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Dauerhafte Sicherheit für die Ukraine

Von Ad-hoc-Unterstützung zu langfristigen Sicherheitsgarantien als Nato-Mitglied

SWP-Aktuell 2023/A 44, 29.06.2023, 8 Seiten

doi:10.18449/2023A44

Forschungsgebiete

Seit Februar 2022 verteidigt sich die Ukraine gegen einen erneuten, diesmal voll­umfäng­lichen Angriffskrieg Russlands. Nachdem sich die Maßnahmen zur unmittelbaren Unterstützung der Ukraine – militärische, diplomatische, finanzielle und huma­ni­täre – ein­gespielt haben, gilt es nun, die langfristige Sicherheit des Landes zu kon­zipieren. Sicher­heitszusagen sollten politische, wirtschaftliche und militärische Pfei­ler um­fas­sen. Eine Nato-Mitgliedschaft wäre dabei zentral. Sie liegt im geostrategi­schen und nor­ma­tiven Interesse der Nato, auch wenn ihre Umsetzung risikovoll und schwierig ist. Die Alliierten sollten der Ukraine auf dem Gipfel im Juli praktische Schritte zum Bei­tritt aufzeigen, um den Übergang von Sicherheits­zusagen zu ‑garantien zu definieren.

Die erneute russische Invasion hat der Fra­ge nach internationalen Sicherheits­garan­tien für die Ukraine neue Dringlichkeit ver­lie­hen. Unter extremem militärischem Druck bot Präsident Selenskyj im März 2022 eine Neu­t­ralität seines Landes und die Auf­gabe des Ziels Nato-Beitritt an, wenn die Ukraine von den fünf ständigen Mitgliedern des Sicher­heits­rates der Ver­ein­ten Nationen (VN) und von anderen Part­nern Sicherheitsgarantien bekäme. Die Auf­deckung der russi­schen Mas­saker in Butscha und Irpin sowie die militärischen Erfolge der Ukraine haben jedoch dazu geführt, dass diese Idee inzwi­schen obsolet ist – vor allem weil das Ver­trauen in etwaige Sicherheitszusagen Russ­lands zerstört ist. Stattdessen hat Selenskyj im September 2022 die Nato-Mitgliedschaft im »fast track«-Modus be­antragt. Die über­wältigende Mehrheit der Bevölkerung unter­stützt diesen Kurs.

In westlichen Staaten wird dagegen kont­rovers diskutiert, wie die Sicherheit der Ukraine dauerhaft gewährleistet werden kann. Die Vorschläge reichen von einer Neutralität über bi-, mini- und multilaterale Sicherheitszusagen bis zum Nato-Beitritt. Der von der Ukraine entworfene »Kyiv Secu­rity Compact« vom Sep­tem­ber 2022 plädiert zum Beispiel für detail­lierte Schritte mili­tärischer, wirtschaftlicher und politischer Unterstützung, mit fes­ten Konsultations- und Entscheidungsprozessen und gebündelt in einem multi­lateralen Rahmendokument.

Ukrainische und europäische Interessen

Aus Sicht der Ukraine sind verlässliche Sicher­heitszusagen notwendig, weil vor­he­rige Ansätze gescheitert sind: Weder das Budapester Memorandum (1994) noch die politische Unterstützung westlicher Staaten konnten die Annexion der Krim und die De­stabilisierung des Donbas ab 2014 verhindern, ebenso wenig den Angriff im Februar 2022. Mit dem Budapester Memo­randum gab die Ukraine die auf ihrem Territorium stationierten Atomwaffen ab, wofür Russ­land, Großbritannien und die USA sich ver­pflichteten, die Souveränität und terri­to­riale Integrität der Ukraine zu achten. Doch waren keine konkreten Sicher­heits­zusagen vorgesehen, sondern nur die Ver­pflichtung, im Konfliktfall zu beraten und den VN-Sicherheitsrat anzu­rufen. Russland ver­letzte das Budapester Memorandum mit der Annexion der Krim 2014. Daher for­derte Selenskyj im Mai 2022, erneute Zusagen dürf­ten »keine Absichts­erklärungen« sein, son­dern müssten »kon­krete Garantien« be­in­hal­ten, »was genau von wem garantiert ist«.

