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Der Antrag auf das Verbot der prokurdischen HDP beim türkischen Verfassungsgericht

Beispiel für die Verschränkung von Politik und Justiz und böses Omen für eine friedliche Lösung der Kurdenfrage

SWP-Aktuell 2021/A 44, 10.06.2021, 8 Seiten

doi:10.18449/2021A44

Forschungsgebiete

Am 2. März 2021 hat die türkische Generalstaatsanwaltschaft Ermittlungen gegen die Demokratische Partei der Völker (HDP) eingeleitet, am 17. März die Klageschrift auf deren Verbot beim Verfassungsgericht eingereicht. Der Generalstaatsanwalt hat ferner beantragt, 687 Funktionären der Partei zu verbieten, sich in den nächsten fünf Jahren poli­tisch zu betätigen. Das würde auf den Ausschluss fast aller HDP-Politiker von der Politik hinauslaufen und so die politischen Kanäle für die Diskussion und Lösung der Kurden­frage auf Jahre verschließen. Zwar hat das Verfassungsgericht am 31. März die Klageschrift wegen verfahrensrechtlicher Mängel zurückgewiesen. Doch am 6. Juni teilte die Generalstaatsanwaltschaft mit, dass sie einen weiteren Vorstoß zum Verbot der Partei unternommen hat. Damit besteht die Gefahr, dass die Verhinderung ziviler und gewaltfreier kurdischer Politik Wasser auf die Mühlen der illegalen Arbeiter­partei Kurdistans (PKK) ist und sich der Kurdenkonflikt erneut per­petuiert. Der Vor­gang wirft ein Schlaglicht auf die Verschränkung von Politik und Justiz in der Türkei und macht strukturelle Mängel der türkischen Verfassungsordnung deutlich.

Den Stein ins Rollen gebracht hat Devlet Bahçeli, Vorsitzender der extrem rechten Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP). Seine Partei hatte kurz nach dem gescheiterten Putschversuch von Teilen des Mili­tärs am 15. Juli 2016 ihre Politik geändert: Sie wurde von einem Gegner des heutigen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan und des von ihm favorisierten Präsidial­systems zum eifrig­sten Verfechter des neuen Systems und zum Verbündeten Erdoğans. Am 11. Dezember 2020 for­derte Bahçeli öffentlich, der Generalstaats­anwalt solle die Ermittlungen für das Verbots­verfahren gegen die HDP aufnehmen und die Verbotsklage einlegen, auf dass kurdi­sche Parteien ein für alle Mal von der poli­tischen Bühne ver­schwänden. Gut drei Monate spä­ter hat die Staatsanwaltschaft Bahçelis Forderungen umgesetzt.

Parteipolitische Erwägungen als Auslöser des Verbotsantrags

Die Tatsache, dass der MHP-Vorsitzende den Vorstoß unternahm, und das Timing des Verbotsantrags machen es sehr unwahrscheinlich, dass juristische Erwä­gungen für die Erstellung der Anklageschrift entscheidend waren. Hatte doch selbst die umstrittene Rolle der Parteiführung der HDP bei den gewalttätigen Ausschreitungen in Süd­ost-Anatolien 2014, während der Belagerung der syrisch-kurdischen Stadt Kobani durch den »Isla­mischen Staat«, damals nicht dazu geführt, dass ein Verbotsantrag eingereicht oder auch nur diskutiert wor­den wäre. Dasselbe gilt für die Errichtung von Schützengräben durch Kämpfer der PKK gegen die türkischen Sicherheitskräfte in von der HDP regier­ten Städten im Süd­osten der Türkei Ende 2015. Diese Aktion wäre ohne die Hilfe der Kommunalverwaltungen wohl nur schwer möglich gewesen.

Ebenso wenig kann belegt werden, dass sich die HDP in den letzten Jahren radi­ka­li­siert und dies die Einreichung der Klage 2021 ausgelöst hätte. Vielmehr steht das Vorgehen der Justiz in Zusammenhang mit politischen und verfassungsrechtlichen Veränderungen nach 2017.

