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Angriff auf den Open-Skies-Vertrag

Präsident Trump will den Vertrag über den Offenen Himmel kündigen

SWP-Aktuell 2020/A 38, 20.05.2020, 8 Seiten

doi:10.18449/2020A38

Forschungsgebiete

Die Wahrscheinlichkeit steigt, dass die USA den multilateralen Vertrag über den Offenen Himmel (OH) verlassen werden und Russland bald folgen könnte. Damit würde Präsident Trump den Rückzug der USA aus der regelbasierten Sicherheits­ordnung fortsetzen und eine weitere Bresche in die Rüstungskontrollarchitektur schlagen. Deren kontinuierlicher Abbau, ein neuer Rüstungswettlauf sowie die Rück­kehr bewaff­neter Konflikte und von Szenarien nuklearer Kriegsführung gefährden die europäische Sicherheits­ordnung und die strategische Stabilität. Der OH-Vertrag gestattet kooperative Beobachtungsflüge über den Territorien der Vertragsstaaten. Damit lässt sich ein Mindestmaß an militärischer Transparenz und Vertrauensbildung auch in Krisenzeiten bewahren. Dies kann nicht durch nationale Satellitenaufklärung ersetzt werden, zumal sie nur wenigen Staaten zur Verfügung steht. Eigenständige Beobachtungsoptionen sind gerade für Bündnispartner in Spannungsregionen wichtig. Deutsch­land muss sich gemeinsam mit den europäischen Partnern nachdrücklich dafür einsetzen, den OH-Vertrag zu erhalten.

Im Oktober 2019 erklärte Präsident Trump öffentlich seine Absicht, den Vertrag über den Offenen Himmel (Open Skies) zu kündi­gen. Die Nato wurde im November offiziell über dieses Vorhaben informiert. Der OH-Vertrag, so das Weiße Haus, habe keinen stra­tegischen Nutzen mehr für die USA, da sie bessere Beobachtungsergebnisse mit Satelliten erzielen könnten. Zudem arg­wöh­n­en republikanische Senatoren seit lan­gem, dass Russland OH-Beobachtungs­flü­ge über den USA zur »Spionage« nutze. Der de­mo­kratisch dominierte Kongress will jedoch über eine Kündigung mitbestimmen.

Laut Verteidigungsminister Mark Esper können die USA nicht länger hinnehmen, dass Russland den Ver­trag nicht angemessen implementiert. Es habe unzulässigerweise die Flugstrecken über der Exklave Kalinin­grad eingeschränkt und einen zehn Kilo­meter breiten Streifen an den umstrittenen Grenzen Georgiens festgelegt, der nicht über­flogen werden darf. Hintergrund ist der Konflikt um Abchasien und Südossetien.

Zwar teilen auch die Nato-Verbündeten diese Bedenken, doch hat nur Georgien erklärt, es handle sich um einen substantiellen Vertragsbruch. 2012 hat Tiflis deshalb den OH-Ver­trag gegenüber Russ­land ein­seitig suspendiert. Die USA haben russische OH-Flüge über Alaska und den pazi­fischen Inseln seit 2017 eingeschränkt.

Zweck und Regeln des OH‑Vertrags

Der OH-Vertrag erlaubt kooperative Beob­achtungsflüge über den Territorien der Vertragsstaaten im OSZE-Raum zwischen Vancouver und Wladiwostok. Er dient der Trans­parenz militärischer Aktivitäten auch in Krisenzeiten und der zusätzlichen Veri­fika­tion von Rüstungskontrollverein­barungen. Damit trägt er – auch durch unmittel­bare militärische Kontakte – zur Vertrauensbildung und zu einer realistischen Lage­beurteilung bei.

Der Vertrag wurde 1992 unterzeichnet und zehn Jahre lang vorläufig angewen­det. Er trat 2002 in Kraft, als 26 von 27 Signa­tar­staaten die Ratifikationsverfahren abgeschlossen hatten, unter ihnen auch Russ­land, nachdem Wladimir Putin Präsident geworden war. Zu den derzeit 34 Vertragsstaaten zählen fast alle Nato-Staa­ten (außer Albanien, Montenegro und Nordmazedo­nien), die EU-Staaten Finnland und Schwe­den sowie Russland, Belarus, die Ukrai­ne, Bosnien-Herzegowina und Georgien.

