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2. Das National Solidarity Program
2. Das National Solidarity Program
a. Rahmenbedingungen
Das National Solidarity Program ist ein Wiederaufbau- und Entwicklungsprogramm für die ländlichen Gebiete Afghanistans. Für die meisten Gemeinschaften bedeuten die Veränderungen, die durch das Programm hervorgerufen werden, einen Wandel des politischen und sozialen Gefüges und damit eine Herausforderung der traditionellen Machtstrukturen. Um den Kontext, in dem das NSP wirkt, zu verdeutlichen, werden im Folgenden Studien vorgestellt, die einen Einblick in Wirtschaftsweisen, Lebensbedingungen und Formen der lokalen Gesellschaftsorganisation im ländlichen Afghanistan geben. Die in den Studien dargestellten Bedingungen können keine Allgemeingültigkeit für sich beanspruchen. Häufig gibt es im Land auf kleinstem Raum sehr unterschiedliche soziale, kulturelle, politische und ökonomische Strukturen. Diese sind die Folge von jahrhundertealten Traditionen, politischen, sozialen und ökonomischen Veränderungen, die durch fast drei Jahrzehnte Krieg hervorgerufen wurden, und dem seit 2001 sehr unstetig und regional uneinheitlich stattfindenden Wiederaufbau.
Favre, Raphy (2005): Interface between State and Society in Afghanistan. Discussion on Key Social Features affecting Governance, Reconciliation and Reconstruction.
Jensen, Ole (2003): Afghan livelihoods – findings from eight villages.
Kreutzmann, Hermann (2007): Traditionelle Wirtschaftsformen: Landwirtschaft und Nomadismus.
Lister, Sarah (2006): Provincial Governance Structures in Afghanistan: From Confusion to Vision?
Lister, Sarah (2005): Caught in Confusion: Local Governance Structures in Afghanistan.
Mielke, Katja; Glassner, Rainer; Schetter, Conrad und Yarash, Nasratullah (2007): Local Governance in Warsaj and Farkhar Districts.
Noelle-Karimi, Christine (2006): Village Institutions in the Perception of National and International Actors in Afghanistan.
World Bank (2007): Service Delivery and Governance at the Sub-National Level in Afghanistan.
b. Konzept und Akteure
In vielen Studien (vgl. Kapital 3) werden die Grundlagen, Ziele und die Implementierung des Programms beschrieben. Das grundlegende Dokument für das Programm ist jedoch das Operational Manual. Es wird als Teil des Development Grant Agreement angesehen und bildet die Arbeitsgrundlage für alle beteiligten Akteure. Seit seiner Veröffentlichung 2004 soll es einem stetigen Reformprozess unterzogen worden sein. Das NSP Operational Manual ist trotz seiner Zentralität für das Programm zurzeit nicht online zugänglich. Deswegen werden im Folgenden die wichtigsten Punkte dargestellt. Die Inhalte und Abbildungen sind der Version vom 15. Oktober 2004 entnommen, die lange auf der NSP-Homepage zum Download zur Verfügung stand.
Die Ziele des Programms sind:
- eine Grundlage für demokratische Entscheidungsstrukturen auf lokaler Ebene zu schaffen,
- durch die Unterstützung der durchgeführten Projekte einen Beitrag zur ländlichen Entwicklung zu leisten, indem sich die Gemeinschaften eigenständig verbesserten Zugang zu sozialer und produktiver Infrastruktur und Dienstleistungen verschaffen.
Die erwarteten Ergebnisse sind:
- ein Rahmen für konsultative Entscheidungen auf Dorfebene sowie eine repräsentative lokale Führungsstruktur,
- eine Basis für die Interaktion der Gemeinschaften untereinander, mit dem Staat und mit Hilfsorganisationen,
- lokaler Wiederaufbau, Entwicklung und Ausbildung (capacity building).