Denn heute spielt die HDP eine signifikante Rolle für die Erfolgsaussichten der Parteien-Allianz, die sich gegen die regie­rende Gerechtigkeits- und Entwicklungs­partei (AKP) und ihren Partner MHP gebil­det hat. Die HDP betreibt anders als zuvor eine auf Frieden und Versöhnung orien­tierte Politik und erhöht gerade damit den Druck auf die Regierung. Ohne die Stim­men der HDP für die Kandidaten der Repub­lika­nischen Volkspartei (CHP), der wich­tigsten Oppositionspartei, hätte das Op­positions­bündnis bei den letzten Kom­mu­nalwahlen (2019) nicht die Rathäuser der größten Städte des Landes erobern können, darunter Istan­bul und Ankara. Die AKP verliert kon­tinu­ierlich an Rückhalt in der Bevölkerung, und das Risiko für den Präsidenten, bei der nächs­ten Wahl die Macht zu ver­lieren, steigt. Deshalb ist es wahrscheinlich, dass die Wah­len vorge­zogen werden, wenn Erdoğan die wirtschaft­lichen Bedingungen dafür reif scheinen. Doch auch um vor­gezogene Wah­len zu gewinnen, muss die HDP aus dem Spiel genommen werden. Würde sie ver­boten, bliebe ihren Anhän­gern wohl keine Zeit, eine neue Partei zu gründen und sich an der Wahl zu beteiligen. Der Aus­schluss von 687 HDP-Politikern wäre ein drama­tischer Schlag für die poli­tische Strömung, die die HDP verkörpert.

Allerdings könnte einer Nachfolgepartei der HDP, selbst wenn sie schnell gegründet würde, noch immer die Teil­nahme an der Wahl verwehrt werden, oder sie könnte an der für den Einzug ins Par­la­ment notwendigen landesweiten Zehn-Prozent-Hürde scheitern. Ihre Wähler wären somit nicht im Parlament repräsentiert. Da die rest­lichen Parteien in den mehr­heitlich kur­disch besiedelten Gebieten keinen Rückhalt haben, würden in diesem Fall die betreffen­den Sitze zum allergrößten Teil der AKP zufallen. Dies bedeutete einen Zu­wachs von 50 bis 70 Sitzen, was Erdoğans Partei aber­mals zur absoluten Mehrheit im Parlament verhelfen könnte.

Die Hoffnung darauf, dass strittige Fra­gen im Zusammenhang mit der Organisa­tion der Wahl, wie etwa die Zulassung von Par­teien, objektiv entschieden würden, ist wenig realistisch. Denn der Hohe Wahlrat, der für die Durch­führung von Wahlen zu­ständig ist, wurde nach den Kommunalwahlen von 2019 überwiegend neu zusam­mengesetzt – im Sinne Erdoğans. Die neu ernannten Mitglieder des Gremiums kamen ausschließlich aus dem Kassationsgericht und dem Staatsrat. Alle Richter dieser bei­den hohen Gerichte waren zehn Tage nach dem Putschversuch über das Gesetz Nr. 6723 (§§ 12 und 22) ihrer Ämter ent­hoben wor­den, die Neuernennungen erfolg­ten nach Erdoğans Vorstellungen.

Die Auswirkungen des gescheiter­ten Putschversuchs auf die Justiz

Dass die Justiz so willig und so schnell den Forderungen des MHP-Vorsitzenden ent­sprach und den Verbotsantrag gegen die HDP nur drei Monate später eingebracht hat, ist Folge der Neu­ordnung der türkischen Justiz nach dem gescheiterten Putsch­versuch von Teilen des Militärs im Juli 2016. Präsident Erdoğan sollte den auf seinen Sturz gerich­teten Coup d’État nur wenig später als ein »Geschenk des Himmels« bezeichnen. Obgleich der Auf­stand nieder­geschlagen wurde, sich sowohl die Militär­führung als auch die Polizei geschlossen hinter die Regierung stellten und ausnahms­los alle politischen Parteien den Umsturzversuch verurteilten, wurde der Ausnahmezustand verhängt. In den Wochen darauf wurden zahlreiche »Verordnungen mit Gesetzeskraft« erlassen, die dem Staatspräsidenten ermög­lichten, den Auf­bau der Verwaltung tief­greifend zu ändern, Institu­tionen zu säu­bern und die Justiz zu beein­flussen. Das Verfassungsgericht er­klärte sich selbst für nicht zuständig, diese Ver­ordnungen ver­fassungsrechtlich zu prüfen, wodurch der Präsident Regelungen durch­setzen konnte, die sowohl dem Wort­laut als auch dem Sinn von Ver­fassungs­vor­schrif­ten widersprechen.

