Am 21. November finden in Venezuela Regional- und Kommunalwahlen statt. Nach einer mehrjährigen Phase des Wahlboykotts werden daran auch wieder die Oppositionskräfte teilnehmen. Sie beteiligen sich zudem seit August dieses Jahres an einem Dialog mit Entsandten von Präsident Nicolás Maduro in Mexiko. Während in der venezolanischen Bevölkerung viele um das nackte Überleben kämpfen, suchen beide Konfliktparteien ihren Handlungsspielraum zu erweitern. Die internationale Gemeinschaft sollte den Dialog- und Wahlprozess unterstützen. Druck und Anreize gegenüber dem Maduro-Regime gilt es dabei so zu dosieren, dass die Bedürfnisse der Gesellschaft im Vordergrund stehen.
Venezuela, das Land mit den größten Erdölreserven der Welt, leidet heute unter Engpässen in der Erdöl- und Stromversorgung und ist mittlerweile das ärmste Land Lateinamerikas und der Karibik. Nach Daten der VN-Wirtschaftskommission für die Region (ECLAC) schrumpfte die venezolanische Wirtschaft 2020 im Vergleich zum Vorjahr um 30 Prozent. Ein Minus war dabei das siebte Jahr in Folge zu verzeichnen. Die Hyperinflation, die 2017 eingesetzt hatte, sank zwischen 2019 und 2020 von 9.585 auf 2.969 Prozent. Im selben Zeitraum nahm jedoch die Kaufkraft des Mindestlohns um rund 70 Prozent ab. Unter starkem Rückgriff auf US-Dollar und Kryptowährungen versuchen Regierung und Bevölkerung, der Entwertung des Bolivar zu entkommen. Die Dollarisierung der Wirtschaft entwertet jedoch die Rücküberweisungen der venezolanischen Diaspora, die ohnehin seit Ausbruch der Corona-Pandemie zurückgegangen sind. Der ungleiche Zugang zu ausländischer Währung verschärft die sozialen Unterschiede.
Über 5,4 Millionen Menschen haben das vom Chavismo regierte Venezuela mittlerweile verlassen, bei einer Bevölkerung von rund 30 Millionen (2016). Zwar bringt die massive Emigration angesichts einer dramatischen sozio-ökonomischen Lage auch Erleichterungseffekte, doch verblassen diese vor den Auswirkungen der Pandemie, der Abnahme der Rücküberweisungen und den Folgen der US-Sanktionen.
Die Entwicklungs- und die Regimefrage, beide nationalen Ursprungs, sind hier eng miteinander verwoben. Venezuela, das in den 1980er Jahren eine Insel der Demokratie in Südamerika bildete, wird spätestens seit 2015 autoritär regiert. Trotz Staatsterrors ist die Regierung nicht in der Lage, das Territorium vollständig zu kontrollieren; Gangs fordern die Staatsgewalt heraus, ebenso Dissidenten der FARC aus dem Nachbarland Kolumbien.
Verhandlungsprozess in Mexiko
Absichtserklärung von August
Am 13. August 2021 einigten sich Regierung und Oppositionskräfte Venezuelas in Mexiko-Stadt darauf, einen »integralen und inkrementellen Dialog- und Verhandlungsprozess« zu initiieren. Ziel ist dabei, wie in einer Absichtserklärung festgehalten wurde, »klare Regeln für das politische und soziale Zusammenleben« unter Beachtung der Nationalverfassung zu etablieren.
Zum einen umfasst die Erklärung eine Sieben-Punkte-Agenda. Verwirklicht werden sollen demnach: 1. Politische Rechte für alle; 2. Garantien und Zeitplan für Wahlen unter (internationaler) Beobachtung; 3. Aufhebung der Sanktionen und Wiederherstellung der Verfügungsgewalt (der Regierung) über (Auslands-)Vermögensbestände; 4. Achtung der Verfassung und des Rechtsstaates; 5. soziales und politisches Zusammenleben, Gewaltverzicht und Wiedergutmachung für Gewaltopfer; 6. Schutz der Nationalwirtschaft und soziale Fürsorge für das venezolanische Volk; 7. Garantien für die Umsetzung, Nachverfolgung und Überprüfung des Vereinbarten.
