Die politische Geographie Kaschmirs hat sich in den letzten Monaten grundlegend verändert. Ausgangspunkt war die Entscheidung der indischen Regierung vom 5. August 2019, den Bundesstaat Jammu und Kaschmir in zwei Unionsterritorien aufzuteilen. In Reaktion darauf veröffentlichte Islamabad am 4. August 2020 eine Karte, die ganz Kaschmir als Teil Pakistans darstellte. Ende September 2020 kündigte die chinesische Regierung den bisherigen Status quo mit Indien in der Region Ladakh/Aksai Chin auf. Damit deutet sich eine neue Phase im Konflikt um Kaschmir an, in der China und Pakistan enger zusammenarbeiten könnten. Zudem wird der Konflikt um eine neue geopolitische Dimension erweitert, denn die Auseinandersetzung mit Indien ist für China jetzt auch Teil des Ringens mit den USA um die künftige Machtverteilung im Indo-Pazifik.
Die territoriale Zugehörigkeit des einstigen Fürstenstaates Jammu und Kaschmir war bislang Gegenstand von zwei weitgehend voneinander unabhängigen Konflikten: (1) dem bekannten Streit zwischen Indien und Pakistan; (2) der wenig bekannten Auseinandersetzung zwischen Indien und China über die Festlegung ihrer ca. 3 500 Kilometer langen Grenze, von der ca. 1 600 Kilometer durch Kaschmir verlaufen. Die jüngsten Entwicklungen könnten dazu führen, dass die beiden bislang eher getrennten Konflikte künftig stärker miteinander verwoben werden.
Der indisch-pakistanische Konflikt um Kaschmir
Nach der Unabhängigkeit Britisch Indiens und der Staatsgründung Indiens und Pakistans im August 1947 blieb eine Reihe von Fürstenstaaten zunächst unabhängig, darunter auch Jammu und Kaschmir (J&K). Als dort Stammeskrieger aus Pakistan eindrangen, die von pakistanischen Offizieren unterstützt wurden, wandte sich der Hindu-Maharaja von J&K an die indische Regierung und bat um militärischen Beistand. Ende Oktober 1947 trat der Fürstenstaat der Indischen Union bei, die im Gegenzug Truppen zur Unterstützung des Maharajas entsandte. Aus den Kämpfen gegen die Stammeskrieger entwickelte sich der erste indisch-pakistanische Krieg, der im Januar 1949 mit einem Waffenstillstand endete. Der einstige Fürstenstaat ist seitdem in einen indischen und einen pakistanischen Teil gespalten.
Kaschmir hat für Indien und Pakistan eine hohe Symbolkraft im Kontext der jeweiligen Staatsidee. Pakistan, das als Staat für die Muslime Britisch-Indiens gegründet worden war, reklamierte das mehrheitlich muslimische Kaschmir für sich. Für Indien war Kaschmir lange Zeit ein Symbol für den Säkularismus und die Offenheit des neuen Staates für alle Religionsgemeinschaften.
Der Kaschmirkonflikt zwischen Indien und Pakistan lässt sich bis heute in zwei große Phasen einteilen. In der ersten Phase von 1947 bis 1972 kam es zu einer Internationalisierung. Der indische Premierminister Nehru brachte den Konflikt vor die Vereinten Nationen (VN) und schlug ein Referendum vor, in dem über die Zugehörigkeit des Gebiets zu Indien oder Pakistan entschieden werden sollte. Seit 1948 hat der Sicherheitsrat eine Reihe von Resolutionen verabschiedet. Tenor dieser Resolutionen ist sinngemäß, dass sich erstens alle pakistanischen Truppen aus J&K zurückziehen müssen. Zweitens sei anschließend eine Interimsverwaltung einzurichten, assistiert von indischen Truppen. Diese hätte, drittens, ein Referendum in ganz J&K vorzubereiten. Die Unabhängigkeit Kaschmirs war in den Resolutionen nicht vorgesehen und wird von Indien und Pakistan abgelehnt. China war bis 1971 kein Mitglied des Sicherheitsrats und daher auch nicht an den Resolutionen der VN beteiligt.
