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Neuere Entwicklungen im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan

SWP-Aktuell 2020/A 71, 09.09.2020, 8 Seiten

doi:10.18449/2020A71

Forschungsgebiete

Im Juli 2020 nährte eine militärische Auseinandersetzung zwischen armenischen und aserbaidschanischen Streitkräften die Sorge vor einem Rückfall in regelrechten Krieg, wie ihn die beiden Seiten von 1992 bis 1994 geführt hatten. Der neuerliche Vorfall war der schwerste militärische Zusammenstoß in einer Grenzzone außerhalb Berg-Karabachs seit 1994. Doch im Mittelpunkt der prekären zwischenstaatlichen Beziehungen steht nach wie vor der ungelöste Konflikt um diesen De-facto-Staat und sie­ben aserbaidschanische Provinzen in seiner Umgebung, die unter der Kontrolle armenischer Truppen stehen. Der jüngsten Eskalation war von 2018 bis zum Frühjahr 2019 eine Phase der Entspannung vorausgegangen. Während dieser Zeit hatten die Kon­takte zwischen Armeniens und Aserbaidschans Staatsführern zugenommen und diese ihre Bereitschaft bekundet, sich verstärkt auf eine friedliche Konfliktregelung ein­zulassen und die Bevölkerungen in diesen Prozess einzubeziehen. Bald darauf aber wurde der Ton wieder schärfer.

Vom 12. bis zum 16. Juli 2020 war an einem Abschnitt der Staatsgrenze zwischen Aserbaidschan und Armenien gegenseitiger Artilleriebeschuss zu verzeichnen. Laut offi­ziellen Angaben kamen dabei mindestens 17 Menschen ums Leben – auf armenischer Seite vier Militärangehörige, auf aser­baidschanischer ein Zivilist und 12 Militärs, darunter der ranghöchste im Schusswechsel mit armenischen Streitkräften gefallene Offizier seit dem Ende des Karabach-Krieges 1994. Der umkämpfte Grenzabschnitt ver­läuft zwischen der aserbaidschanischen Provinz Tovuz und der armenischen Pro­vinz Tavush unweit Georgiens. Er befindet sich in der Nähe wichtiger Transitprojekte, die den kaspischen Raum mit Europa ver­binden und zwischen Aserbaidschan, Geor­gien und der Türkei verlaufen.

Wie bei Gewaltzwischenfällen zuvor bezichtigten beide Seiten den jeweiligen Gegner, die militärische Auseinandersetzung provoziert zu haben. Nach dem 16. Juli ließen die Kämpfe nach, doch die Kontrahenten be­schuldigten sich auch weiterhin militärischer Übergriffe. Diese Entwicklung hatte besorgniserre­gen­de Auswirkungen. In Aserbaidschans Hauptstadt Baku versam­melten sich am 14. Juli Zigtausende Demon­stranten vor dem Parlament und riefen zum Kampf auf. Die militärische Eskalation an der Grenze strahlte weltweit in die armeni­schen und aserbaidschanischen Diasporagruppen aus. Laut Mitteilung der aserbaidschanischen Bot­schaften griffen Armenier aserbaidschanische Demonstranten in Lon­don, Los Angeles und Brüssel an. Dagegen beklagte zum Beispiel der Zentralrat der Armenier in Deutschland einen Brand­anschlag auf die armenische Botschaft in Berlin und Attacken auf Geschäfte in Köln und Hamburg, die von Armeniern betrie­ben werden.

Jede Konfliktpartei warf der anderen vor, mit militärischen Aktionen von akuten internen Problemen ablenken zu wollen. Aserbaidschan steckt in einer Wirtschafts­krise, weil die Weltmarkt­preise für Energie­rohstoffe sinken. Armenien wiederum leidet schwer unter der Corona-Krise – dort stieg die Zahl der Neuinfektionen im Juni und Juli dra­matisch an. Gerade diese Heraus­forderungen aber deuten darauf hin, dass sich weder Armenien noch Aserbaidschan die Eskalation eines Gewaltzwischenfalls bis zum offenen Krieg leisten können.

