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Deutsche Außenpolitik im Wandel

Unstete Bedingungen, neue Impulse

SWP-Studie 2021/S 15, 30.09.2021, 134 Pages

doi:10.18449/2021S15

Research Areas
  • Die Bundesregierung wie auch der Bundestag stehen in der kommenden Legislaturperiode vor der Notwendigkeit, die Reichweite deutscher Verantwortung in der Weltpolitik neu zu bestimmen. Ohne eine Bestandsaufnahme, wie sich die internationale Arena verändert hat und welcher Wandel darüber hinaus geboten ist, können die Handlungspotentiale deutscher Außenpolitik nicht sachgerecht beurteilt werden.

  • Internationale Machtverschiebungen, Positionsverluste des Westens, wachsender Autoritarismus, Schwächung multilateraler Institutionen und drängende globale Probleme wie der Klimawandel – all diese Herausforderungen erfordern eine Neuaufstellung deutscher Außenpolitik. Dabei gilt es die Grenzen der eigenen Leistungsfähigkeit, aber auch die gegebenen Handlungsspielräume richtig einzuschätzen. Ziele wie Prioritäten sollten sich daran orientieren.

  • Deutsche Außenpolitik steht in einem sich verschärfenden Wettbewerb um internationalen Einfluss und die Deutungshoheit über Normen und Werte. In den einzelnen Feldern auswärtigen Handelns ist dieser Wettbewerb unterschiedlich ausgeprägt. Daher kann deutsche Präsenz in der internationalen Politik nur wirkungsmächtig sein, wenn die Ressourcen der involvierten Ressorts zusammengeführt werden.

  • Im außenpolitischen Entscheidungsprozess müssen Freiräume für voraus­schauende und mittelfristige Ansätze geschaffen werden. Auf diese Weise kann es gelingen, die Neigung zu Ad-hoc-Entscheidungen auszugleichen und ein vorwiegend reaktives Verhaltensmuster zu vermeiden.

  • Deutschlands Außenbeziehungen müssen an belastbaren Partnerschaften und neuen Formen der Verantwortungsteilung in den verschiedenen Politikfeldern ausgerichtet sein. Wie dabei auftretende Zielkonflikte zu regeln sind, kann nur in einer offenen und transparenten Diskussion aus­gehandelt werden.

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung. Deutsche Außenpolitik im Wandel: Unstete Bedingungen, neue Impulse

Günther Maihold / Stefan Mair / Melanie Müller / Judith Vorrath / Christian Wagner

1.1 Wandel erkennen und Wandel befördern

1.2 Kategorien des Wandels

1.3 Welcher Wandel? Versuch einer Standortbestimmung

Anpassungswandel

2 Zeit für Diplomatie: Das Modell eines neuen Mächtekonzerts als Stichwortgeber für Deutschland

Barbara Lippert

2.1 Das neue Mächtekonzert – eine Blaupause

2.2 Punktueller Mehrwert für deutsche und europäische Außenpolitik

2.3 Impulse für die strategische Autonomie Europas

2.4 Ausblick

3 Auf Deutschland kommt es an. Berlin muss Mitführung übernehmen für ein Europa mit globaler Gestaltungsmacht

Eckhard Lübkemeier

3.1 Das Führungsdilemma lässt sich entschärfen

3.2 Deutschlands Interessen und die EU‑Integration sind verquickt

3.3 Keine Hierarchie zwischen Werten und Interessen

4 Deutsche globale Gesundheitspolitik. Für eine nachhaltigere Ausrichtung

Susan Bergner / Maike Voss

4.1 Deutschlands neue Ambivalenz

4.2 Veränderte internationale Landschaft

4.3 Zukunftsthemen

4.4 Multilaterale systemische Ansätze

4.5 Institutionelle Bedingungen

4.6 Wissenschaftliche und politische Begleitung in Deutschland

4.7 Koordination innerhalb der Bundesregierung

4.8 Möglichkeitsfenster und Weichenstellungen

5 Die EU auf dem Weg zu einer Fiskalunion?

Peter Becker

5.1 Was wird diskutiert?

5.2 Was ist bereits erreicht worden?

5.2.1  Mögliche Differenzierung zwischen Eurozone und EU-27

5.2.2  Das Problem der gesamtschuldnerischen Haftung

5.2.3  Demokratische Legitimation neuer fiskalischer Instrumente

5.3 Welche Streitfragen sind noch zu klären?

5.3.1 Ist ein dauerhafter Stabilisierungs- bzw. Transfermechanismus möglich?

5.3.2 Finanzierung des Mechanismus über gemeinsame Schuldtitel oder eine EU-Steuer?

5.3.3 Welche Konditionalitäten und Begrenzungen sollten eingeführt werden?

5.4 Aufgaben für die nächste Bundesregierung

6 Die EU im Spannungsfeld zwischen innerer Sicherheit und Rechtsgemeinschaft

Raphael Bossong

6.1 Die bisherige Entwicklung der EU‑Sicherheitsunion

6.2 Mehrbedarf an europäischem Krisenmanagement und Solidarität

6.3 Eine vertiefte Rechtsgemeinschaft als Voraussetzung der Sicherheits­gemeinschaft

6.4 Das gegenseitige Vertrauen und die nationale Rechtsstaatlichkeit

6.5 Prioritäten und Handlungsempfehlungen für Deutschland

7 Konflikte in Europas erweiterter südlicher Nachbarschaft. Angepasste Konzepte für die Konfliktbearbeitung gefragt

Hürcan Aslı Aksoy / Muriel Asseburg / Wolfram Lacher

7.1 Politikansatz 1: Diplomatische Ad‑hoc‑Formate

7.2 Politikansatz 2: Militärische Koalitionen der Willigen

7.3 Politikansatz 3: Universelle Strafgerichtsbarkeit

8 Das Eckpunktepapier zur Zukunft der Bundeswehr: Notwendige Anpassung an sicherheitspolitische Herausforderungen

Florian Schöne

8.1 Grundzüge der »alten« Bundeswehr

8.2 »Eckpunkte« für die Zukunft?