Der nächste Schritt zur Konsolidierung der Macht des Staatspräsidenten bestand darin, eine Verfassungsänderung vorzu­bereiten, durch die ein »Präsidialsystem türkischer Art« eingeführt werden konnte. Der Ent­wurf der Verfassungsänderung wurde unter Ausschluss der Öffent­lichkeit und selbst der Parlamentsfraktionen von AKP und MHP aus­gearbeitet und in kür­zes­ter Zeit durchs Parlament gepeitscht. Die notwendige Volks­abstimmung fand unter den Bedingun­gen des Ausnahmezustandes statt. Kritischen Stimmen wurde der Zu­gang zur Öffentlichkeit drastisch erschwert, Kund­gebungen gegen die Verfassungsänderung waren verboten. Trotzdem hat der Ent­wurf beim Referendum über die Ver­fas­sungsänderung nur eine denk­bar knappe Mehrheit erhalten.

Im neuen System ist Erdoğan nicht länger nur Staatspräsident, sondern erneut auch Vorsitzender einer AKP, in der von inner­parteilicher Demokratie längst nicht mehr die Rede sein kann. Infolgedessen unterliegt das Handeln des mit exekutiver Macht aus­gestatteten Präsidenten praktisch keiner parlamentarischen Kontrolle mehr. Über­dies kann Erdoğan fortan die Zusammensetzung des Rates der Rich­ter und Staatsanwälte weitgehend bestimmen und auf diesem Weg Einfluss nehmen auf die Be­setzung des Kassationsgerichtshofs, des Staatsrates und des Hohen Wahlrates. Zu­künftig ernennt der Präsident 12 von 15 Mitgliedern des Verfassungsgerichts direkt und die übrigen 3 indirekt darüber, dass seine Partei die vom Par­lament mit ein­facher Mehrheit zu wäh­len­den Richter be­stimmt. Die Venedig-Kommission des Europa­rates sieht in diesen Änderungen den »Übergang zu einem per­sonalen und autoritären Regime« und for­derte die Türkei auf, sie nicht in Kraft zu setzen bzw. un­verzüglich zurückzunehmen. Diese Auf­forde­rung fand jedoch kein Gehör.

Heute verdanken bereits 8 der 15 Mitglie­der des Verfassungsgerichts ihre Er­nen­nung Präsident Erdoğan. 5 Mit­glie­der hat sein Vorgänger Abdullah Gül ernannt, 2 hat 2010 das da­mals noch demokratisch agie­rende Parla­ment gewählt. Die alte kemalistische Elite hat keinen Repräsentanten mehr am Gericht. Betrachtet man die gegen­wärtig amtierenden Richter des Ver­fassungs­­gerichts, be­steht der einzige Unter­schied zwischen konservativen Männern, die teil­weise libe­rale Positio­nen vertreten, und solchen, die offen als illiberal bezeichnet werden können. Damit hat sich die früher existie­rende Vorherrschaft der kema­listi­schen Elite am Verfassungsgericht, die noch 2009 von der Venedig-Kommission kritisiert worden war, in ihr Gegenteil ver­kehrt. Die letzten vier Ernennungen, die die Macht­balance zugunsten Erdoğans verän­dert haben, sind in den letzten zwei Jahren er­folgt. Auch den am­tierenden Generalstaatsanwalt, der jetzt die Klage auf das Verbot der HDP vorgelegt hat, hat Erdoğan ver­gan­genes Jahr ernannt.

Es ist deshalb wenig wahrscheinlich, dass das Gericht die Klage abweist und sich damit dem offen geäußerten Wunsch des Präsi­den­ten und seines extrem nationalistischen, inoffiziellen Koalitionspartners MHP ent­gegenstellt. Die einzige Unsicherheit hin­sichtlich des Verbotsverfahrens besteht darin, dass zwei Drittel der Richter für ein Verbot optieren müssen; das sind mehr als die acht eher neutralen Rich­ter im Ver­gleich zu den sieben, die relativ eindeutig als »pro Erdoğan« einzuschätzen sind.

