Direkt zum Seiteninhalt springen

Führungswechsel in China

Herausforderungen und Spielräume der »vierten Generation«

SWP-Studie 2003/S 02, 15.01.2003, 36 Seiten Forschungsgebiete

 

Der 16. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas im November

2002 bedeutete einen Einschnitt für China nicht nur, weil sich

ein Führungswechsel in den höchsten Parteiämtern vollzog,

sondern auch, weil dieser Wechsel trotz mangelnder Transparenz weitgehend

geordnet verlief. Die Wachablösung betrifft neben der Position

des Generalsekretärs der KP, die seit 1989 von Jiang Zemin bekleidet

wurde, alle wichtigen Gremien der Partei auf zentraler Ebene und, zum

Teil schon seit dem letzten Jahr, auch einen Großteil der höchsten

Provinzämter.

 

 

Im Frühjahr 2003 wird sich dieser Generationswechsel auf dem 10. Nationalen

Volkskongreß (NVK), dem Parlament, auch in den höchsten Regierungsposten

vollziehen. Jiang Zemin wird als Staatspräsident abdanken, Zhu

Rongji das Amt des Premierministers aufgeben. Auch Li Peng, Vorgänger

Zhu Rongjis im Amt des Premierministers und seit 1998 Vorsitzender des

Ständigen Ausschusses des NVK, wird abtreten.

 

 

Die »junge« Führungsriege der heute 60jährigen,

die mit dem 16. Parteitag und dem 10. NVK in Spitzenpositionen

aufrückt, wird China voraussichtlich für die nächsten

fünf oder sogar zehn Jahre regieren. Angesichts der massiven inneren

und äußeren Herausforderungen, denen sich das Land in praktisch

allen Bereichen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gegenübersieht,

wird es nicht nur eine zentrale Frage sein, mit welchen Lösungsansätzen

die neue politische Spitze an diese Probleme herangeht, sondern auch,

welchen Handlungsspielraum sie hat, um ihre Vorstellungen umzusetzen.

 

 

Zu den Hauptproblemen, mit denen sich die neue Führung auseinanderzusetzen

hat, zählen die Reform der zum Großteil maroden Staatsunternehmen

und des Bankensektors, die Implementierung der WTO-Vereinbarungen, ein

wachsendes soziales und regionales Einkommensgefälle, offene und

verdeckte Arbeitslosigkeit sowie zunehmende Protest- und Streikaktionen.

Hinzu kommen die Schwierigkeiten einer Partei- und Staatsführung,

deren Glaubwürdigkeit durch Korruption angeschlagen ist und deren

Legitimität zunehmend vom wirtschaftlichen Erfolg abhängt,

sowie eine durch die Entwicklung nach dem 11. September 2001 geschwächte

Position gegenüber den USA.

 

 

Die auf dem Parteitag getroffenen Personalentscheidungen brachten keine

Klarheit hinsichtlich der künftigen Machtverteilung: Unter den

neun Mitgliedern, aus denen sich der neue Ständige Ausschuß

des Politbüros, das höchste Parteigremium, zusammensetzt,

gelten vier oder sogar fünf als Protegés von Jiang Zemin

und als Mitglieder der »Shanghai-Clique«. Jiang selbst blieb

Vorsitzender der Zentralen Militärkommission der Partei und damit

Oberbefehlshaber der chinesischen Streitkräfte. Wie groß

der politische Einfluß des abgetretenen Generalsekretärs

und scheidenden Staatspräsidenten noch sein wird, steht damit aber

nicht fest. Inwieweit innerhalb der neuen Führungsspitze unterschiedliche

Lösungsansätze vertreten werden, läßt sich ebenfalls

noch nicht einschätzen.

 

 

Zunächst sind jedenfalls weder größere innen- noch

außenpolitische Kurskorrekturen zu erwarten. Oberste Priorität

besitzen weiterhin Stabilität und Machterhalt der KPCh. Dies soll

vor allem durch eine Öffnung der Partei für die im Zuge der

Reformen neu entstandenen Unternehmer- und Mittelschichten sowie durch

anhaltend hohes Wirtschaftswachstum gewährleistet werden. Die Partei

versucht damit den Spagat zwischen den Interessen der Reformgewinner

und jenen einer wachsenden Zahl von Reformverlierern. Anstatt von der

Partei unabhängige Organisationen und Institutionen zuzulassen,

die bei den zunehmenden gesellschaftlichen Spannungen als glaubwürdige

Vermittler fungieren könnten, setzt man auf Einbindung der neuen

sozialen Schichten in die Partei. Ausbau und Verbesserung des Rechtssystems

sind zwar angekündigt, eine Gewaltenteilung ist jedoch nicht vorgesehen.

Die Bekämpfung der innerparteilichen Korruption soll im wesentlichen

durch die Partei selbst erfolgen. Die KP sieht ihre Legitimation darin,

unterschiedliche gesellschaftliche Interessen unter ihrem Dach zu vereinen

und auszugleichen sowie Chinas nationale Interessen erfolgreich auf

der internationalen Ebene zu vertreten.

 

 

Sollte aber die allzu begrenzte politische und institutionelle Anpassung

an den wirtschaftlichen Wandel zum Verlust ökonomischer Dynamik

und / oder einer dramatischen Zuspitzung sozialer Spannungen führen,

ist durchaus vorstellbar, daß die Führung oder ein Teil von

ihr tiefergehende politische Reformschritte einleitet. Diskutiert werden

entsprechende Schritte – etwa eine öffentliche Kontrolle der

Partei durch mehr Freiräume für die Medien – in Parteikreisen

schon seit geraumer Zeit.

 

 

Die neue chinesische Führung ist nicht weniger nationalistisch

eingestellt als ihre Vorgänger; sie ist außenpolitisch allerdings

noch wenig erfahren. Jiang Zemin wird am ehesten auf diesen Bereich

weiter Einfluß nehmen wollen. Gerade in der Phase vor und nach

dem Führungswechsel kann China kein Interesse an außenpolitischen

Konflikten haben. Das Verhältnis zu den USA wird weiterhin die

zentrale Rolle im außen- und sicherheitspolitischen Koordinatensystem

Chinas spielen. Die Beziehungen zu anderen potentiellen Großmächten

wie Europa oder Rußland sind demgegenüber von sekundärer

Bedeutung, aber auch weniger von grundsätzlichen Divergenzen und

Mißtrauen belastet.