Eine kurze Phase der Entspannung

Nach dem Machtwechsel in Armenien durch die »Samtene Revolution« vom Früh­jahr 2018 keimte die Hoffnung, dass die konfliktbeladene Beziehung zu Aserbaidschan sich entspannen könnte. Hochrangige Treffen zwischen den Außenministern und den Staatsführern der beiden Länder nahmen zu. Ein Abkommen vom September 2018 eröffnete einen direk­ten Kommunikationskanal zwischen ihren Regierungen. An der Waffenstillstandslinie um Berg-Karabach traten so wenig Gewaltzwischenfälle auf wie seit 2013 nicht mehr. Bei einem Außenministertreffen in Paris am 16. Januar 2019 teilten beide Sei­ten mit, dass sie ihre Gesellschaften auf ein Friedensabkommen vorbereiten wollten. Die Bevöl­kerung in Armenien, Berg-Karabach und Aserbaidschan solle besser über die offiziel­le Mediation in dem Konflikt infor­miert, zivil­gesellschaftliche Gruppen sollten stärker einbezogen werden. Allerdings wies Baku die Forderung des neuen armenischen Premiers Nikol Paschinjan zurück, Berg-Kara­bach an den Verhandlungstisch der Minsker OSZE-Gruppe zurückzuholen.

Gegen Ende 2018 verkündete der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew, 2019 könne das »Jahr des Durchbruchs« werden. Das war umso erstaun­licher, als er zuvor wiederholt beklagt hatte, die Verhand­lungen im Rahmen der OSZE zur Konfliktbearbeitung seien erfolglos, und eine »mili­tärische Konfliktlösung« als Alterna­tive zur vergeblichen Diplomatie erwähnt hatte. Nun jedoch verlautete aus Baku, Kontakte zwi­schen den bislang völlig voneinander getrennten Gesellschaften Berg-Karabachs und des übrigen Aserbaidschan sowie die Rückkehr von Binnenvertriebenen in ihre Heimatorte könnten die humanitäre Lage im Umfeld des ungelösten Konflikts ver­bes­sern und einer Einigung den Weg bereiten. Zugleich zog Alijew indes eine rote Linie: Die maximale Konzession an Berg-Karabach sei ein Autonomiestatus innerhalb Aser­baidschans. Auf der Gegen­seite lehnte der armenische Regierungschef Paschinjan die For­mel »territories for peace« ab. Sie besagt, dass eine friedliche Kon­flikt­lösung nur dann möglich ist, wenn zuvor die von armenischen Trup­pen kontrollierten Pro­vin­zen in der Um­gebung Berg-Kara­bachs an Aserbaidschan zurückgegeben werden.

Schon im Frühjahr 2019 neigte sich die Entspannung ihrem Ende zu. Bei seinem Aufenthalt in den USA im März verkündete der armenische Verteidigungsminister Dawid Tonojan, sein Land müsse sich auf eine aktive Verteidigungsstrategie vorbereiten, und sprach von »new war for new terri­tories«. Als Premier Paschinjan im August 2019 Stepanakert besuchte, die Hauptstadt Berg-Karabachs, bekräftigte er: »Karabach ist Arme­nien – Punkt!« Präsident Alijew konterte in Sotschi auf der Konferenz des Valdai-Klubs im Oktober mit »Karabach ist Aserbaidschan – Ausrufezeichen!«. In einem Kommentar zu dieser Auseinander­setzung war die Rede von einem »war of punc­tuations«. Während der Münchner Sicher­heitskonferenz im Februar 2020 präsentierten Alijew und Paschinjan die bekannten historischen Narrative, die das umstrittene Gebiet als uralten Bestandteil der eigenen Nationalgeschichte aus­weisen. Ein Beobachter meinte dazu: »Die Münch­ner Konferenz hat gezeigt, dass die Führer beider Länder eher bereit sind, in das 2. Jahrhundert v. Chr. zurückzugehen, als über die Zukunft zu diskutieren.«