1948 wurde die United Nations Commission for India and Pakistan (UNCIP) etabliert, die den Konflikt beilegen und den seit 1949 geltenden Waffenstillstand überwachen sollte. 1951 übernahm die United Nations Military Observer Group in India and Pakistan (UNMOGIP) diese Aufgabe. Bis in die 1960er Jahre hinein unternahmen Vetomächte des Sicherheitsrates wie die USA, Großbritannien und die Sowjetunion verschiedene erfolglose Vermittlungsversuche.
Die zweite Phase brachte eine Bilateralisierung des Konflikts. Sie beginnt mit dem Friedensvertrag von Shimla 1972, der auf den dritten Krieg zwischen Indien und Pakistan 1971 folgte, in dem Ost-Pakistan abgespalten und Bangladesch gegründet wurde. Die indische Premierministerin Indira Gandhi versäumte es damals, die militärische Niederlage Pakistans auszunutzen und eine endgültige Lösung der Kaschmirfrage zu erwirken. Beide Staaten verständigten sich im Shimla-Vertrag auf die bilaterale Behandlung ausstehender Probleme und auf eine neue Kontrolllinie (Line of Control, LoC) in Kaschmir. Indien stellte in der Folge seine Zusammenarbeit mit der UNMOGIP ein, die bis heute den Waffenstillstand entlang der LoC überwacht.
Pakistan versuchte weiterhin, die Kaschmirfrage zu internationalisieren: zum Beispiel dadurch, dass es regionale Krisen wie den Kargil-Krieg 1999 provozierte, dass die pakistanische Armee und der Geheimdienst terroristische Gruppen unterstützte, die Anschläge im indischen Teil Kaschmirs verübten, oder dass Pakistan in internationalen Foren die Menschenrechtsverletzungen indischer Sicherheitskräfte in Kaschmir anprangerte.
Die internationale Gemeinschaft rückte nach und nach von den VN-Resolutionen ab. Alle Vetomächte des Sicherheitsrates sprachen sich wiederholt für eine bilaterale Lösung des Konflikts aus. Im Dezember 2003 distanzierte sich der pakistanische Präsident Musharraf ebenfalls von den VN-Resolutionen und ebnete damit den Weg für den sogenannten Verbunddialog mit Indien. 2007 verständigten sich beide Seiten auf einen nie öffentlich gewordenen Kompromiss in der Kaschmirfrage, der im Wesentlichen den Status quo festschrieb. Die vom pakistanischen Geheimdienst unterstützte Terrorgruppe Lashkar-e-Toiba (LeT) verübte 2008 in Mumbai einen Anschlag, der das Ende des Verbunddialogs brachte.
Die unterschiedlichen Positionen Indiens und Pakistans haben sich auch in den offiziellen Karten niedergeschlagen. Da nach Auffassung Indiens ganz Kaschmir im Oktober 1947 der Union beigetreten ist, verzeichnen indische Karten folgerichtig das gesamte Territorium des früheren Fürstenstaats als indisches Staatsgebiet. Weil J&K im Norden eine Grenze mit Afghanistan hat, versteht sich Indien auch als direkter Nachbar Afghanistans. Pakistan hingegen sah ganz J&K als umstrittenes Gebiet im Sinne der VN-Resolutionen, über dessen Zugehörigkeit erst in einem Referendum entschieden würde. Pakistanische Karten haben Kaschmir deshalb bislang graphisch nicht als Teil des eigenen Landes dargestellt, auch wenn die Regionen Gilgit-Baltistan (GB) und der formal unabhängige Staat Azad Jammu und Kaschmir (AJK) de facto von Islamabad regiert werden.
Karte 1 |
Quelle: Barthi Jain, »Govt Releases New Political Map of India Showing UTs of J&K, Ladakh«, in: Times of India (online), 2.11.2019, <https://timesofindia.indiatimes.com/india/govt-releases-new-political-map-of-india-showing-uts-of-jk-ladakh/articleshow/71867468.cms> |
Der indisch-chinesische Konflikt in Kaschmir
In der internationalen Wahrnehmung ist »Kaschmir« gleichbedeutend mit dem Konflikt zwischen Indien und Pakistan. Allerdings ist auch die Volksrepublik China seit Ende der 1950er Jahre ein – wenn auch bislang wenig beachteter – Akteur in der Auseinandersetzung über das territoriale Erbe des einstigen Fürstenstaates.