Die wichtigsten Elemente des Programms sind:
- Unterstützung der Gemeinschaften im Prozess der Institutionenbildung, Hilfe bei der Prioritätensetzung für Entwicklungsprojekte (sub-projects), Hilfe bei Projektanträgen sowie die Unterstützung bei Umsetzung der Projekte,
- Beitrag zu Wiederaufbau und Entwicklung durch Subventionen für Entwicklungsprojekte,
- Ausbau der Fähigkeiten (capacity building) in den Dörfern in den Bereichen Finanzmanagement, Buchhaltung, technische Fähigkeiten sowie transparentes Vorgehen,
- Herstellung von Verbindungen zu Staatsorganen wie Ministerien oder Verwaltungen und Hilfsorganisationen.
Die Prinzipien des NSP sind:
- Partizipative Planung durch inklusive Gemeinschaftstreffen und die frei und geheim gewählten Entwicklungsräte,
- Gemeinschaftsbeiträge zu den bei der Umsetzung entstehenden Kosten sowie ein sich selbst tragender, fortlaufender Betrieb der Entwicklungsprojekte,
- Transparenz und Rechenschaft bei der Übernahme von Verantwortung.
Organisationsstruktur und Akteure
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Abb. 3.: Organisationsstruktur des National Solidarity Program seit 2006
Quelle: World Bank (2006b): Report No: T7683-AF. Technical Annex. S. 64
Dorfgemeinschaft (Community)
Eine (Dorf-)Gemeinschaft wird für das NSP als eine aus mindestens 25 Familien bestehende Siedlung definiert. Die Höhe der gezahlten Gelder richtet sich nach der Zahl in dieser Gemeinschaft lebenden Familien. Das Programm versucht auf die durch die Kriegsvergangenheit veränderten und sich immer noch im Wandel befindenden Sozialstrukturen der Gemeinschaften einzugehen (Zur Diskussion der Gemeinschaftsdefinition vgl. Mielke und Schetter 2007). Zu den Aufgaben der Dorfgemeinschaften im NSP gehören:
- Identifikation des Entwicklungsbedarfs,
- Wahl eines Dorfentwicklungsrates (Community Development Council - CDC),
- Erstellung eines Entwicklungsplans,
- Beitrag von Eigenleistungen,
- Teilnahme an Ortsbegehungen und Gemeinschaftsversammlungen,
- Implementierung des Projekts sowie die Übersicht über die Aktivitäten der Implementierung,
- Gewährleistung der Instandhaltung und Fortbetrieb des Projektes nach der Fertigstellung.
Dorfentwicklungsrat (Community Development Council - CDC)
Der Dorfentwicklungsrat wird durch freie und geheime Wahlen von allen Gemeinschaftsmitgliedern gewählt, die auch zu den staatlichen Wahlen zugelassen sind. Jedes Mitglied der Gemeinschaft ist ein potentieller Kandidat, es sei denn, sie oder er tritt aktiv davon zurück. Die Wahlprozesse sind sowohl durch soziokulturelle Auflagen als auch durch die hohe Analphabetenrate erschwert. Deswegen können die Wahlen beispielsweise im Rahmen von Haushalten oder Familien durchgeführt werden (vgl. Abb.: Mögliche Wahlmethode eines Community Development Council). Dadurch sollen gleichzeitig die ethnischen, politischen und sozio-ökonomischen Strukturen der Gemeinschaft im CDC wiedergegeben werden (Für die Vielfalt der tatsächlich angewandten Wahlverfahren: Nixon 2008a).
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Abb. 4.: Mögliche Wahlmethode eines Community Development Council
Quelle: Ministry of Rural Rehabilitation and Development (2004): Operational Manual, S. 19
Der CDC bildet die repräsentative Einheit gegenüber dem NSP sowie gegenüber NGOs und Geberorganisationen. In größeren Siedlungen ist die Einrichtung mehrerer CDCs möglich, die jedoch allein nach geographischen und nicht nach politischen oder ethnischen Gesichtspunkten unterteilt werden können.