Die Zahl der zulässigen Beobachtungsflüge richtet sich nach einem Quotensystem, das die Größe der Staaten berücksichtigt. Über den USA und Russland, das mit Bela­rus eine Vertragsunion bildet, sind jeweils 42 Beobachtungsflüge pro Jahr mög­lich, über Deutschland, Frankreich, Groß­britan­nien, Italien, Kanada, Ukraine und Türkei jeweils 12. Für die übrigen Staaten gelten abgestufte Regelungen bis zu nur zwei Flügen für kleinere Staaten wie Portugal.

Kein Vertragsstaat darf mehr Beobachtungsflüge durchführen, als seine »passive« Quote es anderen erlaubt, über dem eige­nen Gebiet zu fliegen. Zudem darf jeder Ver­tragsstaat nur 50% seiner aktiven Quote für Flüge über einem anderen Vertragsstaat verwenden. Daher können die USA und Russ­land jeweils maximal 21 Beobachtungs­flüge pro Jahr für gegenseitige Über­flüge nutzen. Dennoch kann die passive Quote von 42 Flügen über Russland voll aus­ge­schöpft werden, da es regelmäßig auch von Flugzeugen der Nato-Partner sowie Finn­lands, Schwedens und der Ukraine über­quert wird. Dagegen finden weitaus weni­ger OH-Flüge über den USA statt, da die Verbündeten sich nicht gegenseitig verifi­zieren.

Der OH-Vertrag gestattet es, für Beobachtungsflüge bestimmte Sensoren zu nutzen, die eine festgelegte Bildauflösung aus einer Bandbreite von Flughöhen nicht überschrei­ten dürfen. Für analoge und digitale Bild- und Panoramakameras sowie Videokameras mit Echtzeitwiedergabe ist jeweils eine Auf­lösung von bis zu 30 cm zulässig. Dies ent­spricht der Auflösung der besten kom­mer­ziellen Satellitenbilder. Die Zertifi­zierung digitaler Kameras hat begonnen. Für die Zukunft sieht der Vertrag auch nachtsichtfähige Infrarotkameras mit einer Auf­lösung von 50 cm und seitwärts gerichtete Radar­systeme (Synthetic Aperture Radar) mit einer Auf­lösung von drei Metern vor. Solche Systeme sind aber noch nicht eingeführt.

Nicht alle Vertragsstaaten verfügen über eigene OH-Beobachtungsflugzeuge oder eigene Sensoren. In der sogenannten Pod-Gruppe verwenden neun Staaten gemeinsam eine Luftbildkameraausrüstung. Zu­dem lässt der Vertrag es zu, Flugzeuge von Dritt­staaten oder des beobachteten Staates zu nutzen, die für Beobachtungsflüge zerti­fi­ziert wurden. Deutschland musste diese Optionen nach dem Absturz des nationalen OH-Flugzeugs 1997 in Anspruch nehmen.

Ein neues deutsches OH-Flugzeug (Airbus 319) wurde 2017 beschafft und dürfte Mitte 2021 für den Einsatz zur Verfügung stehen. Damit wird Deutschland für den Fall einer Krise mehr Flexi­bilität gewinnen, Beobachtungsflüge rasch und ohne langwierige Ko­ordinierung mit Partnern zu organisieren. Gleich­wohl bleibt das Angebot der Koopera­tion mit anderen interessierten Staaten erhalten, sei es durch die Anmietung des deutschen Flugzeugs oder die be­währ­ten Mitflüge von »Gastbeobachtern«.

OH-Beobachtungsflüge werden nach kurzer Ankündigung gestartet. Die Absicht dazu muss der beobachtende dem beobachteten Staat mindestens 72 Stunden im Vor­aus mitteilen. Allerdings wird ihm die Aus­wahl der Flug­strecke erst zur Kennt­nis ge­geben, nachdem die Beobachter am ver­trag­lich festgelegten Ankunfts­ort im beobachteten Staat einge­troffen sind.

Nach Bekanntgabe der Flugstrecke erfolgt ein Abstimmungsprozess, der nicht länger als acht Stunden dauern darf. Der beob­ach­tete Staat darf die geplante Strecke nur im Falle höherer Gewalt verändern oder wenn die Flugsicherheit dies unabweisbar erfor­dert. 24 Stunden nach Vorlage des Flug­plans kann der Beobachtungsflug begonnen, spä­testens 96 Stunden danach muss er ab­ge­schlossen wer­den. Dies beschränkt die Mög­lichkeiten des beobachteten Staates, wesent­liche Veränderungen am Boden vor­zuneh­men, etwa größere Truppenverlegungen.

