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Tunesien den Ball zuspielen

Hoher Handlungsdruck für Reformen – veränderte Ausgangslage für die EU

SWP-Aktuell 2020/A 16, 09.03.2020, 4 Seiten

doi:10.18449/2020A16

Forschungsgebiete

Tunesien hat sich trotz dorniger Rahmenbedingungen seit 2011 demokratisiert. Dabei sind entscheidende Strukturreformen, die für einen effektiven Staat, wirtschaftlichen Aufschwung und eine widerstandsfähige Demokratie notwendig wären, bislang aus­geblieben. Die Wahlen 2019 ließen den Wunsch der Bevölkerung nach einem neuen Reformanlauf erkennen. Wie handlungsfähig die seit Ende Februar 2020 amtierende neue Regierung sein wird, ist offen. Sie besteht aus Parteien mit teils fundamental ent­gegengesetzter Ausrichtung. Für Tunesiens externe Partner bleibt damit ein Dilemma: Sie möchten Reformen schneller vorantreiben, doch haben sich ihre Versuche, Tune­sien zum Jagen zu tragen, als wenig zielführend erwiesen. Ein Weg, um die tunesische Eigeninitiative zu stärken, sind gezieltere Anreize für Reformen sowie klarere Kondi­tionen für Finanzhilfen. Deutschland geht mit den Reformpartnerschaften bereits in diese Richtung und könnte seine EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 nutzen, um externe Geber auf eine gemeinsame Linie zu verpflichten.

Durch den Tod von Staatspräsident Béji Caïd Essebsi im Juli und die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Herbst 2019 sind die Karten in Tunesien neu gemischt wor­den. Mit mehr als 70% der abgegebenen Stim­men wurde der als integer geltende, aber politisch unerfahrene Verfassungsrechtler Kaïs Saïed zum neuen Präsidenten gewählt. Bis auf Ennahdha, die stärkste Par­tei bleibt, sind die größeren Parteien nahezu verschwunden. Dafür haben Anti-Establish­ment-Parteien mit teils populistischer Rhe­torik von links bis rechts gut abgeschnitten. Letztlich spiegelte das Wahlergebnis neun Jahre nach dem Ende der Diktatur den Wunsch vieler Tunesier und Tuneserinnen nach einem neuen Reformanlauf – dies­mal mit stärker sozialem und wirtschaft­lichem Fokus. Nach den Wahlen zeigten sich die Menschen ausnehmend optimis­tisch. Bei Umfragen im Oktober 2019 waren 78% zuversichtlich, dass die nächsten fünf Jahre besser sein würden als die vergangenen; nur 6% befürchteten das Gegenteil.

Die zähe Regierungsbildung dämpfte die hohen Erwartungen. Das Parlament lehnte Anfang 2020 den Kabinettsvorschlag eines von der Ennahdha portierten Premierminis­ters ab. Im zweiten Anlauf gelang es dem nun vom Präsidenten persönlich ausgewähl­ten Premierminister Elyes Fakhfakh, eine Regierung zu bilden. Fakhfakh hatte 2011–2014 bereits Ministerposten inne. Als Kan­didat der winzigen sozialdemokratischen Ettakatol erhielt er bei den Präsidentschafts­wahlen 2019 nur 0,34% der Stimmen.

Die neue Regierung setzt sich jeweils zur Hälfte aus parteilosen Technokraten und aus Politikern sehr unterschiedlicher Par­teien zusammen: der moderat islamistischen und eher wirtschaftsliberalen Ennahdha, der säkularen und liberalen Tahya Tounes (Partei des ehemaligen Premiers Youssef Chahed), der sozialdemokratischen Attayar und der linken, panarabischen Echaâb.

Auch die Opposition ist ideologisch äußerst divers. Größte Oppositionspartei ist die säkular-liberale Qalb Tounes. Weitere relevante Opposi­tionskräfte sind die konser­vative Al‑Karama und die anti-islamistische Parti Destourien Libre. Letztere will an Politi­ken der vergangenen autoritären Herrschaft anknüpfen, die aus ihrer Sicht positiv waren.

