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Der Kaukasus im Schatten der Pandemie

SWP-Aktuell 2020/A 62, 14.07.2020, 8 Seiten

doi:10.18449/2020A62

Forschungsgebiete

Die Corona-Krise überschattet politische und sozialökonomische Entwicklungen im Kaukasus. Im Südkaukasus, der zum Raum der Östlichen Partnerschaft der Euro­päischen Union (EU) gehört, verläuft die Infektionsdynamik höchst unterschiedlich. Während Armenien zu einem Epizentrum der Pandemie im Kaukasus geworden ist, zählt Georgien weltweit zu den Ländern mit den geringsten Covid‑19-Infektions- und ‑Todes­raten. Selbst wenn es für frühzeitige und konsequente Maßnahmen zur Eindämmung der Infektionsausbreitung gelobt wird, sind die wirtschaftlichen Folgen auch für Georgien erheblich. Die Pandemie trifft im Südkaukasus auf Länder mit schwachen Sozial- und Wirtschaftssystemen, hoher Armut und Arbeits­losigkeit sowie einer großen »informellen Wirtschaft«. Sie zwingt die Regierungen zu anspruchs­vollen Anti-Krisen-Plänen. In der Nachbarschaft des Süd­kaukasus liegt ein weiteres Epi­zentrum der Infektion: Russland. Dessen kaukasische Peripherie, der Nord­kaukasus, stellt dabei eine besondere Problemregion dar.

Bis Ende Mai 2020 blieb die Gesamtzahl der im Südkaukasus registrierten Covid‑19-Fälle niedriger als in den meisten europäischen Staaten, wenn man sie im Verhältnis zur Bevölkerungsgröße betrachtet. Dies galt auch im Vergleich zu Osteuropa, zum nörd­lichen Teil des Raumes der Östlichen Part­ner­schaft der EU: Zu diesem Zeitpunkt über­schritt in Belarus, dessen Präsident Alexandr Luka­schenko die Pan­demie verharmlost, die Zahl der Infektionsfälle 40 000 (bei circa 9,5 Millionen Einwohnern). Im Süd­kau­ka­sus hingegen, dem südlichen Abschnitt dieses Partnerschaftsraumes, belief sie sich auf rund 15 000 (bei rund 17 Mil­lio­nen Einwohnern).

Dabei klafften allerdings die Fall­zahlen zwischen Georgien und Armenien weit aus­einander. In Armenien lagen sie um mehr als das Zehnfache höher als in dem Nach­bar­land. Und im Juni nahm die Infek­tions­dynamik in Armenien noch dramatisch zu – mit Hunderten Neuinfektio­nen täg­lich. Am 30. Juni verzeichnete das Land bereits über 25 000 Infizierte und 443 Ver­storbene; Aserbaidschan, das mit 10 Millio­nen Einwohnern größte Land in der Region, zählte über 17 000 Infizierte und 213 Ver­storbene. In Georgien indes waren die Zahlen immer noch niedrig: 928 Infek­tions-, 15 Todesfälle.

In den Sezessions­territorien Abchasien und Süd­ossetien lagen die Zahlen im zwei­stelligen Bereich, in Berg-Karabach gab es 118 Infek­tionen. Doch darf man an der Ver­lässlichkeit der Daten aus den De‑facto-Staaten zweifeln, da Test­kapazität und Transparenz in diesen inter­national iso­lierten Territorien zu wünschen übrig lassen. In dem zu Russland gehörenden Nordkaukasus betrug die Infek­tionszahl Ende Juni rund 37 000.

Staatliche Maßnahmen im Südkaukasus

Als am 26. Februar der erste Covid‑19-Fall in Geor­gien gemeldet wurde, bildete die Regierung eine Task-Force aus Medizinern und Regie­rungsvertretern. Nachdem schon im Januar der Flugverkehr mit China ein­gestellt wor­den war, wurden im März weitere Ein- und Ausreiseverbote verhängt, der öffentliche Nah- und Fernverkehr ein­gestellt, die Wirtschaft herun­tergefahren, Ausgangsbeschränkungen erweitert und der Notstand ausgerufen. Aus der Georgischen Orthodoxen Kirche kam zwar Wider­spruch gegen Einschränkungen bei Gottes­diensten, doch die Bevölkerung stellte sich mehrheitlich hinter die Lock­down-Regeln. Am 27. Mai präsentierte Regierungschef Giorgi Gacharia vor dem Parlament Georgien als das Land mit der niedrigsten Covid‑19-Todesrate in Relation zur Bevölkerungszahl unter 49 euro­päischen Ländern. Mit seiner Infektionszahl rangiere es weltweit an 123. Stelle.