Streitpunkte im Konflikt um Berg‑Karabach

Karte

Die Eskalation vom Juli 2020, während der es in Berg-Karabach und seiner Umgebung relativ ruhig blieb, lenkte den Blick auf eine Grenzregion weit außerhalb dieser Konflikt­zone. Dort leben etwa 150 000 Men­schen in 26 armenischen und 84 aserbai­dschani­schen Dörfern an einem nicht demar­kierten Grenzabschnitt mit militärischen Anlagen auf beiden Seiten. Gleichwohl stehen nach wie vor Berg-Karabach und die von armeni­schen Truppen ganz oder teil­weise kontrol­lierten sieben aserbaidschanischen Provin­zen in seiner Umgegend im Mittelpunkt der prekären zwischenstaat­lichen Beziehungen. Seit dem Ende des Karabach-Krieges werden diese durch ein Waffenstillstands­abkom­men von 1994, das Russland vermittelte, mit der Formel »Weder Krieg noch Frieden« um­schrieben. Dem Waffenstillstand folgte kein Friedensvertrag, und an der »line of contact«, an der sich Scharfschützen gegen­überstehen, traten immer wieder Gewaltzwischenfälle auf. Bei den Schusswechseln kamen jedes Jahr Dutzende Menschen ums Leben. Besonders zwischen 2014 und 2016 eska­lierte hier die Gewalt. Waren es 72 Todesopfer (dar­unter acht Zivilisten) im Jahre 2014 und 80 (dar­unter fünf Zivilisten) 2015, folgte im April 2016 die schlimmste Eskalation seit 1994. Sie kostete 200 Kom­battanten und 25 Zivi­listen das Leben. Ge­legentlich griffen die Gewaltzwischenfälle auf Abschnitte der Staatsgrenze außerhalb der Konfliktzone über, wo aber zwischen 2016 und 2018 nur sieben Prozent aller Todesopfer zu verzeich­nen waren. In den letzten zwei Jahren hat sich dieser Anteil verdoppelt, während die Gesamtzahl der Gewaltzwischenfälle sank.

Noch im März 2019, als sich das Ende der Entspannungsphase abzeichnete, plädierte Paschinjan für eine Lösung in der Karabach-Frage, »die gleicher­maßen akzeptabel für das Volk Armeniens, das Volk von Artsach (Berg-Karabach) und das Volk Aserbaidschans sein sollte«. Eine solche Lösung ist in fast drei Jahrzehnte währenden internationalen Mediationsbemühungen bisher nicht gelungen. Die Minsker OSZE-Gruppe unter Leitung der drei Co-Vorsitzenden Russland, USA und Frankreich vermittelte seit 2007 »Basisprinzipien« für eine friedliche Konflikt­lösung. Sie umfassen einen Interim-Status für Berg-Karabach bis zur Regelung seines endgültigen Rechtsstatus »durch rechtlich verbindliche Willensäußerung«, die Rück­gabe der Territorien in seiner Umgebung an Aser­baidschan, einen Korridor zwischen Armenien und Berg-Karabach, das Recht aller Flüchtlinge und Binnenvertriebenen auf Rückkehr in ihre Heimatorte sowie Sicherheitsgarantien einschließlich einer internationalen Peacekeeping-Operation. Doch die Ansichten der Konfliktparteien über die Umsetzung dieser Prinzipien und deren Reihenfolge gingen auseinander.

Der Status Berg-Karabachs

Im Streit um Berg-Karabach prallen zwei völkerrechtliche Prinzipien aufeinander: Auf der einen Seite steht das Prinzip der territorialen Integrität, auf das sich Baku mit Bezug auf das Territorium der einstigen sowjetischen Unionsrepublik Aserbaidschan beruft und das von der internationalen Ge­meinschaft insofern bestätigt wird, als kein Staat bislang die Unabhängigkeit Berg-Kara­bachs diplomatisch anerkannt hat. Auf der ande­ren Seite begründet Armenien mit dem Recht auf nationale Selbstbestimmung die Lostrennung des mehrheitlich von Arme­ni­ern bewohnten ehemaligen auto­no­men Gebiets von der Republik Aserbaidschan. Präsident Alijew hat wiederholt betont, dass Volk und Staat seines Landes niemals einen zweiten armenischen Staat auf dem »histo­rischen Territorium Aser­baidschans« dulden werden. Auch die Oppo­sition und weite Teile der von staatlichen Behörden schika­nierten Zivilgesellschaft teilen diese Ein­stel­lung. Als einzig zulässi­gen Kompromiss bietet Aserbaidschan Berg-Karabach einen »autonomen Status« inner­halb seines Staats­gebiets an, der allerdings kaum konkretisiert wurde. Im Oktober 2016 sprach Präsi­dent Alijew erstmals von einer »autonomen Republik«. Zuvor war stets die Rede von einem »autonomen Gebiet«. Darin sah der US-amerikanische Co-Vorsitzende der Mins­ker OSZE-Gruppe ein Signal für den Start ernst­hafter Diskus­sionen über den Status.