8.3 Dimensionen

8.4 Nationale Führung und Planung

8.5 Strategiefähigkeit

8.6 Fazit

9 Maritime Wahl: Indo-pazifische versus arktisch-nordatlantische Prioritäten

Michael Paul / Göran Swistek

9.1 Die Lage in der Arktis und im Nordatlantik

9.2 Der arktisch-nordatlantische Raum aus deutscher Sicht

9.3 Folgen für die deutsche Politik

10 Schwieriges Verhältnis zu Moskau. Deutsche Russlandpolitik muss weiter justiert werden

Sabine Fischer

10.1 Russische Realität

10.2 Deutsche Russlandpolitik: teilweise an der Realität vorbei

10.3 Neue Bundesregierung: (noch) mehr Realitätssinn erwünscht

10.4 Kosten und Nutzen der Neujustierung

11 Eine alternative »Ein China«-Politik

Hanns Günther Hilpert / Angela Stanzel

11.1 Einklang statt Dreiklang

11.2 Eine defensiv ausgerichtete, wertegeleitete Außenwirtschaftspolitik

11.3 Internationale Zusammenarbeit im Hinblick auf China stärken und ausbauen

12 Den Worten Taten folgen lassen: Außenpolitik gegenüber Afrika und Lateinamerika

Denis M. Tull / Claudia Zilla

12.1 Migrationspolitik in Afrika

12.2 LAK im Kontext der Covid‑19‑Impfstoffpolitik

12.3 Politikwandel und Vertrauensbildung

Identitätsbezogener Wandel

13 Multilateralismus und Partnerschaft in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik

Hanns W. Maull

13.1 Multilateralismus

13.2 Tragfähige Partnerschaft

13.3 Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen

14 Nachhaltigkeitsaußenpolitik

Marianne Beisheim / Felicitas Fritzsche

14.1 Ausgangspunkt: Die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie 2021

14.2 Wandel

14.3 Empfehlungen

15 Diplomatie für das 21. Jahrhundert. Sechs praktische Vorschläge

Volker Stanzel

15.1 Nationale außenpolitische Dialogplattformen

15.2 Europäische Frühwarn-Netzwerke

15.3 Nationaler Sicherheitsrat im Deutschen Bundestag

15.4 Institutioneller Rahmen der Allianz für Multilateralismus

15.5 Revisionskonferenz für die Wiener Übereinkommen über diplomatische und konsularische Beziehungen

15.6 Institutionalisierte EU-Kompetenz­bildung zu Asien

16 Hybride Bedrohungen und die Außen- und Sicherheitspolitik der EU

Annegret Bendiek / Raphael Bossong

16.1 Resilienz und Sicherheitsunion

16.2 Die Schwachstellen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik

16.3 Die notwendige Neuaufstellung des EAD als strategische Intelligence Unit

16.4 Deutschlands Beitrag zum Umbau des EAD

17 Auf dem Weg zu einer internationalen Politik demokratischer Resilienz

Günther Maihold

17.1 Eine streitbare Demokratie auch nach außen?

17.2 Varianten von Autoritarismus und Autokratien in den Blick nehmen

17.3 Von der externen Demokratieförderung zu einer internationalen Politik demo­kratischer Resilienz

18 Build Back Better global denken: Strategien aus dem Globalen Süden stärken

Christina Saulich / Svenja Schöneich

18.1 Regionale Wiederaufbaustrategien verstehen

18.2 Europäische Prioritäten

18.3 Build Back Better in Afrika

18.4 Lateinamerikanische Strategie(n)

18.5 Die Notwendigkeit kompatibler Regionalstrategien

18.5.1 B3W als attraktives Kooperationsangebot etablieren: deutsche G7-Präsidentschaft nutzen

18.5.2 Nearshoring fair gestalten: lokale Lieferketten durch die EU‑Handelspolitik stärken

18.5.3 Energiewende global denken: Maßnahmen für einen gerechten Übergang umsetzen

Gestaltungswandel

19 Klimaziele und Energiepolitik außenpolitisch stärker gestalten

Susanne Dröge / Kirsten Westphal

19.1 Klimaschutz-Ambitionen und Veränderungen im Energiebereich

19.1.1 Ein Kohleausstieg gilt als dominante globale Klimalösung

19.1.2 Ausbau der erneuerbaren Energien und die Bedeutung Europas

19.2 Klima- und Energieaußenbeziehungen: Schnittstellen, Divergenzen und Partner

19.3 Optionen für eine aktive Gestaltung

20 Deutsche und europäische Asyl- und Migrationspolitik: Vom Krisenmodus zur vorausschauenden Gestaltung

Steffen Angenendt / Nadine Biehler / Nadine Knapp / Anne Koch / Amrei Meier

20.1 Probleme, Herausforderungen und Chancen

20.2 Zielkonflikte und Zielbestimmung

20.3 Gestaltungselemente einer strategisch aus­gerichteten Asyl- und Migrationspolitik

20.4 Perspektiven

21 Zwischen Krieg und Frieden: Ansätze für ein schärferes Profil Deutschlands in der Krisenprävention in Subsahara-Afrika

