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Der Stabilitäts- und Wachstumspakt: Testfall "blauer Brief"

Arbeitspapier 40, 15.03.2002, 6 Seiten
Bewertung

Die Beteiligten äußerten sich zufrieden über den Ausgang des Verfahrens. Der deutschen Regierung ist es gelungen, eine formale frühzeitig Warnung des Rates abzuwenden. Das Echo, das die vorausgegangene Kontroverse in der politischen Öffentlichkeit erzeugt hat, hätte aber wohl kaum größer sein können. Der Rat kann sich zugute halten, daß die unausgesprochene Ermahnung eine stärkere Wirkung hatte, als ein blauer Brief. Die deutsche Haushaltspolitik steht desto mehr vor der Aufgabe, die erforderlichen Konsolidierungsmaßnahmen zu ergreifen. Die Selbstverpflichtung muß mit konkreten Inhalten gefüllt werden. Der Haushaltsausgleich bis 2004 ist, so wie sie in der Ratserklärung zur Kenntnis genommen wurde, nicht von der konjunkturelle Entwicklung abhängig gemacht.

Würde das öffentliche Defizit in der weiteren Entwicklung tatsächlich die 3% BIP-Grenze überschreiten, wäre Deutschland das erste Land, für das der Sanktionsfall einträte. Deutschland könnte sich dann auch nicht auf ein ungünstiges Wirtschaftswachstum berufen. Für eine automatische Sanktionsbefreiung müßte eine Wachstumsrückgang von mindesten 2% BIP vorliegen oder von mindesten 0,75 %, wenn der Rat dem zustimmt. Diese Regelung wurde von Deutschland in den Verhandlungen über den Stabilitäts- und Wachstumspakt durchgesetzt. Durch die größere Relevanz für den gesamten Euroraum sind die Haushalts- und die Wachstumsprobleme in einem der großen Eurostaaten allerdings auch ein Dilemma für die EU. Hält die Wachstumsschwäche an, käme der Rat in die schwierige Situation, Maßnahmen zu empfehlen, die den Konjunkturaufschwung weiter hinauszögern. Die relativ starke Position, die die großen Eurostaaten in dieser Hinsicht haben, gibt ihnen zugleich auch größere Verantwortung für die Wahrung der Glaubwürdigkeit des Systems.

Dem verbreitete Eindruck, die Regeln des Stabilitätspaktes den eigenen Bedürfnissen angepaßt zu haben, kann Berlin am ehesten durch die Einhaltung der Selbstverpflichtungen begegnen. Nur so ließe sich vermeiden, daß die deutsche Handhabung des „blauen Briefes“ zum Präzedenzfall wird. Die Kontroverse um den „blauen Brief für Deutschland“ hat der Diskussion über das Regelwerk des Stabilitäts- und Wachstumspaktes zusätzlichen Auftrieb gegeben. Sie spielt all denen in die Hand, die den Pakt umgestalten und den policy mix von Finanzpolitik und Geldpolitik in eine ex-ante Koordinierung einbringen wollen. Nicht auszuschließen ist, daß solche Fragen im Konvent über die Zukunft Europas und in der nachfolgenden Regierungskonferenz erneut thematisiert wird. Damit würde das in Maastricht sorgfältig geschnürte WWU-Paket wieder für Verhandlungen geöffnet, woran Deutschland kein Interesse haben kann.

Für kleinere EU-Staaten und Beitrittskandidaten verstärkt sich das Gefühl, daß die großen Mitgliedstaaten mit den Regeln der EU ambivalent umgehen, das heißt, sie so anwenden, wie es ihren jeweiligen Interessen entspricht. Gerade wenn es nun im Konvent darum geht, wie die Mitgliedstaaten ihre Zukunft in der EU sehen und zu welchen Souveränitätsabgaben sie bereits sind, könnten solche Erfahrungen nicht ohne Einfluß für ihr eigenes Verhalten im Konvent bleiben.