Dahinter steht die Annahme, dass die Sicherheit der Ukraine nicht nur bei fort­gesetzten Kriegshandlungen oder einem Waffenstillstand fragil wäre, sondern selbst dann, wenn sie ihr gesamtes Territorium befreien könnte. Denn Russlands Intentionen bleiben aggressiv, solange es – wie von Prä­sident Putin in geschichtsrevisionistischen Essays dargelegt – die territoriale Integrität, staatliche Souveränität und natio­nale Iden­tität der Ukraine in Frage stellt und Kriegs­führung als legitimes und effi­zientes Mittel ansieht, seine Interessen durch­zusetzen. Zudem hat Russland im Sep­tem­ber 2022 die Annexion von vier weiteren ukrai­nischen Gebieten (Donetsk, Luhansk, Zaporizhya, Cherson) proklamiert. Der rus­si­schen Ver­fassung zufolge dürfen sie – wie die Krim – nicht wie­der zurückgegeben werden. Ihre voll­ständige Eroberung und Integration bleiben deshalb russisches Staatsziel. Die Ab­wesenheit oder vorübergehende Ab­nahme von Kriegshandlungen gegen die Ukraine wären demnach nur mangelnden Fähig­keiten oder taktischen Überlegungen Russ­lands geschul­det, nicht aber der Aufgabe der Maximal­ziele. Solange die russische Füh­rung an ihrem neoimperialen und aggres­siven Ansatz fest­hält, droht ein erneuter Angriff.

Es liegt aber auch im Interesse Deutschlands, der Mitglieder der Europäischen Union (EU) und der Nato, die Sicherheit der Ukraine lang­fristig zu gewährleisten. Ers­tens würde eine von Russland gänzlich oder in Teilen be­setzte Ukraine die Sicherheitslage in Europa massiv verschlechtern. Die Statio­nie­rung russischer Truppen auf ukrainischem Territorium zusammen mit dem Ausbau von Belarus zu einem militärischen Vor­posten könnte Russlands Fähigkeiten zur Macht­projektion gegenüber der EU und der Nato erweitern. Ein russischer Erfolg würde in Moskau die Überzeugung festigen, dass sich außenpolitische Interessen mit militä­ri­scher Gewalt durchsetzen lassen. Die beiden Pfei­ler der Militarisierung der russi­schen Außen­politik – Fähigkeiten und Intentionen – las­sen sich nur brechen, wenn Russland eine eindeutige Niederlage erleidet und die staat­liche Souveränität und territoriale Inte­grität der Ukraine langfristig gesichert werden.

Zweitens trägt die militärische Unterstüt­zung für die Ukraine schon jetzt zur Vertei­digung der regelbasierten Ordnung und da­mit auch zu Sicherheit, Stabilität und Wohl­stand Deutschlands bei. Schließlich zielt Moskaus Angriff nicht allein auf die Ukraine, sondern ebenfalls auf eine Neugestaltung der europäischen Sicherheitsordnung zu­gunsten Russlands. Das zeigen etwa die im Dezember 2021 von Moskau vorgelegten Vertragsentwürfe für die USA und die Nato. Darin fordert Moskau ein Ende der »Politik der offenen Tür« der Allianz sowie einen Rückzug aller Truppen und Waffen, die seit 1997 in ihren neuen Mitgliedsländern sta­tio­niert wurden. Glaubwürdige reziproke Schritte für Russland schlug Moskau nicht vor. Das unterstreicht sein Ziel, im Osten der Nato eine Pufferzone zu errich­ten, wäh­rend es den postsowjetischen Raum als ex­klu­sive Einflusszone betrachtet, in der es die Souveränität der Staaten im Sinne seiner he­ge­monialen Dominanz ab­lehnt. Die Sicher­heit und Souveränität der Ukraine zu ge­währ­leisten ist damit auch Sicherheitsvorsorge für EU und Nato.

Drittens wäre die Sicherheitslage in Eu­ropa stabiler, wenn nach dem Krieg eine der stärksten und kampferprobtesten Ar­meen Europas in die Nato integriert würde. Blie­ben die ukrainischen Streitkräfte außer­halb, hätten die Europäer weniger Mög­lich­keiten, deren Ausrichtung zu be­gleiten, was destabilisierende Folgen haben könnte.

Viertens erfordert der wirtschaftliche und infrastrukturelle Wiederaufbau der Ukraine externe Sicherheit. Die Weltbank veranschlagte im Februar 2023 die Kosten für den Wiederaufbau auf 411 Milliarden US-Dollar. Ein solch enormer Einsatz, der staatliche und private Investitionen voraus­setzt, braucht sichere Rahmenbedingungen. Scheitert oder stockt der Wiederaufbau, könnte das die sicherheitspolitische Lage verschärfen und die demokratischen Reform­prozesse ver­langsamen.

Nicht zuletzt muss der EU-Beitritt der Ukraine abgesichert werden. Das Land hat seit Juni 2022 Kandi­datenstatus. Laut Arti­kel 42 Absatz 7 des EU-Vertrags schulden die Mitglieder ein­ander Unterstützung im Falle eines bewaff­neten Angriffs. Die EU-Länder sind jedoch ohne US-Fähig­keiten bereits jetzt nicht in der Lage, die EU zu verteidigen.

Drei Optionen können die Sicherheit der Ukraine maximal, verlässlich und dauerhaft gewährleisten.

