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Der Europäische Konvent vor seiner entscheidenden Phase

Arbeitspapier, 15.09.2002, 4 Seiten

Zweiter Punkt: Der Inhalt der Konventsarbeit

Es ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt schwierig zu beurteilen, welche Grundelemente die Europäische Verfassung im Einzelnen enthalten wird. Sie erkennen das bereits daran, dass der Verfassungsentwurf von Rupert Scholz und Elmar Brok 200 Artikel umfasst, der von Andrew Duff hingegen 19. Außerdem gibt es zahlreiche Denkschulen im Konvent. Dazu gehören die Intergouvernementalisten, die die Union in die Richtung eines Staatenbundes lenken wollen; daneben gibt es die Integrationisten, die die Integration in die Richtung eines Bundesstaates führen wollen. Regierungsvertreter ("Präsidentialisten") verfolgen andere Interessen als Parlamentarier ("Parlamentaristen"). Die Bewahrer wollen möglichst wenig ändern. Ihnen ist daran gelegen, den Status quo im Wesentlichen beizubehalten. Die Reformer suchen nach einem überzeugenden neuen Konzept für die Europäische Intergration.

Es könnte in einer Verfassung für die Föderation der europäischen Nationalstaaten zu sehen sein. Zu verfassen ist eine solidarische, demokratische und handlungsfähige Europäische Union.

Aus der Sicht eines Reformers stellen sich die notwendigen Inhalte der Konventsarbeit wie folgt dar:

Der Weg von der Wirtschafts- zur Wertegemeinschaft muss fortgesetzt werden. Die Wertorientierung wird dann deutlich, wenn es dem Konvent gelingt, die Europäische Grundrechte-Charta als zentralen Bestandteil in der europäischen Verfassung zu verankern. Außerdem müssen in der Verfassung die notwendigen Regelungen für ein hoheitliches Gemeinwesen enthalten sein, also Institutionen, Rechtssetzungsverfahren, Kompetenz- und Finanzordnung. Die Verfassung sollte das Wesentliche verständlich regeln: Brok/Scholz ist zu detailliert, Duff zu knapp. Die übrigen Normen des Primärrechts würden gesondert gefasst. Das Stichwort lautet: Zweiteilung der Verträge.

Der jetzige Rat wird als "Staatenkammer" organisiert, er wird zu einem ständigen Gremium umgeformt, das die Arbeit der bisherigen Ministerräte koordiniert. Dadurch wird die Entscheidungsfindung in der EU verstetigt. Die Staatenkammer berät öffentlich, wenn sie als Gesetzgeber fungiert.

Das Europäische Parlament wird zur ersten Kammer, zur Bürgerkammer. Bürger- und Staatenkammer üben zusammen die gesetzgebende Gewalt der Europäischen Union aus. Dies geschieht im Weg der Mitentscheidung der beiden Kammern. Die Entscheidungen in der Staatenkammer sind grundsätzlich nach dem Prinzip der doppelten Mehrheit zu treffen, das heißt, eine Entscheidung kommt mit der Mehrheit der Staaten zustande, die gleichzeitig die Mehrheit der von diesen Staaten repräsentierten Bevölkerung ausmacht. Einstimmigkeit wird in seltenen Ausnahmefällen nötig sein. Die Bürgerkammer bekommt die Aufgabe, den Präsidenten der Europäischen Kommission zu wählen. Auf diese Weise wird die Kommission gestärkt.

Bei der Kommission und dem Europäischen Rat ist die Regierungsgewalt anzusiedeln. Der Europäische Rat bestimmt die Richtlinien der Politik, die von der Kommission auszuführen sind. Für die Gesetzgebung bekommt das Vermittlungsverfahren zwischen den beiden Kammern eine größere Bedeutung. In das Verfahren sind nationale Parlamentarier einzubeziehen. Damit entsteht ein Instrumentarium, mit dessen Hilfe Kompetenzfragen auf politisch-prozeduralem Weg beantwortet werden können. Kompetenzfragen sind in erster Linie Machtfragen und deshalb politisch zu klären; justizielle Kompetenzkontrolle ist erst in zweiter Linie sinnvoll.

Mit dem Stichwort "Justiz" ist der Europäische Gerichtshof angesprochen, die Judikative der EU. Die Zuständigkeit des EuGH muss ausgeweitet werden. Es muss dafür gesorgt werden, dass die in der Charta gewährten Rechte eingeklagt werden können. Aus deutscher Sicht liegt es nah, die Einführung einer Charta-Beschwerde analog der Verfassungsbeschwerde zu befürworten. Das ist allerdings aus zwei Gründen nicht unproblematisch. Zum einen lässt sich ein völlig neuer Rechtsbehelf nur schwer in das bestehende Rechtsschutzsystem integrieren. Zum anderen handelt es sich um eine typisch deutsche Konstruktion, die in den meisten anderen Mitgliedstaaten auf Skepsis stoßen dürfte, weil dort keine mächtige Verfassungsgerichtsbarkeit existiert. Realistischer ist es deshalb möglicherweise, für eine Ausweitung der Individualklagebefugnis einzutreten. Das heißt: Innerhalb des bestehenden Rechtsschutzsystems müsste Artikel 230 des EG-Vertrages geändert werden.

Mit dem Europäischen Konvent und der von ihm angewandten Methode wagen wir mehr Demokratie in Europa. Die Konventsmethode wird eine wichtige Grundlage für die Legitimität der europäischen Verfassung bilden. Denn ihre Legitimität hängt nicht nur vom Inhalt eines Textes ab, sondern auch von dem Verfahren, in dem sie erarbeitet worden ist. Die Konventsmethode sollte deshalb fester Bestandteil des europäischen Reformprozesses sein: Keine Reform ohne Konvent!