Gemäß den Basisprinzipien unterliegt das Gebiet einem Interim-Status, bis der Rechtsstatus geklärt ist. In der Auseinander­setzung darüber bot Baku während der Ent­spannungsphase einen Kompromiss an, der dem weltweit isolierten und nur mit der Republik Armenien eng verbundenen De-facto-Staat eine »begrenzte Außenpolitik« ermöglichen soll. Im Gegenzug erwartet Aserbaidschan von Eriwan und Stepanakert, dass die armenischen Truppen aus den Pro­vinzen in der Umgebung Berg-Kara­bachs abziehen. Das ist allerdings nicht zu erwar­ten, solange Baku wieder­holt auf eine »mili­tärische Kon­fliktlösung« hinweist und keine internationale Sicherheitsgarantie für Berg-Karabach besteht.

Im Streit um den endgültigen Rechts­status geht es darum, welche Bevölkerungsgruppen zur Abstimmung berechtigt sind und wie und wo abgestimmt werden soll. Aserbaidschan hat zwei getrennte Abstimmungen in Erwägung gezogen: Ihre Voten separat abgeben sollen demnach die armeni­sche Bevöl­kerungsmehrheit in Berg-Kara­bach und die Gemeinschaft der aus diesem Gebiet vertriebenen Aserbaidschaner, die in verschiedenen Regionen Aserbaidschans lebt und heute etwa 60 000 Mitglieder um­fasst. Armenien würde sich allenfalls auf eine einheitliche Abstimmung mit Beteili­gung der aserbaidschanischen Binnen­vertriebenen einlassen. Diese könnten eine Mehrheit für ein Unabhängigkeitsvotum in Berg-Karabach nicht verhindern.

Die Territorien in der Umgebung Berg-Karabachs

Seit 1994 stehen im Grenzgebiet zu Berg-Karabach fünf aserbaidschanische Provinzen ganz, zwei weitere teilweise unter der Kontrolle armenischer Truppen. Sie waren zuvor überwiegend von Aserbaidschanern bewohnt, die aus diesen Gebieten vertrieben wurden. Aus ihnen kamen weit mehr aserbaidschanische Flüchtlinge und Ver­trie­bene als aus Berg-Karabach selbst. Besonders in jenen Territorien, die zwischen der Republik Armenien und Berg-Karabach liegen, förderten die Regierungen Armeniens und Berg-Karabachs den Ausbau von Verkehrsverbindungen und neuer Siedlungen. Zwar verfolgte die Regierung in Eri­wan keine offizielle Politik der Ansiedlung von Armeniern in diesen Gebie­ten, um nicht internationale Kritik zu erregen. Dennoch ließen sich nach und nach Armenier in diesen Territorien nieder. Heute leben dort etwa 17 000 von ihnen.