Internationale Organisationen lobten Ge­orgien für ein frühzeitiges und kon­se­quen­tes Handeln zur Eindämmung der Infektion. In einer Analyse über Risiken der Pandemie für die Schwarzmeer-Region schreibt David J. Kramer, ein prominenter amerikanischer Experte für den postsowjetischen Raum und Regierungsberater, den »rechtzeitigen Maßnahmen durch die Regierung Georgiens und der verantwortungsbewussten Haltung auf Seiten der Gesellschaft« hohe Bedeutung zu, vor allem im Vergleich zu Nachbar­staaten wie Russ­land und Armenien, wo sich die Infektion stark ausbreite. Allerdings gibt er einen bedenklichen Ausblick auf das zweite Halbjahr 2020, weil im Oktober Parla­mentswahlen in Georgien anstehen und politische Spannungen zunehmen könnten.

Auch die armenische Regierung reagierte früh auf erste Infektionsfälle und führte Anfang März weitreichende Einschränkungen für die Wirtschaft ein, lockerte sie aber sechs Wochen später für strategische Wirt­schaftssektoren wie die Textilbranche, Roh­stoffminen und den Bausektor. Mitte März rief sie den Notstand aus und verab­schie­dete Programme zur Unterstützung von Fami­lien und Unternehmen in Höhe von 700 Mil­lionen Euro oder 5 Prozent des Brutto­inlands­produkts (BIP). Doch der Versuch, gesundheitspolitische und sozial­ökono­mische Herausforderungen auszu­balancieren, hat nicht zum gewünschten Erfolg geführt. Offenbar waren auch Diszi­plin und Eigen­verantwortung in der Bevöl­ke­rung unbe­frie­digend. Regierungschef Nikol Paschinjan, selbst mit dem Corona­virus infi­ziert, brachte seine Sorge über die Infektions­dynamik zum Ausdruck: Armenien hole Frank­reich und Italien ein, was die Infektions­zahlen pro einer Million Einwohner angeht. Gesund­heitsminister Arsen Torosjan warnte vor einer Über­forderung der Kliniken, da kaum noch Betten für weitere schwere Infektionsfälle zur Verfügung stünden.

In Aserbaidschan verhängte die Corona-Task-Force der Regierung Ende März einen totalen Lockdown, der im Mai wieder ge­lockert wurde. Mitte Juni stiegen die Neu­infektionen innerhalb von zwei Wochen um 50 Prozent an. Daraufhin stellte die Regierung sieben Städte und Regionen wie­der unter strikte Quarantäne. Präsident Ilham Alijew rief die Bevölkerung zu mehr Diszi­plin und Eigen­verantwortung auf. Die Armee unterstützte die Polizei bei Kontroll­maßnahmen. In sozialen Medien mehrte sich einerseits Protest gegen diese Maßnah­men, andererseits Kritik am medizinischen Management: Es gebe Todesfälle, die angeb­lich auf nicht rechtzeitige und nicht an­gemessene Behandlung zurückzuführen seien. Die Regierung hat ein Paket wirt­schaft­licher Hilfsmaßnahmen zur Unterstützung kleiner und mittlerer Unternehmen im Umfang von 1,5 Milliarden Euro oder 3 Pro­zent des BIP auf den Weg gebracht.

Die Weltgesundheitsorganisation äußerte sich am 26. Juni besorgt über den steilen An­stieg der Infektionszahlen in 11 euro­päi­schen Ländern einschließlich Armeniens und Aserbaidschans. Dagegen ist für Brüs­sel Georgien einer von 15 Drittstaaten, deren Bür­ger wie­der in die EU einreisen dürfen, weil die Infektionsausbreitung erfolgreich eingedämmt wurde.

Sozialökonomische Heraus­forderungen

Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung schätzt die Wirtschaftsschrumpfung für 2020 in Aserbai­dschan auf 3 Prozent, in Armenien auf 3,5 Prozent und in Georgien auf rund 5 Prozent. Das liegt unter der coronabedingten Rezession in großen Volkswirtschaften Europas oder den USA. Jedoch trifft die akute Krise im Kaukasus Länder mit schwachen Sozial- und Gesundheitssystemen und mit einer breiten Schattenwirtschaft.