Drei Optionen für Sicherheits­garantien

Die erste Option besteht in der Demilitarisierung Russlands. Dazu wäre eine Redu­zie­rung der Streitkräfte und der Rüstungs­industrie auf ein Maß nötig, das Selbstverteidigung gestattet, aber keine Offensiv­operationen. Flankiert werden müsste dies durch eine Demilitarisierung der strategischen Kultur. Diese verändert sich indes nur über langfristige Sozialisationsprozesse oder externe Schocks. Für Letzteres wäre eine eindeutige Niederlage gegen die Ukraine notwendig, und die russische Füh­rung und Bevölkerung müssten ihr neoimperiales Rollenverständnis aufgeben. Dafür sind ein Regimewechsel und eine gesell­schaftliche Auseinander­setzung mit der hegemonialen Vergangenheit unumgänglich. Aber selbst dann könnte sich die Ukraine nur bei einer gleich­zeitigen Denuklearisierung des russi­schen Militär­potentials sicher fühlen.

Die zweite Option liegt darin, dass die Ukraine ihr Abschreckungspotential durch eine unilaterale Nuklearisierung stärkt, das heißt entweder ein Atomwaffenarsenal auf­baut oder mittels einer Ankündigung Druck erzeugt. Schließlich schützt das Prinzip ato­marer Abschreckung aktuell sowohl Russ­land als auch die Nato. Zwar wäre der Weg zu Atom­waffen ein sehr komplexes und lang­wieriges Projekt, das ohne westliche Unter­stützung und Zustimmung geringe Erfolgs­aussichten hätte, erst langfristig Sicher­heits­gewinne brächte und der Repu­ta­tion der Ukraine schaden würde. Aller­dings zeigt das Beispiel Südkorea vom März 2023, dass allein die Drohung damit helfen kann, US-Sicherheitsgarantien zu erhalten. Sollte die Ukraine diesen Weg wählen, würde sie sich dem israelischen Modell an­nähern, das auf starken Streitkräften, Atom­waffen und bilateralen Ab­kom­men beruht. Dieses Modell lässt sich aber nur bedingt auf die Ukraine übertragen, insbesondere da Russland nuklear droht.

Eine Demilitarisierung ist zurzeit unrealis­tisch, eine Renuklearisierung nicht wün­schenswert, denn sie würde die europäische Sicher­heitsordnung und das globale Nicht­verbrei­tungsregime schwer belasten und sicherlich russische Reaktionen provozieren.

Daher bleibt als dritte Option die Einbin­dung der Ukraine in bi- oder multilaterale Systeme kollektiver Verteidigung. Ein bi­late­rales Bündnis mit Beistandsgarantien der USA und / oder ein Netz an bilateralen Bünd­nissen mit militärisch starken Staaten, mög­lichst Atommächten, könnten ihre Sicher­heit gewährleisten. Dies erscheint jedoch wenig realistisch, da kaum ein Staat das Risiko einer militärischen Konfrontation mit Russland im Alleingang eingehen möchte. Weil die USA sich lang­fristig auf den indo-pazifischen Raum orien­tieren, werden sie sich schwerlich auf solche Zusagen einlassen. Für die Europäer, die ein Eigeninteresse an der Sicherheit der Ukraine haben, wäre das auch nicht erstrebenswert. Vielmehr ließe sich die abschreckende Wirkung gegenüber Mos­kau am effektivsten durch eine Nato-Mit­gliedschaft der Ukraine erzielen. Sollten die Alliierten ihr diese Pers­pektive nicht auf­zeigen, könnte sie über andere Wege ver­suchen, ihre Sicher­heit zu gewährleisten, beispielsweise eine Renuklearisierung.

Alle Optionen außerhalb dieser drei bieten einen geringeren Schutz und sollten tref­fen­der »Sicherheitszusagen« genannt werden.

Risiken und Zielkonflikte

In der Nato besteht kein Konsens dar­über, wann und unter welchen Bedingungen die Ukraine beitreten kann. 2008 hat sie ihr die Mitgliedschaft in Aussicht ge­stellt, allerdings ohne einzelne Schritte zum Bei­tritt fest­zulegen. Die Ukraine blieb da­mit in einer sicherheitspolitischen Grau­zone. Seit dem russischen Überfall 2014 hat die Nato ihre praktische Unterstützung ver­stärkt, etwa in Trust Funds und mit dem Com­prehensive Assistance Package. Seit dem Über­fall 2022 bietet das Bündnis um­fang­reiche, aber nur nichtletale Unterstützung an, zum Beispiel medizinische Aus­stattung.