Nach einer ersten Erkundungsmission forderte die Minsker OSZE-Gruppe 2005, diese Siedlungspolitik zu beenden. Ein Jahr später verabschiedete die De-facto-Regie­rung in Berg-Karabach eine Verfassung, die ihre Jurisdiktion über die angrenzenden Terri­torien und die Sied­lungen dort postu­lierte. In den Siedlungen wurde die Land­wirtschaft ausgebaut. Aser­baidschan be­schwerte sich auf internationaler Ebene über diese Entwicklung, die es als grobe Verletzung der Verhandlungsprinzipien ansieht. Je mehr neue Sied­lun­gen entstehen, desto stärker wächst auf armenischer Seite die Abneigung gegen die international geforderte Rückgabe dieser Territorien an Aserbaidschan, gegen die Rückkehr von Aser­baidschanern, die aus ihnen vertrieben wurden, und gegen den Abzug armenischer Truppen. Militärische Gewaltzwischenfälle wie im April 2016 und im Juli 2020 ver­festigen diese Haltung noch. Im März 2019 wandte sich der Leiter des Nationalen Sicher­heitsdienstes Armeni­ens gegen Spe­kul­ationen über territoriale Konzessionen an Aserbaidschan und sprach von einem Programm, Armenier auf den Gebieten anzusiedeln, die unter Kontrolle der arme­ni­schen Armee stehen.

Jeder Versuch der neuen armenischen Führung, hier Kompromisse auf den Weg zu bringen, könnte auf Opposition in Berg-Karabach, in der weltweiten armenischen Diaspora und in Armenien selbst stoßen. Damit hat sich eine emotionale und politi­sche Barriere gegen eins der Basisprinzipien für friedliche Konfliktlösung aufgebaut. Die externen Vermittler in dem Konflikt sehen sich mit der Herausforderung kon­frontiert, die Situation in den sieben Pro­vinzen um­fas­send und unabhängig zu überprüfen. Erkundungsmissionen der OSZE in den Jahren 2005 und 2010 waren begrenzt und wurden dieser Aufgabe noch nicht gerecht.

Rückkehr Berg-Karabachs an den Verhandlungstisch

Ein weiterer Streitpunkt ist die Forderung der neuen Führung in Eriwan nach der Rückkehr Berg-Karabachs in das Verhandlungsformat der Minsker OSZE-Gruppe. Vor 1998 saßen dessen Repräsentanten mit am Verhandlungstisch. Dann aber verlor der De-facto-Staat seine Position als eigene Ver­handlungspartei, nachdem sein erster »Prä­sident« Robert Kotscharjan in das Präsidentenamt der Republik Armenien aufgestiegen war. Im Umfeld der Republikanischen Partei Armeniens stammten nun viele Ver­treter der Staatsführung aus Berg-Kara­bach oder aus der Karabach-Bewegung, die sich seit 1987 in Armenien entfaltet hatte. Dazu gehörte auch der 2018 entmachtete Sersch Sargsjan, der in den 1990er Jahren hohe Staatsämter in Stepanakert wie das des Ver­teidigungsministers bekleidet und 2008 die Nachfolge Kotscharjans als Präsident Arme­niens angetreten hatte. Aus Sicht Aser­baid­schans herrschte in Armenien von 1998 bis 2018 ein »Karabach-Clan«. Mit der Sam­te­nen Revolution vom Frühjahr 2018 ver­lor diese Machtelite ihre Führungsposition.

Der neue Regierungschef Nikol Paschinjan beteuerte anfangs, er könne nicht für Berg-Karabach sprechen, sondern sei nur für die Republik Armenien zuständig, und forder­te, den De-facto-Staat wieder an den Verhandlungen zu beteiligen. Allerdings lief Paschin­jan damit Gefahr, dass die Oppo­si­tion aus der alten Machtelite der neuen Führung Nachlässigkeit in puncto Kara­bach vor­wer­fen könnte. Dem trat Paschinjan ent­gegen, indem er seine Rhe­to­rik zum Kara­bach-Pro­blem stärker pa­trio­tisch und pan­armenisch ausrichtete. So brachte er eine mögliche Vereinigung Berg-Karabachs mit der Repub­lik Armenien ins Spiel und rief damit in Aserbaidschan schar­fe Reak­tionen hervor. Schon zuvor, als Paschinjan sich eher mode­rat zu Berg-Kara­bach geäußert hatte, war Aser­baidschan nicht bereit gewe­sen, eine Rück­kehr des De-facto-Staats an den Ver­handlungstisch zu akzep­tieren. Auch die Co-Vorsitzenden der Minsker OSZE-Gruppe zeigten sich zurück­haltend gegen­über einer Änderung des bestehenden Ver­handlungsformats.