OH-Beobachtungsflüge sind daher auch flexibler als Satelliten, denn deren Energie­reserven sind begrenzt und erlauben nur wenige Veränderungen der festgelegten Umlaufbahnen. Dagegen kön­nen OH-Flüge kurzfristig und lageangemessen über einem Gebiet nach Wahl des beob­achtenden Staa­tes erfolgen. Die Beobachtung im vereinbarten Höhenspektrum ist auch unterhalb einer Wolkendecke mög­lich, welche die optische Satellitenbeobachtung behindert.

Transparenz ist nicht Spionage

Im November 2019 erklärte ein höherer Beamter der Trump-Administration, Russ­land nutze den OH-Vertrag zur Spionage. 2017 habe es Flüge über Washington durch­geführt und unerlaubt kritische militärische und politische Infrastruktur beobachtet. Das schien frühere Vorwürfe republikanischer Senatoren zu bestätigen.

Doch der Spionagevorwurf geht ins Leere. Beobachtungsflüge werden nicht nur ko­ope­rativ vereinbart, sondern finden auch ge­meinsam statt. Neben den Beobachtungsteams sind stets Be­gleitteams des beobachteten Staates an Bord. Sie über­wachen, dass die Vertrags­bestimmungen eingehalten wer­den. OH-Flug­zeuge, Kame­ras und Sensoren werden nur dann zugelas­sen, wenn sie von den Ver­trags­staaten zerti­fiziert und vor den Flügen vom Begleitteam überprüft wurden.

Die Auflösung der Sensoren reicht aus, um Raketentypen, Kampfpanzer, Schützen­panzer, andere gepanzerte Kampffahrzeuge, Artilleriesysteme, Flugzeug- oder Hub­schraubertypen voneinander zu unterschei­den. Sensible Informatio­nen über Funk- und Radaremissionen oder die Soft­ware von Zielerfassungs- und Leit­systemen können dagegen nicht detektiert werden.

Neben Staaten, die an einem Beob­ach­tungsflug teilnehmen, erhalten auch alle anderen Vertragsstaaten den Missions­bericht. Zudem können sie die gewonnenen Bild­sequenzen auf Anforderung erwerben. Damit werden die Ergebnisse der Beobachtungsflüge mit 34 Staaten geteilt und die Erkenntnisse über militärische Aktivitäten und die Implementierung von Rüstungs­kontrollabkommen multilateralisiert. Dieses Wissen sollte allerdings auch bei den Dis­kussionen über die Risikoreduzierung im Forum für Sicherheitskooperation der OSZE in Wien mehr Beachtung finden. Anders als bei der Kommunikation national ermittelter Daten unter­liegen Erkenntnisse aus OH-Beob­achtungsflügen nämlich nicht der vor­he­rigen politischen Auswahl und Bewertung. Dass es sich um gemeinsam erhobene Daten handelt, deren faktische Grundlage nicht bestritten werden kann, ist einer der wichtigsten Vorteile des Vertrags.

Der Vorwurf der Spionage ist ein Rückfall in die Sprache des Kalten Krieges. Damals war es der Westen, der die Sowjet­union von der vertrauensbildenden Wir­kung militärischer Transparenz überzeugen musste. Diese Auffassung ist mittlerweile in Europa Allgemeingut und Grundlage aller Rüstungskontrollverträge.

Bewährte Vertragsanwendung

Seit der OH-Vertrag in Kraft trat, haben die Vertragsstaaten etwa 1 500 Beobachtungsflüge unternommen, davon rund 500 über Russland und Belarus mit Betei­ligung von etwa 200 Missionen der USA. Dagegen hat Russland über den USA zwi­schen 2002 und 2016 nur ungefähr 70 Flüge durchgeführt und die Masse seiner Flugquoten für euro­päische Länder genutzt. Einseitige Vorteile Russ­lands gegen­über den USA sind daraus nicht abzuleiten.

Die Beobachtungsflüge erfolgten in der Regel ohne größere Probleme und trugen wesentlich dazu bei, objektive Erkenntnisse über die Lage in den überflogenen Gebieten zu gewinnen. Im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise und den militärpolitischen Spannungen im baltisch-russischen Grenz­raum haben westliche Staaten ihre Beob­ach­tungsflüge regional verdichtet. Allein zwischen März und Juli 2014 unternahmen sie 22 Flüge über Westrussland und der Ukraine. Im Dezember 2018 wurde nach der Eskalation in der Meerenge von Kertsch eine Beobachtungsmission geflogen, um die Lage in dem Span­nungsgebiet festzustellen.