Generalsekretär Stoltenberg hat seit dem Angriff 2022 mehrfach betont, dass der Platz der Ukraine in der Nato sei, ein Bei­tritt aber erst nach Kriegsende erfolgen könne. Die Ukraine hingegen besteht auf der Beitrittszusage bzw. auf konkreter Unterstützung in der Übergangsphase bis zu ihrer Aufnahme.

Einige Alliierte befürworten einen zeit­nahen Beitritt der Ukraine und fordern klare Zusagen auf dem Gipfel im Juli (Polen, die balti­schen Staaten), etwa in Form des Heran­führungsinstruments Membership Action Plan (MAP) oder einer Beitrittseinladung. Andere sind skeptisch (USA, Deutschland), wären aber politisch und mili­tärisch zentral für die Absicherung des Sicherheitsversprechens. Tatsächlich be­stehen zahlreiche Risi­ken hinsichtlich eines ukrainischen Nato-Beitritts, die vier Aspekte betreffen: Eskala­tions­gefahren, Zeitpunkt, territoriale Reich­weite, Handlungs­fähig­keit der Nato.

(1) Die Alliierten müssen das Ziel der lang­fristigen Sicherheit der Ukraine und die nur schwer zu kalkulierenden Eskala­tions­risi­ken gegeneinander abwägen. Zu Letzteren ge­hört die Gefahr, dass sich der Krieg inner­halb der Ukra­ine und darüber hinaus aus­weitet. Aller­dings sind mögliche »rote Linien« Russlands nur schwer zu lesen. Die russi­sche Führung subsumiert in ihrem Bedro­hungs­verständnis nationale Sicherheit unter Regime­sicherheit. Risiken werden unter dem Aspekt ge­wichtet, wie sie die Stabilität des autori­tä­ren Herrschaftssystems gefähr­den. Seit der dritten Amtszeit Putins (ab 2012) hat sich die Regimelegitimation verändert – vom Versprechen wirtschaftlichen Wohl­stands hin zu immateriellen Legitimationsressourcen. Dazu zählen die Demonstration von Größe nach außen, die »Sammlung russi­scher Länder«, die Konfrontation mit dem Westen. Vor diesem Hintergrund wäre ein Nato-Beitritt der Ukraine ein sichtbares Zeichen der Schwächung und könnte zu­sam­men mit einer militärischen Nieder­lage das Putin’sche Regime destabilisieren. Eine solche innenpolitische Entwicklung könnte Putin dazu verleiten, den Krieg in der Ukra­ine weiter zu eskalieren – auch wenn be­grün­dete Zweifel bestehen, ob er dazu über­haupt noch in der Lage ist.

Vorstellbar wären rus­sische Reaktionen, die von wei­te­ren Mobilmachungen bis zur Inszenierung eines nuklearen Zwischenfalls reichen; ein Einsatz taktischer Atomwaffen ist eben­falls nicht auszuschließen. Zwar las­sen sich bis­lang keine konkreten Schritte für eine Eska­lation über die Ukraine hinaus belegen. Aber vollkommen undenkbar sind sie nicht angesichts der Eigendynamiken des autoritären russischen Regimes und seiner intransparenten Ent­schei­dungs­prozesse, die die Gefahr von Fehlkalkulationen erhöhen.

Auch eine weitere Zunahme hybrider Bedro­hungen wäre zu erwarten. Der Kreml könnte die Meinungsverschieden­heiten inner­halb der Nato über den ukrai­nischen Beitritt nutzen, um die Geschlos­sen­heit von Nato und EU und da­mit deren Hand­lungs­fähigkeit zu schwächen. Russ­land könnte eine kontrovers geführte Beitrittsdebatte mit Propaganda beeinflussen, eine Aufnahme der Ukraine als Eska­la­tion dar­stellen, um westliche Ängste (etwa durch atomare Dro­hungen) zu schü­ren und zu bewirken, dass die Unter­stüt­zung für das Land reduziert wird. Ferner ist denkbar, dass Moskau einen Nato-Beitritt der Ukraine auch international, etwa in Afrika, als Beweis für einen hege­mo­nialen Westen heranzieht. Die Inszenierung von Unberechenbarkeit gehört dabei zu rus­si­schen Manipulationsmechanismen, um westliche Gesellschaften und Institutio­nen zu destabi­lisieren. Das Jahr 2024 bietet hier­für einige Angriffspunkte, da in zahl­rei­chen westlichen Ländern Wahlen anstehen, bei­spielsweise in den USA, vielen Staaten Eu­ro­pas und für das Euro­päi­sche Parlament.

(2) Zudem bestehen Risiken mit Blick auf den Zeitpunkt eines Nato-Beitritts der Ukra­ine. Generalsekretär Stoltenberg zu­folge wäre dieser erst nach dem Krieg mög­lich, ohne dass allerdings geklärt wäre, ob das einen Waffenstillstand oder ein Friedens­abkommen voraussetzt. Eine solche Kondi­tio­nierung reduziert zwar das Risiko, dass die Nato in den Krieg hinein­gezogen wird, kann aber auf russischer Seite den Anreiz erhö­hen, ihn fort­zuführen, um einen Bei­tritt zu verhindern.