Notwendige Reformen – schwierige Voraussetzungen

Die Regierung Fakhfakh steht unter hohem Handlungsdruck. Denn erstens bleibt der Zustand des Staatshaushalts 2020 äußerst angespannt. Allein der Schuldendienst frisst rund ein Fünftel des Budgets, und Ein­brüche von Tourismuseinnahmen aufgrund des Coronavirus sind wahrscheinlich. Um Zahlungsunfähigkeit zu vermeiden, muss die Regierung zügig mit dem Internatio­nalen Währungsfonds (IWF) über Kredite von über 1,2 Milliarden Dollar verhandeln, die wegen ungenügender Reformanstrengungen zurückgehalten werden.

Zweitens: Um die anhaltende Wirtschaftskrise zu bewältigen und um nicht noch mehr Schulden anzuhäufen, müssen die tune­sische Wirtschaft dynamisiert, ihre Wett­bewerbsfähigkeit gestärkt, die Integration in die Weltwirtschaft forciert und neue Arbeits­plätze geschaffen werden. Dies erfordert neben grundlegenden Reformen des Steuer-, Finanz- und Kreditwesens auch eine effek­tivere Verwaltung, schnellere Bewilligungs­prozesse und auf die Bedürfnisse des Arbeits­markts ausgerichtete Bildungsreformen.

Drittens muss die Regierung auf hohe Erwartungen der Bevölkerung reagieren: Die Tunesier und Tunesierinnen, dies zei­gen Umfragen 2018 und 2019, wollen in erster Linie wirtschaftlichen Aufschwung, mehr Kaufkraft, bessere Dienstleistungen ins­besondere im staatlichen Gesundheits- und Bildungswesen, den Abbau sozialer Ungleichgewichte und nicht zuletzt: ent­schiedenere Korruptionsbekämpfung.

Vor allem zivilgesellschaftliche Aktivis­ten drängen, viertens, auf Reformen mit dem Ziel, die Nachhaltigkeit der jungen Demo­kratie zu sichern. Sie fordern Transparenz und Rechenschaftspflicht im Sicherheits­sektor, eine Stärkung des Parlaments und gewählter lokaler Akteure, das Ende der punktuellen Einflussnahme auf die Justiz durch mächtige politische und wirtschaft­liche Akteure sowie die vollständige Ver­wirklichung der Verfassungsbestimmungen. So existiert nach wie vor kein Verfas­sungsgericht, weil die Bestellung der meis­ten Kandidaten an Partikularinteressen der Parteien im Parlament scheiterte.

Hohe Reformhürden

Dass es der bis 2020 regierenden großen Koalition aus Ennahdha und Nidaa Tounes nicht gelang, wichtige Strukturreformen umzusetzen, hat viele Gründe.

Veto-Akteure und alte Praktiken. Zu den wichtigsten Veto-Akteuren gehört der über­aus einflussreiche Dachverband der Gewerk­schaften, die UGTT. Ihm ist es mehrfach gelungen, vom IWF geforderte Kürzungen am Staatshaushalt zu verzögern oder ab­zuschwächen sowie Teile der Bevölkerung gegen Handels- und andere Liberalisierungsschritte zu mobilisieren.

Mindestens ebenso einflussreich sind Netzwerke in Wirtschaft, Verwaltung und Politik, die ihre im alten Regime errungenen Privilegien und Pfründen verteidigen. Sie fürchten mehr Wettbewerbsfähigkeit, Transparenz und Rechenschaftspflicht und wehren sich daher gegen Steuerreformen, neue Regulierungsregime und die Stärkung der Unabhängigkeit der Justiz. Die Inter­essen dieser Seilschaften äußerten sich etwa in wiederholten Versuchen von Nidaa Tou­nes, die Transitionsjustiz zu torpedieren, in Widerständen von Polizeigewerkschaften gegen mehr Rechenschaftspflicht im Sicher­heitssektor oder in der auch im Arbeit­geberverband UTICA verbreiteten Ablehnung von Handelsliberalisierungen, die Monopolstellungen gefährden könnten.

Bislang fehlte der politische Wille, sich gegen diese mächtigen Netzwerke zu stel­len. Dabei dürfte die oft gepriesene Konsens­politik der Ennahdha eine Rolle gespielt haben: Obwohl die Partei in der Zeit der Diktatur verfolgt worden war und als eher reformorientiert gilt, hat sie sich 2013 ent­schieden, mit Eliten des alten Systems zu kooperieren. Dabei dürfte die Sorge um staatliche Stabilität und vor erneuter Aus­grenzung eine Rolle gespielt haben. Im Ergebnis mutierte ein wichtiger potentieller Reformmotor zum Status-quo-Akteur.

