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Nationale Führungsstrukturen reformieren

Wie die Führungsorganisation der Bundeswehr angepasst werden kann

SWP-Aktuell 2020/A 25, 07.04.2020, 4 Seiten

doi:10.18449/2020A25

Forschungsgebiete

Die Bundeswehr besinnt sich mit der Refokussierung auf Landes- und Bündnis­vertei­digung seit 2014 wieder mehr auf ihre Kernaufgaben. Das wirkt sich auch auf die Struk­turen der Streitkräfte aus. Gegenwärtig sind diese vor allem auf Einsätze des Internationalen Krisenmanagements (IKM) ausgerichtet. Deshalb hat die Bundeswehr aktuell keine Führungsorganisation, die sowohl im Grundbetrieb, also dem normalen Dienst in Deutschland, als auch in den Einsätzen unverändert gültig ist. Diese soge­nannte prozessuale Trennung ist für die gewandelten sicherheitspolitischen An­for­derungen nicht mehr zielführend – eine Anpassung ist notwendig.

Der Geschäftsbereich des Bundesministe­riums der Verteidigung (BMVg) besteht in seinen heutigen Strukturen im Wesent­lichen seit der Neuausrichtung der Bundes­wehr, die 2010 eingeleitet wurde. Diese Reform war die weitreichendste Anpassung in ihrer Geschichte: Sie beinhal­tete unter anderem die Aussetzung der Wehr­pflicht und die Reduzierung des Um­fangs der Streit­kräfte auf maximal 185 000 aktive Sol­datinnen und Soldaten. Zudem defi­nierte sie Auslandseinsätze wie etwa in Afgha­nistan als Priorität der Planungen.

2012 sind die Grund­sätze für die Führungsorganisation der Bun­deswehr und damit ihre Grundstruktur festgelegt worden. Seit­dem sind die Inspekteure der militärischen Organisationsbereiche – Heer, Luft­waffe, Marine, Streitkräftebasis (SKB), Zent­raler Sanitätsdienst, Cyber- und Informationsraum (CIR) –, also die höch­sten mili­tä­rischen Vorgesetzten der Streit­kräfte mit ihren Stäben, nicht mehr Teil des BMVg. Das Ministerium hat damit den Zugriff auf die höchste Führungsebene der Streit­kräfte und ihre militärische Exper­tise verloren. Seit­her existieren in den militärischen Orga­ni­sa­ti­ons­bereichen sogenannte Höhere Kom­man­do­behörden, vergleichbar einer Bundes­ober­behörde, denen die Inspekteure vorstehen.

Die Annexion der Krim durch Russland und ihre Auswirkungen trafen die Bundes­wehr 2014 mitten im laufenden Anpassungs­prozess. Kollektive Verteidigung, die zwar mitgedacht wurde, aber nicht mehr struk­turbestimmend war, ist wieder in den Fokus gerückt: mit den Be­schlüssen des Nato-Gipfels 2014 und dem Weißbuch 2016.

Aller­dings waren unter anderem die Füh­rungseinrichtungen der Teilstreitkräfte, die vor diesem Hintergrund an Bedeutung ge­won­nen hätten, bereits aufgelöst. Außer­dem waren die neuen Kommandobehörden der Inspekteure nicht mehr genuin mili­tä­risch, sondern prozess­orientiert aufgestellt worden. Das heißt im Kern, sie sollten sich in Gliederung und Arbeitsweise an den Ab­läufen des Ministeriums orientieren und nicht an den Nato-weit gängigen militärischen Stabsstrukturen. Dies wird den Be­din­gungen der Einsätze zwar gerecht, schränkt die Befähigung zur natio­nalen Planung und Führung von Operationen aber ein.