(3) Ein ähnliches Dilemma existiert hin­sicht­lich der Frage, für welches Gebiet Sicherheitszusagen gelten sollen. Die Ukra­ine er­füllt eines der 1995 von der Nato ge­nannten Beitrittskriterien nicht: die Ab­wesen­heit von Terri­torialkonflikten (die ande­ren Kriterien fordern unter anderem eine funk­tionierende Demokratie und Markt­wirtschaft, die faire Behandlung von Minder­heiten, die demokratische Kontrolle des Militärs). Wenn die Nato den Beitritt von der Lösung von Territorial­konflikten ab­hängig macht, könnte sie Russland er­muti­gen, den Konflikt mit der Ukraine ge­zielt am Kochen zu halten, um deren Bei­tritt zu verhindern. Um der Ukra­ine die freie Bünd­niswahl zu ermöglichen, wäre es daher im Interesse der Alliierten, Flexibilität bei der Erfüllung dieses Krite­riums zu entwickeln, etwa durch eine temporär begrenzte geographische Anwendbarkeit der Vertei­digungs­zusagen und Zusatzverein­barungen. Historische Ansatzpunkte bietet das Beispiel Westdeutschland, das 1955 der Nato unter der Bedingung beitrat, die deut­sche Ver­einigung nicht militärisch uni­lateral voran­zubringen.

Für die Ukraine wäre vor­stell­bar, dass die freien Gebiete der Nato beitreten, gekoppelt mit der Zusage, den Nato-Schutz auf noch be­setzte Gebiete nach deren Befreiung aus­zuweiten. Hinzu kämen für die Ukraine ver­pflichtende Konsultationen für militärische Operationen sowie eine Konditionierung von Artikel 5 im Falle uni­lateralen Vor­gehens. Notwendig wären außerdem klare Konsequenzen, sollte die Ukraine diese Bedingungen missachten.

(4) Des Weiteren könnte ein Beitritt der Ukraine die Geschlossenheit der Nato unter­minie­ren, die aber Voraussetzung für ihre Hand­lungsfähigkeit als Verteidigungsbünd­nis ist. Bereits jetzt belastet die Beitritts­debatte das Bündnis. Ein Scheitern ist nicht ausgeschlossen – zumal momentan Ungarn und die Türkei den weniger umstrittenen Beitritt Schwedens blo­ckieren. Eine erneute Blockade würde die Glaub­würdigkeit der Allianz beschädigen.

Einige Alliierte sind besorgt, dass ein Bei­tritt der Ukraine bilaterale Kon­flikte ins Bünd­nis tragen könnte, schließlich waren deren Beziehungen zu einigen Nach­barn vor dem Krieg schwierig und sind es teils noch, so zu Ungarn. Andere befürch­ten einen zu starken Fokus auf Russ­land auf Kosten der anderen Bedrohun­gen, die das Strategische Konzept von 2022 aufführt, wie die Instabi­lität an der Nato-Südflanke oder China.

Überdies fürchten viele Alliierte, in den Krieg hineingezogen zu wer­den, etwa wenn Russ­land nach einem Bei­tritt der Ukra­ine an einer möglichen Kon­takt­linie oder Grenze provozieren würde und die Nato reagieren müsste oder falls sich Kyiv uni­lateral ent­schließen sollte, nach einem Bei­tritt noch be­setzte Gebiete militärisch zu befreien. Auch die Entscheidungsfindung in der Nato in einem solchen Fall könnte zu Spaltungen führen, die Russ­land wohl aus­zunutzen wüsste. Ein russi­scher Angriff nach einem Beitritt, auf den die Allianz zer­stritten re­agiert, wäre eine Bankrotterklärung für die Nato und ein Risiko für die Ukraine.

Tatsächlich besteht ein Zielkonflikt zwi­schen den Vorteilen einer langfristigen Inte­gration der Ukraine in westliche Insti­tutionen und dem kurzfristigen Risiko, durch die damit verbundene Debatte die interne Kohäsion gerade dieser Institutionen zu schwächen und dadurch die Unter­stützung für das Land zu gefährden. Da ein Nato-Bei­tritt erst langfristig realistisch wird, kön­nen diese Fragen vertagt wer­den. Mög­licher­weise ergeben sich aus einer erfolg­reichen Kriegsführung der Ukraine neue Lösungsräume. Unabhängig davon sollte die Nato über flexible Ansätze nach­denken, die die schrittweise Erweiterung von Sicher­heits­zusagen erlauben oder die Verteidigungszusagen konditionieren.