Zwischen Indien und China verläuft die mit ca. 3 500 Kilometer längste umstrittene Grenze der Welt. Ihr Verlauf folgt in der Himalayaregion der kolonialen McMahon-Linie und ist vor allem in Kaschmir und im Nordosten Indiens umstritten. Ende der 1950er Jahre baute China durch das in Kaschmir gelegene Aksai-Chin-Gebiet eine ganzjährig zu befahrende Straße nach Tibet. 1959 schlug der chinesische Premierminister Zhou Enlai einen Gebietsaustausch vor. Dabei hätte China die Region Aksai Chin erhalten und im Gegenzug seine Gebietsansprüche im Nordosten Indiens aufgegeben, dem heutigen Bundesstaat Arunachal Pradesh. Die indische Regierung wies den Vorschlag allerdings zurück. Nach der militärischen Niederlage Indiens im Grenzkrieg 1962 brachen beide Seiten ihre diplomatischen Beziehungen ab, so dass der Verlauf der Grenze weiter ungeklärt blieb.
Im Zuge ihrer politischen Annäherung nach 1988 rückte auch die Grenzfrage wieder in den Mittelpunkt. Beide Staaten richteten unter anderem eine gemeinsame Arbeitsgruppe zur Klärung des Grenzverlaufs ein und ernannten Sondergesandte. Seither haben Indien und China eine Reihe von Vereinbarungen getroffen (1993, 1996, 2003, 2005, 2012, 2013), um die Stabilität in der Grenzregion zu erhöhen und Spannungen durch vertrauensbildende Maßnahmen zu reduzieren. Mit dem Abkommen 1993 wurde die gegenwärtige aktuelle Kontrolllinie (Line of Actual Control, LAC) etabliert, die eher einem Raum mit wechselseitig akzeptierten Patrouillenwegen und Militärposten gleicht als einer »Linie«.
Die politischen Veränderungen, die sich in den neuen Karten und territorialen Ansprüchen seit dem Sommer 2019 niedergeschlagen haben, scheinen eine neue Phase in der Auseinandersetzung um Kaschmir einzuläuten.
Die »alte« Position Indiens
Ausgangspunkt der neuen Konfliktdynamik war die Entscheidung der indischen Regierung vom 5. August 2019, den Bundesstaat Jammu & Kaschmir (J&K) in die beiden Unionsterritorien Jammu & Kaschmir und Ladakh aufzuteilen. Die politische Führung des mehrheitlich muslimischen Bundesstaates J&K hatte mit dem Beitritt eine Reihe von Privilegien erhalten, die später immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen der Regierung in Neu-Delhi und der Landesregierung in Srinagar führten. Dies war der hindu-nationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP) seit vielen Jahren ein Dorn im Auge. Mit ihrer Entscheidung löst die Regierung von Premierminister Narendra Modi eines ihrer Wahlversprechen ein. In Unterschied zu Bundesstaaten unterstehen Unionsterritorien in Indien dem Innenministerium in Neu-Delhi.
Mit der rein innenpolitisch begründeten und gegenüber der internationalen Gemeinschaft auch so kommunizierten Entscheidung bekräftigte Neu-Delhi Indiens bekannte Position, dass ganz Kaschmir seit dem Beitritt im Oktober 1947 formal ein Teil der Union ist. So gibt es in der neu gewählten Versammlung des Unionsterritoriums J&K wieder 24 Sitze für den von Pakistan kontrollierten Teil Kaschmirs.