Neuer Bedarf an nationaler Operationsführung

Die Bundeswehr verfügt aktuell über keine ständige Struktur, die Führung in allen Szenarien, Intensitäten und Rechtszuständen (Spannungs- und Verteidigungsfall) abbil­det. Zwar gibt es mit dem Einsatz­führungs­kommando eine Dienststelle, die aus­schließ­lich zur Truppenführung im Einsatz vor­gesehen ist, etwa in Mali. Es ist aber gerade keine zentrale nationale Füh­rungs­einrich­tung, weil ihm nur für die Ein­sätze Kräfte unterstehen; die Operations­führung im Einsatz hingegen übernehmen regel­mäßig multinationale Hauptquartiere, beispielsweise die Joint Force Commands (JFCs) der Nato. Für Einsätze im IKM hat sich diese Architektur durchaus bewährt. Die Anfor­derungen der Bündnisverteidigung weichen davon jedoch ab:

Erstens ist der Zeithorizont für Planung und Entscheidung viel kürzer als bei Aus­lands­einsätzen. Ein Unterstellungswechsel, also dass die Trup­pen erst zusammen­gestellt und unter einheitliches Kommando ge­bracht werden müssen wie bei den Aus­lands­einsätzen, brächte einen operativen Nachteil mit sich: durch den Zeitaufwand und den Bruch der Befehlsketten.

Zweitens kommt Deutschland auf­grund seiner geostrategischen Lage die Rolle der Drehscheibe für den Einsatz der Nato zu. Das bedeutet, das Bundesgebiet würde im­plizit auch zum Operationsgebiet. Deutschland müsste seinen Anteil der Nato-Streit­macht mobilisieren und ins Einsatzgebiet bringen. Parallel müsste es Verstärkungskräfte der Nato aufnehmen, versorgen und dabei helfen, sie durch das deutsche Staats­gebiet schnellstmöglich in den Einsatz­raum zu verlegen.

Das wäre im Krisenfall nicht nur eine logis­tische Herausforderung, sondern eine äußerst komplexe, mitunter risikobehaftete mili­tärische Operation – denn diese Ein­heiten wären für die Gegenseite legitime Ziele. Die Bundeswehr wäre für die takti­sche Füh­rung der Marschkolonnen und deren Siche­rung verantwortlich. Des Weite­ren würde der deutsche Anteil der Nato-Luft­streit­kräfte wohl aus Deutschland heraus operieren, bedingt durch die räumliche Nähe des poten­ziellen Einsatzraums und weil in diesem nur eine begrenzte Anzahl geeigneter Flug­plätze vorhanden ist. Die Luft­waffe muss hierzu den natio­nalen Luft­raum kon­t­rollieren und gegen militärische Bedro­hungen sichern können. Zudem sind all diese Aspekte mit den Nato-Stäben und den zivilen Behörden zu synchronisieren.

Notwendig sind dafür auf militärischer Seite Führungseinrichtungen, die zweierlei leisten: Zum einen müssen sie die natio­nale Befehlsgewalt durchhaltefähig und ohne Unter­stellungswechsel aus der Grund­struktur heraus wahrnehmen. Zum anderen müssen sie sie mit eigenen Planungskapazitäten auf den verschiedenen Ebenen in die Nato-Ope­ra­tionsführung einbetten können.

Eingeleitete Anpassungen im Bereich der Streitkräfte

Vor diesem Hintergrund ist die Initiative der Inspekteure des Heeres und der Luft­waffe zu verstehen. Sie haben im Februar an­ge­kündigt, wieder nationale Führungseinrichtungen in die Strukturen ihrer Orga­nisa­tions­bereiche zu integrieren. Dadurch ge­win­nen die Inspekteure die Fähigkeit, den Einsatz ihrer Truppen selbst planen und führen zu können. Aus den heutigen Struk­turen ihrer Kommandos heraus ist dies nicht ohne weiteres möglich, weil unter anderem angemessene Führungs- und Kontrolleinrichtungen fehlen. Außerdem passt die mi­nisteriell anmutende Referatsstruktur der Kommandos nicht zur militä­rischen Glie­de­rungsart der ihr unterstellten Verbände. Es liegt also ein Schnittstellenproblem vor.

Die nun be­schlossenen Schritte der Luft­waffe und des Heeres eignen sich, diese Mängel zu beheben und so die Ein­satz­bereit­schaft der Streitkräfte zu erhöhen. Sinnvoll erscheint, diese Führungselemente als rein operative Kommandos aufzustellen und nicht als zusätzliche Ebene in die vor­handenen Strukturen zu übernehmen. Letz­teres könnte dazu führen, die bestehende büro­kratische Überorganisation zu ver­stär­ken, die der Wehrbeauftragte schon mehr­fach angemahnt hat. Grund dafür wären die um­fang­reichen Aufgaben, die mit der soge­nannten truppendienstlichen Zuständig­keit einhergehen. Zum Beispiel wären auch Personalmanage­ment, Materialbewirtschaftung und Ausbildungs­planung in all ihren Facetten für den Grund­betrieb zu leisten. Eine Fokussierung auf rein opera­tive Tätig­keiten würde so konterkariert.