Militärisch würde ein Beitritt eine Anpassung der Nato-Verteidigungspläne und ‑strukturen erfordern, damit die Alli­ierten das erweiterte Nato-Territorium ver­teidigen und die ukrainischen Streitkräfte in die Verteidigungsmaßnahmen integrieren könnten. Um die Glaubwürdigkeit der Nato-Zusagen zu unterstreichen, wären Truppenstationierungen empfehlenswert, insbesondere unter Beteiligung der großen Staaten wie Deutschland sowie der Nuklearmächte USA, Frankreich und Großbritan­nien. Doch kommt die größte Skepsis gerade aus Washington und Berlin. Solange der wichtigste Sicherheitsgarant USA einen Bei­tritt nicht unterstützt, wird er nicht statt­finden. Zudem müssten angesichts des sinken­den Interesses der USA an europäischen Sicherheitsfragen vor allem die Euro­päer den Mehraufwand leisten. Allerdings haben Letztere Schwierigkeiten, die 2019 lancierte Nato-Neuaufstellung umzusetzen. Nur sieben von 30 Alliierten erfüllten 2022 den »Defense Investment Pledge«, das heißt die Verpflichtung, zwei Prozent ihrer Wirt­schafts­kraft in Verteidigung zu inves­tieren. Zwar steigen viele Verteidigungshaushalte, aber es ist unklar, wie dauerhaft die Steige­rungen sind und ab wann sie die Einsatz­fähigkeit verbessern.

Doch eine politische Zusage der Nato, die militärisch nicht hinterlegt ist, nutzt weder der Ukraine noch dem Bündnis selbst. Viel­mehr scha­det sie seiner Glaubwürdigkeit und Europas Sicherheit und Stabilität. Des­halb sollte ein Beitritt nur erfolgen, wenn die Ukraine die Bedingungen erfüllt oder Alternativen vereinbart wurden und wenn die Nato ein glaubhaftes Verteidigungs­versprechen abgeben kann. Auf dem Nato-Gipfel im Juli in Vilnius wollen die Alli­ier­ten die Weichen für ihre künftigen Bezie­hungen zur Ukraine stellen. Weil eine schnelle Aufnahme unrealistisch erscheint, sind Zwischenschritte notwendig, die die Sicherheit der Ukraine schon vor einem Beitritt substantiell und verlässlich steigern.

Von Sicherheitszusagen zu ‑garan­tien: Ein »Security, Recon­struc­tion and Peace Compact«

Aktuell diskutiert werden sowohl Vorschläge, die Sicherheitszusagen als Ersatz für eine Nato-Mitgliedschaft definieren, als auch sol­che, die darin eine Vorstufe sehen. In Anbe­tracht der zentralen Bedeutung, die der Aus­gang des Krieges für die europäische Sicher­heit hat, sollten die Maßnahmen als Vorbe­reitung zum Beitritt konzipiert wer­den. Um Enttäu­schungen und Missverständ­nisse zu ver­meiden, muss gleichzeitig ge­klärt wer­den, dass Unterstützung nach Arti­kel 5 bis zum Beitritt ausgeschlossen ist. Dennoch bieten diese Maßnahmen einen Mehrwert gegen­über bloßer Ad‑hoc-Unter­stützung, wenn sie auf Dauer und auf ein bestimmtes Ziel (Sicherheit der Ukraine und Nato-Bei­tritt) ausgerichtet und verläss­lich sind. Dies erfordert verbindliche Zu­sagen und einen Prozess von Konsultation und Entscheidungs­findung, was zudem Reibungsverluste von Ad‑hoc-Maß­nahmen reduziert.

Um die Sicherheit der Ukraine auf dem Weg zu einem Nato-Beitritt zu gewährleisten, ist ein umfassender und vernetzter Ansatz notwendig, der das Land effektiver und skalierbar schützt. Denn militärische, poli­tische und wirtschaftliche Elemente be­dingen und verstärken sich gegenseitig: So ist ein sicherer Rahmen die Voraussetzung für den wirtschaftlichen Wiederaufbau, und wirtschaftlicher Aufschwung wieder­um ermöglicht Investitionen in Sicherheit. Sinnvoll wären sich wechselseitig verstärkende Maßnahmen, in denen die verschiedenen Akteure (EU, Nato, G7, Ramstein-Format) eingebunden sind: ein umfassender »Security, Reconstruction and Peace Com­pact«. Ziel ist es, die Ukraine unwiderruflich in den euroatlantischen Strukturen zu verankern und ihr, Russland und den EU- und Nato-Staaten zu verdeutlichen, dass sie dorthin gehört und in keiner Puffer- oder Grauzone liegt. Im Fokus steht hier der sicherheitspolitische Pfeiler.

