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Erdoğan – Angezählt, aber nicht aus dem Ring

Katerstimmung herrscht im politischen Lager des Staatspräsidenten Erdoğan nach den Kommunalwahlen in der Türkei. Doch ein Machtwechsel steht nicht vor der Tür – noch nicht, meint Günter Seufert.

Kurz gesagt, 02.04.2019 Forschungsgebiete

Katerstimmung herrscht im politischen Lager des Staatspräsidenten Erdoğan nach den Kommunalwahlen in der Türkei. Doch ein Machtwechsel steht nicht vor der Tür – noch nicht, meint Günter Seufert.

Erdoğan hatte den Urnengang am 31. März zur Schicksalswahl für Volk und Vaterland erklärt. Die Frage ist deshalb berechtigt, was das Ergebnis der Kommunalwahl über die große Politik in der Türkei aussagt. Zum ersten wohl, dass noch immer ein sehr großer Teil der Bevölkerung hinter der Regierung steht. Mit 51,7 Prozent der Stimmen liegt das Bündnis von Erdoğans Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) mit der Partei der Natio­na­listischen Bewegung (MHP) klar vor der Allianz der Opposition. Die säkulare Repu­bli­ka­nische Volkspartei (CHP) und die noch junge natio­nalistische Gute Partei (IyiP) brachten es zusammen auf 37,5 Prozent der Stimmen. Weder der Wertverlust der türkischen Lira noch steigende Arbeitslosigkeit, weder die beginnende Rezession noch der allgemein Unmut über Korruption und Vetternwirtschaft, konnten die Wähler dazu be­wegen, der Regierung ihr Misstrauen auszusprechen.

 

Vorboten einer künftigen Entwicklung

Trotzdem herrscht in Erdoğans Partei Katerstimmung, denn ausgerechnet in den Städten hat die AKP schlecht abgeschnitten. Erdoğan begann seine Karriere vor 25 Jahren als Bürger­meister von Istanbul. Mehr noch, es waren die Großstädte der Türkei, in denen die islamische Be­wegung, aus der die AKP hervorgegangen ist, einst ihre Dynamik gewann. Wie damals, fürchtet man in der AKP, sind die Wahlergebnisse in den Metropolen auch heute Vorboten der künftigen Entwicklung. Nicht ohne Grund sagt Erdoğan: »Wer Istanbul regiert, regiert auch die Türkei«. Dafür gibt es handfeste Gründe: Es sind die Verwaltungen der Großstädte, die für die Finanzie­rung der türkischen Parteien eine zentrale Rolle spielen. Ob Ausweisung von Bauland, Auftrags­vergabe für Infrastrukturprojekte, Förderprogramme für Bildung, Kultur und Wissenschaft – wer die Finanzen Istanbuls verwaltet, verfügt über gewaltige Ressourcen. Man denke nur an das Mega­projekt »Kanal Istanbul«: Wird der Durchstich vom Schwarzen Meer zur See von Marmara – parallel zum Bosporus – tat­säch­lich ausgeführt, entsteht eine zweite Stadt, explodieren die Immo­bilienpreise und wird viel Reichtum zu verteilen sein.

Dass die AKP ausgerechnet in den Städten schwächelt, wird deutlich, wenn man das Ergeb­nis vom Sonntag mit dem der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen vom Juni letzten Jahres vergleicht. So rutschte das Bündnis von AKP und MHP in Istanbul von 51,7 auf 48,5 Prozent, in Ankara von 53,5 auf 47,1 Prozent, in der Technologie-Metropole Bursa von 56,9 auf 49,0 Prozent und in der Indu­striestadt Eskişehir von 48,7 auf 45,1 Prozent ab. In Izmir, der drittgrößten Stadt des Landes, und in Anta­lya, dem türkischen Tourismuszentrum, konnte das Regierungsbündnis zwar leicht zulegen, doch viel stärker wuchs dort die Allianz der Opposition, nämlich von 52,2 auf 58,0 Prozent in Izmir und von 46,0 auf 50,6 Prozent in Antalya. Die Zahlen bestätigen einen Trend, der sich bereits beim Referendum zur Ein­führung des Präsidialsystems im April 2017 und bei den letzten Parlaments- und Präsident­schaftswahlen abzeichnete. Die AKP verliert in den Städten, bei der Jugend und den jungen Er­wachsenen sowie bei den Bildungsschichten gerade auch des konservativen Spektrums, kurz: dort, wo die Politik gemacht wird. Stabil ist die Partei dagegen in Zentralanatolien. Hinzugewonnen hat sie in den mehrheitlich kurdisch besiedelten Regionen des Landes, wo sich die Bewohner teilweise deutlich von der prokurdischen Partei der Demokratie der Völker (HDP) abgewandt haben. Gründe dafür gibt es viele: die schiere Machtlosigkeit der Partei, deren Abgeordnete der Reihe nach mit Strafverfahren überzogen werden, die Drohung Erdoğans, gewählte Bürgermeister erneut ihres Amtes zu entheben, aber auch Protest da­gegen, dass sich die HDP nicht klar genug von der PKK abgrenzt.