Zum anderen werden darin Einzelheiten des geplanten Prozederes festgehalten. Für die Verhandlungen gilt: Nichts ist vereinbart, bis alles vereinbart ist. Zu bestimmten Themen sind dennoch Teilvereinbarungen zulässig, wenn deren Implementierung dringend notwendig oder vor Abschluss der Gespräche machbar ist. Die zwei Delegationen bestehen aus jeweils neun Mitgliedern, wobei es »Anstrengungen um die Inklusion von Frauen« geben soll. Von den 18 Personen, die die Absichtserklärung unterzeichnet haben, sind sechs Frauen; vier gehören dem Regierungs- und zwei dem Oppositionslager an. Vorgesehen ist auch, einen Konsultationsmechanismus für den Austausch mit weiteren politischen und sozialen Akteuren und Akteurinnen zu schaffen.
Mehrere Staaten begleiten den Verhandlungsprozess. Mexiko fungiert als Gastgeber, Norwegen – vertreten durch den Diplomaten Dag Nylander – als Vermittler. Beide Staaten hatten die venezolanische Interimsregierung von Juan Guaidó nicht anerkannt und stattdessen diplomatische Beziehungen mit der Maduro-Regierung weitergeführt. Norwegen hat zudem Erfahrung mit der Moderation von Friedensprozessen und war in früheren venezolanischen Dialogen involviert. Unterstützt werden die Gespräche von den Niederlanden, die der Opposition den Rücken stärken, sowie Russland, das auf Seiten der Regierung steht. Weitere Staaten sollen auf Einladung Norwegens eine »Gruppe der Freunde des Prozesses« bilden.
Verhandlungsführer auf Regierungsseite ist der Psychiater Jorge Rodríguez, seit 2020 Präsident der Nationalversammlung; ihm gegenüber steht der Jurist Gerardo Blyde, ehemaliger Bürgermeister von Baruta und Wahlkampfführer des größten Oppositionsbündnisses »Tisch der Demokratischen Einheit« (Mesa de la Unidad Democrática, MUD). Heute finden sich die diversen Oppositionskräfte – neben politischen Parteien auch Gewerkschaften, Mitglieder der Zivilgesellschaft und ehemalige Militärs – auch unter der neuen Bezeichnung »Einheitsplattform« (Plataforma Unitaria) zusammen, die Guaidó bereits in einer Pressekonferenz von April 2021 als eine Art Oppositions-Relaunch der Öffentlichkeit vorstellte.
Veränderter Verhandlungskontext
Dialogversuche zwischen den Konfliktparteien gab es bereits 2001 und 2002/2003, vor und nach einem erfolglosen Putschversuch gegen den damaligen Präsidenten Hugo Chávez. Die Initiative kam dabei vom Unternehmensverband Fedecámaras bzw. von Abgeordneten der sogenannten Boston Group in der Nationalversammlung. 2003 bzw. 2016 suchten regionale Regierungsorganisationen wie die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und die Union Südamerikanischer Staaten (UNASUR) zu vermitteln. Verhandlungsprozesse wurden 2017 in der Dominikanischen Republik sowie 2019 in Norwegen und Barbados gestartet und beide Male wieder abgebrochen. Anzeichen dafür, dass die laufenden Gespräche von einem wie auch immer gearteten Erfolg gekrönt sein könnten, gibt es nicht. Doch sind Regierung wie Opposition in ihrer jeweiligen Position heute derart geschwächt, dass sich beide von der Kooperation eine Erweiterung ihres Handlungsspielraums erhoffen.
Auf der einen Seite haben die US-amerikanischen und europäischen Sanktionen den Zugang der Maduro-Regierung zu dringend benötigten Finanzressourcen stark eingeschränkt. Venezuelas Ölexport ist eingebrochen, Vermögenswerte des Staates im Ausland wurden eingefroren oder an die Interimsregierung von Guaidó übertragen, Geldanlagen und Bankkonten regimetragender Akteure und Akteurinnen gesperrt.