Der sicherheitspolitische Pfeiler

Sicherheitszusagen sollten den Weg zu Sicherheitsgarantien in Form eines Nato-Beitritts definieren. Ziel dabei wäre, die Ukraine so zu ertüchtigen und ihre Sicher­heit so zu verbessern, dass sie im Falle einer politischen Gelegenheit für einen Nato-Bei­tritt bereit ist. Ein solches Paket sollte drei Elemente beinhalten: Stärkung der Selbst­verteidigungsfähigkeit der Ukraine und ihre weitere Verankerung in der Nato, militärische Schwächung Russ­lands, Stärkung der eigenen (EU, Nato) Resilienz, Abschreckung und Verteidigung.

(1) Für den ersten Bereich nennt der Kyiv Secu­rity Compact bereits konkrete Schritte, fokus­siert allerdings auf bilaterale Formate. Zu empfehlen wäre eine multilaterale An­bin­dung an die Nato, da bilaterale Ab­kom­men von den betroffenen Staaten unter Umstän­den als nicht attraktiv wahrgenom­men werden. So könnte die Nato einen neuen Verteidigungs- und Ab­schreckungs­plan für die Ukraine auflegen und diesen um bilate­rale Ab­kom­men, wie im Kiyv Com­pact vorgeschlagen, ergänzen.

Ein solcher Plan würde existierende Maß­nahmen bündeln, erweitern und durch eine überjährige Finan­zierung auf längere Zeit sichern. Der Schwerpunkt läge zunächst auf einer lang­fristigen systematischen mili­tärischen Unter­stützung, damit die Ukraine den Kon­flikt im Sinne der eigenen Ziele be­enden kann. Gleichzeitig müsste die Integ­ration in die Nato-Struk­turen fortgesetzt und der Aufbau eines Abschreckungs­poten­tials vorangetrieben werden. Es gilt, Russ­land klarzumachen, dass die westliche Unterstüt­zung dauerhaft ist, aber das russische Spiel auf Zeit nicht erfolgversprechend. Notwendig wären die Verstetigung, Inten­sivierung und langfristige Finanzierung von Waffenlieferungen (inklusive Munition, Wartung, Lo­gis­tik, Ersetzen zer­störter Ausrüstung); Trai­nings- und Ausbil­dungsprogramme (bilate­ral, EU, Nato); Inves­titionen in die und Ko­ope­ration mit der ukrainischen Rüstungs­indust­rie; Technologiepartnerschaften, der Aus­bau der nachrichtendienstlichen Koope­ra­tion.

Bislang lief die letale Unterstützung für die Ukraine bewusst außerhalb der Nato über das Ramstein-Format und bilateral, um eine Beteiligung der Nato am Krieg zu ver­hindern. Daher sind individuell aus­gestal­tete, aber koordinierte bi- oder minilaterale Abkommen mit Mechanismen der Entschei­dungsfindung (Konsultationspflicht, vorbe­reitete Entscheidungen) eine zentrale Ergän­zung zum Nato-Pfeiler. Als Modell könnten die Zusagen dienen, die Schweden und Finn­­land in der Zeit zwischen Antrag und Bei­tritt erhalten haben, und die des Kiyv Com­pacts. Einige Alliierte erwägen, solche »Koa­li­tionen der Willigen« aufzubauen, um die Ukraine militärisch zu unterstützen und ihre Streit­kräfte von bestimmten Auf­gaben zu ent­lasten, beispielsweise im Sani­täts­bereich. Die Betei­ligung außereuropä­ischer Partner, etwa aus der G7, würde die Legi­ti­mi­tät erhöhen. Eine Anbindung der Ukra­ine an regionale europäische Formate, wie die Joint Expeditionary Force unter briti­scher Füh­rung, würde außerdem ihre Ver­anke­rung im westlichen Bünd­nis signa­lisieren. Gleich­zeitig müssen die Alli­ierten darauf achten, dass die mini­lateralen For­mate den Bünd­nis­zu­sammenhalt nicht beeinträchtigen.

Natürlich sind die personellen Ressourcen der Ukraine während des Krieges be­grenzt, zum Beispiel um an Nato-Übungen teil­zu­nehmen. Auch haben die Staaten viele Mög­lichkeiten der Unterstützung bereits aus­gereizt. Aber selbst eine mini­male Betei­li­gung der Ukraine an solchen For­maten und das Zusammenführen unter einem neuen Dach wären ein starkes Zeichen.

Zudem sollten die Alliierten die politisch-militärische Anbindung der Ukraine an die Nato mit allen Mitteln unterstützen, die unterhalb von Artikel 5 zur Verfügung ste­hen. Dazu zählen symbolische Schritte mit praktischem Nutzen: Die Alli­ier­ten könnten sie zu ausgewählten Sitzungen des Nato-Rates einladen; die geplante Aufwertung der Nato-Ukraine-Kommission in einen Nato-Ukraine-Rat würde Kyiv mehr Instru­mente geben, etwa um auf Ent­wicklungen hinzu­weisen, und den Alliierten erlauben, von der Kampferfahrung der Ukraine zu lernen.