Die juristische Qualität des Verbotsantrags

Die Tatsache, dass nicht verfassungsrecht­liche, sondern parteipolitische Erwägungen das Verbotsverfahren ins Rollen gebracht haben, ändert nichts daran, dass der Vor­gang selbst verfahrenstechnischen und mate­riellen Normen entsprechend ablaufen muss. In diesem, dem juristischen Kontext ist die Frage entscheidend, ob die Klage über­haupt zulässig ist. So muss die Anklage­schrift un­abdingbare strafprozessuale Krite­rien erfül­len. Sie muss vage Formu­lierun­gen und nicht spezifizierte Anschuldigungen ver­mei­den und kann nur solche An­schuldigun­gen vorbringen, die bestimmten Per­sonen und der Partei zweifelsfrei zuge­ordnet werden können. Nicht zuletzt muss die Generalstaatsanwaltschaft die für eine gerechte und ausbalancierte Abwicklung der Sache notwendigen belastenden und entlastenden Beweise anführen. Enthält die Anklageschrift in diesen Punkten Defizite, muss das Gericht sie an den Generalstaatsanwalt zurückverweisen.

Die materiellen Voraussetzungen für ein Parteiverbot sind in der Verfassung ge­regelt. Zum Beispiel können Parteien ver­boten wer­den, deren Satzung und Programm gegen die Verfassung verstoßen. Doch ein Verbot erfolgt nur dann, wenn das Verfas­sungs­gericht feststellt, dass sich die Partei zum Brennpunkt solcher Akti­vitäten ent­wickelt hat. Das wird angenommen, wenn Par­tei­mitglieder in großem Umfang ver­fassungswidrig handeln, zent­rale Partei­organe dies still­schweigend oder ausdrücklich billigen oder Parteiorgane selbst der­artige Handlungen bewusst ausüben. Das Gericht kann je nach Schwere der Ver­stöße ein Verbot aussprechen oder davon absehen; im zweiten Fall kann es anordnen, die Unter­­stützung im Rahmen der staat­lichen Parteienfinanzierung teilweise oder voll­ständig zu versagen. Dies wurde bisher nur beim Verbotsverfahren gegen die AKP im Juli 2008 angewendet.

Funktionären darf nur im Falle eines Parteiverbots untersagt werden, sich poli­tisch zu betätigen. Für jegliche Sanktionen zulasten der Partei ist eine Zwei-Drittel-Mehr­heit der Richter erforderlich. Seit dem Verbot der HADEP (einer Vorgänger-Partei der HDP) im Jahr 2003 berücksichtigt das Verfassungsgericht zusätzlich, wie die je­wei­lige Partei zur Anwendung von Gewalt steht bzw. ob sie Gewalt gutheißt.

Betrachtet man die Klageschrift gegen die HDP anhand dieser Kriterien, kommt man zu folgendem Ergebnis:

  • Ganz wie in kemalistischen Zeiten beginnt die Anklage mit einem Verweis auf die ethnozentrische Ausrichtung der Verfassung, wie sie in der Präambel formuliert ist, wonach »keinerlei Aktivität verfassungs­rechtlichen Schutz genießt, die gegen die türkischen nationalen Interessen, die türkische Existenz, den Grundsatz der Unteilbarkeit von Staatsgebiet und Staats­volk, die geschichtlichen und ideellen Werte des Türkentums, den Nationalismus, die Prinzipien und die Re­formen Atatürks sowie die von Atatürk vorge­sehene Zivilisation gerichtet ist«.

  • Die Anklageschrift behauptet, die HDP sei zum Brennpunkt von Handlungen geworden, die der »unteilbaren Einheit des Staates mit seinem Land und seiner Nation« zuwiderlaufen. Doch hat die HDP weder die territoriale Integrität des Landes in Frage gestellt noch sich offen für Föderalismus eingesetzt.

  • Der Großteil der angeführten Beweise besteht aus Handlungen, deren Ablauf nicht ausreichend dokumentiert ist, und aus Äußerungen, deren Inhalt und Inten­tion nicht zweifelsfrei geklärt sind. Daher steht noch gar nicht fest, ob diese den Vorwürfen zugrunde liegenden Akte tat­sächlich begangen wor­den sind und / oder ob sie einem Partei­mitglied zugeschrieben werden können.