Notwendige Veränderungen im Ministerium

Nicht nur die Führungsorganisation der Streitkräfte muss angepasst werden: Auch das BMVg selbst verfügt derzeit noch nicht über eine Einrichtung, die es durchgängig ermöglicht, die Bundeswehr in allen Lagen zu führen. Eines der Ziele der Neuausrichtung von 2010 bestand darin, die Zahl der Stellen im Ministerium von 3 500 auf 2 000 zu redu­zieren und es in neun Abteilungen neu zu strukturieren. Gleichzeitig ist der Generalinspekteur (GenInsp) höchster mili­tärischer Vorgesetzter und Angehöriger der Leitung des BMVg geworden. Organisations­elemente wie der Planungsstab und der Einsatz­führungsstab sind indes auf­gelöst und deren Aufgaben auf unterschiedliche Bereiche im Haus verteilt worden.

Damit kann weder der GenInsp noch der Verteidigungsminister als Inhaber der Be­fehls- und Kommandogewalt (IBuK) auf eine zentrale Führungs- und Steuerungs­einrich­tung zurückgreifen, die über den normalen ministeriellen Arbeitsabläufen steht. Zwi­schen­zeitlich ist die Anzahl der Abteilungen auf zehn, die der Mitarbeiter auf 2 500 gestie­gen; Füh­rungs­einrichtungen für den GenInsp und die Ministerin, die über den Anspruch eines Lagezentrums hinausgehen, sind jedoch nicht geschaffen worden.

Dies wiegt für das BMVg besonders schwer, bedenkt man die Rolle des IBuK: Im Frieden, das heißt für den Inlands­betrieb und für die Einsätze, liegt die Befehls- und Kommandogewalt bei der Ministerin. Mit der Feststellung des Vertei­digungsfalles geht sie auf die Bundeskanzlerin über. Not­wendig ist also ein Element, das unabhängig von Lage und Rechts­zustand fähig ist, den IBuK und nicht nur den Verteidigungs­minister auf strate­gischer Ebene zu beraten und Füh­rung zu ermöglichen.

Mit den komplexen ministeriellen Strukturen ist dieser Rol­lenwechsel nicht zu bewerk­stelligen. Zweck­mäßig erscheint ein mi­litä­risch gegliederter Stab, der dem GenInsp im BMVg als stra­tegisches Füh­rungselement unterstellt ist und aus den zur­zeit existierenden Abteilungen des Mi­nis­teriums gebildet wird. Ein so zusammen­gesetztes Element wäre zudem die Schnitt­stelle zur strategischen Führungsebene der Nato und könnte im Verteidigungsfall naht­los der Bundeskanzlerin unterstellt werden.

Gesamtstrukturen verschlanken und Schnittstellen anpassen

Eine Veränderung der Führungsorganisation der Bundeswehr kann langfristig nur erfolg­reich sein, wenn auch die bestehende Binnengliederung reformiert wird. Der Ge­schäftsbereich des BMVg gliedert sich in sogenannte Organisationsbereiche; neben den sechs militärischen zählt die Bundeswehr fünf zivile: Ausrüstung, Informationstechnik und Nut­zung (AIN), Infrastruktur, Umweltschutz und Dienstleistungen (IUD), Personal, Rechts­pflege, Militärseelsorge. Plakativ ausgedrückt hat die Bun­deswehr damit mehr als doppelt so viele Organisa­tions­bereiche wie Panzerbataillone.

Hinzu kommen sechs Einzeldienststellen, die aufgrund ihrer besonderen Bedeu­tung außerhalb dieser Strukturen stehen und dem GenInsp direkt unterstellt sind, zum Beispiel das Einsatzführungskommando und die Führungsakademie der Bundes­wehr. Jeder Organisationsbereich genießt weitreichende Regelungsbefugnisse, die teilweise über den eigenen Bereich hinaus­gehen und in die anderen hineinwirken.