Allerdings haben politische Spannungen die jährliche Abstimmung der Flugquotenverteilung in der OH-Beratungskommission (OSCC) belastet und mitunter eine Einigung verhindert. Wegen des russisch-georgischen Territorialkonflikts waren 2018 keine Beob­achtungsflüge möglich. Ein grie­chisch-türki­scher Streit über Zyperns Beitritt zum Ver­trag hat seit dessen Inkrafttreten immer wieder die einvernehmliche Verabschiedung der OSCC-Agenda in Frage gestellt.

Anfang 2016 verweigerte Ankara einen russischen Beobachtungsflug im türkischen Grenzgebiet zu Syrien. Im September 2018 verzögerten die USA die Zertifizierung rus­sischer Digitalkameras. Russland lehnte im September 2019 ein Segment eines geplan­ten US-kanadischen Beobachtungsfluges über einem Gebiet in Zentralsibirien ab, in dem die Großübung Tsentr stattfand. Zudem schränken die USA seit 2017 russische Flüge über Alas­ka und den pazifischen Inseln ein.

Doch gelang es auch, strittige Fragen ein­vernehmlich zu klären. So hat Russland die Mindestflughöhe über Tschetschenien 2016 aufgehoben. Generell wurde der Ver­trag seit 2002 regelkonform umgesetzt.

Georgisch-russischer Konflikt

2012 suspendierte Georgien den OH-Vertrag gegenüber Russland und ließ keine russi­schen Beobachtungsflüge mehr zu. Moskau hatte 2008 Georgiens abtrünnige Gebiete Abchasien und Südossetien als unabhängige Staaten anerkannt und wandte seit 2010 die Vertragsregel an, bei OH-Beobachtungs­flügen einen Abstand von 10 km zur Grenze von Nichtvertragsstaaten einzuhalten. Das stieß auch bei westlichen Staaten auf Kritik. Doch erst im Herbst 2017 scheiterte eine Quotenabstimmung für das Folgejahr, als Moskau nicht mehr bereit war, die Blockade russischer Beobachtungsflüge über Georgien hinzunehmen. Als Folge fanden 2018 – mit Ausnahme der Kertsch-Mission – keine Beobachtungs­flüge statt.

Erst als Moskau in der Flugquotenabstim­mung für 2019 einlenkte, konnten die Flüge wiederaufgenommen werden. Bereinigt ist das Problem damit aber nicht. Da sich Washington an einer Lösung nicht inter­essiert zeigt und auch Moskau wenig Initia­tive erkennen lässt, bliebe wohl den Euro­päern und besonders Deutschland die Ver­mittler­rolle, zumal die Flugquotenabstim­mung unter deutschem Vorsitz erfolgt.

Der Konflikt ließe sich pragmatisch lösen, wenn Moskau daran festhielte, die Abstands­zone de facto nicht mehr anzuwenden, während westliche Staaten signalisierten, keine Flüge in dieser Zone zu planen. Da die Sen­soren äußerst leistungsfähig sind, ist die 10-km-Zone für die Erkenntnis­gewinnung nur von geringer Bedeutung.

Ein Kompromiss wäre denkbar, wenn Tiflis und Moskau auf Maximalpositionen verzichteten, ein westlicher Vertragsstaat wie Deutschland es russischen Gastinspektoren gestattete, an einer nationalen Mis­sion über Georgien teilzunehmen, und Tiflis dies nicht verhinderte. Gleichzeitig müsste klargestellt werden, dass Kompromisslösungen »statusneutral« wären, also die Grundsatzpositionen der Vertragsstaaten in puncto (Nicht-) Anerkennung der Unabhängigkeit Abchasiens und Süd­osse­tiens nicht berührten.