Die Haltung externer Akteure

Von anderen Streitfällen im Raum der ehe­maligen Sowjetunion wie den Sezessionskonflikten Georgiens oder den Kämp­fen in der Ostukraine hat sich der Konflikt um Berg-Karabach bislang dadurch unter­schie­den, dass er nicht in einen Kontext mit geopolitischer Rivalität oder einem neuen Ost-West-Konflikt gesetzt wurde. Russland stellte sich hier nicht gegen die westlichen Akteure. Neben den USA und Frankreich hat es die Position eines Co-Vorsitzenden der Minsker OSZE-Gruppe inne. Zwischen Washington, Paris und Moskau traten keine grundsätz­lichen Meinungsverschiedenheiten über die Kon­fliktvermittlung zutage, auch wenn Russ­land bemüht ist, die füh­ren­de Rolle in der Kon­fliktmediation zu spielen. In der neuer­lichen Eskalationsphase riefen mah­nende Stimmen aus Moskau, Washington und Brüssel sowohl Armenien als auch Aser­baidschan dazu auf, keinen Krieg heraufzubeschwören. Eine einseitige Erklä­rung kam lediglich aus der Türkei, die sich ganz auf die Seite Aserbaidschans stellte. Einige Kommentatoren deuteten die Gefahr eines Stellvertreterkriegs an – mit Blick auf Russland und die Türkei, die in Kon­flikt­regionen wie in Libyen jeweils gegneri­sche Kräfte militärisch unterstützen.

Russland ermahnte jedoch Armenien und Aserbaidschan, eine weitere Eskalation zu verhindern. Kommentatoren aus hohen Sicher­heitskreisen in Moskau zeigten sich besorgt, dass die Gewalt an der armenisch-aser­baidschanischen Grenze Zusammenstöße zwischen Armeniern und Aserbaidschanern in russischen Städten provozieren könnte, leben in Russland doch große Dia­sporagruppen und Arbeitsmigranten aus beiden Völkern. Aus Sicht eines russischen Militärexperten lautet die Botschaft des Kreml: »Wir sind neutral. Wir respektieren beide Völker und werden nicht die eine Seite gegen die andere unter­stützen.« Das steht im Kontrast zur Kon­fliktpolitik, die Russland gegenüber Geor­gien und seinen abtrünnigen Landesteilen praktiziert. Dort unterstützt es Abchasien und Südossetien politisch und militärisch gegen Georgien und nutzt dies als Hebel gegen die Ausrich­tung des Landes nach Westen.

Dabei steht Russland in einem Vertragsverhältnis strategischer Partnerschaft mit Armenien und unterhält dort eine Militär­basis. Russische Kommentatoren äußerten aber schon vor der neuerlichen Eska­lation Kritik an der Kon­fliktrhetorik des strategischen Partners Armenien. So tadelte Außen­minister Lawrow auf dem Treffen des Val­dai-Klubs in Sotschi im Okto­ber 2019 Aus­sagen wie »Karabach ist Arme­nien« und verglich dies mit der Äußerung des albani­schen Premierministers, Kosovo sei Alba­nien. Diese Rhe­torik trage nicht dazu bei, eine Atmosphäre für die Wiederaufnah­me des politischen Prozesses zu schaffen.

In Armenien dagegen wuchs die Skepsis, dass man sich in einer militärischen Aus­einandersetzung mit Aserbai­dschan auf seine »Verbündeten« verlassen könne, also auf Russland und die von ihm gelei­tete Organi­sation des Vertrags über kollek­tive Sicherheit (OVKS), der Armenien als einzi­ger Staat im Südkaukasus angehört. Zudem hat sich nach dem Machtwechsel von 2018 das politische Verhältnis zwischen Armeni­en und Russ­land abgekühlt, auch wenn sich beide weiterhin zu ihrer strategischen Partnerschaft bekennen. Diese Bekundung bedeutet aber nicht, dass sich Russland von Aserbai­dschan distanziert. Gerade in den letzten zwei Jahren war Moskau bemüht, Baku für eine Annäherung an die Eurasische Wirt­schaftsgemeinschaft zu gewinnen.