Lediglich Aserbaidschan, das einen Groß­teil der Wirtschaftsleistung der Region er­bringt, verfügt über nennenswerte eigene Ressourcen für finanzielle Hilfspakete. Aber auch seine Wirtschaft ist bedroht, betrifft die Pandemie doch den für seine Einnahmen ausschlaggebenden Energiesektor, der durch sinkende Preise auf dem Weltmarkt schon zuvor belastet war. Wirtschaftsminister Mikayil Jabbarow bezifferte am 25. April die wirtschaftlichen Kosten der Pandemie auf 70 bis 88 Millionen US-Dollar pro Tag.

Kaum einzuschätzen ist der Umfang not­wendiger sozial­ökonomischer Hilfsmaßnahmen für Armenien, dem Epi­zentrum der Corona-Krise im Kaukasus. Zwar hatte die Regierung Mitte April einige strategische Wirtschaftssektoren wieder geöffnet. Ende Mai aber machte Ministerpräsident Paschinjan für drei Viertel der neuen Infek­tionsfälle Unter­nehmen verantwortlich, die nach der Wiederaufnahme des Betriebs die Schutzregeln nicht beachtet hätten. Als Folge wurden Hunderte Unter­nehmen vorübergehend wieder geschlossen.

In Georgien sank die Wirtschaftsleistung im März um knapp 3 Prozent, im April um knapp 17 Prozent im Vergleich zum Vor­jahr. Besonders von der Krise betroffen waren die Sektoren Handel, Transport, Bau­wesen und Gastronomie. Überweisungen aus der Diaspora im Ausland fielen um die Hälfte geringer aus als im selben Zeit­raum 2019. Und die Landeswährung sank auf den tiefsten Stand im Verhältnis zu Dollar und Euro – allein von März bis April um 14 Pro­zent. Gleichzeitig stiegen die Lebens­mittel­preise an, was die Akzeptanz der Lockdown-Maßnahmen in der Bevölkerung schmälert, zumal die Armuts- und die Arbeits­losenquote schon zuvor hoch waren.

Die Regierung hat Mitte März einen Anti-Krisen-Plan ins Leben gerufen, der die Wirt­schaft stützen soll. Vor allem bemüht sie sich darum, die Beschränkungen im Touris­mus zurückzunehmen, trägt dieser doch mit einer erheblichen Rate – 2019 rund 20 Prozent – zur Wirtschaftsleistung bei. Zu­nächst wurde nach mehr als zweimonatiger Unterbrechung ab Mitte Juni der in­län­dische Bahn- und Flugverkehr wieder aufgenommen, Hotels und Gaststätten unter strengen sanitären Auflagen wieder geöffnet. Aber entscheidend für diesen Sek­tor sind aus­ländische Touristen; viele von ihnen kamen in den letzten Jahren aus den Nachbarländern Russland und Armenien, die aktuell zu den Risikogebieten zählen.

Die staatlichen Hilfsmaßnahmen bilden einen Kontrast zur bisherigen neoliberalen Wirtschaftspolitik: so zum Beispiel eine Preis­kontrolle für Grundnahrungsmittel und die Zahlung von 60 Euro pro Monat an Arbeitslose für ein halbes Jahr. Am 9. Juni präsentierte Ministerpräsident Gacharia dem Parlament ein Budget für die Krisenbekämpfung 2020. Rund 1 Milliarde Euro sollen mobilisiert werden, was das Haus­haltsdefizit auf 8 Pro­zent erhöhen wird. Gacharia bezeichnete dabei die Un­vorher­sehbarkeit als die größte Heraus­forderung für die Weltwirtschaft und erst recht »für Georgiens kleine und extrem offene Wirt­schaft«. »Extrem offen« meint hier eine hohe Abhängigkeit von externen Faktoren, von ausländischen Direktinvestitionen, ausländischen Touristen etc.

Das erfordert für die Zeit nach der Corona-Pandemie, dass Wirtschaftssektoren, die weniger von auswärtigen Faktoren ab­hän­gig sind, stärker unterstützt werden. Dazu gehört etwa die Landwirtschaft, in der bis zu 40 Prozent der geor­gischen Bevölkerung beschäftigt sind – zu einem großen Teil unter den prekären Bedingungen von Subsistenzwirtschaft.