Flugbegrenzung über Kaliningrad

Auch die russische Begrenzung der Flug­strecken über der Exklave Kaliningrad ließe sich pragmatisch beenden. Grund für die Einschränkung war ein polnischer OH-Flug, der 2014 über dem nur 15 000 km² großen Gebiet mehrere Stun­den lang dauerte. Des­halb musste der lokale Luftraum für andere Flüge gesperrt werden. Polen nutzte dabei die Vertragsregeln in vollem Umfang aus, die für das gesamte westliche Russland vom OH-Flugplatz Kubinka aus eine maximale Flugstrecke von 5 000 km erlauben. Für Kali­ningrad sieht der Vertrag keine eigene Flug­streckenbegrenzung vor. Um eine Wiederholung zu ver­meiden, erklärte Russ­land da­raufhin eigens ein Strecken­limit von 500 km für Flüge über diesem Gebiet, die am Flug­platz Kaliningrad gestartet werden sollten.

Grundsätzlich berücksichtigt der OH-Vertrag bei der Festlegung maximaler Flug­strecken die Größe der überflogenen Gebie­te. Über den dänischen Färöer-Inseln zum Beispiel gelten Begrenzungen von 250 km, über Tschechien 600 km, über Deutschland 1 200 km, über Alaska 3 000 km und über dem asiatischen Teil Russlands 6 500 km.

Die einseitige russische Flugstrecken­begrenzung über Kaliningrad verhindert es nicht, den Vertragszweck zu erfüllen, denn Beobachtungsflüge über der Exklave blei­ben in ausreichendem Umfang möglich. Eine essentielle Einschränkung der Ver­trags­implementierung (material breach) liegt dem­nach nicht vor. Unilaterale Regeländerungen lässt der OH-Ver­trag aber nicht zu. Alle Modifikationen der Vertragsbestim­mungen müssen kooperativ vereinbart werden.

Dies kann durch Konsultationen in der OSCC vorbereitet und in der bevorstehenden Konferenz zur Überprüfung des OH-Ver­trags verhandelt werden. Sie wird wegen der Corona-Krise wohl erst im Herbst 2020 stattfinden. Aufgrund des Desinteresses der USA und der Passivität Moskaus käme die Aufgabe der Vermittlung wohl wieder auf die Europäer zu, vor allem auf Deutschland und Frankreich. In Großbritannien könnte sich – trotz der Kritik bri­tischer Experten am Kurs von Präsident Trump – das länger­fristige strategische Interesse durchsetzen, sich nicht gegen die USA zu positionieren.

Ein Kompromiss könnte darin bestehen, einen neuen OH-Flugplatz Kaliningrad zuzulassen und sich auf eine Flugstrecken­begrenzung zu einigen, die von der ein­seiti­gen russischen Festlegung etwas abwei­chen kann, aber den lokalen Luftraum nicht über­lastet. Alternativ könnte auch St. Petersburg als Standort eines neuen OH-Flugplatzes mit einer angemessenen Flugstrecken­begrenzung ins Spiel gebracht werden, die Moskau selbst vor­schlagen könnte.

Begründung einer Vertrags­kündigung durch die USA

Washington hat auf das russische Streckenlimit über Kaliningrad rea­giert, indem es russische Flüge über und von Alaska aus so begrenzt, dass Russlands Flugzeuge Hawaii und die anderen pazifischen Inseln nicht mehr überfliegen können. Die Lage hat sich bisher nicht ver­schärft. Für eine Vertragskündigung ist daher kein aus­reichender Grund erkennbar. Vielmehr scheint es sich um eine grund­sätzliche Entscheidung der Trump-Administration zu handeln, mit der sie erneut ihr wachsendes Misstrauen gegen­­über multilateralen Vereinbarungen zum Ausdruck bringt.

Die Absicht, aus dem Vertrag auszuschei­den, hat der Vertreter der USA den Nato-Partnern in Brüssel Mitte November 2019 zur Kenntnis gebracht. Im republikanischen Lager des Senats gibt es Stimmen, die seit langem für den Austritt wer­ben, unter ihnen vor allem die Senatoren Ted Cruz und Tom Cotton. Sie haben Ende Oktober 2019 eine Resolution mit dem Ziel eingebracht, den Vertrag zu kündigen. Da­hinter stehen Argu­mente wie die strategische Benachteiligung der USA und die Bedrohung der nationalen Sicherheit durch russische Spionage.

Beide Vorwürfe entbehren der faktischen Grundlage. Seit 2002 haben die USA über Russland dreimal so viele Beobachtungs­flüge unternommen wie umgekehrt Russ­land über den USA. 2019 waren es 18 US-Flüge über Russland und sieben russische über den USA. Laut OSCC-Abstimmung bleibt 2020 die Zahl russischer Flüge gleich, die USA wird jedoch die maximale Quote von 21 Flügen über Russland ausschöpfen.