Schließlich sollten die Alliierten die Bei­trittsperspektive auf dem bevorstehenden Gipfel mit einem Projekt und einem kon­kre­ten Arbeitsplan bis zum nächsten Nato-Gip­fel 2024 in Washington glaubwürdig unter­mauern. Ein MAP wäre zwar ein greif­barer Unterschied zum Gipfel 2008 in Buka­rest, der mit einer Beitrittszusage ohne MAP mangelnde Bereitschaft signalisierte. Noch besser wäre jedoch, aus der Logik und Sym­bolik des MAP auszubrechen, um der spe­zi­fi­schen Situation der Ukraine Rechnung zu tragen, und ein neues, auf sie zugeschnit­te­nes Programm mit eigenen Beitrittskriterien, Zeitlinien und Inhalten zu vereinbaren. Der neue Nato-Ukraine-Rat könnte die Um­setzung begleiten.

(2) Die zweite Achse zielt darauf, die Demilitarisierung Russlands voranzubringen, so­lange es an seiner aggressiven, neo­impe­rialen Politik festhält. Ziel ist dabei, Russ­lands Fähigkeit zu schwächen, die Ver­luste seiner Streitkräfte auszugleichen bzw. diese zu modernisieren. Hierfür bieten sich wei­tere Sanktionen an, die die russische Rüstungsindustrie und das Budget treffen, und der Kampf gegen Sanktionsumgehung. Auch die Weitergabe von Technologien Drit­ter an Russland muss unterbunden werden.

(3) Beim dritten Arbeitsstrang geht es um die Stärkung von Resilienz, Verteidigung und Abschreckung der EU- und der Nato-Staaten sowie um die Sicherung der lang­fristigen Unterstützung für die Ukraine. Dabei muss sich die Allianz auch auf mög­liche destabilisierende Folgen vorbereiten, die mit einer Schwächung des russischen Regimes einhergehen könnten, etwa durch eskalierende Machtkämpfe wie im Juni 2023 mit der »Wagner«-Truppe. Es ist davon aus­zugehen, dass Russland eine Zusage der Nato an die Ukraine propagandistisch als Bedrohung ausschlachten wird, zumal diese Sichtweise anschlussfähig an prorussische (und US-kritische) Diskurse in Deutschland ist. Hinzu kommt Russlands Störpotential auf dem Balkan und in Afrika. Die dauer­hafte Stärkung der Ukraine muss deshalb zwingend mit einer Stärkung der eigenen Resilienz einhergehen. Dazu gehört zum Beispiel, Sinn, Zweck und Ziele eines ukra­inischen Nato-Beitritts den eigenen Bevöl­kerungen pro­aktiv zu vermitteln, gleichzeitig Desinformation zu bekämpfen und vor­zu­gehen gegen Einrichtungen, die sich als zivil­gesellschaftliche ausgeben, aber de facto vom russischen Staat kontrolliert sind.

Ausblick auf den Nato-Gipfel

Die Forderungen der Ukraine sind nachvoll­ziehbar, aber in ihrer Gesamtheit aktuell nicht erfüllbar. Doch eine »Nichtreaktion« der Alliierten auf dem Nato-Gipfel im Juli kann in der Kriegssituation fatale Folgen haben, weil sie ein Signal der Schwä­che und des Zweifelns an die Ukraine und an Russ­land senden würde. Anstatt die Bei­tritts­frage zu vertagen, sollten die Alliierten prak­tische Zwischenschritte vorschlagen, die der Ukra­ine unmittelbar nutzen und sie im Interesse der Nato (und der EU) verlässlich absichern.

Fortschritt im Hinblick auf einen Beitritt setzt militärische Erfolge der Ukraine vor­aus; die systematische und lang­fristige militärische Unterstützung der Ukra­ine ist Vor­aus­set­­zung für alle Debat­ten im Bündnis. Je er­folgreicher sie im Krieg ist, desto realis­ti­scher wird ein Nato-Beitritt als struk­turel­ler Bei­trag zu Stabilität und Sicher­heit Euro­pas und ih­rer selbst. Sollte Vilnius zu einem Gip­fel der Unentschlossenheit wer­den, wäh­rend par­al­lel die ukrainischen Offensiven in einem möglicherweise ent­scheidenden Kriegs­jahr stattfinden, könnte Russland das als Zeichen der Schwäche des Westens und als Ermun­te­rung verstehen, den Krieg fortzusetzen.

Dr. Margarete Klein ist Leiterin der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.
Dr. Claudia Major ist Leiterin der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.

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