären Aufenthaltstitel, die oft die Datenerfassung fürchten, die mit der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen verbunden ist. Dass Infektionsketten im Falle irregulärer Migration nur schwer oder gar nicht nachzuvollziehen sind, bringt zusätzliche Herausforderungen für Transit- und Zielländer mit sich.
Schließlich offenbart die Pandemie zwei weitere Probleme: Zum einen, wie stark die Gesundheitsversorgung und die Stabilität der Gesundheitssysteme vieler wohlhabender Staaten von grenzüberschreitender Arbeitsmigration abhängen, und zum anderen, welche Risiken die Abwerbung medizinischen Fachpersonals für die Gesundheitsversorgung in Herkunftsländern birgt.
Das gesundheitspolitische Potenzial des Globalen Migrationspakts
Die WHO versteht unter öffentlicher Gesundheit (»Public Health«) alle sozialen, organisatorischen und politischen Anstrengungen, die die gesundheitliche Lage einzelner Gruppen oder ganzer Bevölkerungen verbessern, die Wahrscheinlichkeit ihres Erkrankens und Versterbens verringern und ihre Lebenserwartung erhöhen.
Entsprechend beruhen Gesundheitssysteme – die Gesamtheit der Akteure und Aktivitäten, die öffentliche und individuelle Gesundheit fördern, wiederherstellen oder aufrechterhalten – auf sechs Grundpfeilern: (1) Steuerung und Führung, (2) Gesundheitsinformationen, (3) Finanzierung, (4) Gesundheitsfachkräfte, (5) medizinische Güter, Impfstoffe und Technologie, (6) Gesundheitsdienstleistungen. Um Gesundheitssysteme zu stärken, müssen diese Teilbereiche einzeln wie auch in ihrem Zusammenspiel effektiver, effizienter und gerechter gestaltet werden. Ein Abgleich der WHO-Grundpfeiler mit den 23 Zielen des Globalen Migrationspakts zeigt eine signifikante Schnittmenge zwischen beiden Instrumenten: Letztere enthalten zahlreiche gesundheitsbezogene Maßnahmen, deren Umsetzung die Gesundheitssysteme in Herkunfts-, Transit- und Zielländern stärken könnte. Abbildung 1 bietet einen Überblick, welche der im Pakt aufgelisteten Ziele konkrete Handlungsmöglichkeiten eröffnen, Gesundheitssysteme zu stärken.
Handlungsempfehlungen für deutsche und europäische Politik
Laut Gegenüberstellung kann die Umsetzung des Globalen Migrationspakts einen Beitrag zu fünf der sechs Grundpfeiler leisten, die von der WHO definiert wurden. Im Bereich Steuerung und Führung geht es unter anderem darum, durch Stärkung der Rechtssicherheit von Migrationsvorhaben den Gang in die Irregularität unwahrscheinlicher zu machen und das Vertrauen der Migranten in Gesundheitsschutzmaßnahmen zu festigen. Eine Verbesserung der Konditionen für Rücküberweisungen und die Übertragbarkeit von im Ausland erworbenen Leistungsansprüchen kann zur Finanzierung von Gesundheitssystemen beitragen. Fortschritte bei der Sammlung und Analyse sozioökonomischer Migrationsdaten würden Lücken bei den Gesundheitsinformationen schließen, die für die Funktionsfähigkeit von Gesundheitssystemen entscheidend sind. Besondere Wirkung könnte die Umsetzung des Globalen Migrationspakts in den Bereichen Gesundheitsfachkräfte und Gesundheitsdienstleistungen entfalten.