  • Bei der überwiegenden Mehrheit dieser Akte handelt es sich um Äußerungen, die der Staatsanwalt als »terroristische Propaganda« einstuft. Ein kleinerer Teil wird als Beleg für die »Mitgliedschaft von Politikern [der HDP] in einer kriminellen Vereinigung« gewertet, ein noch gerin­gerer Teil als »Handlungen gegen die Existenz und Integrität des Staates« ver­standen. Es geht dabei jedoch in aller Regel um verbale Äußerungen, die die Politik des Staates und / oder der AKP-Regie­rung kritisieren.

  • Der Vorwurf der »Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung« unterstellt eine Mitgliedschaft von HDP-Politikern im Kongress der Demokratischen Gesellschaft (DTK). Die Organisation ist zwar mit vielen politischen Verfahren über­zogen worden, sie wurde bislang aber nicht verboten und ist deshalb nach wie vor als legale Vereinigung anzusehen.

  • Ein weiterer Vorwurf lautet auf »Teil­nahme an unerlaubten Demonstrationen«, doch sind Demonstrationen der Verfassung zufolge überhaupt nicht genehmigungspflichtig.

  • Die meisten der als verfassungsfeindlich eingestuften Aussagen fallen in die Zeit der Friedensverhandlungen der türkischen Regierung mit der PKK (2013–2015). Zu jener Zeit haben der heutige Staatspräsident und ihm nahestehende Politiker ganz ähnliche Stellungnahmen abgegeben.

  • Einen zentralen Platz in der Anklageschrift nehmen Äußerungen führender Politiker der HDP ein, zum Beispiel die­jenigen ihres ehemaligen Co-Vor­sitzen­den Selahattin Demirtaş und ihres ehe­maligen Abgeordneten Sırrı Süreyya Önder. Im einen Fall wurde kritisiert, dass die türkische Regierung während der Belagerung der syrisch-kurdischen Stadt Kobani durch den »Islamischen Staat« 2014 untätig war und dass dies gewalttätige Demonstrationen ausgelöst hatte. Im anderen Fall geht es um Stellung­nahmen, die 2015 während der Grabenkämpfe in den von der HDP re­gierten Städten formuliert worden sind. All dies war indes bereits Gegenstand individueller Strafverfahren gegen die genannten Politiker, und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat die Türkei aufgefordert, die diesbezüglichen Urteile zu revidieren.

  • In der Klageschrift aufgeführte Handlungen einzelner Parteimitglieder wie die Beteiligung an Waffenlieferungen oder an der Rekrutierung von Kämpfern für die PKK sind – sofern nachgewiesen – für ein Parteiverbot unbestreitbar relevant. Allerdings ist, einerseits, ihre Zahl sehr begrenzt, weshalb es zweifelhaft ist, ob solche Handlungen ausreichen, die Partei zum Brennpunkt verfassungsfeind­licher Aktivitäten zu machen. Anderer­seits ist fraglich, ob diese Handlungen der Partei als ganzer zugerechnet werden können, denn die Parteiführung hat sich stets von derartigen Aktionen distanziert.

  • Dasselbe gilt für die Beschäftigung von Personen, die zuvor aufgrund von Terror­straftaten verurteilt worden waren, in HDP-regierten Kommunen sowie für die Nutzung kommunaler Gerätschaften wie Baumaschinen und Bagger, die verwendet wurden, um Schützengräben für PKK-Kämpfer während der genannten Graben­kämpfe auszuheben.

  • Die Klageschrift konzentriert sich primär darauf nachzuweisen, dass die PKK eine terroristische, sich der Gewalt bedienende Organisation ist. Dies ist jedoch die seit Jahrzehnten fest etablierte und insti­tu­tionalisierte Einstufung der Organisation nicht nur in der Türkei, sondern auch in Europa. Der Knackpunkt liegt im Nachweis einer direkten Verbindung zwischen der HDP und der PKK. Hier beschränkt sich, was als Beweis vorgelegt wird, in der Regel auf reine Annahmen, fragwürdige Konstruktionen, vage Formu­lierun­gen. Oft sollen wiederholt vor­getragene Werturteile handfeste Beweise ersetzen. So gilt etwa eine annähernde Simulta­nität von Aktionen und Erklärungen der PKK auf der einen Seite und Aktionen und Stellungnahmen der HDP auf der anderen Seite als Beweis einer solchen Verbindung, ohne dass dies im Einzelnen belegt würde.