Finanzielle Unterstützung für ihre Anti-Krisen-Programme erhalten die südkaukasischen Länder aus Brüssel und Washington. Finanz­hilfen für gesundheitspolitische Maßnahmen wurden besonders Georgien gewährt, um die dort konsequent durch­geführte Infektionseindämmung zu för­dern. Internationaler Währungsfonds, Welt­bank, EU und andere Organisationen steuerten dazu ins­gesamt 1,5 Milliarden US‑Dollar bei. Jedoch ist es vor allem Ar­menien, das medizinischer Unterstützung bedarf, da die Eindämmung von Covid‑19 zu einer gewaltigen Herausforderung für das Land geworden ist.

Politische Entwicklungen im Kontext der Corona-Pandemie

Vor der Pandemie haben im Südkaukasus einige signifikante politische Ent­wick­lungen begonnen, die in der Corona-Krise nun mit einer ungeahnt neuen Situation konfrontiert sind.

In Armenien wurden nach dem als »Samtene Revolution« be­zeich­neten Macht­wechsel im Frühjahr 2018 Reformprozesse angestoßen. Sie zielten auf Kor­ruptions­bekämpfung, Justiz­reformen, Beseitigung von Wirtschafts­monopolen und anderen Miss­ständen, die sich unter der zwanzig­jährigen Herrschaft der »alten Machtelite« im Umfeld der Republikanischen Partei herausgebildet hatten. Bereits 2019 ver­zeich­nete die neue Führung unter Minister­präsident Nikol Paschinjan und seiner im Parlament dominierenden Parteiallianz »Mein Schritt« wirtschaftliche und finan­zielle Erfolge des Neustarts, zum Beispiel stei­gende Steuereinnahmen und eine Verbesserung des Investitionsklimas.

Diese Fortschritte prallen aktuell auf hohe coronabe­dingte Hindernisse und Herausforderungen. Die Ausein­ander­setzung zwi­schen der neuen Führung und Oppositions­parteien verschärft sich, wobei die Corona-Krise politisiert wird. Ging die neue Füh­rung politisch und juristisch zuvor in erster Linie gegen Oligarchen aus dem Umfeld der Repu­blikanischen Partei vor, wie die Ex-Präsi­den­ten Robert Kotscharjan und Sersch Sargsjan, hat sich das gegnerische Spektrum nun ausgeweitet. Oppositionspolitiker aus anderen Parteien beschuldigten die Regie­rung, bei der Eindämmung der Infektion versagt zu haben. Paschinjan erwiderte die Kritik, indem er von einem mit dem Corona­virus ein­hergehenden »politischen Virus« sprach, das die Opposi­tion verbreite. Ein Gesetz sollte »fake news« unterbinden und Nachrichten über die Corona-Pandemie auf staatliche Quellen beschränken, wurde aber als Eingriff in die Meinungsfreiheit beanstandet und abge­schwächt.

Im Juni spitzte sich mit den rasant an­steigenden Infektionszahlen der Streit zu. Der Olig­arch Gagik Tsarukjan, Führer der Partei »Prosperierendes Armenien«, der zweit­stärksten im Parlament, warf der Re­gie­rung Versagen im Kampf gegen Covid‑19 und auf anderen Handlungsfeldern vor und forderte ihren Rücktritt. Kurz darauf erhob der Nationale Sicherheitsdienst An­klagen gegen ihn, unter anderem wegen Beste­chungs­versuchen im Parlaments­wahlkampf von 2017. Seine Immunität als Parlaments­mitglied wurde aufgehoben. Paschinjan schlug vor, die Partei Tsarukjans aus dem Parlament zu verbannen. Dieses Vorgehen rief international Kritik hervor, beispielsweise äußerte sich Donald Tusk, ehemaliger Präsident des Europäischen Rates, besorgt über »demokratische Rück­schritte« in Arme­nien. Ein Gericht in Eriwan wies den Haftbefehl gegen Tsarukjan zurück.

Meh­rere Oppositionsparteien verlangten eine parlamentarische Untersuchung zur Reak­tion der Behörden auf die Pandemie. In Armenien zeichnet sich mehr und mehr ab, wie sehr die Infektionsdynamik den zuvor von brei­ten Teilen der Bevölkerung unter­stützten Neustart belastet. Gleichwohl ver­traut die Bevölkerung laut einer im Juli 2020 veröffentlichten Umfrage der Regie­rung unter Nikol Paschinjan immer noch mehr als der Opposition.