Ein CDC muss mindestens aus einem Vorsitzenden, einem Sekretär, einem Schatz- und einem Lagermeister bestehen. Die Einbeziehung der Frauen in die CDCs findet auf unterschiedliche Weise statt und der Grad der Partizipation variiert in den beobachteten Fällen zum Teil erheblich. (vgl. dazu Benard et al. 2008, Boesen 2004, Kakar 2005, Ministry of Rural Rehabilitation and Development 2006a, Nixon 2008a, Nixon 2008b)
Die Aufgaben des CDC umfassen:
- Aufsicht über die Erstellung des Dorfentwicklungsplans,
- Einberufung von Gemeinschaftsversammlungen,
- Aufsicht über Planung, Vorbereitung und Umsetzung der Entwicklungsprojekte,
- Sicherstellung des Eigenbeitrags der Gemeinschaft zur Umsetzung des Projekts (Geld, Materialien, Arbeitskraft) sowie der Unterhalts- und Betriebskosten des Projekts,
- Sicherstellung der Partizipation der gesamten Gemeinschaft sowie des fortlaufenden Kommunikationsprozess zwischen allen Beteiligten (vgl. Abb.: Kommunikationsprozess zwischen Dorfgemeinschaft und CDC während der Durchführung des NSP),
- Aufsicht über Finanz- und Ressourcen Management auf lokaler Ebene.
Facilitating Partner (FP)
Die Facilitating Partner unterstützen die Dorfgemeinschaften in der Umsetzung des NSP. 27 afghanische und internationale NGOs und eine UN-Organisation (UN-Habitat) übernehmen diese Aufgabe. (Liste der Facilitating Partner)
Die Aufgaben der Facilitating Partner umfassen:
- Unterstützung der CDC-Wahlen,
- Unterstützung der partizipativen Projektidentifizierung und -planung,
- Hilfe bei der Erstellung der Projektvorschläge (proposals),
- technische Unterstützung in der Umsetzung der Entwicklungsprojekte,
- Bereitstellung von Trainings- und Ausbildungsmöglichkeiten,
- Durchführung von Evaluierung und Dokumentation.
Für die Aufgaben des Ministry of Rural Rehabilitation and Development, des NSP Steering Committee und der andern Einrichtungen auf nationaler Ebene siehe World Bank Report T7683-AF, S. 54-62.
Durchführung des NSP
Mit Unterstützung der Facilitating Partner (FP) bereiten sich die Gemeinschaften auf die Durchführung des NSP vor. Als Vorraussetzung müssen ein Community Development Council gewählt und ein Community Development Plan erstellt sein. Darüber hinaus müssen die Regeln des NSP anerkannt werden. Dem FP sind die Methoden für die Umsetzung seiner Aufgaben freigestellt. Der Community Development Plan ist eine mittelfristige Vision der zukünftigen Entwicklungsaktivitäten, die über das NSP hinausgehen. Der Plan bildet die Grundlage für die unter dem NSP durchgeführten Entwicklungsprojekte. Sollen mehrere Maßnahmen umgesetzt werden, können Project Management Committees für die einzelnen Projekte gewählt werden, die gegenüber dem CDC verantwortlich sind. Nach Genehmigung des Community Development Plan sowie der Vorschläge für die Entwicklungsprojekte durch das zuständige NSP-Büro wird ein Vertrag zur Durchführung der Entwicklungsprojekte zwischen der Gemeinschaft, dem FP und dem NSP abgeschlossen.
Die Verantwortung für die Durchführung der Entwicklungsprojekte liegt bei den Dorfgemeinschaften. Der FP steht in dieser Phase beratend zur Seite und hilft bei evtl. Arrangements von externen Dienstleistungen, zum Beispiel bei speziellen technischen Prozessen. Darüber hinaus findet in dieser Zeit das Training der CDC-Mitglieder durch den FP statt.
In einer Dorfversammlung wird festgelegt, wie die Kommunikation zwischen der Gemeinschaft und dem CDC stattfinden soll. Durch das Instrument der Dorfversammlung soll sichergestellt werden, dass alle Gemeinschaftsmitglieder am Prozess teilhaben können.
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Abb. 5.: Kommunikationsprozess zwischen Dorfgemeinschaft und CDC während der Durchführung des NSP
Quelle: Ministry of Rural Rehabilitation and Development (2004): Operational Manual, S. 19
Der Facilitating Partner ist für die Dokumentation und Bewertung des Fortschritts, das Erreichen der gesetzten Ziele sowie das Einhalten der vereinbarten Vorgehensweisen verantwortlich. Nach Fertigstellung wird das Projekt von den Mitarbeitern des NSP abgenommen. Die nicht verwendeten Mittel können gemeinsam mit den im zweiten Jahr ausgezahlten Fördergeldern für weitere Projekte und Capacity Building-Maßnahmen ausgegeben werden.