Will Russland über dem Gebiet der USA Beobachtungsflüge unternehmen, muss es diese 72 Stunden vorher ankün­digen; die Flugstrecken müssen vereinbart und geneh­migt werden. Ob die verwendeten Sensoren zulässig sind, wird durch einen Zertifizierungsprozess bestätigt, an dem US-Exper­ten maßgeblichen Anteil haben. Vor den Flü­gen prüfen US-Inspektoren die Sensoren der russischen OH-Flugzeuge. Während der Flüge sind immer US-Begleit­teams an Bord, die darüber wachen, dass die Vertragsregeln und die vereinbarten Flugprofile eingehalten werden.

Auch das Argument, die OH-Luftbilder seien den nationalen Satellitenbildern qua­litativ unterlegen, ist nicht stichhaltig, da für den Zweck des OH-Ver­trags irrelevant. Hier geht es nämlich um kooperativ gewon­nene Erkennt­nisse, deren faktische Grund­lagen in der politischen Diskussion nicht bestrit­ten oder manipuliert werden können, und die somit zur Vertrauens­bildung bei­tragen. Vor allem wird in dieser Argumentation das Interesse derjenigen Vertrags­staaten igno­riert, die in Spannungs- und Konfliktregionen auf eigenständige und objektive Erkenntnisse angewiesen sind und nicht über eine natio­nale Satellitenaufklärung verfügen.

Zeitpunkt einer Vertrags­kündigung durch die USA

Der OH-Vertrag wurde für unbegrenzte Zeit geschlossen, doch die USA können ihn jederzeit bei den Depositarstaaten Kanada und Ungarn sowie allen anderen Vertragsstaaten kündigen. Obwohl die USA nicht ver­pflichtet sind, Kündigungsgründe vorzu­bringen, werden sie geltend machen, dass eine weitere Implementierung des OH-Ver­trags mit wesentlichen nationalen Sicherheitsinteressen nicht mehr vereinbar ist, und darauf verweisen, dass Russland den Vertrag nicht angemessen umsetzt.

Nachdem die Depositarstaaten die Kündigungsnotifikation erhalten haben, müs­sen sie innerhalb von 30 bis 60 Tagen eine Konferenz der Vertragsstaaten einberufen. Dort würden die Folgen des Austritts der USA aus dem Vertrag erörtert, der sechs Monate nach der Kündigung rechtswirksam wird.

Jedoch gestattet das Wiener Übereinkom­men über das Recht der Verträge, die Ver­tragsimplementierung schon vor dem Ende der Kündigungsfrist zu suspendieren. Voraussetzung dafür wäre eine erhebliche Vertragsverletzung, die es nicht mehr zu­lässt, den Vertragszweck zu erfüllen. Daher haben die USA die Implementierung des INF-Vertrags am Tage seiner Kündigung suspendiert. Was den OH-Vertrag betrifft, könnte Washington ähnlich vorgehen. Doch dürfte schwer nachzuweisen sein, dass die Erfüllung der Vertragsziele gravie­rend beeinträchtigt ist.

Wann die USA kündigen können, hängt aber auch von den komplexen Regeln der US-Verfassung ab. Sie sind zwischen dem Weißen Haus und dem Kongress umstritten. Klar ist, dass die völkerrechtliche Bin­dung der USA an einen internationalen Vertrag erst dann eintritt, wenn der Senat ihn ratifiziert hat. Die Regeln für das Aus­scheiden der USA aus solchen Verträgen sind weit weniger präzise gefasst. Traditionell nimmt der Präsident dieses Recht für sich in Anspruch, während der Kongress auf seine Mitwirkung pocht. Der demokratische Vorsitzende des Aus­wärtigen Aus­schusses des US-Repräsentan­tenhauses, Eliot L. Engel, hat schon im Oktober 2019 in einem Brief an den Sicherheitsberater des Präsidenten, Robert C. O’Brien, vor einem Austritt der USA aus dem OH-Ver­trag gewarnt.

In seinem zusammenfassenden Report über den National Defense Authorization Act 2020 hat der Senat im Dezember 2019 den Präsi­denten dazu aufgerufen, einen Bericht vorzulegen, die Gründe für die Kündigung des OH-Vertrags zu erläutern und die Nach­teile für die nationale Sicherheit nach­zu­weisen, die den USA entständen, wenn sie im Vertrag blieben. Zudem soll er eine Wartezeit von 120 Tagen einhalten und die Alliierten konsultieren, bevor er den OH-Ver­trag formell kündigt.