 

Erweckungskuss für die Opposition

Für die leidgeprüfte Opposition, und hier besonders für die CHP, die seit 25 Jahren keinen Stich gemacht hat, wirkt das Ergebnis wie ein Erweckungskuss aus ihrem Dorn­röschen­schlaf. Mit Ekrem Imamoğlu, ihrem vergleichsweisen jungen Bürgermeisterkandidaten für Istanbul, hat sie einen Politiker gefunden, der auch konservative Wähler anspricht. Sein besonnener und sachlicher Stil, aber auch sein Mut, mit dem er sich noch in der Wahlnacht gegen Unregelmäßigkeiten bei der Auszählung verwahrte, haben ihn in die ersten Reihen des politischen Establishments katapul­tiert.

Für Erdoğan bedeutet das Ergebnis den ersten tiefen Kratzer an seinem Nimbus der Un­besieg­bar­keit in Wahlen, hat er den Wahlkampf doch selbstherrlich allein geleitet und fast allein geschultert. Als Menetekel mögen jene Juristen und Bürokraten das Ergebnis lesen, die in den letzten Jahren wenig auf Prinzipien wie Transparenz, Rechtsstaatlichkeit und Rechen­schafts­pflicht gegeben ha­ben. Daran erinnert zu haben, dass ein Machtwechsel prinzipiell möglich ist, ist die wohl stärkste Botschaft dieser Wahl.

Doch das heißt nicht, dass solch ein Wechsel vor der Tür steht. Zwar sieht sich die Oppo­si­tions­partei CHP ge­stärkt, doch ihre Partnerin, die IyiP, hat eine schwere Zeit vor sich. Die Partei konnte keine einzige Großstadtverwaltung erobern und scheiterte auch daran, wenig­stens eine Provinzhauptstadt zu übernehmen. Sie kann ihrer Gefolgschaft deshalb wenig bieten, einer Gefolgschaft, die – abgesehen von ihrer Ablehnung Erdoğans und seines Prä­si­dial­systems – fast nichts von der nationalisti­schen Weltsicht von Erdoğans Partnerpartei, der MHP, trennt, die nach der Wahl kräftig gestärkt dasteht. Die MHP hat die Zahl ihrer Rat­häuser in Provinzhauptstädten von acht auf 12 erhöht, da­runter ist auch die Großstadt Manisa. Ohne die IyiP jedoch, die schnell zerfallen könnte, schrumpft die Opposition erneut auf ihre alte, bedeutungslose Größe.

Die größte Gefahr für das Land liegt freilich jenseits des Parteienstreits. Aller Defizite der türki­schen Demokratie zum Trotz standen die Rechtmäßigkeit und die Legitimität von Wahlergebnis­sen über Jahrzehnte nicht in Frage. Erste Berichte von Wahlfälschung und Manipulation tauchten während des Referendums zur Verfassungsänderung 2017 und verstärkt dann vor und nach den letzten Parlamentswahlen auf. Die Vorgänge rund um das Ergebnis der Wahlen für Istanbul, wo nur eine hauchdünne Mehrheit die Kandidaten trennt, haben solchen Spekulation auf‘s Neue Nah­rung gegeben. Der gesellschaftliche Konsens in der Türkei steht ohnehin auf dünnem Eis. Verlie­ren Wahlen ihre Legitimität, ist der soziale Friede in Gefahr. Brüssel und Berlin sollten Erdoğan zum landesweiten Wahlsieg seiner Partei gratulieren und dabei deutlich machen, wie wichtig ihnen dieses Thema ist.