Möglichen Investitionen sind:
- Infrastruktur für die Gemeinschaft: öffentliche Güter wie Bewässerung, Straßen, Wasserleitungen, Brücken, Erosionsschutz, Watershed-Management, öffentliche Bäder, Schulgebäude, Kliniken oder Gesundheitszentren. Bei Überschneidungen mit den Tätigkeitsbereichen anderer Ministerien (Bildung oder Gesundheit) müssen Regelungen über Kosten und Unterhalt getroffen werden,
- Aktivitäten die das Humankapital stärken: Alphabetisierungskurse, Hygiene-Ausbildung, etc.. Dies ist jedoch nur möglich, wenn diese Maßnahmen nicht schon vom Staat angeboten werden,
- Rücklagen und Kreditprogramme für Frauen und Behinderte,
- Ausgaben für einkommensgenerierende Produktionsmittel für Frauen und Behinderte.
Finanzierung und Mittelfluss
Das NSP wird durch Mittel der International Development Association (IDA) (ca. 60% der Mittel), den Afghanistan Reconstruction Trust Fund (ARTF) und bilaterale Geber (Liste der Geber) finanziert.
Der Transfer der finanziellen Mittel des NSP auf nationaler Ebene zu den Gemeinschaften kann durch unterschiedliche, den jeweiligen Bedingungen angepasste Mechanismen stattfinden. So ist es zum Beispiel möglich, das Geld in Regionen ohne formales Bankensystem über das traditionelle Hawala-System zu transferieren (vgl. Abb 6.: Distributionswege der finanziellen Mittel innerhalb des National Solidarity Program). Auch sind unterschiedliche Verfahrensweisen möglich, beauftragte Dienstleister zu bezahlen (Für eine Darstellung möglicher auftretender Probleme in der Auszahlung der Gelder im Rahmen des NSP siehe Nixon 2007: 21 und zur Finanzierung innerhalb des NSP allgemein ActionAid International 2007).
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Abb. 6.: Distributionswege der finanziellen Mittel innerhalb des National Solidarity Program
Quelle: Ministry of Rural Rehabilitation and Development (2004): Operational Manual, S. 37
Die gewählten CDC-Mitglieder bekommen für ihre Aufgaben keine Vergütung. Sollen sie eine Entschädigung für entstehende Reise- oder Verwaltungskosten bekommen, müssen diese schon im Projekt-Vorschlag aufgeführt und mit diesem genehmigt worden sein.
Monitoring
Der Monitoringprozess innerhalb des NSP findet auf unterschiedlichen Ebenen statt. Von der lokalen Ebene bis zu den nationalen Institutionen des Programms werden regelmäßig Berichte verfasst, welche die Ergebnisse der nächst kleineren Ebene berücksichtigen sollen und so den partizipativen Charakter des Programms auch in der Bewertung der erzielten Fortschritte mit einfließen lassen (vgl. Abb. 7.: Kontrollmechanismen in der Implementierung des National Solidarity Program).
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Abb. 7.: Kontrollmechanismen in der Implementierung des National Solidarity Program
Quelle: Ministry of Rural Rehabilitation and Development (2004): Operational Manual, S. 50
Darüber hinaus finden nach Abschluss des Programms unterschiedliche Evaluationen durch das MRRD und unabhängige Berater statt. Sie sollen die Effekte des Programms erheben. Die umfangreichste Untersuchung dieser Art ist der Mid-term Evaluation Report of the National Solidarity Programme (NSP) von Sultan Barakat und Arne Strand aus dem Jahr 2006. Im folgenden Kapitel werden weitere Studien und Berichte unterschiedlicher Institutionen vorgestellt.
Kommunikation und Medienarbeit
Die Kommunikation zwischen den verschiedenen Akteuren des NSP wird durch das Program Communication Unit (PCU) gewährleistet. Die Öffentlichkeitsarbeit des NSP wird von der NGO Equal Access unterstützt.