Da republikanische Senatoren die Resolution mitgetragen haben, ist nicht aus­zuschließen, dass Präsident Trump sich an diese Vorgabe halten wird. Sollte er den geforderten Bericht noch im Mai 2020 vor­legen, könnte er unverzüglich die Vertrags­kündigung an die anderen Ver­tragsstaaten notifizieren, da die Wartezeit be­endet ist. Dann liefe die Kündigungsfrist im Novem­ber 2020 ab, und die USA schieden noch vor Jahresende aus dem OH-Vertrag aus.

Kündigt Präsident Trump indes erst im Juli, würde sich die Kündigungsfrist bis in den Januar 2021 erstrecken. Ein neuer Präsident könnte diese Entscheidung revi­dieren. Sollte Trump jedoch eine zweite Amtszeit erhalten, hätte die Kündigung Bestand. In jedem Fall bleibt nur noch wenig Zeit, um den Vertrag zu retten.

Folgen einer Vertragskündigung durch die USA

Sollte der OH-Vertrag nach Ablauf der Kün­digungsfrist für die USA außer Kraft treten, bedeutete dies nicht, dass er gene­rell außer Kraft gesetzt wäre. Vielmehr stellt sich die Frage, wie die 33 anderen Ver­tragsstaaten darauf reagieren werden. Russ­land müsste dann entscheiden, ob es den Vertrag im Verhältnis zu den europäischen Staaten und Kanada fortsetzen will.

Dass Russland weitaus mehr Beobachtungsflüge über europäischen Staaten unter­nommen hat als über den USA, könn­te dafür sprechen, dass es die Flüge fort­setzen will. Immerhin kann es so Erkenntnisse über Truppenbewe­gun­gen der Nato ein­schließlich der US-Streitkräfte gewinnen, die vor­übergehend oder ständig in Europa statio­niert sind. Andererseits verlöre Russ­land die Möglichkeit, die Luftbeobachtung des Kernterritoriums der USA fort­zuführen. Dies ist sowohl aus Gründen des politischen Status bedeutsam als auch für die Verifi­kation des strategischen nukle­aren Waffen­arsenals der USA.

Moskau wird wohl auch zu Recht argwöhnen, dass die westlichen Vertragsstaaten ihre Erkenntnisse, die sie aus Beobachtungsflügen über Russland gewinnen, an den Nichtvertragsstaat USA weitergeben werden. Zwar verbietet das der OH-Vertrag, doch die Bündnispartner tauschen die Erkenntnisse der Nachrichtengewinnung regelmäßig untereinander aus.

Die Frage ist, ob dies so schwerwiegend wäre. Auch Russland dürfte von seinen Bündnispartnern Belarus, Kasachstan und Armenien unter der Hand die Informationen aus der Um­setzung des KSE-Vertrags erhalten, obwohl es den Ver­trag Ende 2007 suspendiert hat.

In Abwägung dieser Argumente wird Moskau wahrscheinlich dem Prinzip der politischen Statusgleichheit mit Washington den Vorrang geben. Daher erscheint die Annahme realistisch, dass auch Moskau aus dem OH-Vertrag ausscheiden wird, wenn Washington sich daraus verabschiedet.

Träte dies ein, könnten zwar die übrigen 32 Vertragsstaaten entscheiden, den Vertrag aus prinzipiellen Gründen zu erhalten und weiter zu implementieren. Allerdings bliebe offen, welchen operativen Zweck sie damit verfolgen wollen, wenn die wichtig­sten Partner den Vertrag verlassen haben. Da sich Verbündete grundsätzlich nicht gegenseitig verifizieren, würden sich west­liche OH-Beobachtungsflüge auf die Ukra­ine, Belarus, Georgien und Bosnien-Herze­gowina beschränken. Die »neutralen« EU-Staaten Finnland und Schwe­den könn­ten hinzukommen, um mehr Flugquoten auszuschöpfen.

Folgerungen und Empfehlungen

Kündigt Washington den OH-Ver­trag, könnte das eine Kettenreaktion auslösen, die eine neue Bresche in die regelbasierte europäische Sicherheitsordnung und die Rüstungskontrollarchitektur schlägt. Die wenigen Instrumente, die zur Deeskalation und Vertrauensbildung im Verhältnis zu Russland verblieben sind, würden weiter abgebaut, und die europäische Sicherheit nähme zusätzlichen Schaden. Es liegt im europäischen Interesse, dies zu verhindern. Die Zeit drängt.