Melanie Müller / Judith Vorrath

21.1 Frühzeitige Prävention statt Wartestellung

21.2 An kritischen Punkten aktiv werden

21.3 »Untypische« Konfliktverläufe mitdenken

21.4 Gestaltungswandel braucht »Leadership«

22 Abrüstung, Nichtverbreitung und nukleare Teilhabe. Deutschlands europäische und globale Verantwortung

Wolfgang Richter

22.1 Gratwanderung zwischen normativer Nicht­verbreitungspolitik und nuklearer Teilhabe

22.2 Das Glaubwürdigkeitsdilemma des nuklearen Ersteinsatzes

22.3 Politische Stabilitätserwägungen und Folgerungen

23 Ein Club demokratischer Marktwirtschaften als Antwort auf Chinas Rückzug in die Binnenwirtschaft?

Heribert Dieter

23.1 Präferenz für wirtschaftliche Autonomie

23.2 Folgen für Deutschland und die Weltwirtschaft

23.3 Wandel durch Handel?

23.4 Neue Wege in der Handelspolitik?

24 Nach- und Neujustierung der deutschen Europapolitik

Sabine Riedel

24.1 Mut zum Gestaltungswandel in der Europapolitik trotz Anpassungsdruck

24.2 Die EU ist nicht Europa – Die EU‑Erweiterung kein Selbstläufer

24.3 Stärkung der intergouvernementalen Zusammenarbeit innerhalb der EU‑27

24.4 Neugestaltung der Beziehungen der EU zur EFTA und zum Vereinigten Königreich

24.5 Umgang mit dem EU-Nachbarschaftsraum (Westbalkan, Osteuropa)

25 Umdenken und Umkehr: Deutschlands Sicherheitspolitik braucht eine mentale und materielle Ertüchtigung

Eckhard Lübkemeier / Oliver Thränert

25.1 Warum Deutschland eine sicher­heits­politische Ertüchtigung braucht

25.2 Eine Ertüchtigungs-Agenda in elf Schritten

Partnerbezogener Wandel

26 Die europäische Sicherheitsordnung in einer geopolitischen Welt

Markus Kaim / Ronja Kempin

26.1 Schwindender Einfluss unter geopolitischen Vorzeichen

26.2 Zwei Kernfragen: Welche Machtpolitik, mit welchen Partnern?

26.3 Flexibilisierung im Inneren, Neujustierung nach außen

27 Deutsche Amerikapolitik: Mehr Selbst­bewusstsein und mehr Selbständigkeit

Johannes Thimm

27.1 Keine Rückkehr zum Status quo ante

27.2 Mehr Initiative und Selbstbewusstsein in der Kooperation

27.3 Kooperation wo möglich, Unabhängigkeit wo nötig

27.4 Politische, militärische und wirt­schaft­liche Abhängigkeiten reduzieren

28 Partner oder Rivalen? Vom Umgang mit autoritären Mächten

Stefan Mair

28.1 Was macht Staaten zu Partnern, was zu Rivalen?

28.2 Der Umgang mit Rivalen

29 Am Ball bleiben: Deutsche Indo‑Pazifik‑Politik

Alexandra Sakaki / Gudrun Wacker / Christian Wagner

29.1 Europäische Abstimmung und Zusammenarbeit

29.2 Partner im Indo-Pazifik

29.3 Thematische Schwerpunktsetzungen

29.4 Prioritätensetzung, Zielkonflikte, harte Entscheidungen

30 Anhang

30.1 Abkürzungen

30.2 Die Autorinnen und Autoren

Einleitung. Deutsche Außenpolitik im Wandel: Unstete Bedingungen, neue Impulse

Günther Maihold / Stefan Mair / Melanie Müller / Judith Vorrath / Christian Wagner

Der überstürzte Abzug der westlichen Truppen aus Afghanistan und die schnelle Machtübernahme der Taliban in Kabul haben einige Grundfragen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik mit neuer Dringlichkeit auf die Tagesordnung gesetzt. In wel­cher Form und mit welchen Zielen soll »der Westen« sich künftig international engagieren? Welchen Grad an Verantwortung will die Bundesregierung dabei übernehmen? Wie wird sich Deutschland in Zukunft für Auslandseinsätze aufstellen? Nicht zuletzt geht es auch darum, wie durch präventives Handeln krisen­hafte Zuspitzungen frühzeitiger erkannt und Gewalt­konflikte vermieden oder effektiver angegangen werden können.

Jenseits dieser aktuell stark diskutierten Aspekte verdeutlichen die Entwicklung in Afghanistan und die Debatte um Lehren aus dem internationalen Engagement, wie virulent Fragen nach globalen und regionalen Ordnungsrahmen und der Position Deutschlands darin sind. Eine neu gewählte Bundesregierung, aber auch der Bundestag werden für eine Vielzahl von Zukunftsthemen schnelle und zugleich weitreichende Antworten finden müssen.

Rahmenbedingungen und Kontexte sind nie statisch, doch scheinen die Veränderungen in jüngerer Zeit tiefgreifender und beschleunigt aufzutreten, was noch verstärkt wird durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie. Die Unstetigkeit hat im letzten Jahrzehnt viele Formate außenpolitischen Handelns erfasst, die bis dahin als stabil betrachtet wurden. Dies gilt – auch nach dem Ende der Trump-Präsi­dent­schaft – für die Bereitschaft zu multilateralem Handeln im Weltmaßstab, für die Verpflichtung auf globale öffentliche Güter, ebenso für das Verhältnis von vorsorgendem Handeln und der Beseitigung von Schäden in Krisen und Konflikten. So ist davon aus­zugehen, dass der Westen an Anerkennung verlieren und der Einfluss seiner Werte und normativen Vor­stellungen (weiter) schwinden wird. Dies betrifft nicht nur die Führungsmacht USA, sondern insgesamt den Nato-Verbund, die EU und Deutschland.