Gesundheitsfachkräfte stellen das Rückgrat jedes Gesundheitssystems dar. Aktuelle Erhebungen zeigen, wie unverzichtbar die Arbeit migrantischer Pflegekräfte und Ärzte in vielen europäischen Staaten ist. Um dem Bedarf an diesen Kräften gerecht zu werden und gleichzeitig einen Braindrain im Gesundheitssektor ihrer Herkunftsländer zu vermeiden, bedarf es einer kritischen Prüfung der aktuellen Anwerbepraktiken und neuer Impulse zur Steuerung der Arbeitsmigration im Gesundheitssektor. Hier können die Ziele 5 und 6 des Globalen Migrationspakts hilfreich sein – Förderung regulärer Migrationswege und ethisch vertretbare Rekrutierung von Arbeitskräften. Ein vielversprechender entwicklungspolitischer Ansatzpunkt sind transnationale berufliche Aus- und Weiterbildungspartnerschaften, in deren Rahmen Fachkräfte sowohl für den Bedarf der Herkunfts- als auch für jenen der Zielländer ausgebildet werden. Eine vereinfachte Anerkennung der medizinischen und pflegerischen Qualifikationen von Migranten und Flüchtlingen, wie sie Ziel 18 des Globalen Migrationspakts anregt, haben viele Länder im Kontext der Covid-19-Pandemie schon in Angriff genommen; eine Verstetigung dieser Initiativen würde die künftige Leistungsfähigkeit und Resilienz von Gesundheitssystemen weiter steigern.
Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen ist nicht nur ein Menschenrecht, sondern für eine effektive Pandemieeindämmung alternativlos. Denn nur so lassen sich Neuinfektionen nachverfolgen, ihre Ausbreitung verhindern und Vor- und Begleiterkrankungen behandeln. Ziel 4 des Globalen Migrationspakts (Bereitstellung von Identitätsdokumenten), Ziel 7 (Reduzierung prekärer Migration) sowie Ziel 15 (Migranten den Zugang zu Grundleistungen sichern) bieten wichtige Anregungen, um dem Ziel einer allgemeinen Gesundheitsversorgung (universal health coverage, UHC) näher zu kommen. Sowohl innerhalb Deutschlands als auch im Kontext der Entwicklungszusammenarbeit sollte sich die Bundesregierung darum bemühen, praktische und rechtliche Hürden abzubauen, die Migranten und Flüchtlingen den Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen versperren.
Fazit
Um die weitere Ausbreitung von Covid-19 aufzuhalten, werden viele Regierungen auch weiterhin Mobilitäts- und Migrationsbeschränkungen erlassen. Dies kann kurzzeitig und situationsbezogen sinnvoll sein. Große Bedeutung hat aber vor allem auch die Stärkung der Gesundheitssysteme, und dafür kann der Globale Migrationspakt wichtige Impulse geben. Die im Kontext der Covid-19-Pandemie zutage tretenden Wechselwirkungen zwischen Migration und Gesundheit bieten Anregungen, die über die Realisierung einzelner Ziele des Globalen Migrationspakts hinausgehen, etwa für die institutionelle Verschränkung beider Politikfelder: So sollten Gesundheitsexperten verstärkt in die Umsetzung des Pakts und in internationale Gremien eingebunden werden, die Entscheidungen zu Migrationsfragen treffen. Gleiches gilt umgekehrt für die Einbeziehung von Migrationsexperten in die Pandemiebewältigung. Gelegenheiten für konkrete Zusammenarbeit gibt es viele – auf lokaler Ebene bei beruflichen Aus- und Weiterbildungsprojekten im Rahmen von Klinikpartnerschaften; auf internationaler Ebene bei der Kooperation der WHO mit anderen internationalen Organisationen zur Beschäftigungspolitik im Gesundheitswesen.
Die Covid-19-Pandemie lässt die Verflechtungen öffentlicher Gesundheit mit anderen Politikfeldern erkennen. Eine kluge und vorausschauende Migrationspolitik, die auch gesundheitspolitische Erfordernisse im Blick hat, kann Gesundheitssysteme stärken und dazu beitragen, dass eine medizinische Regelversorgung für alle auch in Krisensituationen gewährleistet wird.
Dr. Steffen Angenendt ist Leiter der Forschungsgruppe Globale Fragen, Nadine Biehler, Dr. Anne Koch und Maike Voss sind Wissenschaftlerinnen in der Forschungsgruppe Globale Fragen.
Dieses Aktuell wurde im Rahmen von zwei Projekten verfasst, die das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung fördert: »Flucht, Migration und Entwicklung – Herausforderungen und Handlungsmöglichkeiten für deutsche und europäische Politik« sowie »Globale Gesundheit: Herausforderungen und Handlungsmöglichkeiten zur Erreichung der gesundheitsbezogenen nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs) für die deutsche globale Gesundheits- und Entwicklungspolitik«
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doi: 10.18449/2020A75