Deutschland und Frankreich tragen beson­dere Verantwortung dafür, den Ver­trag zu retten. Sie sollten gemeinsam mit euro­päischen Verbündeten zunächst in der OSCC die Initiative ergreifen, um die Pro­bleme der Flugstreckenbegrenzung über Kaliningrad und der 10-km-Abstandszone zu den umstrittenen Grenzen Georgiens zu bereinigen. Die oben skizzierten Kompromiss­optionen könnten dabei hilfreich sein. Sie könnten die Grundlage dafür bilden, bei der bevorstehenden Konferenz zur Über­prüfung des OH-Vertrags eine Lösung der Im­plementierungsprobleme zu verein­baren.

Des Weiteren sollte Deutschland gemeinsam mit Frankreich und anderen euro­päischen Verbündeten einen Appell der »Gruppe der gleichgesinnten Staaten« an die USA und Russland initiieren, der sie dazu auffordert, den OH-Vertrag zu bewah­ren. Die Gruppe will die konventionelle Rüstungskontrolle in Europa erneuern.

Darüber hinaus sollten Deutschland und euro­päische Verbündete in Washington auf hoher politischer Ebene ihr Gewicht in die Waagschale werfen, um den OH-Vertrag zu erhalten. Sie sollten dabei an die Bündnissolidarität der USA appellieren und daran erinnern, dass eigenständige Optionen zur objektiven Erkenntnisgewinnung vor allem für die Sicherheit der östlichen Bündnispartner hohe politische Bedeutung besitzen.

Überdies sollten Mitglieder des Bundes­tages ihre Verbindungen zum Kongress nutzen, um für den OH-Vertrag zu werben. Besonders bei der demokratischen Mehr­heit des Repräsentantenhauses dürften sie dabei auf offene Ohren stoßen.

Gespräche mit amerikanischen Regierungs- und Kongressmitgliedern sollten das europäische Interesse an der Erhaltung des OH-Vertrags mit Russland zum Ausdruck bringen. Zudem sollte in diesen Unter­redungen vor den Folgen eines Austritts der USA gewarnt werden. Dabei muss klar werden, dass die Europäer einem ameri­kanischen Rückzug aus dem Vertrag nicht einfach folgen werden und dass die Akti­vitäten amerikanischer Statio­nierungs­truppen weiterhin der Beobachtung durch russische OH-Flüge unterliegen würden. Außerdem sollte daran erinnert werden, dass Erkenntnisse aus europäischen Beob­achtungsflügen über Russland nach den Ver­tragsbestimmungen nicht an die USA weitergegeben werden dürfen.

Moskau sollte bedeutet werden, dass die Europäer daran interessiert sind, am OH-Vertrag festzuhalten. Es sollte ermuntert werden, einer Kompromisslösung für die Implementierungsprobleme über Kali­ningrad und an der georgischen Grenze zuzustimmen. Angesichts der Sicherheits­krise Europas wäre auch ein Appell an das gemeinsame Interesse nützlich, die Stabili­tät nicht weiter zu unterminieren.

Treten die USA aus dem OH-Vertrag aus, käme es darauf an, die Vertragsstaaten davon zu überzeugen, die Implementierung des Vertrags fortzusetzen. Diese Absicht sollte auch gegenüber Mos­kau deutlich gemacht werden. Der Kreml sollte ermutigt werden, ebenfalls am Ver­trag festzuhalten, um auch künftig ein Mindestmaß an Ver­trauensbildung in Europa zu ermöglichen.

Reagiert Moskau auf einen eventuellen Austritt Washingtons, indem es den Vertrag seinerseits verlässt, sollten ihn die Europäer aus prinzipiellen Gründen den­noch weiter implementieren. Das hielte den USA und Russland die Option offen, ihm wieder beizutreten, falls sich die politische Lage ändert.

Wenn der OH-Vertrag noch gerettet werden soll, so ist jetzt dafür der richtige und vermutlich letzte Zeitpunkt. Deutschland ist in einer politischen und konzeptionellen Rolle gefordert, um zu vermitteln und den Vertrag als Instrument der mili­tärischen Transparenz und Vertrauens­bildung zu bewahren.

Wolfgang Richter ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020

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ISSN 1611-6364