Auf der anderen Seite fällt die Bilanz der Interimsregierung, die sich im Januar 2019 unter Guaidós Führung konstituierte, extrem dürftig aus. Maduro sitzt weiterhin fest im Sattel, während sich die humanitäre Lage verschlechtert hat. Es mehren sich Korruptionsvorwürfe im Zusammenhang mit venezolanischen Vermögenswerten, die von der Opposition im Ausland kontrolliert werden. Diese bewegt sich zudem außerhalb des politischen Institutionensystems des Landes. Die 2015 noch unter semi-kompetitiven Bedingungen gewählte und von der Opposition kontrollierte Nationalversammlung, die die demokratische Legitimationsgrundlage für Guaidós Interimsregierung darstellte, ist aufgelöst. Ihre Legislaturperiode endete mit der Wahl des neuen Parlaments 2020, von der sich die Opposition größtenteils fernhielt. Auch der internationale Rückhalt für sie schwindet, weil es an institutionellen Stützen und sichtbaren Ergebnissen mangelt. Die Präsidenten Brasiliens, Chiles und Kolumbiens, die sich einst ostentativ an Guaidós Seite stellten, werden nun durch interne Herausforderungen stark beansprucht.
Der EU fehlt es an einer soliden regionalen Verankerung für ihre Initiativen, sprich an einer lateinamerikanischen Regierungsorganisation oder Staatengruppe, mit der sie in der Venezuela-Frage nachhaltig zusammenarbeiten könnte. Und in den USA regiert nicht mehr Donald Trump, der eine scharfe, konfrontative Rhetorik gegenüber dem Maduro-Regime pflegte, sondern Joe Biden, der unter anderem die desaströsen Folgen des Afghanistan-Einsatzes zu bewältigen hat. So bleiben in der regionalen wie internationalen Gemeinschaft – auch pandemiebedingt – wenig Ressourcen für Venezuela übrig. Generell aber werden die Verhandlungen positiv aufgenommen; USA wie EU haben in Aussicht gestellt, ihre Sanktionen gegen das Maduro-Regime zu überprüfen, sollte es Fortschritte im Dialogprozess geben. Sogar OAS-Generalsekretär Luis Almagro, dem eine Art persönlicher Kreuzzug gegen Maduro und den Chavismo zugeschrieben wird, begrüßte die Gespräche und bot institutionelle Unterstützung an. In der OAS ist Venezuela seit 2019 durch Guaidós Interimsregierung vertreten.
Gesellschaft skeptisch, aber für Dialog
Inmitten einer vielschichtigen Dauerkrise und zunehmend von der Gesellschaft entkoppelt, benötigen Regierung und Oppositionskräfte in Venezuela ein neues Projekt, um Perspektiven für die Bevölkerung entwickeln zu können. Nach Daten des Meinungsforschungsinstituts Datincorp von August 2021 sind 63 Prozent der Menschen mit der Leistung der Maduro-Regierung »überhaupt nicht zufrieden« und nur 12 Prozent »sehr zufrieden«. Im Falle Guaidós fallen die entsprechenden Werte – mit jeweils rund 77 und 3 Prozent – noch schlechter aus. Unter den Bürgerinnen und Bürgern hat kaum noch jemand Vertrauen in die zivilen und militärischen Institutionen des Staates. Im Falle der Nationalversammlung sind dies nur knapp 4 Prozent, gegenüber den Streitkräften sogar nur etwas über 2 Prozent.
In diesem Kontext erwarten die Venezolanerinnen und Venezolaner sehr wenig vom Verhandlungsprozess; eine Mehrheit ist dennoch grundsätzlich dafür. Laut einer Datincorp-Umfrage begrüßen es knapp 51 Prozent, dass solche Gespräche geführt werden, während rund 39 Prozent dagegen sind. 58 Prozent meinen, das Hauptthema auf der Agenda sollte die Krise von Wirtschaft und öffentlichen Dienstleistungen sein, gefolgt von der Pandemie (knapp 20 Prozent) und der politischen Krise (rund 16 Prozent). Eine große Mehrheit von über 67 Prozent wäre auch dann einverstanden, die Überwindung der sozioökonomischen Krise ins Zentrum der Gespräche zu stellen, wenn dies dazu führen sollte, dass im Jahr 2022 keine Präsidentschaftswahl stattfindet (und damit keine Chance auf Abwahl Maduros besteht). Hier zeigen sich die Prioritäten in der Gesellschaft: Erst kommt das Überleben, dann kommt die Regimefrage.
Mühsamer Verhandlungsstart
Bislang haben in Mexiko drei Verhandlungsrunden stattgefunden. Ein Durchbruch ist dabei erwartungsgemäß noch ausgeblieben. Zunächst soll es auch nur darum gehen, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen und einen Arbeitsmodus einzuspielen.