  • Als Beweis wird oft auch eine Parallelität zwischen den politischen Positionen der HDP und der PKK gewertet. Ein Beispiel: Die Tatsache, dass sowohl die PKK als auch die HDP fordern, kurdische Kinder seien in ihrer Muttersprache zu unterrichten, wird als Beweis für eine organische Verbindung zwischen den beiden Organisationen angeführt. Jeder, der diese Forderung erhebt, mache sich der Unterstützung von Ter­roristen schuldig oder sei gar selbst Terrorist.

  • Schließlich versäumt die Klageschrift, für die Partei entlastende Sachverhalte zu benennen und zu berücksichtigen, und kommt damit einem zentralen Erfordernis für den Antrag auf ein Parteiverbot nicht nach.

Aus diesen Gründen ist nicht verwunderlich, dass sofort nach Bekanntwerden der Klageschrift Zweifel daran geäußert worden sind, ob die Klage in dieser Form zulässig ist. Die Klageschrift vermittelt den Eindruck, in großer Eile, ja überstürzt formu­liert wor­den zu sein – ein weiterer Hin­weis dar­auf, dass das Verfahren nicht auf­grund juris­ti­scher Erwägungen, sondern auf Ge­heiß der Politik initiiert worden ist, wes­halb die Klageschrift zurückgewiesen wurde.

Eine lange Tradition von Partei­verboten in der Türkei

Um den aktuellen Verbotsantrag einordnen zu können, lohnt ein Blick auf den ver­fassungs­rechtlichen Hintergrund: In der Türkei hatten politische Parteien bis 1961 den Status von Vereinen. Deshalb konnten sie auf Antrag der Exekutive von den Zivil­gerichten verboten werden. Erst mit der Ver­fassung von 1961 erhielten die Parteien Verfassungsrang und wurden als unverzichtbare Bestandteile des demokratischen politischen Lebens defi­niert. Von da an konnten sie nur auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft per Urteil des Verfassungs­gerichts verboten werden. Die Exe­kutive spielt seither offi­ziell in Partei­verbotsverfahren keine Rolle mehr. Dieses Arrangement wurde im Wesentlichen in der Verfassung von 1982 beibehalten.

Der Verfassungsrang der Parteien und das von der Exekutive getrennte Prozedere für ein Parteiverbot vermittelten auf den ersten Blick das Gefühl, dass die politischen Parteien der Türkei sich frei betätigen kön­nen. Doch der Schein trügt; seit der Grün­dung des Verfassungsgerichts 1961 sind in der Türkei bis heute 25 Par­teien ver­boten worden, mehr als in allen anderen Staaten, die Mitglied des Europarates sind.

In demokratischen Ländern können poli­tische Parteien nur aufgrund von Handlungen verboten werden, die aktiv gegen die Verfassungsordnung gerichtet sind oder die territoriale Integrität des Staates bedrohen. Die bloße Unvereinbarkeit ihrer Satzung oder ihres Programms mit der Verfassung reichen dafür nicht aus. Nach der Rechtsprechung des EGMR, aber auch nach den Empfehlungen der Venedig-Kommission braucht es für ein Parteiverbotsverfahren die Feststellung, dass die Partei zur Errei­chung ihrer Ziele Gewalt als Mittel der Poli­tik benutzt oder den Einsatz von Gewalt zumindest als legitim erachtet. Parteien können ferner dann nicht mit einer Inter­vention des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu ihrem Schutz rechnen, wenn sie eine politische Ordnung anstreben, die zu einer demokratischen Verfasstheit, wie sie die Europäische Menschenrechtskonvention vorsieht, in grundsätz­lichem Widerspruch steht. Denn »Demo­kratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschen­rechte« sind die drei Säulen der gemein­samen europäischen politischen Ordnung.

Die Rechtsprechung des EGMR zum Verbot politischer Parteien hat sich maß­geblich an Fällen aus der Türkei entwickelt, die dem Gericht nach 1990 vorgelegt wor­den sind, das heißt ab dem Zeitpunkt, als die Türkei seine obligatorische Zuständigkeit anerkannt hat. Bislang wurden in diesem Rahmen sieben Beschwer­den vom EGMR geprüft. Mit der Aus­nahme des Falles der islamistischen Wohl­fahrtspartei (RP) wurde in allen Fällen ein Verstoß des türkischen Verfassungsgerichts gegen die Konvention festgestellt.