Wie weitreichend die daraus resultierenden Verschiebungen auf globaler Ebene sein werden, lässt sich gegenwärtig noch schwer abschätzen. Doch muss sich Deutschland darauf einstellen, dass in der inter­nationalen Politik erhebliche Verwerfungen auftreten könnten – Partner wie Konkurrenten betreffend. Gleich­zeitig ergibt sich aus diesen Entwicklungen die Notwendigkeit, aber auch die Chance, im euro­päischen wie internationalen Rahmen neue Impulse zu setzen.

Die Grundkoordinaten deutschen Engagements in der Weltpolitik sind dabei zu prüfen und eventuell neu zu bestimmen, wenn sich die Bundesrepublik auf diesem Feld zukunftsfähig aufstellen will. Viele internationale Parameter wandeln sich, was einen veränderten Blickwinkel und eine Neuausrichtung des eigenen Handelns erforderlich macht. Die Bun­des­tagswahl 2021 wird unter diesen Bedingungen nicht nur aus Berliner Warte eine neue Phase der deut­schen Außenpolitik1 einleiten. Mit dem Ende der »Ära Merkel« werden auch die internationalen Erwar­tungen an eine deutsche Führungsrolle neu sortiert.

Zu den traditionellen Pfeilern deutscher Außen­politik gehören deren Einbettung in die europäische Integration und die transatlantische Partnerschaft. Diese Grundelemente wurden in den letzten Jahren erkennbaren Belastungstests unterzogen, als ver­mehrt populistische Regierungen an die Macht ge­lang­ten und die innenpolitische Polarisierung auch in vielen europäischen Staaten zunahm. In verschiedenen Regionen der Welt sind eine Erosion demokratischer Prozesse und ein wachsender – teils trans­national verbundener – Autoritarismus zu beobachten. Auf internationaler Ebene untergräbt die stra­tegische, zunehmend systemisch überhöhte Rivalität zwischen China und den USA die multilateralen Bezie­hungen. Gleichzeitig treten innerhalb des Glo­balen Südens neue Akteure auf den Plan, die regio­nale Einflusssphären anstreben. Westliche Staaten können nicht mehr ohne weiteres davon ausgehen, zentrale Spieler in anderen Weltregionen oder in multilateralen Foren zu sein. Die EU sieht sich mit der Aufgabe konfrontiert, mit sich verschärfenden Groß- und Regionalmachtrivalitäten umzugehen, eine eigene strategische Position zu finden und dabei Allianzen mit neuen Partnern zu schließen.2 Men­schenrechtsverletzungen und gegen internationale Vereinbarungen verstoßende Regelbrüche belasten zunehmend das multilaterale System, dem deutsche und europäische Politik verpflichtet sind.

Auf diese Umbrüche im internationalen System treffen globale Herausforderungen wie der menschen­gemachte Klimawandel oder die Digitalisierung, aber auch hybride Bedrohungen aus dem Cyberraum und eine wachsende Konkurrenz um Ressourcen. Trans­nationale Migrationsbewegungen und Störungen des internationalen Handels erfordern strategische Ent­schei­dungen im nationalen und europäischen Rah­men. Mit der Erosion alter Regionalordnungen und dem Auftreten neuer Akteure, die »ordnungsstiftend« eingreifen wollen, wird das Unterfangen noch kom­plexer, Konflikte nachhaltig zu regeln. Die große wirtschaftliche Dynamik in Asien und der Aufstieg Chinas haben nicht nur ökonomisch neue Bezugspunkte für die Außenpolitik gesetzt. Und durch die Corona-Pandemie werden viele Entwicklungen noch forciert – weil sie gesellschaftliche Spannungen verstärkt und die soziale Ungleichheit innerhalb bzw. zwischen den Regionen wachsen lässt, aber auch weil sie politische Aufmerksamkeit von anderen Themen abzieht.

Auch innenpolitisch sind veränderte Präferenzen und Interessen zu beobachten. So bietet die Bundestagswahl einen Anlass, die Gewichtung vorrangiger Themen und die Herausforderungen des internationalen Umfelds im Rahmen einer Standortbestimmung neu zu bewerten, das außenpolitische Selbst­verständnis zu hinterfragen und daraus Handlungs­optionen zu entwickeln. Das ist der Ansatz dieser Sammelstudie, die sich um die Leitfrage dreht: Welche Neuorientierung, welche Weichenstellungen sollte die künftige Bundesregierung vornehmen, um bei der Gestaltung der Außenbeziehungen zentrale Probleme zu bewältigen, mögliche Chancen zu nut­zen und neue Potentiale zu erschließen?3

Die vorliegenden Beiträge behandeln Politikfelder, Gestaltungsräume und Akteure, für die ein Perspektivwechsel notwendig oder wünschenswert ist, um Deutschland in der internationalen Arena und seinem innen- wie außenpolitischen Bezugsfeld neu zu positionieren. Im Zentrum steht naturgemäß der Wandel im internationalen Umfeld und die daraus entstehenden Herausforderungen. Es geht aber auch um die Frage, wie diverse Themen- und Handlungsfelder einzuordnen sind, deren Priorität sich verscho­ben hat. Schließlich werden jene normativen Debat­ten über deutsche außenpolitische Positionen auf­gegriffen, die aus neuen konzeptionellen Zugängen wie auch parteipolitischen Präferenzen folgen, wobei zugleich deren Begründungskontexte zu bewerten sind. Hierzu gehört insbesondere, die Prinzipien, Werte und Regeln des Multilateralismus für die Zu­kunft zu definieren.