In Aserbaidschan forderte Präsident Alijew Ende 2019 Reformen, nahm umfang­reiche Personalwechsel an der Machtspitze vor, die auf Verjüngung und mehr Fach­kompetenz abzielten, sagte der Kor­ruption und Schattenwirtschaft den Kampf an. Es wurde sogar schon von einem »Tau­wetter« in dem autoritär regierten Land gesprochen. Auswärtige Beobachter inter­pretierten diese Entwicklung zwar nicht als grundlegenden politischen Systemwandel, aber als ein An­zeichen für eine vorsichtige Öffnung des autoritären Herrschaftssystems. Diese Hoff­nung wurde allerdings schon bei den Parla­mentswahlen im Februar 2020 enttäuscht.

In der Corona-Krise bezeichnete Präsi­dent Alijew regimekritische zivil­gesell­schaft­liche Gruppen und Oppositions­kräfte als »fünfte Kolonne«, von deren Ver­tretern sich das Land reinigen müsse. Er beschuldigte sie, sich den Lockdown-Maß­nahmen zu widersetzen und »fake news« zu ver­breiten. In der Folgezeit wurden Dut­zen­de Aktivisten verhaftet. Des Weiteren wurden digitale Kontrollmaßnahmen aus­gebaut, die sich gegen regimekritische Kräfte rich­ten. Dies stellt die vorherigen Reform­signale in Frage; Kritik kam vom Europa­rat und von internationalen Menschenrechts­organisatio­nen.

In Georgien spitzte sich 2019 die Ausein­andersetzung zwischen dem Regierungs- und dem Oppositionslager zu. Westliche Partner des im Assoziierungsprozess mit der EU stehenden Landes äußerten die Befürch­tung, Georgiens bisherige Re­formbilanz könne durch wachsenden politischen Tumult gefährdet werden. Im Streit über Verfassungsänderungen, ins­besondere über eine Reform hin zu einem überwiegend pro­portionalen Wahlsystem, traten sie als Vermittler auf. Die Botschafter der EU, Deutschlands und der USA setzten sich dafür ein.

Eine Zielscheibe innen- und außenpoli­tischer Auseinandersetzungen war der reichste Mann des Landes und Leiter der Regierungspartei »Georgischer Traum«, Bidzina Iwanischwili. Er galt als die Ver­kör­perung von »informal rule«, als der Strippen­zieher, ohne dessen Einwilligung keine rele­vanten Entscheidungen getroffen werden. Gegen ihn verbündeten sich Oppo­sitions­parteien und zivilgesellschaftliche Gruppen.

Angesichts der coronabedingten Herausforderungen an Staat und Gesellschaft ist der politische Streit eher zurückgetreten; die Corona-Krise wird in Georgien zumin­dest nicht von der Verstärkung einer poli­tischen Systemkrise begleitet. Die Bürger klagen hier weniger als in vielen anderen Ländern über mangelnde Transparenz, was die Kommunikation der Regierung über die Infektionszahlen und die Eindämmungs­maßnahmen anbelangt. Das gesundheits­politische Krisenmanagement obliegt Epi­de­miologen und medizinischen Exper­ten des Nationalen Zentrums für Krankheitskontrolle und Öffentliche Gesundheit, dessen Leiter Amiran Gamkrelidze zum Star auf­gestiegen ist. Im Unterschied zu einigen Regierungsvertretern unterliegt dieser Personenkreis nicht dem Verdacht, von Bidzina Iwanischwili abhängig zu sein.

Auch der Streit um die Person und politi­sche Rolle des Multimilliardärs ist in den Medien etwas in den Hintergrund getreten, selbst wenn er in Anbetracht der für Okto­ber angesetzten Par­lamentswahlen gewiss nicht beendet ist. Iwanischwili spendete 25,5 Mil­lio­nen US-Dollar für den Kampf gegen Covid‑19 in seinem Land.