Die Entscheidung der BJP-Regierung löste heftige Proteste im einstigen Bundesstaat aus. Sie war vor allem ein Affront gegen die moderaten Parteien, die sich ungeachtet aller politischen Auseinandersetzungen über die Ausgestaltung der Autonomie immer dafür ausgesprochen hatten, dass der Bundesstaat in der Indischen Union verbleibt. Bei der letzten Landtagswahl 2014 lag die Wahlbeteiligung trotz der Boykottaufrufe islamistischer Parteien, die den Anschluss an Pakistan forderten, bei über 65 Prozent. Politische Beobachter hatten dies als deutliches Votum für Indien gewertet.
Die »neue« Position Pakistans
Mit seiner neuen Karte vom 4. August 2020 unterstrich Islamabad seine Haltung in der Kaschmirfrage. Die nationalen Grenzen Pakistans umfassen ganz Kaschmir, was den politischen Anspruch auf das Gebiet bekräftigt. Pakistan hatte im Zuge seiner politischen Annäherung an China das im pakistanischen Teil Kaschmirs liegende Shaksgam-Tal 1963 an die Volksrepublik abgetreten (siehe Karte 3, S. 7). Die von China beanspruchte Aksai-Chin-Region wird als »undefinierte Grenze« bezeichnet. Dies entsprach der Position, die beide Staaten in einem Vertrag von 1963 vereinbart hatten. Frühere Karten hingegen stellten Kaschmir – einschließlich der Region Gilgit-Baltistan (GB) und Azad Jammu und Kaschmir (AJK) – oftmals graphisch gesondert vom pakistanischen Staatsgebiet dar, um kenntlich zu machen, dass Kaschmir ein umstrittenes Gebiet im Sinne der VN-Resolutionen ist.
Pakistan änderte nun auch die Nomenklatur für den indischen Teil Kaschmirs. Die zuvor verwendete Bezeichnung »disputed territory« wurde ersetzt durch »Indian Illegally Occupied Jammu & Kashmir« (IIOJ&K). Auf der offiziellen Karte findet sich der Verweis auf die VN-Resolutionen nur noch im indischen Teil. Dies impliziert, dass das in diesen Resolutionen genannte Referendum nur im indischen Teil stattfinden müsse. Dies mag dem pakistanischen Selbstverständnis entsprechen, doch sehen die VN-Resolutionen ein Referendum im gesamten früheren Fürstenstaat vor.
Karte 2 |
Quelle: Ministry of Defence, Survey of Pakistan. Political Map of Pakistan, 5th edition, 2020, <http://www.surveyofpakistan.gov.pk/Detail/MTUzYWU5ZGItNTA4NS00MDlkLWFlODctNTRkY2JmNWI0Mjg2>. |
Schließlich umfasst die Karte auch Gebiete wie den Siachen-Gletscher und Sir Creek, im Mündungsdelta des Indus, über die wiederholt mit Indien verhandelt wurde. Überraschend war auch der erneute Anspruch auf den einstigen Fürstenstaat Junagadh, im heutigen indischen Bundesstaat Gujarat, der nach einem Referendum 1948 Indien beigetreten war.
Ali Amin Gandapur, Minister für die »Angelegenheiten Kaschmirs und Gilgit-Baltistans« in der Regierung von Premierminister Imran Khan, kündigte im September 2020 an, dass die Region Gilgit-Baltistan bald zu einer Provinz Pakistans würde. Dies wird von der dort lebenden Bevölkerung seit vielen Jahren gefordert. Allerdings stand dem bislang die traditionelle Position Pakistans entgegen, nach der über die Zugehörigkeit Kaschmirs erst in einem Referendum zu entscheiden sein wird. Angesichts dieser Verknüpfung ist unklar, ob GB eine vollständige Provinz werden kann oder nur einen provisorischen Status erhalten wird, der ihm erweiterte Vollmachten für eine bessere Selbstverwaltung verleiht. Die für November 2020 angekündigten Wahlen in GB könnten weiteren Aufschluss über den künftigen Status der Region geben.