Wandel erkennen und Wandel befördern

Im Zentrum der folgenden Betrachtungen steht der Wandel, was keineswegs die unmittelbare Entwertung bisheriger Ansätze, Instrumente oder Konzepte meint. Vielmehr geht es darum, den Blick für jene Politikfelder zu schärfen, bei denen durch Umstellungen und Prioritätenverschiebungen ein Mehrwert für Deutschland in der internationalen Politik erzielt werden kann. Wachsender Problemdruck ist dabei einer der Faktoren, die zu berücksichtigen sind; es gilt aber auch Gestaltungsoptionen zu entwickeln, die neue Handlungsmöglichkeiten erschließen. Die Beiträge loten relevante Veränderungen, Spielräume und Ansatzpunkte für die deutsche Außenpolitik aus. Dabei nehmen die Autorinnen und Autoren durchaus kontroverse Perspektiven ein – auch untereinander. Bewusst wird auf einen umfassenden Problemaufriss verzichtet und der Blick über gängige Kategorien außenpolitischer Themen und Bezugspunkte hinaus gerichtet. Es werden gezielt jene Optionen in den Blick genommen, bei denen sich Deutschland durch aktives Handeln anders aufstellen und bestehende Chancen nutzen oder neue erschließen kann.

Hierzu bedarf es auch einer Revision des eigenen Handlungsinstrumentariums, von der Diplomatie über die Bundeswehr bis zu Entwicklungszusammenarbeit und Stabilisierungsengagement. Ebenso zu prüfen ist die Organisation des außenpolitischen Entscheidungsprozesses, der darunter leidet, dass Beteiligungsformate zerfasern und sich die Kompetenzen diverser Ressorts und Agenturen überlappen. Der Anspruch, dass Deutschlands Außenpolitik in unterschiedlichen Arenen und gegenüber Partnern wie Konkurrenten von Stimmigkeit geprägt ist (Stichwort Kohärenz), bedeutet eine kontinuierliche Herausforderung. Konvergenz zwischen einzelnen Handlungsfeldern zu stiften und Kompatibilität zu erzielen sind insofern zentrale Elemente für ein wirksames außenpolitisches Auftreten, nicht zuletzt in den internationalen »Club Governance«-Formaten wie OECD, G7 oder G20.

Wenn hier der Wandel in den Blick genommen wird, soll damit die Bedeutung von Kontinuität und stabilen Leitplanken für außenpolitisches Handeln nicht verkannt werden. Gerade in Krisenmomenten gehören Forderungen nach einem Kurs- oder Strate­gie­wechsel zum Standardrepertoire des politischen Geschäfts. Wandel des staatlichen Außenverhaltens wird in dieser Studie als eine Veränderung des Mög­lichkeitsraumes von Außenpolitik verstanden.4 Damit verbunden ist die Vorstellung ungenutzter oder neuer Handlungsoptionen, die sich umsetzen lassen, sofern entsprechende Kompetenzen vorhanden und die nötigen Machtressourcen verfügbar sind. Umfang und Größe des Möglichkeitsraumes werden bestimmt durch externe Faktoren, die eigene Gestaltungskraft und den Willen, diese zu nutzen. Zudem variiert dieser Raum je nach Sachbereich und Politikfeld; wie er ausgestaltet wird, ist vom außenpolitischen Stil abhängig, der von aktiver Handlungsdisposition über reaktives Verhalten bis hin zu Nachlässigkeit reichen kann. Schon allein deshalb, weil die Grenzen zwi­schen Innen- und Außenpolitik aufweichen, ver­schie­ben sich Inhalte und organisatorische Zuweisungen außenpolitischen Handelns. Gleichzeitig greifen auch Legitimationsinteressen aus dem Bereich der Innen­politik – etwa in Energie- oder Migrationsfragen – auf das außenpolitische Feld über.

Ohnehin sollte Wandel graduell verstanden werden. Er bezeichnet ein Spektrum an möglichen Ver­änderungen, das von punktuellen Kurskorrekturen über den Spurwechsel bis zum Umschwenken reicht. Es geht also nicht immer um eine grundsätzliche Abkehr von eingeführten Positionen, sondern teils auch um andere Prioritätensetzungen oder Anpassun­gen, die von außen oder innen an die Außenpolitik herangetragen werden und sich in unterschiedlichen Dimensionen hinsichtlich ihrer Reichweite und Tiefe fassen lassen.

Kategorien des Wandels

Die Beiträge dieser Studie gliedern sich entlang von vier Kategorien des Wandels, die außenpolitisches Handeln bestimmen und gleichzeitig Ansatzpunkte für künftige Weichenstellungen bieten.

  • Anpassungswandel: Umbrüche, geopolitische Riva­litäten und Machtverschiebungen, die sich im internationalen Umfeld eines Landes vollziehen, können dessen Handlungsspielraum erweitern oder einschränken. In jedem Falle geht vom internationalen Umfeld ein Anpassungsdruck auf natio­nales Handeln aus. Stärke und Geschwindigkeit eines entsprechenden Wandels setzen neue Bedingungen für Außenpolitik, die oftmals unterschätzt werden. Der Aufstieg Chinas ist dabei ebenso erfasst wie die geopolitischen Ambitionen bei der Kontrolle strategischer Ressourcen.