Kapazitätsdefizite und Silodenken. Zu den Re­formhindernissen gehörte auch das schlecht ausgestattete und im Zuge der Transition mit Gesetzesentwürfen überflutete Parla­ment. Vor allem aber fehlte es an Zusammenarbeit innerhalb der Regierung und zwischen Ministerien, die Bürokratie blieb zudem träge und korruptionsanfällig. Euro­päische Akteure in Entwicklung und Han­del beklagen ebenso wie die Weltbank enorme Zeitverzögerungen sowie Probleme beim Mittelabfluss, unter anderem als Folge von Silodenken in Ministerien, wenig Fle­xibilität in der Verwaltung und stockenden Bewilligungsprozessen. Bei einer von der Konrad-Adenauer-Stiftung unterstützten Umfrage 2019 unter kleineren und mitt­leren Unternehmen sahen mehr als 70% der Befragten die öffentliche Verwaltung als großes Hindernis für Entwicklung; 28,8% berichteten von »Anreizen«, für eine Leis­tung der Verwaltung Schmiergeld zu zah­len. Im Global Competitiveness Ranking des World Economic Forum belegte Tunesien 2019 Platz 87 von 141.

Effekte der »Demokratisierungsrente«. Die Europäische Union und Mitgliedstaaten wie Deutschland haben Tunesien seit 2011 diplomatisch und finanziell so stark unter­stützt wie kein anderes arabisches Land. Aus­schlaggebend dafür sind Tunesiens Rolle als verlässlicher Partner bei der Terrorismus­bekämpfung und im Migrationsmanage­ment, aber auch die Auswirkungen des Bür­gerkriegs in Libyen auf Tunesien. Wichtig­ster Grund für die massive Unterstützung war und bleibt indes, dass Tunesien sich als einziges Land der Region erfolgreich demo­kratisiert hat.

Nach fast einem Jahrzehnt scheint diese »Demokratisierungsrente« für Tunesiens Regierung zur Selbstverständlichkeit gewor­den zu sein – zumal diese Rente trotz aus­bleibender Strukturreformen weiter fließt. Dies zeigte sich etwa an der tunesischen Empörung, als die EU Empfehlungen der internationalen Arbeitsgruppe »Finanzielle Maßnahmen gegen die Geldwäsche« (FATF) folgte und Tunesien 2018 auf die entsprechende schwarze Liste setzte. Tunis war trotz europäischer Warnungen im Vorfeld nicht aktiv geworden. Die Erwartung, die EU hole für Tunesien die Kastanien aus dem Feuer, kam auch bei der Kommunikation zu den Verhandlungen über das Freihandelsabkom­men mit der EU zum Tragen, das in Tune­sien umstritten ist. Weil der Regierung der politische Wille offenkundig fehlte, über­nahm die EU federführend die Kommunikation mit der tunesischen Zivilgesellschaft. Beispiele wie diese legen nahe, dass eine allzu aktive Rolle Europas die tunesische Eigeninitiative nicht unbedingt stärkt.

Neue Konstellationen – neue Chancen?

Verlautbarungen des neuen Premierministers und der Koalitionsvertrag deuten dar­auf hin, dass sich die neue Regierung des Reformbedarfs und der Reformhürden voll­auf bewusst ist. Bessere Koordination zwi­schen Ministerien, Korruptionsbekämpfung und Befolgen von Empfehlungen zur Tran­sitionsjustiz gehören demnach zu den Prio­ritäten. Hinzu kommt, dass sowohl Präsi­dent Kaïs Saïed als auch die in der Regie­rung vertretenen Parteien Echaâb und Atta­yar tunesische Souveränität großschreiben. Daraus lässt sich der Wille zu mehr Gestal­tung und »ownership« von Reformprozessen ableiten. Gleichzeitig dürfte die Umset­zung insbesondere der Wirtschaftsreformen die Kompromissfähigkeit der politischen Eliten auf die Probe stellen: Spannungen zwischen Verfechtern etatistischer und wirtschaftsliberaler Agenden in der Regie­rung sind programmiert; die Regierungsmehrheit im Parlament ist schwach; über­dies zeichnen sich Machtkämpfe ab zwischen dem Parlamentspräsidenten – Ennahdha-Chef Rached Ghannouchi – und dem populären Staatspräsidenten Kaïs Saïed.