In Pakistan wird darauf hingewiesen, dass die Ankündigung, GB zu einer eigenen Provinz zu machen, auch China entgegenkommt. Die Lebensader des China-Pakistan Economic Corridor (CPEC), das größte und teuerste Einzelprojekt im Rahmen der chinesischen Belt and Road Initiative (BRI), verläuft durch die Region Gilgit-Baltistan. Der CPEC ist aus geopolitischer Perspektive eine eigenwillige Konstruktion. Obwohl China der engste Verbündete Pakistan ist, hatte es sich lange Zeit für eine bilaterale Lösung der Kaschmirfrage ausgesprochen. Dies entsprach aber eher der indischen als der pakistanischen Position. Vor diesem Hintergrund konnten die Investitionen in den CPEC nach 2015 auch als Unterstützung des damaligen Status quo in den indisch-pakistanischen Beziehungen gesehen werden, wie er vor Beginn der BRI herrschte. Eine stärkere verfassungsrechtliche Integration Gilgit-Baltistans würde indirekt auch die chinesischen Investitionen absichern. Immerhin fordern die VN-Resolutionen, auch wenn sie nur noch hypothetisch von Belang sind, dass sich Pakistan als Vorbedingung für ein Referendum aus dem Gebiet des vormaligen Fürstenstaates zurückziehen müsse. Außerdem könnten sich die Kaschmiris in diesem Referendum auch für Indien entscheiden.
Dass der CPEC durch den pakistanischen Teil Kaschmirs verläuft, ist für Indien auch der Hauptgrund, warum es eine Teilnahme an der BRI ablehnt. Dabei hatte China lange Zeit um Indiens Teilnahme geworben. Weil sie ganz Kaschmir beansprucht, sieht die indische Regierung im CPEC eine Verletzung ihrer nationalen Souveränität.
Mit seiner neuen Karte bekräftigt Pakistan zwar seine politischen Ansprüche auf Kaschmir, entfernt sich aber auch, allen Bekundungen zum Trotz, weiter von den VN-Resolutionen. Die indische Entscheidung, J&K aufzuteilen, bot Pakistan einen willkommenen Anlass, erneut für die Kaschmirfrage zu mobilisieren, die in den letzten Jahren aufgrund wirtschaftlicher und politischer Probleme in den Hintergrund gerückt war. Damit haben sich auch in Pakistan die Hardliner durchgesetzt. Vor dem 5. August 2019 hatte Imran Khan mehrfach versucht, den Dialog mit Indien wiederaufzunehmen, seitdem aber davon Abstand genommen.
Die Fortsetzung des Konflikts mit Indien dürfte vor allem im Interesse der allmächtigen Armee liegen, die seit Jahrzehnten die Außen- und Sicherheitspolitik gegenüber Indien bestimmt. Trotz aller wirtschaftlichen Probleme wurde der pakistanische Verteidigungshaushalt für das Finanzjahr 2020–21 um 11,9 Prozent aufgestockt.
Die »neue, alte« Position Chinas
Auch die chinesische Regierung kritisierte die Entscheidung Indiens vom 5. August 2019 und die Schaffung des Unionsterritoriums Ladakh, das formal auch Aksai Chin umfasst. Dass Ladakh nun zentral von Neu-Delhi verwaltet wird, erleichterte es dabei der indischen Regierung, die militärische Infrastruktur in der Grenzregion zu China auszubauen. China war hier deutlich im Vorteil, was indische Militärexperten wiederholt kritisiert hatten. Schließlich hatte es auch in diesem Abschnitt der LAC in der Vergangenheit immer wieder Zwischenfälle gegeben. Neben dem Ausbau der Infrastruktur dürfte in Peking wohl auch eine Äußerung des indischen Innenministers Amit Shah für Verärgerung gesorgt haben. Unmittelbar nach der Entscheidung seiner Regierung hatte er den Anspruch Indiens auf Aksai Chin im Parlament bekräftigt. Dass chinesische Truppen seit Anfang Mai mehrfach die LAC in Ladakh/Aksai Chin überschritten, sahen chinesische Experten als Reaktion auf die indische Entscheidung vom August 2019 an. Am 15. Juni kam es zu einem folgenschweren Zwischenfall im Galwan-Tal, bei dem 20 indische und eine unbekannte Zahl chinesischer Soldaten getötet wurden (siehe SWP-Aktuell 63/2020).