Allerdings haben sich in Georgien in der Corona-Krise zwei Problemfelder aufgetan: das Verhalten kirchlicher Kreise und der Umgang mit Minderheiten. Weltweit for­der­ten die Infektionsdynamik und die Maß­nahmen zu ihrer Eindämmung Kirche und Staat heraus, fielen sie doch in eine Periode hoher religiöser Festtage wie Ostern und Ramadan. Vor allem in einigen Län­dern der christlich-orthodoxen Welt pro­vozierte die Verpflichtung, Abstand zu halten, den Wider­stand einiger Kleriker gegen Ein­schrän­kungen in Gottesdiensten. Im Kaukasus war dies in Georgien der Fall. Entgegen den staatlichen Vorsichtsregeln blieben einige Kirchen geöffnet. Abstands- und Hygienegebote wurden zum Beispiel durch die Ertei­lung der Kommunion mit dem tradi­tio­nellen Gemeinschaftslöffel verletzt. Selbst wenn dies die Infektions­zahlen nicht hoch­schnellen ließ, äußerten Opposition und zivilgesellschaftliche Grup­pen Kritik daran, dass die Regierung dem nicht entschieden genug entgegengetreten ist. Sie hielten ihr Abhängigkeit von der Kirche vor, die in Georgien erheblichen Einfluss hat. In isla­mischen Gebieten kooperierten Religionsführer bei den Vorsichtsmaßnahmen weitgehend mit den staat­lichen Stellen – so in Aserbaidschan. Auch die Armenische Apostolische Kirche folgte den staatlichen Anweisungen.

Innerhalb Georgiens war ein Landesteil besonders von Covid‑19 betroffen, in dem der Anteil der aserbaidschanischen Min­der­heit hoch ist. Hier wurden Städte und Dis­trikte wie Bolnisi und Marneuli ab­ge­sperrt. In sozialen Medien tauchten Hass­kommen­tare gegen Aserbaidschaner auf, ultranatio­nalistische Gruppen verbreiteten frem­den­feindliche Parolen. Die geor­gischen Sicher­heitsdienste leiteten Ermitt­lungen gegen solche Aktivitäten ein, fällt die Minder­heiten­frage in Georgien doch ins Gewicht: Es ist das Land mit dem höchsten Anteil ethnischer und religiöser Minderheiten an der Bevölke­rung (etwa 16 Prozent) unter den drei südkaukasischen Staaten.

Die Corona-Krise im Nord­kaukasus

Die Russische Föderation ist ein Epizentrum der Coronavirus-Infektionen – an vierter Stelle hinter den USA, Brasilien und Indien. Wurde Präsident Wladimir Putin in den letzten zehn Jahren mit Rezentralisierung und der Errichtung einer »föderalen Macht­vertikale« identifiziert, hat er nun die Infek­tionsbekämpfung an Gouverneure und Repub­likhäupter delegiert, um nicht mit un­populären Isolationsmaßnahmen in Verbindung gebracht zu werden. In Russ­land war schon vom »Corona-Föderalismus« die Rede.

Unter den 85 »Föderationssubjekten« haben 10 besonders strenge Isola­tions­maßnahmen ergriffen – dazu gehören die beiden nordkaukasischen Teilrepubliken Dagestan und Nordossetien. Im Nord­kauka­sus liegen die Infektionszahlen höher als in vielen anderen Regionen der Russi­schen Föderation, allerdings noch deutlich unter denen im Großraum Moskau. Der Föderal­bezirk Nordkaukasus mit einer Bevölkerungs­zahl von knapp 10 Millionen Menschen um­fasst sechs Teilrepubliken von Kara­tschai-Tscherkessien im Westen bis Tsche­tsche­nien und Dagestan im Osten sowie die Region Stawropol. Hinzu kom­men die Region Krasnodar mit 5,3 Millionen und die Repub­lik Adygeja mit 440 000 Ein­wohnern, die geographisch ebenfalls zum Nordkaukasus gezählt werden.

Diese kau­kasische Peripherie Russlands verzeichnete Ende Juni über 37 000 Infi­zierte und knapp 800 an Covid‑19 Verstorbene, wobei die Zahlenangaben zur Todes­rate hier wie im übrigen Russland als zu niedrig und als intransparent gelten. Unter den kaukasischen Teilrepubliken weist Dagestan, mit 3 Millionen Einwohnern die größte, die höchste Rate auf: mehr als die Hälfte der corona­bedingten Todesfälle im gesamten Nordkaukasus. Russland stellte knapp 70 Millionen US-Dollar für den Kampf gegen Covid‑19 in dieser Repub­lik zur Verfügung.