  • Identitätsbezogener Wandel: Wenn sich das nationale Selbstverständnis, die Aushandlung innenpolitischer Interessen- und Konsensmuster oder gesellschaftliche Machtkonfigurationen ändern, kann dies außenpolitische Rollenkonzepte beeinflussen und zur Neuaufstellung eines Landes in der internationalen Politik führen. Hierzu zählen auch Korrekturen bei der Priorisierung von Politik­feldern, neue Legitimationsgrundlagen für außen­politisches Handeln (etwa durch Bewegungen wie »Fridays for Future«) oder Verpflichtungen kraft internationaler Übereinkünfte (beispielsweise der UN-Nachhaltigkeitsagenda) – Faktoren also, die sich auf etablierte Präferenzordnungen oder Handlungsmuster auswirken und Glaubwürdigkeits­lücken schließen bzw. schließen können.

  • Gestaltungswandel: Außenpolitisches Handeln kann dadurch einen Wandel erfahren, dass sich die Fähigkeit und der Wille zur Gestaltung verändern. Nicht zuletzt werden dann Routinemuster überwunden. Ein neu entstandenes Interesse an internationaler Präsenz, die offensive Wahrnehmung von Einflusschancen, das Bestreben, einen Statusgewinn zu erlangen bzw. Statusverlust zu vermeiden – solche Faktoren können eine aktivere Mit­gestaltung der internationalen Politik induzieren, wie etwa im Falle Südkoreas oder der Türkei zu erkennen. Dies lässt sich auch in der außen­politischen Mittelwahl abbilden, etwa hinsichtlich des Politikstils.

  • Partnerbezogener Wandel: Geltungsbereich und Wir­kungshorizont außenpolitischen Wandels werden stark durch die Frage bedingt, mit welchen Part­nern und in welchem Arrangement von Unter­stützergruppen Ziele erreicht werden sollen. Zwar können Allianzbildung, Integrationsprozesse und Sozialisationseffekte in internationalen Organisa­tionen dazu führen, dass Konvergenzprozesse im zwischenstaatlichen Verhalten angestoßen und vertieft werden. Doch sind solche Entwicklungen schwer abzuschätzen, wenn etwa China für Deutsch­land gleichzeitig als Partner, Wettbewerber und Rivale auftritt.5 Ähnliches gilt auch für die Bezie­hungen zu den USA. Partnerkonstellationen prä­gen die normative und operative Interessenartiku­lation und die Präferenzordnungen für außen­politisches Handeln. Sie können Wandel im außen­politischen Verhalten bilateral und im Grup­pen­kontext sowie politikfeldbezogen stärken oder schwächen.

Diese vier analytischen Kategorien überlappen sich und sind mit unterschiedlicher Gewichtung in nahe­zu allen Politikfeldern zu finden. Wie die nachfolgen­den Beiträge zugeordnet werden, folgt der Einschätzung der Autorinnen und Autoren, welche Form des Wandels bei ihrem Thema jeweils vorrangig ist, ohne dass damit jedoch die anderen Dimensionen ver­nach­lässigt würden.

Welcher Wandel? Versuch einer Standortbestimmung

Mit ihren 28 Beiträgen erfasst die Studie ein breites Spektrum an Handlungsfeldern, das die große Reich­weite des konstatierten oder als notwendig erachteten Wandels verdeutlicht. Im Rahmen dieser Standort­bestimmung werden mittel- und langfristige Perspek­tiven identifiziert, die die Grundanlage des außen­politischen Handelns betreffen können oder auch kurzfristige Notwendigkeiten eines Umsteuerns sicht­bar machen.6 Als Bestandsaufnahme verstanden geht es darum, Annahmen, Analysen und Ansätze in rele­vanten Bereichen zu hinterfragen, Warnzeichen sowie Verschiebungen des Handlungsrahmens zu erkennen und Potential für Wandel in der künftigen deutschen Außenpolitik aufzuzeigen.

Mit dieser Zielrichtung leiten die Beiträge jeweils Schlussfolgerungen und Empfehlungen ab, die eigene sachfeldbezogene Akzente setzen. Im Folgenden las­sen sich gleichwohl einige Grundprinzipien für das außenpolitische Auftreten Deutschlands unter einer neuen Bundesregierung skizzieren:

  • Die Architektur des außen- und sicherheits­politi­schen Handelns muss zugunsten einer mittel- und langfristigen Perspektive verändert werden. Gerade angesichts grundlegender technologischer Dyna­miken und massiver Machtverschiebungen in der internationalen Arena sollte Außenpolitik sich stärker jenseits öffentlicher Aufmerksamkeits­schwellen und krisengetriebener Logik positio­nieren. Notwendig ist dabei, Außenpolitik als eine langfristig angelegte Gestaltungsaufgabe zu betrachten, sie vorausschauend zu betreiben und für ein solches Politikverständnis entspre­chende Freiräume und Ressourcen bereitzustellen. Dies kann durchaus auch einen Wandel im außen­politischen Stil erforderlich machen.

  • Ein solches Arrangement sollte es gestatten, an­gesichts begrenzter Handlungsressourcen thema­tische und geographische Prioritäten zu setzen. Es gilt die eigene Leistungsfähigkeit im Alltags­geschäft realistisch einzuschätzen und den Anspruch globaler »Allzuständigkeit« zu vermeiden. Deutsche, aber auch europäische Alleingänge sind immer weniger erfolgreich – selbst eine Vorreiterrolle führt meist nicht mehr dazu, dass sich begeisterte Nachahmer finden. Im Vordergrund sollte daher das Ziel stehen, mit verschiedenen Partnern mittelfristige Interessenkonvergenzen in bestimmten Themenfeldern herzustellen und damit eine neue strategische Ausrichtung zu ermöglichen. Dies setzt aber voraus, dass die eigene Position klar artikuliert und selbstbewusst vertreten wird.