Aus der ersten Runde ging die erwähnte Absichtserklärung von August hervor. Das zweite Dialogtreffen erfolgte Anfang September. Ergebnisse waren eine weitere gemeinsame Erklärung sowie zwei Teilvereinbarungen. In der ersten bekräftigten die Konfliktparteien den venezolanischen Souveränitätsanspruch auf Guayana Esequiba – ein Territorium, das seit einem von Caracas nicht anerkannten Schiedsspruch einer internationalen Juristenkommission von 1899 zum guyanischen Staatsgebiet gehört. Es stellt zwar keinen Verhandlungsfortschritt dar, dass Regierung und Opposition einen solchen nationalistischen Konsens verkünden. Doch als Verständigungsritual könnte es durchaus vertrauensbildende Effekte zeitigen.
In der zweiten Teilvereinbarung einigte man sich darauf, Priorität auf die Versorgung der Bevölkerung zu legen, wobei Gesundheits- und Ernährungsfragen besonders berücksichtigt werden sollen. Zu diesem Zweck soll eine sechsköpfige Koordinierungsinstanz – mit drei Personen je Konfliktpartei – entstehen. Eine Gruppe aus weiteren vier Personen soll sich kritisch mit der »Übererfüllung von Sanktionen« durch Dritte im Finanzsystem auseinandersetzen. Damit sollen Ressourcen identifiziert und gesichert werden, die zur Linderung der humanitären Katastrophe nötig sind.
Die dritte Verhandlungsrunde, die Ende September stattfand, verlief konfliktträchtiger. Einige Vorfälle hatten dafür gesorgt, dass die Regierungsdelegation ihre Teilnahme zunächst in Frage stellte und schließlich verzögerte. Dazu gehörte die Entscheidung Kolumbiens, einem US-Auslieferungsgesuch für den kolumbianischen Unternehmer Alex Saab stattzugeben, der unter anderem der Geldwäsche im Zusammenhang mit Ernährungsprogrammen und Sozialbauprojekten der Maduro-Regierung beschuldigt wird. Diese hatte am 14. September angekündigt, Saab werde als vollwertiges Delegationsmitglied am Verhandlungsprozess teilnehmen. Der Unternehmer gilt als Strohmann Maduros; angeblich ist er mit Finanztransaktionen und Außenhandel betraut. Er wurde seit Juni 2020 im afrikanischen Kap Verde festgehalten, dessen Verfassungsgerichtshof nun ebenfalls seine Auslieferung an die USA bewilligte.
Für Irritation bei der Maduro-Regierung sorgte auch eine Rede, die Norwegens Ministerpräsidentin Erna Solberg am 22. September in der VN-Generalversammlung gehalten hatte. Darin brachte sie ihre Sorge um die Menschenrechtssituation in Venezuela zum Ausdruck. Die Wogen konnten aber geglättet werden, als der norwegische Vermittler Nylander in einer offiziellen Erklärung seine Unparteilichkeit im Verhandlungsprozess bekräftigte.
Zu den bescheidenen, eher deklaratorischen Ergebnissen der dritten Runde zählte, dass sich die Konfliktparteien verpflichteten, einen gendersensiblen Ansatz zu verfolgen sowie Beratungs- und Partizipationsmechanismen für den Austausch mit der Zivilgesellschaft zu schaffen. Verurteilt wurden zudem xenophobe Angriffe auf Venezolanerinnen und Venezolaner in Chile.
Regional- und Kommunalwahlen
Konzessionen mit Restriktionen
Am 21. November werden Wahlen zu den Exekutiven und Legislativen auf regionaler wie lokaler Ebene stattfinden. Eine Beteiligung der Opposition wird diesem Urnengang eine gewisse demokratische Legitimität verleihen und den schlechten Ruf des Maduro-Regimes im In- und Ausland etwas abmildern. Zugleich könnte die Opposition durch ihre Teilnahme den Chavismo herausfordern sowie eine zumindest begrenzte institutionelle Repräsentation erzielen.
Die Boykottfrage hatte sie zuletzt bei den Wahlen zur Nationalversammlung im Dezember 2020 gespalten. Damals entschieden sich die wichtigsten Oppositionsparteien dafür, nicht anzutreten, was der Regierungspartei PSUV (Partido Socialista Unido de Venezuela) eine parlamentarische Mehrheit von rund 90 Prozent bescherte. Nun ist das Bündnis »Tisch der Demokratischen Einheit« für Partizipation – jedoch nicht bedingungslos, denn es fordert eine realistische Chance, Ämter und Mandate zu erlangen.