In der Türkei wurden politische Parteien hauptsächlich wegen Separatismus und Ver­stoßes gegen den Laizismus verboten, hinzu kommen einige Fälle, in denen das Verbot aus rein formalen Gründen aus­ge­sprochen worden ist (siehe blauen Kasten, S. 7). Bei all diesen Ver­boten wurde grund­sätzlich nicht geprüft, ob die ange­klagte Partei Gewalt und Terror als Methode und Instru­ment legitimiert bzw. ange­wendet hatte.

Die türkische Verfassung kennt jedoch noch mehr Gründe für ein Verbot politischer Parteien als nur Separatismus und Verstoß gegen den Laizismus, nämlich Verstöße gegen die Prinzipien der Demokratie, der Menschenrechte und der Rechts­staatlichkeit sowie Propaganda für die Er­richtung einer Diktatur (Art. 68/4). Bislang wurde kein einziger Antrag auf das Verbot einer politischen Partei mit Hinweis auf solche Gründe gerechtfertigt, obwohl die genannten Prinzipien zu den unveränder­lichen Eigenschaften der Republik gehören und in der Verfassung durch sogenannte Ewigkeitsklauseln geschützt sind. Dass bis­her aus besagten Gründen kein Verbots­antrag gestellt worden ist, heißt indes nicht, dass diese Prinzipien nicht in Gefahr wären. Der politische Streit verläuft aber eben nicht primär entlang dieser Linien als Aus­einandersetzung über mehr oder weniger Demokratie, Achtung der Menschenrechte oder Rechtsstaatlichkeit. In der Regel fand (und findet) der politische Kampf auf den Achsen Laizismus und Separatismus statt.

Vom Verfassungsgericht ver­botene Parteien

Wegen Verstoßes gegen den Laizismus wurde 1971 die Partei der Nationalen Ordnung (MNP, einstimmig), 1983 die Partei des Inneren Friedens (HP, 10 vs. 5), 1998 die Wohlfahrtspartei (RP, 9 vs. 2) und 2001 die Tugendpartei (FP, 8 vs. 3) vom Verfassungsgericht verboten. Im Jahr 2008 entging die heutige Regierungspartei, die Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP, 5 vs. 6), nur knapp einem Verbot.

Wegen Separatismus wurden folgende Parteien verboten: 1971 die Arbeiterpartei der Türkei (TIP, einstimmig), 1980 die Arbeitspartei der Türkei (TEP, einstimmig), 1991 die Ver­einigte Kommunistische Partei der Türkei (TBKP‑T, einstimmig), 1992 die Sozialistische Partei (SP, 10 vs. 1), 1993 die Arbeitspartei des Volkes (HEP, 10 vs. 1), die Frei­heits- und Demo­kratiepartei (ÖZDEP, ein­stimmig) sowie die Sozialistische Partei der Türkei (STP, ein­stimmig), 1994 die Demokratiepartei (DEP, einstimmig), 1995 die Sozialistische Einheitspartei (SBP, einstimmig), 1996 die Partei für Demokratischen Wandel (DDP, 10 vs. 1), 1997 die Arbeitspartei (EMEP, einstimmig), 1999 die Demokratische Massenpartei (DKP – Liberale Kurden, 6 vs. 5), 2003 die Demokratiepartei des Volkes (HADEP, einstimmig), zuletzt 2009 die Demokratische Gesellschaftspartei (DTP, einstimmig).

Aus formalen Gründen wurde 1968 die Partei Arbeiter und Bauern (İÇP, einstimmig) verboten, 1971 die Progressive Ideal Partei der Türkei (TIÜP, einstimmig), 1972 die Partei Großes Anatolien (BAP, einstimmig), 1991 die Republikanische Volkspartei (CHP, ein­stimmig), 1994 die Partei der Grünen (YP, 10 vs. 1) und die Demokratische Partei (DP, einstimmig), zuletzt 1997 die Auferstehungspartei (DIRIP, einstimmig).