  • Deutsche Außenpolitik benötigt auf manchen Fel­dern eine neue Gangart. Dabei gilt es, bestehende Pfadabhängigkeiten zu überwinden, einen neuen Blick auf relevante Akteursgruppen zu gewinnen – etwa solche aus dem »Globalen Süden«, der »NGO-Welt« oder der wachsenden Zahl von Diaspora-Gruppen – und sich von bisherigen Engführungen zu befreien, beispielsweise einem zu engen Fokus in der Migrationspolitik. Die Geltungsansprüche und Mitwirkungsinteressen anderer Staaten sind auch außerhalb des europäischen Kontexts aufzugreifen, wenn beständige, mehr als nur konjunk­turelle Partnerschaften geschmiedet werden sollen. Neue Konfigurationen wie etwa in den russisch-chinesischen Beziehungen müssen stärker in den Blick gelangen. Der Umgang mit Großmächten ist für die deutsche Politik ein umkämpftes innen­politisches Feld, da damit legitimatorische Inter­essen für die Positionierung von Parteien und Politikern verknüpft sind.

  • Deutschland muss klar entscheiden, in welchen Themenfeldern und mit welchen Partnern es sein politisches Kapital nachdrücklich einsetzen will. Entscheidend im Sinne einer höheren Wirksamkeit ist dabei, dass Handlungsressourcen gebündelt werden. Zentral ist dabei das kohärente Zusammen­spiel der verschiedenen Ressorts.

  • Ohne eine Umorientierung im außenpolitischen Rollenverständnis wird der Wandel nicht durchsetzbar sein. Anhaltspunkte dafür bieten die um­rissenen Kategorien des Wandels und die Schwerpunkte, die die nachfolgenden Beiträge setzen. Bestehende Zielkonflikte sollten öffentlich diskutiert, Kosten bzw. Nutzen bestimmter Entscheidun­gen sichtbar gemacht und entsprechende Abwägungen transparent vorgenommen werden. Dies würde zugleich erlauben, verschiedene Politik­felder auszubalancieren und eine breitere Grundlage für nötige Festlegungen zu schaffen. Ein sol­ches Handeln ist nicht zuletzt auch im Umgang mit Partnern angezeigt.

  • Bestehende Rahmenbedingungen gilt es immer wieder präsent zu machen, etwa den Anspruch auf Kompatibilität mit den Zielen der Nachhaltigkeitsagenda. Diese fordert eine klare Ausrichtung auf eine globale Politik öffentlicher Güter und macht damit Vorgaben, die eine elementare Richtschnur für das internationale Auftreten Deutschlands bil­den. Die Verschränkung von Klimaschutz, Energie-, Technologie- und Industriepolitik ist nur ein Bei­spiel dafür, wie die verschiedenen Politikfelder zu­sammengedacht und in einem gemein­samen Hand­lungskonzept integriert werden müssen. Die Bedeu­tung des Nachhaltigkeitsrahmens ist bislang in der Außenpolitik zu wenig sichtbar gewor­den; er sollte stärker in der politischen Praxis verankert werden.

  • Die für deutsche Außenpolitik konstitutive Part­ner­bindung bringt Chancen, aber auch Abhängigkeiten mit sich. Dies erfordert ein umfassendes Erwartungsmanagement im Innern und nach außen. Gerade im Nato-Bündnis wie auch im euro­päischen Kontext ist das von zentraler Bedeutung. Die Orientierung an der wichtigen deutsch-fran­zö­sischen Partnerschaft darf nicht dazu führen, dass sich bei anderen EU-Mitgliedern ein Gefühl der Ausgeschlossenheit verbreitet. Nachbarschaft wird nicht mehr nur regional zu fassen sein, vielmehr benötigt Deutschland auch »globale« Nachbarn in verschiedenen Weltregionen, wenn es seinen Bei­trag zur Lösung von Zukunftsproblemen leisten will. Dabei wird es nicht nur darum gehen, Arrange­ments der Lastenteilung zu erreichen – von grö­ßerer Bedeutung wird sein, auch ein neues Instru­mentarium der Verantwortungsteilung und der gemeinsamen Gestaltung zu entwickeln.

Außenpolitische Kurskorrekturen sind nicht nur notwendig, weil sich innenpolitische Kräfteverhältnisse ändern; sie sind angesichts weltpolitischer Ver­schiebungen unverzichtbar. Dabei gilt es zu priori­sieren, welche Art von Wandel eingetreten ist und ein­treten soll. Die hier aufgezeigten Dimensionen machen deutlich, dass Wandel unterschiedlich be­grün­det, veranlasst und ausgeprägt sein kann. Will deutsche Außenpolitik zukunftsfähig sein, muss sie damit nicht nur differenziert umgehen, sondern selber neue Impulse setzen.

Anpassungswandel

Zeit für Diplomatie: Das Modell eines neuen Mächtekonzerts als Stichwortgeber für Deutschland

Barbara Lippert

Die US-Politikberater Richard N. Haass und Charles Kupchan plädieren dafür, ein »neues Konzert der Großmächte« zu schaffen – und zwar als Gegen­modell zum liberal-demokratischen Multilateralismus, dem sich die EU und Deutschland in internationalen Organisationen und Allianzen weiterhin ver­schreiben.1 Weil deren Potential schwindet, nach­haltig für Sicherheit, Wohlstand und die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen zu sorgen, könnte den beiden Autoren zufolge die Stunde des Mächtekonzerts schlagen, um die Welt wieder »ordnungs­politisch in den Griff zu bekommen«.2 Es wäre kurz­sichtig, diese Überlegungen sofort als Retro-Perspek­tive des 19. Jahrhunderts abzutun. Deutschland sollte ein solches Konzert zwar nicht politisch als alterna­tives Ordnungsmodell unterstützen, könnte aus den Gedankenspielen dazu aber Impulse für die Wiederbelebung einer regelgebundenen internationalen Ordnung ziehen.