Die Rhetorik in chinesischen Medien hat sich deutlich verschärft. Indien wird nun als Provokateur in dem Grenzkonflikt dargestellt, was eine chinesische Reaktion in Form militärischer Verteidigungsmaßnahmen legitimiere. Laut einer chinesischen Umfrage des parteinahen Magazins Global Times und des chinesischen Think-Tanks CICIR vom August 2020 äußerten mehr als 70 Prozent der Befragten, dass Indien allzu feindselig gegenüber China sei; 90 Prozent unterstützten Vergeltungsaktionen gegen Indien.
Während die Spannungen in der Grenzregion anhielten, hob die chinesische Seite allerdings zusehends auch die geopolitische Dimension hervor, vor allem die intensivierten militärischen Beziehungen Indiens und der USA sowie deren politische Kooperation im Indo-Pazifik unter anderem im Rahmen der Quadrilateral Group (Quad), an der auch Australien und Japan beteiligt sind.
Ende September 2020 erklärten Vertreter der chinesischen Regierung überraschend, dass Chinas territoriale Ansprüche auch die Gebiete der früheren LAC von 1959 umfassen. Damit rückte China erstmals vom 1993 geschlossenen Abkommen ab, mit dem die gegenwärtige LAC etabliert worden war, deren Verlauf allerdings nie eindeutig festgelegt wurde. Trotz zahlloser Gesprächsrunden in der Vergangenheit haben beide Seiten nie offizielle Karten der kritischen Gebiete ausgetauscht, zu denen auch Aksai Chin/Ladakh zählt. Darum blieben die gegenseitigen Gebietsansprüche vage. China griff mit seiner neuen Position auf seine alte aus dem Jahr 1959 zurück, die von der damaligen indischen Regierung nicht anerkannt worden war.
Quelle: Mapping India and China’s Disputed Borders, Al Jazeera, 10.9.2020, |
Indische Militärexperten wiesen darauf hin, dass sich die Übertretungen chinesischer Truppen seit Mai im Wesentlichen darauf konzentrieren, die Gebiete der LAC von 1959 wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Nach indischen Angaben kontrolliert China mittlerweile ca. 1 000 Quadratkilometer an Territorium, das zuvor Indien kontrolliert hatte.
Ausblick
Im Jahr 2000 bezeichnete US-Präsident Bill Clinton Kaschmir als den »gefährlichsten Ort der Welt«. Dies bezog sich damals auf die brisante Mixtur von terroristischen Anschlägen und einer möglichen militärischen Eskalation der Auseinandersetzungen zwischen den Atommächten Indien und Pakistan, die beim Kargil-Krieg 1999 oder nach dem Anschlag auf das indische Parlament im Dezember 2001 zu beobachten war.
Die politischen Veränderungen, die in den neuen Karten zum Ausdruck kommen, könnten eine neue Phase des Konflikts einläuten. Es besteht die Möglichkeit, dass sich die beiden lange Zeit voneinander getrennten Konflikte in und um Kaschmir durch eine engere, gegen Indien gerichtete Zusammenarbeit Pakistans und Chinas stärker miteinander verbinden. Politisch zeigte sich dies bereits im August 2019, als China in seiner Rolle als ständiges Mitglied des Sicherheitsrats eine informelle Sitzung des Gremiums zur indischen J&K-Entscheidung erwirkte. Auch wenn die Sitzung ohne Ergebnis blieb, wurde sie in Pakistan als großer diplomatischer Erfolg gefeiert.
Chinas Ansprüche auf die LAC von 1959 bedrohen in einigen Gebieten die Infrastruktur, die Indien in den letzten Monaten errichtet hat. So könnten im Falle einer militärischen Eskalation chinesische Truppen die Zufahrt nach Daulat Beg Oldie blockieren. Der dortige Militärflugplatz ist für die Versorgung der indischen Truppen auf dem Siachen-Gletscher von zentraler Bedeutung. Der Gletscher ist der höchstgelegene Kriegsschauplatz der Welt, dort stehen sich seit Mitte der 1980er Jahre indische und pakistanische Truppen gegenüber. Abgesehen von der Möglichkeit, dass Pakistan und China künftig politisch und militärisch in Sachen Kaschmir zusammenarbeiten, haben die jüngsten Entwicklungen dem »gefährlichsten Ort der Welt« eine weitere Konfliktkomponente hinzugefügt. Denn China sieht seinen Grenzkonflikt mit Indien jetzt nicht mehr nur als bilaterales Problem, sondern auch als Teil seiner geopolitischen Auseinandersetzung mit den USA, zu deren Lager Indien gezählt wird. Das betrifft auch die LAC in Ladakh/Aksai Chin.