Das Umschwenken der Oppositionskräfte wurde durch Konzessionen der Maduro-Regierung gefördert. Zu den wichtigsten gehörte, dass der bis dahin gleichgeschaltete Nationale Wahlrat (Consejo Nacional Electoral, CNE) auf ideologisch ausgewogenere Weise neu besetzt wurde. Am 4. Mai 2021 benannte die im Vorjahr gewählte, durch den Chavismo dominierte Nationalversammlung vier Rektoren und eine Rektorin, von denen drei als regierungs- und zwei als oppositionsnah gelten. Diese Zusammensetzung, die zwar der Maduro-Regierung weiter eine Mehrheit – und den Vorsitz – im Wahlrat sichert, für große Teile der Opposition jedoch annehmbar ist, war auch das Ergebnis von Lobbyarbeit zivilgesellschaftlicher und internationaler Akteurinnen und Akteure.
Präsident Maduro hat zudem seit letztem Jahr immer wieder politische Gefangene auf freien Fuß setzen lassen und andere Verfolgte »begnadigt«, die noch nicht inhaftiert waren. Allerdings beklagt der oppositionsnahe Vizepräsident des CNE, Enrique Márquez, dass die Rechnungsprüfungsbehörde nicht bereit sei, willkürlich verhängte politische Partizipationsverbote mit Blick auf die anstehenden Wahlen aufzuheben. Viele Bürgerinnen und Bürger könnten erst dann kandidieren, wenn ihre entsprechenden Rechte wiederhergestellt sind.
Ähnliches gilt für politische Parteien, die verboten wurden oder deren Vorstände der Oberste Gerichtshof wegen angeblicher »Unregelmäßigkeiten« durch regimetreue Autoritäten ersetzte (ein Vorgang, der als Parteiintervention bzw. Verhängung der vorsorglichen Vormundschaft bezeichnet wird). Zwar ließ der Wahlrat das 2018 für illegal erklärte Oppositionsbündnis MUD im Juni 2021 wieder zu. Andere politische Kräfte, die ebenfalls staatliche Eingriffe erlitten, haben jedoch ihre Autonomie noch nicht zurückerhalten. Auch Abspaltungen von der Regierungspartei warten noch darauf, offiziell anerkannt zu werden.
Nach langer Verweigerung hat Maduro sein Land mittlerweile für internationale humanitäre Hilfe geöffnet, womit er einer wichtigen Forderung von Opposition und zivilgesellschaftlichen Organisationen nachkam. Im April 2021 traf er sich in Caracas mit dem Exekutivdirektor des Welternährungsprogramms, das schließlich im Juli seine Einsätze in Venezuela starten konnte. Doch sind NGOs in dem Land nach wie vor starken Einschränkungen unterworfen, und Menschenrechtsaktivistinnen und ‑aktivisten droht beständig Gewalt.
In der internationalen Gemeinschaft wird die Teilnahme der Oppositionskräfte an den Wahlen ähnlich begrüßt wie der Dialogprozess. Positive Reaktionen gab es auf eine Einladung des CNE, den Wahlprozess im November zu beobachten. Nachdem die EU 15 Jahre lang keine Abstimmungen in Venezuela begleitet hatte, wird sie nun eine Wahlbeobachtungsmission unter Leitung der portugiesischen Europaabgeordneten Isabel Santos (S&D) entsenden. Möglich wurde dies durch eine Verwaltungsvereinbarung, die der CNE am 28. September mit der EU-Delegation in Caracas abschloss.