Die Türkei hingegen unterstützt Aserbaidschan im Kon­flikt mit Armenien. Ihre Bezie­hung zu Aserbaidschan folgt der Parole »Eine Nation, zwei Staaten«, steht das Land ihr doch unter den postsowjetischen Staa­ten mit turk­stämmiger Titularnation am näch­sten. Da­gegen ist das Verhältnis Armeniens zur Türkei historisch zutiefst gestört – vor allem wegen des Genozids, der 1915 im aus­gehenden Osmanischen Reich an der armeni­schen Volksgruppe begangen wurde. 2010 schlossen Ankara und Baku ein Ab­kommen über strategische Kooperation und gegenseitige Unterstützung. Es gab gemein­same Militärmanöver, zudem Solidaritäts­bekundungen für Aserbaidschan aus Ankara bei Gewalt­zwischenfällen im Umfeld des Kara­bach-Konflikts, wie im April 2016.

Allerdings kam Zweifel daran auf, dass sich die Türkei an einem regelrechten Krieg auf der Seite ihres »Bruderlandes« beteiligen würde. Im Kontext der Konflikteskalation vom Juli 2020 waren aus Ankara gleichwohl Aussagen zu vernehmen, die in diese Rich­tung deuteten. Am 29. Juli wurden im Rah­men des Abkommens über militärische Zu­sam­menarbeit die bislang größten gemein­samen Militärübungen in aserbaidschani­schen Landesteilen eingeleitet, so in Baku, Nachitschewan, Ganja und Kurdamir. An den dreizehntägigen Manövern von Artille­rie und Luftverteidigung beteiligten sich laut aserbaidschanischen Medien bis zu 11 000 Soldaten aus der Türkei. Diese Zahl wurde offiziell jedoch nicht bestä­tigt. Aus dem armenischen Verteidigungsministerium hieß es, gemeinsam mit Russ­land werde man die türkisch-aserbaidscha­nischen Mili­täraktivitäten mit allen zur Verfügung stehenden Aufklärungsmitteln überwachen und analysieren. Baku beschwerte sich dar­über, dass Arme­nien und Russland gemein­same Luftverteidigungsübungen abgehalten hätten. Laut der russischen Nachrichtenagentur Interfax führte das in Armenien stationierte russi­sche Militär während der Eskalationsphase ge­meinsame Übungen mit dem armenischen Militär durch, an denen 1 500 russische Sol­daten, MiG-29-Kampfflugzeuge, Hubschrau­ber und Kampf­drohnen beteiligt waren.

Drohte also doch ein Stellvertreterkrieg? Am 27. Juli führten Putin und Erdoğan ein Telefongespräch, bei dem der russische Prä­sident betonte, »wie wichtig es ist, Schritte zu verhindern, die zu einer Eskalation der Spannungen führen könnten«. In den folgenden Wochen blie­ben die russischen Kommentare in staatlichen Medien zur Türkei eher zurückhaltend, auch bei inter­national höchst umstrittenen Themen wie Ankaras Erdgaspolitik im öst­lichen Mittel­meer. Russland ist derzeit mit ande­ren Problemen beschäftigt. Dazu gehört die Protestwelle im eigenen Fernen Osten und im Nachbarland Belarus.

Die angeblich neutrale Politik Moskaus gegenüber den Konfliktparteien Armenien und Aserbaidschan hat in den letzten Jahren allerdings zu erheblicher Aufrüstung in beiden Ländern beigetragen. Russ­land spielt die äußerst fragwürdige Doppelrolle eines Haupt­mediators in dem Konflikt und zu­gleich des größten Waffenlieferanten beider Konflikt­parteien und begründet dies mit »Balancewahrung«. Der strategische Partner Armeni­en bezieht russische Waffen zum Vor­zugs­preis, Aserbaidschan zum Marktpreis. Auch andere Drittstaaten hatten ihren Anteil an der Auf­rüstung in dem Konfliktfeld. Israel wurde nach Russland zum zweit­größten Waffenlieferanten für Aserbaidschan, wofür das Empfängerland Kritik aus dem islami­schen Ausland erntete. 2016 hatte Baku lang­fristige Verträge mit Israel zum Kauf mili­tärischer Güter im Wert von 5 Mil­liar­den US-Dollar geschlossen. Aser­baidschan seinerseits beklagte sich über eine Waffenlieferung Serbiens an Armenien kurz vor dem Ausbruch der neuerlichen Eskalation. Aus Belgrad kam die Antwort, Ser­bien habe in den letzten Jahren Waf­fen an beide Staaten ver­kauft, dabei an Aser­baidschan zehnmal mehr als an Arme­nien.