Die kaukasische Peripherie ist ein in sozial­ökonomischer Hinsicht problematischer Teil der Russischen Föderation, Armut, Unterentwicklung und Korruption sind an der Tagesordnung. Die Budgets der dor­tigen Föderationssubjekte sind von Subven­tionen aus dem föderalen Haushalt ab­hängig, die aktuell rückläufig sind. Die Expertin für regio­nale Wirtschaftsentwicklung Natalja Suba­rjewitsch schätzt, dass Russlands Regionen 2020 mindestens 18 Mil­liarden US-Dollar an Einkünften im Vergleich zum Vorjahr verlieren werden. Die Unterfinanzierung der Infrastruktur betrifft auch den Gesundheitssektor. Berich­ten zufolge besteht in Russland generell eine Kluft zwischen dem Zentrum und einigen entlegeneren Regionen, was die Leis­tungs­fähigkeit von Kliniken angeht. Vor allem im Nord­kaukasus regten sich in Kranken­häusern Proteste über mangelnde Ausstattung und überdurchschnittlich viele Covid‑19-Todesfälle unter dem medizinischen Personal.

Während bewaffnete Aufstände und Terroraktivitäten durch Jihad-Netzwerke in den letzten fünf Jahren im Nordkaukasus zurückgegangen sind, könnte wachsende Frustration in der Bevölkerung zum Pro­b­lem werden, wenn die Corona-Krise noch lange anhält. So kam eine der schärfsten Reaktionen auf die Lockdown-Maßnahmen in Russland aus Wladikawkas, der Haupt­stadt Nordossetiens. Dort versammelten sich am 20. April bis zu 2 000 Demonstranten und verlangten die Aufhebung der Qua­rantäne ebenso wie den Rücktritt des Republik­führers.

Die größte sozialökonomische Herausforderung für die Entwicklung nach der Corona-Pandemie sind Maßnahmen zum Wiederaufbau der geschrumpften Wirtschaft. Der föderale Haushalt ist durch die Krise zu stark unter Druck, als dass die Subventionen für die kaukasische Peripherie erhöht werden könnten. Zudem ist im letzten Jahrzehnt in der russischen Bevöl­kerung die Abneigung gegen Subventionen für die dortigen Föderationssubjekte ge­stiegen. Ausdruck dafür ist die Parole »Hört auf, den Kau­kasus zu päppeln.«

In Tschetschenien tritt die Gewaltherrschaft des Republikführers Ramsan Kadyrow im Kon­text der Corona-Pandemie verstärkt zutage. Anfangs verharmloste er die Pan­de­mie, wie einige andere autoritäre Herr­scher auch, und drohte »Panikmachern«. Nach­dem strenge Isola­tions­maßnahmen ver­hängt worden waren, verglich er Infi­zierte, die sich nicht an die Quarantäne halten, mit Terroristen, die liqui­diert gehörten.

Konfliktentwicklungen und Geopolitik im Kontext der Corona-Krise

Die Situation im Südkaukasus ist vor allem durch bislang ungelöste ethnoterri­toriale Kon­flikte geprägt. Innerregionale Barrieren wie die geschlossene Staatsgrenze zwischen Arme­nien und Aserbaidschan belasten die Region. Die EU optiert in ihrer Nachbarschaftspolitik für gute innerregionale Beziehungen in den Partnerregionen. Im Südkaukasus ist dieser Wunsch nicht aufgegangen.

Und die Corona-Pandemie hat wie im EU-Raum und in anderen Weltregionen auch hier zu wei­teren Grenzschließungen geführt. Zu Beginn der Pandemie war der Iran ein Epizentrum der Corona-Ausbrei­tung im Umfeld des Kaukasus. Erste Infek­tionsfälle in kaukasischen Ländern betrafen Rückreisende aus dem Iran, zu dem man nun auf Distanz ging. In der Folgezeit schlossen angesichts der Infektionsdynamik in Armenien die Nach­barn ihre Grenzen zu dem schon zuvor isolierten Land. Sogar der tägliche Personenverkehr zwischen der Republik Armenien und dem von ihr protegierten Berg-Karabach wurde eingeschränkt. Damit verstärkt sich für Armenien die geoökonomische Isolation, in die es in­folge der prekären Beziehungen zum Nach­barland Aserbaidschan geraten ist und durch die es von Transitprojekten zwischen dem Kaspischen Meer und Europa abgeschnitten wird.

Die ungelösten Konflikte treten hinter der Corona-Krise nicht zurück. Das gilt etwa für den Karabach-Konflikt zwischen Arme­nien und Aserbaidschan. Im Frühjahr 2020 kam es wieder zu einzelnen Gewalt­zwischen­fällen an der Waffenstillstands­linie und zu gegenseitigen Drohungen. Zuvor waren seit 2018 unter internationaler Ver­mittlung die Kontakte zwischen den Präsi­denten und Außenministern Armeniens und Aser­baidschans intensiviert worden, ebenso die Verhandlungen über eine schrittweise Konfliktlösung. Die Gegen­sätze zwi­schen den Positionen der Konfliktparteien konn­ten aber nicht überwunden werden.