Lessons learned für die EU

Tunesiens Partner in der EU tun gut daran, der Regierung in Tunis den Ball mehr zu­zuspielen als bislang. Reformwille lässt sich von außen nicht erzwingen. Signale, An­reize und Maßnahmen können aber so ge­staltet werden, dass erstens reformorientierten Akteuren der Rücken gestärkt und zwei­tens der Druck zur Kooperation unter den tunesischen Partnern erhöht wird. Deutschland, neben Frankreich der vom Finanz­volumen her wichtigste bilaterale Partner Tunesiens, kann hierbei eine wichtige Rolle spielen. Die deutsche EU-Ratspräsident­schaft ab Juli 2020 böte die Chance, Weichen neu zu stellen und folgende Maßnahmen anzustreben:

Tunesische Eigeninitiative fördern und fordern. Für alle Kooperationen sollte gelten, dass der Impetus aus Tunis kommen muss – bei Kooperationen mit zivilgesellschaftlichen Akteuren ist dies längst der Fall. Insofern sollte die EU die Wiederaufnahme der um­strittenen Freihandelsverhandlungen kei­nesfalls forcieren, sondern auf tunesische Angebote und Initiativen warten.

Ex-post-Finanzierungsmechanismen bei Koope­rationen mit der Regierung. Erfahrungen mit den von Deutschland 2017 initiierten Re­formpartnerschaften, etwa im Finanz- und Bankenwesen, legen nahe, dass der Reform­impetus größer wird und sich das Reform­tempo beschleunigt, wenn Gelder erst nach Abschluss gemeinsam festgelegter Schritte ausgezahlt werden. Zudem fördern ressort­übergreifend konzipierte Vorhaben die Zu­sammenarbeit zwischen Ministerien. Das »Cash-upon-delivery«-Prinzip sollte auf alle direkten Staatshilfen externer Akteure aus­geweitet werden – dabei sind von Tunis vorgeschlagene sowie ambitionierte Ziele zu berücksichtigen.

Reformanreize stärken. Die Regierung hat mehr Anreize, heikle Reformen durchzuführen, wenn sie der Bevölkerung Erfolge vorweisen kann, etwa die Umwandlung von Schulden in Projektgelder, höhere Quoten für Arbeitsvisa europäischer Staaten, in denen Fachkräftemangel herrscht, oder punktuelle Erleichterungen im Agrarhandel.

Lokale Expertise und Fachkräfte fördern. Tune­sien wird buchstäblich überschwemmt von internationalen Entwicklungsexperten. Euro­päische Akteure könnten stärker und geziel­ter auf tunesische Expertise zurückgreifen, unter anderem aus der tunesischen Diaspora. Und: Tunis setzt bereits auf duale Ausbildung mit deutscher Hilfe – diese gilt es aus­zubauen. Trotz der rund 600 000 Arbeits­losen hatten allein deutsche Unternehmen in Tunesien 2019 Schwierigkeiten, Tausende offene Stellen mit Fachkräften zu besetzen.

Europäische Koordination verbessern. Seit 2011 sind ca. 10 Milliarden Euro allein als offizielle europäische Entwicklungshilfe nach Tunis geflossen – ohne dass auf Syn­ergien und Koordination geachtet worden wäre. Absprachen sind möglich, wie die Sicherheitskooperation seit 2015 gezeigt hat: Terroranschläge haben dazu geführt, dass sich europäische und US-Akteure mit Tunesien koordiniert und Aufgaben geteilt haben. Um Transparenz und Koordination zu stärken, könnte Deutschland die Koope­rationen mit deutscher Finanzierung auf einer digitalen Plattform vollständig veröf­fentlichen – in der Hoffnung, andere Euro­päer und externe Akteure »anzustecken«.

Die genannten Maßnahmen eröffneten Tunesien die Chance, das zu realisieren, was wichtige Akteure in und außerhalb der neuen Regie­rung sich wünschen: Vom Ob­jekt gut ge­meinter externer Entwicklungsambitionen zum handelnden Subjekt und Gestalter der eigenen Zukunft zu werden.

Dr. Isabelle Werenfels ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Naher / Mittlerer Osten und Afrika.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020

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