Dabei erfolgten die Verbote der Parteien, die des Separatismus beschuldigt wurden, in der Regel per einstimmigem Votum des Verfassungsgerichts. Beim Verbot islamis­tischer Parteien gelangten die Richter am Verfassungsgericht dagegen in der Regel höchstens zu einer Mehrheit von 9 von 11 Stim­men. Dies zeigt, dass hinsichtlich der Ab­lehnung kurdischer Forderungen nach Minderheitenrechten – was als Separatismus gewertet wird – großer gesellschaft­licher Konsens besteht, während bezüglich der Rolle der Religion in Gesellschaft und Politik – Streit um den Laizismus – Un­einigkeit herrscht.

Parteiverbote als Mittel im politischen Kampf

Auf verfassungsrechtlicher Ebene wurden Parteiverbote 2001 im Rahmen der Vorbe­reitung zu den EU-Beitrittsverhandlungen erschwert. Der Umfang der Verbotsgründe wurde eingegrenzt und das Quorum für ein Verbot auf drei Fünftel der Richter herauf­gesetzt. Nur aufgrund dieser Änderungen entging die AKP 2008 einem Verbot, ob­gleich das Gericht sie zum »Brennpunkt antilaizistischer Aktivitäten« erklärte. Mit der Ände­rung der Verfassung 2010 wurde das Quo­rum für Parteiverbote weiter erhöht auf zwei Drittel, das entspricht 10 von 15 der anwesenden Richter.

Die Verfassungsänderung von 2010 hat der früher bestehenden Vormundschaft des Militärs über die zivile Politik ein Ende gesetzt und auf verfassungsrechtlicher – nicht gesellschaftlicher – Ebene das Span­nungsverhältnis zwischen Religion und Staat beseitigt. Doch die Erwartung, dass damit eine demokratische Verfassungs­ordnung etabliert und ein Ende der Partei­verbote eingeläutet würde, hat sich nicht erfüllt.

Das liegt primär daran, dass sich das Regierungslager angesichts rapide zurück­gehender gesellschaftlicher Unterstützung aufs Neue dieses politischen Mittels bedie­nen will, um seine Macht zu ­erhalten. Die Demonstra­tionen für den Istanbuler Gezi-Park, die sich 2013 zu landesweiten Pro­testen entwickelten, und anschließend die von Kadern um den Prediger Fethullah Gülen gesteuerten Korruptionsermittlungen gegen Mitglieder der Regierung Ende 2013 haben offenbart, wie fragil die Regierung des heutigen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan bereits zu jener Zeit war. Bei der Parlamentswahl vom 7. Juni 2015 verlor die AKP dann zum ersten Mal seit ihrem Regierungsantritt 2002 die abso­lute Mehr­heit im Parlament, die sie 13 Jahre lang besessen hatte.

Um die Macht nicht teilen zu müssen, entschied sich Erdoğan damals gegen eine Koalition mit der Republikanischen Volks­partei (CHP), die zu mehr Demokratisierung und einer Normalisierung hätte führen können. Stattdessen ging er ein inoffizielles Bünd­nis mit der extrem rechten Partei der Natio­nalistischen Bewe­gung (MHP) ein. In der Folge wurden die Friedensverhandlungen mit der illegalen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) für gescheitert erklärt, das Par­lament aufgelöst und eine Wiederholung der Wahl angeordnet. Das Regierungslager stufte die prokurdische Demokratische Par­tei der Völker (HDP), die in den Ver­hand­lun­gen der Regierung mit der PKK eine Vermittlerrolle eingenommen hatte, nun als Handlanger der terroristischen PKK ein, ihre Poli­tiker als Terroristen. Die aktuelle Klage auf ein Verbot der HDP kam des­halb nicht über­raschend.

Besonders kurdische Wähler können den Verbotsantrag schwerlich als legitim be­trach­ten. Sie müssen ihn so verstehen, dass die von ihnen gewählten Vertreter selbst dann kriminalisiert werden, wenn sie nicht auf Gewalt zurückgreifen und sich für die Demo­kratie einsetzen. Daher ist die Gefahr groß, dass das Zugehörigkeitsgefühl der Kurden zur Türkei weiter abnimmt und sich Teile von ihnen erneut radikalisieren, was die Demokratisierung der Türkei in noch wei­tere Ferne rückt.

Prof. Dr. Osman Can war 2019 Kurzzeit-Fellow im Rahmen des IPC-Stiftung Mercator Fellowship Programms an der SWP.

Das Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) wird gefördert durch die Stiftung Mercator und das Auswärtige Amt.

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