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Überblick
Ruf nach neuer Politik
Kai-Olaf Lang
Aus den am 2. März in Estland abgehaltenen Parlamentswahlen gingen die links von der Mitte angesiedelte Zentrumspartei und die mit der Forderung nach einer „Neuen Politik“ angetretene Newcomer-Partei Res Publica als Sieger hervor. Das unerwartet starke Abschneiden der Res Publica könnte dazu führen, daß die vom Tallinner Bürgermeister Edgar Savisaar geführte Zentrumspartei bei der Regierungsbildung nicht zum Zug kommt. Da im neuen Riigikogu (Reichstag) sechs Parteien vertreten sein werden, sind mehrere Koalitionsvarianten denkbar. In den Tagen nach der Wahl zeichnet sich die Bildung einer Koalition der rechten Mitte um die fiskalkonservative Res Publica, die liberale Reformpartei und die bäuerliche Volksunion ab. Unabhängig von der Zusammensetzung der künftigen Regierungskoalition wird man in Tallinn weiterhin konsequent die Finalisierung der zentralen außenpolitischen Ziele, EU- und NATO-Mitgliedschaft, verfolgen. Sollte Savisaar in der Opposition bleiben, ist jedoch nicht auszuschließen, daß der umstrittene Populist in ein Europa-skeptisches Horn stößt, was negative Folgen für das anstehende EU-Referendum mit sich bringen könnte. Substantielle Korrekturen in Wirtschafts- und Sozialpolitik sind in Anbetracht des starken Abschneidens marktwirtschaftsorientierter Kräfte auch bei einer (künftigen) Beteiligung des Zentrums an der Regierung nicht zu erwarten. In Anbetracht der wechselhaften estnischen Parteipolitik ist es gut möglich, daß es während der Legislaturperiode zu Neuarrangements des Regierungsbündnisses kommt.
Überblick
Zusammengefaßt hatten die Wahlen insbesondere die folgenden Ergebnisse: 1. Die Zentrumspartei wurde mit einem Viertel der Stimmen knapp die stärkste Partei, blieb aber deutlich hinter den hochgesteckten Erwartungen zurück. 2. Die erst 2001 gegründete Res Publica, der ebenfalls jeder vierte Wähler das Vertrauen schenkte, ist die eigentliche Wahlsiegerin und neben Savisaars Zentrum die bestimmende politische Kraft in Estland. 3. Zu den Siegern gehört auch die ländlich-bäuerliche Volksunion, die mehr als ein Achtel der Stimmen auf sich vereinigen konnte. 4. Die liberale Reformpartei von Premierminister Siim Kallas konnte sich im Vergleich zu den letzten Wahlen behaupten, doch offensichtlich entschieden sich viele Wähler, die während des Wahlkampfs mit den Liberalen sympathisiert hatten, zuletzt doch für die Res Publica. 5. Eine schwere Schlappe mußten die Konservativen der Pro Patria Union und die rechten Sozialdemokraten (Moderate) hinnehmen, allerdings blieb beiden Parteien das vielfach prognostizierte Scheitern an der 5%-Hürde erspart. 6. Erstmals seit 1995 bleibt die russische Minderheit ohne ethnisch verankerte parlamentarische Repräsentation, denn ihre Parteien erhielten nicht einmal 2,5% der Stimmen.
Wahlen zum estnischen Reichstag
Stimmenanteil 2003 (%) | Mandate 2003 | Stimmenanteil 1999 (%) | Mandate 1999 | |
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Zentrumspartei | 25,4 | 28 | 23,4 | 28 |
Res Publica | 24,6 | 28 | ||
Reformpartei | 17,7 | 19 | 15,9 | 18 |
Volksunion | 13 | 13 | ||
Pro Patria | 7,3 | 7 | 16,1 | 18 |
Moderate | 7 | 6 | 15,2 | 17 |
Vereinigte Volkspartei | 2,2 | - | 6,1 | 6 |
sonstige | 2,8 | - | 23,3 | 14 |
100 | 101 | 100 | 101 |