Große Aufgabe »Geschlossenheit«
In einem stark polarisierten, durch die Regimefrage geprägten politischen Kontext bemühen sich das Regierung- wie das Oppositionslager jeweils um größtmögliche Geschlossenheit. Für beide ist dies eine schwierige Aufgabe. Am 8. August 2021 führte die PSUV »offene Vorwahlen« für die Exekutivämter auf regionaler (23 gobernaciones) und lokaler Ebene (335 alcaldías) durch. Wahlberechtigt waren zum ersten Mal nicht nur Parteimitglieder, vielmehr durfte die gesamte nationale Wählerschaft abstimmen. Die Regierung gab eine Wahlbeteiligung von 3,5 Millionen an. In einem Land, in dem die Grenzen zwischen Partei, Regierung und Staat längst verschmolzen sind, glich der Urnengang fast einer Nationalfeier. Innerhalb der PSUV sind Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Führungsfiguren, den Basisorganisationen UBCH (Unidades de Batalla Hugo Chávez) und der Parteispitze bzw. dem Präsidenten in Caracas keine Seltenheit. Durch die Vorwahlen kamen interne Streitigkeiten jedoch leichter ans Licht, ebenso Vorwürfe des Stimmenkaufs und der Manipulation bei der Kandidatenaufstellung.
Die Oppositionskräfte, die unter hohem Zeitdruck stehen, bemühen sich ihrerseits um gemeinsame Kandidaturen, damit die Parteien nicht zueinander in Konkurrenz treten und stattdessen eine Alternative zum Chavismo anbieten können. Doch die Spaltungen in diesem Lager sind heute größer als in der Vergangenheit. Nach verschiedenen Umfragen wird für November eine Wahlbeteiligung von 40 bis 50 Prozent erwartet. Zwar hat die Opposition nach Schätzungen mehr gesellschaftlichen Rückhalt als der Chavismo; dieser besitzt aber eine stärkere Mobilisierungstradition und kann daher tendenziell einen höheren Anteil seiner Wählerschaft zur Abstimmung locken. Eine der Herausforderungen für die Opposition besteht also darin, nach Jahren des Wahlboykotts, unter sichtlich unfairen Bedingungen und in Pandemiezeiten ihre Anhängerschaft davon zu überzeugen, diesmal zu den Urnen zu gehen.
Am 10. Oktober fand eine landesweite »Wahlübung« (simulacro electoral) statt, zu der alle Wahlberechtigten eingeladen waren. Ziel war dabei laut einer Mitteilung des CNE, sämtliche Abläufe des Wahlvorgangs auf technischer, logistischer und operationeller Ebene zu testen, einschließlich der elektronischen Stimmabgabe.
Venezuela und die internationale Gemeinschaft
Ressourcennot bewegt das Maduro-Regime dazu, den Dialog in Mexiko zu suchen und sich auf eine partielle Machtabgabe durch Regional- und Kommunalwahlen einzulassen. Dass es einen klaren Wahlsieg der Opposition bzw. deren Zugang zu Exekutivämtern in wichtigen Regionen zulassen wird, ist wenig wahrscheinlich. Dennoch könnte es sich demokratiefördernd auswirken, wenn die Oppositionskräfte (begrenzten) Einzug in die Institutionen des Staates finden. Auch in deren Rahmen wären Dialog und Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien denkbar. Leider ist ebenso denkbar, dass sich die aktuelle Kompromissbereitschaft des Maduro-Regimes bald erschöpfen wird. Relevant für die Überlegungen der Opposition ist aber nicht nur das Handeln der Regierung, sondern auch die eigene – schwächer gewordene – Verbindung zur Gesellschaft.
Sollten die Wahlergebnisse zum Zankapfel zwischen Regierung und Opposition werden, könnte dies eine Fortsetzung der Verhandlungen gefährden. Deren Zukunft hängt aber auch davon ab, ob beide Konfliktparteien Vertrauen aufbauen, Diskretion walten lassen und Teilvereinbarungen einhalten.
Für die Maduro-Regierung wird ein wichtiger Meilenstein im Dialogprozess sein, eine Lockerung der internationalen Sanktionen sowie Zugang zu Finanzmitteln zu erreichen. Enorme Bedeutung hat daher, wie Druck und Anreize durch die internationale Gemeinschaft dosiert werden. Entsprechende Maßnahmen sind im Austausch mit den Oppositionskräften zu kalibrieren. Dabei dürfen jedoch die dringendsten Bedürfnisse der venezolanischen Bevölkerung nicht aus dem Blick geraten. Priorität haben sollten ein Stopp der Gewalt, die Freilassung politischer Gefangener sowie die Linderung der humanitären Krise. Dagegen hat die Stunde des Regimewechsels, der Gerechtigkeit bzw. der Ahndung politischen Unrechts noch nicht geschlagen.
Dr. Claudia Zilla ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Amerika.
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doi: 10.18449/2021A66