Zwischen Georgien und Russland haben die Spannungen sogar zugenommen. Tiflis hat neuere Übergriffe aus den »okkupierten Gebieten« Abchasien und Südossetien be­anstandet: Grenzpfähle und Stacheldraht­zäune seien von dort auf Gebietsteile in »Kern­georgien« verlegt worden, ein Vor­gehen, das unter der russischen Bezeichnung »borderisatsija« seit Langem beklagt wird. Georgiens west­liche Partner und internationale Organisationen unterstützen diese Anklage.

Der Kreml hat seine Attacken gegen das Richard-Lugar-Labor in Tiflis verschärft, das er der Herstellung von Bio-Waffen bezich­tigt. Das 2011 eröffnete, in Kooperation mit den USA gegründete Laboratorium wird seit 2018 vom georgischen Nationalen Zent­rum für Krankheitskontrolle und Öffent­liche Gesundheit geleitet. Es bildet derzeit ein Zentrum der epidemiologischen For­schung und der Testmaßnahmen zum Coronavirus in Georgien. Russische Medien und die Sprecherin des Außenministeriums in Moskau verbreiten die Theorie, »vom Pentagon kontrollierte US-Laboratorien in ehemaligen Sowjetrepubliken« seien für den Ausbruch von Covid‑19 in Russland ver­antwortlich. Das richtet sich in erster Linie gegen Georgien, aber auch gegen Labore, in denen das mit Russland in enge­ren Be­zie­hungen stehende Armenien mit west­lichen Partnern kooperiert. Moskau for­dert die Inspektion des Lugar-Labors durch eine exklusiv russische Delegation, Tiflis würde ein internationales, nicht aus­schließ­lich russisches Inspektionsteam akzeptieren. Dar­auf ist Moskau bisher nicht eingegangen.

Ausblick

Der georgische Regierungschef Gacharia bezeichnet Unvorhersehbarkeit als ein Hauptproblem für Wirtschaft und Politik im Umfeld der Pandemie. Das gilt wohl auch für die Frage, inwieweit externe Akteure, die von der Corona-Krise selbst stark betroffen sind, sich in einer Region wie dem Kaukasus wirt­schaftlich und sicherheitspolitisch engagieren. Die Ent­wick­lung im Südkaukasus tangiert zum Beispiel die Politik der Östlichen Part­ner­schaft der EU. Der Rat der EU hat im Mai Schlussfolgerungen für diese Politik für die Zeit nach 2020 erörtert und sich für einen »strategischeren, ehrgeizigeren, flexibleren und inklusiveren Rahmen für die Zusammen­arbeit« ausgesprochen: Es gelte, gemein­same Her­ausforderungen zu meistern, insbesondere in der durch Covid‑19 hervorgerufenen beispiellosen Situation.

Doch die größte wirtschaftliche Herausforderung in ihrer eigenen Geschichte sowie gewaltige finanzielle Aufwendungen für ein Wiederaufbauprogramm in ihren Mitgliedsländern werfen die Frage auf, inwieweit die EU diesen »ehrgeizigeren Rahmen« aus­füllen will und kann, auch wenn sie sich bereits an Hilfen für ärmere Länder bei der Corona-Bekämpfung maß­geblich betei­ligt hat, etwa dem internatio­nalen Spendenmarathon. Schon vor der Corona-Krise sind Zweifel daran geäußert worden, dass der Südkaukasus für alle EU-Staaten eine außen- und sicher­heits­politi­sche Priorität darstellt.

Russland hat den Südkaukasus nach dem Krieg gegen Georgien 2008 zu seiner Einfluss­zone deklariert. Den Nordkaukasus betrach­tet es als seine innere Angelegenheit, als eine Region, in der internationale Politik nichts zu suchen hat. Doch es scheint wenig wahrscheinlich, dass der föderale Haus­halt höhere Sub­ventionen für den Nord­kauka­sus bereitstellen wird, um dring­liche Wieder­aufbaumaßnahmen nach der Corona-Krise in die Wege zu leiten.

Dr. Uwe Halbach ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020

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ISSN 1611-6364