Die Entscheidung der indischen Regierung, den Bundesstaat Jammu und Kaschmir aufzulösen, hat sich insofern in mehrfacher Hinsicht als kontraproduktiv erwiesen. Die Proteste Pakistans waren zu erwarten, und die Kritik westlicher Regierungen und Menschenrechtsorganisationen an den massiven Einschränkungen von Freiheiten im indischen Kaschmir dürfte die indische Regierung wie in der Vergangenheit kaum beeindruckt haben. Die massive Reaktion Chinas hingegen, die de facto auch Teile der bilateralen Annäherung der letzten 20 bis 30 Jahre in Frage stellte und Indien vermutlich einen dauerhaften Gebietsverlust eintrug, war von indischer Seite offenkundig nicht einkalkuliert worden. Die rein innenpolitisch begründete Entscheidung Indiens hat den Konflikt um eine geopolitische Dimension erweitert und ihn damit internationaler gemacht, und das haben indische Regierungen bislang um jeden Preis zu vermeiden versucht.
Die deutsche und die europäische Politik dürften mit den Positionen aller Konfliktparteien Probleme haben. Bei ihrem Besuch in Indien im November 2019 hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel die Situation im indischen Kaschmir als »unhaltbar« bezeichnet, weil es dort nach der Umwandlung in ein Unionsterritorium zu massiven Einschränkungen von Bürgerrechten kam. Pakistans Initiativen, den Konflikt zu internationalisieren, werden in Berlin und Brüssel weiterhin kaum Gehör finden. Pekings Bemühen wiederum, die aktuelle Kontrolllinie von 1959 wiederherzustellen, wird die ihm gegenüber in Deutschland und Europa zunehmenden Vorbehalte nicht verringern.
Berlin und Brüssel teilen zwar das Interesse an regionaler Stabilität, haben aber wenig Möglichkeiten, Einfluss auf die Konfliktparteien zu nehmen. Der Lösungsansatz, auf den sich Indien und Pakistan 2007 verständigt hatten, sah im Wesentlichen eine Festschreibung des politischen und territorialen Status quo in Kaschmir vor. In dem neuen Konfliktszenario dürfte eine zwischenstaatliche Lösung in weite Ferne rücken. Denn Kaschmir hat für die drei Staaten eine unterschiedliche strategische Bedeutung. Für Indien war, ist und bleibt es ein rein innenpolitisches Thema. Pakistan bieten die neuen Entwicklungen einmal mehr die Möglichkeit, national und international für sein Anliegen zu mobilisieren. Für China ist der Konflikt ein weiterer, vor allem außenpolitischer Schauplatz im geostrategischen Ringen: Einerseits ringt es mit Indien um die künftige Rolle beider Staaten in Südasien, andererseits indirekt auch mit den USA um die künftige Kräfteverteilung im Indo-Pazifik.
Dr. habil. Christian Wagner ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Asien.
Dr. Angela Stanzel ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Asien.
© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020
Alle Rechte vorbehalten
Das Aktuell gibt die Auffassung der Autorin und des Autors wieder.
SWP-Aktuells werden intern einem Begutachtungsverfahren, einem Faktencheck und einem Lektorat unterzogen. Weitere Informationen zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP-Website unter https://www. swp-berlin.org/ueber-uns/ qualitaetssicherung/
SWP
Stiftung Wissenschaft und Politik
Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit
Ludwigkirchplatz 3–4
10719 Berlin
Telefon +49 30 880 07-0
Fax +49 30 880 07-100
www.swp-berlin.org
swp@swp-berlin.org
ISSN 1611-6364
doi: 10.18449/2020A85