So entstand im Umfeld des ungelösten Karabach-Konflikts ein erschreckendes Aus­maß an Militarisierung. Im Globalen Milita­risierungsindex des Bonner Inter­natio­nalen Zentrums für Konversion (BICC), das Militär­ausgaben in Relation zur Bevölkerungs- und Wirt­schaftsgröße eines Landes misst, ran­gieren Armenien und Aserbaidschan unter den ersten zehn. In absoluten Zahlen hat Aser­baidschan, der süd­kaukasische Staat mit der höchsten Bevöl­kerungszahl und der größten Wirtschaft, mehr in die Auf­rüstung investieren können als Ar­menien. Bakus Militäretat übersteigt längst Armeniens gesam­ten Staatshaushalt. Armenien rea­giert auf diese materielle Überlegenheit des Gegners mit verstärkter militärischer Mobi­li­sierung. Ende August 2020 forderte das arme­nische Verteidigungsministerium in einem Geset­zesentwurf, eine landesweite Miliz aufzu­stellen, in der Freiwillige – Män­ner und Frauen unter 70 Jahren – neue Hilfs­truppen bilden. Diese könnten auch an »gefährdeten Grenzabschnitten« eingesetzt werden.

Ausblick

Eine weitere Eskalation des militärischen Gewaltzwischenfalls vom Juli 2020 blieb zu­nächst aus. Im August hatte sich die inter­nationale Aufmerksamkeit bereits weitgehend auf andere Themen gerichtet, wie die Entwicklung in Belarus und die ver­schärfte politische Krise zwischen Europa und Russ­land wegen des Giftanschlags auf den Oppo­sitionsführer Nawalny. Doch der Vorfall an der armenisch-aserbaidschani­schen Staatsgrenze hat die internationale Gemeinschaft abermals davor gewarnt, sich darauf zu ver­lassen, dass der über drei Jahrzehnte alte zwischenstaatliche Konflikt im Status eines »frozen conflict« verharrt. Zwar halten die meis­ten Analysten einen geplan­ten Krieg (»intentional war«) nicht für wahrscheinlich. Dennoch kann ein »war by acci­dent« durch eine aus dem Ruder laufende Eska­lation eines Gewaltzwischenfalls nicht ausgeschlossen werden. Ein solcher Krieg würde heute auf einem weit höheren mili­tärischen Niveau ausgetragen als der Karabach-Krieg von 1992 bis 1994 und wür­de den gesamten Südkaukasus erschüttern. Des­halb kamen vor allem aus Georgien be­sorg­te Kommentare über die neuen Gewalt­zwischenfälle unweit seiner eigenen Staats­grenze zu den beiden Nachbar­ländern.

Auch wenn die Aussicht auf eine fried­liche Lösung des Karabach-Konflikts erneut in Frage gestellt wurde, sollten sich die Media­tionsbemühungen nicht darauf be­schränken, die Gefahr einer militärischen Eskala­tion einzudämmen. Nicht lange vor dem erneuten Schuss­wechsel wurden auf beiden Konfliktseiten Signale gesetzt, auf welche die internationale Politik zurück­greifen soll­te. Das gilt etwa für die Ansage, die eigene Bevölkerung auf Kompromisse vorbereiten zu wollen, huma­nitäre Kon­takte zwischen den strikt von­einander ge­trennten Gesell­schaften Berg-Karabachs und Aserbaidschans zu ermög­lichen, die eigene Bevölkerung besser über die Kon­flikt­mediation zu informieren und zivil­gesellschaft­liche Gruppen stärker in letztere einzubeziehen.

Dr. Uwe Halbach ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020

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ISSN 1611-6364