Das daraus entstehende Kompetenz- und Bürokratiegeflecht ist äußerst komplex und läuft erst auf der Ebene der Leitung des Minis­teriums zusammen. Dieser Zustand fällt vor allem dann ins Gewicht, wenn Auf­gaben nur im Verbund von militärischen und zivilen Anteilen der Bundeswehr und unter Zeitdruck zu bewältigen sind – wie im Fall der Landes- und Bündnisverteidigung. Im Vergleich mit anderen Nato-Staa­ten findet sich keine andere Armee, die so diversifiziert auf­gestellt ist und der den­noch das zentrale Füh­rungselement fehlt, das unterhalb der ministeriellen Ebene Führungsaufgaben wahrnehmen könnte.

Eine Anpassung der Führungsorganisa­tion darf daher erstens nicht nur auf die Streitkräfte beschränkt bleiben, sondern muss auch die zivilen Organisations­bereiche analysieren. Zweitens ist eine strukturelle Reform nötig: Die heute existie­renden militärischen Organisationsbereiche sollten nicht als gegeben hin­genommen und nur punktuell um Füh­rungs­einrich­tungen er­gänzt werden. Davon unabhängig erscheint es drittens zielführend, ein Füh­rungskommando auf opera­tiver Ebene zu schaffen. Ihm wären die Streitkräfte im Grundbetrieb unter­stellt sowie die für den Einsatz erfor­derlichen Teile der Verwaltung.

Es wird nicht gelingen, die neuen Herausforderungen durch eine Renaissance der Strukturen des Kalten Krieges zu meistern. Die deutschen Streitkräfte wären im Vertei­digungsfall immer durch Nato-Elemente geführt worden. Aber auch die Nato hat sich einem Strukturwandel unterzogen. Die Kom­petenzen des Supreme Allied Com­man­der Europe sind seit 1990 begrenzt, zusätz­lich politische Genehmigungsverfahren ein­geführt worden. Eine nahtlose Übernahme der Führungsverantwortung durch die Nato ist kein alltägliches, weil regelmäßig ge­übtes Verfahren mehr. Verlässliche natio­nale Strukturen können diese Lücke über­brücken und zur Abschreckung beitragen.

Mögliche Roadmap und Handlungsempfehlungen

Kurzfristig ist es sinnvoll, die vorhandenen Struk­turen so umzugliedern, dass auf Ebene der Inspekteure Führungseinrichtungen mit militä­rischer Glie­de­rung ent­stehen, im Hin­blick auf die Inter­operabilität mit Nato-Einrichtungen in den dort üblichen Struk­tu­ren. Damit würde die bisherige prozess­orientierte Gliederung auf­gebrochen.

Mittel- bis langfristig muss die Gesamt­struktur des Geschäfts­bereichs des BMVg ver­ändert werden. Dies bedeutet eine Redu­zie­rung und Neukonzeption der militärischen und zivilen Organisations­bereiche. Deren Anzahl von zurzeit elf ist im Verhält­nis zur Gesamt­stärke der Bundes­wehr zu hoch. Dar­über hinaus wäre mittelfristig ein Führungs­kommando für die Streitkräfte ober­halb der Organisationsbereiche wich­tig und ange­zeigt, ferner die Einrichtung eines militärischen Füh­rungsstabes auf ministerieller Ebene. Die Bundeswehr ge­wönne dadurch auf allen Ebenen an Handlungs­fähigkeit und näherte sich den inter­natio­nal gängi­gen Strukturen an, was Inter­operabilität verbessern würde.

Die Refokussierung auf Landes- und Bünd­nisverteidigung ist mehr als eine weitere Streitkräftereform, vielmehr eine gravieren­de Änderung in der strategischen Ausrichtung der Bundeswehr. Dafür muss diese als Ganzes an­ge­passt werden. Eine sol­che Strukturreform wäre eine richtungsweisende Weichenstellung in der strategischen Frage, wie eigen­ständig hand­lungs­fähig die Bundes­wehr sein soll. Darin liegt die besondere sicher­heits­politische Dimen­sion der Thema­tik. Diesen Prozess gilt es poli­tisch aktiv zu gestalten und über viele Jahre konsequent zu verfolgen.

Dominic Vogel ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020

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