Das neue Mächtekonzert – eine Blaupause

Ernüchterte Anhänger des Multilateralismus werden die Zentralprämisse des »new concert of powers« teilen: Die internationale Ordnung wird nicht länger von der Pax Americana gestützt. Letztere weicht einer multipolaren Ordnung, deren bipolarer Kern aus den Rivalen USA und China besteht. Die beiden sollen zusammen mit der EU sowie Indien, Japan und Russ­land das propagierte Konzert bilden. Auf diese sechs Mächte entfallen rund 70 Prozent des globalen Brutto­inlandsprodukts (BIP) und der weltweiten Militär­ausgaben sowie 65 Prozent des Kohlendioxidausstoßes.3 Im Modell des Konzerts pflegen sie eine enge, informelle und flexible Zusammenarbeit, deren Ziel und Zweck darin besteht, Stabilität im Sinne des ter­ritorialen Status quo zu sichern. Die Sechs schließen wechselseitig eine Einmischung in innere Angelegen­heiten aus und respektieren zugunsten politischer Inklusion jedweden Herrschaftstyp. Das Konzert versteht sich als Schaltzentrale internationaler Politik und ist faktisch den UN und Gruppen wie der G7 übergeordnet. Die entsprechende Autorität und Legi­timität erwächst aus der Fähigkeit der Sechs, auf globale Herausforderungen gemeinsame Antworten zu finden. Dies betrifft etwa die Proliferation von Massenvernichtungswaffen, die Bedrohung durch terroristische Netzwerke, die Sorge um globale Gesundheit und die Folgen des Klimawandels. Spitzen­diplomaten leisten die Vorarbeit; an einem Hauptsitz, etwa Genf oder Singapur, wo ein Sekretariat installiert ist, halten sie die Stellung. Eine enge, auf Kon­sens abgestellte Kommunikation untereinander soll verhindern, dass ein Mitglied die anderen mit ein­seitigen Maßnahmen überrascht. Wo Einigkeit nicht zu erzielen ist, bleibt jedoch auch das Mächtekonzert machtlos. Dessen Mitglieder können sogar unilateral handeln, wenn sie ihr vitales nationales Interesse bedroht sehen. Ausgeschlossen wird ein Mitglied nur dann, wenn es wiederholt in aggressiver Weise Inter­essen eines anderen verletzt.

Punktueller Mehrwert für deutsche und europäische Außenpolitik

Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen kommt dem Mächtekonzert insofern am nächsten, als beide ideologisch divers zusammengesetzt sind, was auch für die fünf ständigen Mitglieder des Rates gilt. Was könnte für Letztere, insbesondere Russland, China und die USA, der Anreiz sein, sich in ein übergeordnetes Konzert zu begeben? Aus Sicht Washingtons könnte das Format helfen, die offensiv revisionis­tischen Mächte China und Russland einzuhegen und vor allem Pekings hegemonialen Ansprüchen ent­gegen­zutreten. Anders als der Wiener Kongress 1815 und die Sieger­mächte von 1945 kann das neue Kon­zert der Großmächte aber keine europäische oder globale Nachkriegsordnung begründen. Es muss die internationale Szenerie nehmen, wie sie ist und zudem in territorialer Hinsicht bleiben soll. Auch das Konzert dürfte etwa Russland keine freie Hand in seiner Nachbarschaft lassen. Vielmehr würde es pragmatisch versuchen, den militärischen Konflikt­austrag sowie unilaterale Eingriffe in den territorialen Status quo zu verhindern. Gefragt wären also Früh­warnung und diplomatische Entschärfung. Aus Sicht Pekings wie Moskaus erschiene die Absage an Regime-change-Strategien besonders attraktiv. Sich darauf wechselseitig verlassen zu können wäre der Kern des Solidaritätsversprechens unter den Sechs.

Die Mitgliedschaft im Mächtekonzert würde für die EU eine Statusaufwertung bedeuten, brächte sie aber nicht automatisch dazu, ihre außenpolitischen Inter­essen effektiver zu verfolgen. Für den Umgang mit der östlichen Nachbarschaft etwa böte ihr das Modell keine erkennbaren Vorteile. Vielmehr hat die EU mit der Pariser Charta und der OSZE konkretere Ansatzpunkte, will sie die Nachbarn in deren Recht unter­stützen, Bündnisse und politische Ordnung frei zu wählen. Russland betrachtet die ehemaligen Sowjet­republiken jedoch als seine exklusive Einflusssphäre, während die Ukraine und Georgien sich politisch und wirtschaftlich stärker dem Westen zuwenden. Die EU (wie die Nato) müsste ihre Angebote politischer Asso­ziierung und wirtschaftlicher Integration sowie die militärische Zusammenarbeit mit postsowjetischen Ländern also nicht einfrieren, aber auf Ebene des Mächtekonzerts aktiv verteidigen. Dieses würde von sich aus der europäischen Sicherheitsordnung wohl relativ wenig Aufmerksamkeit schenken. Fragen der nuklearstrategischen Stabilität werden direkt zwischen den USA und Russland sowie gegebenenfalls China verhandelt. Über den Nato-Russland-Rat haben die Europäer einen sicherheits­politischen Gesprächskanal, der momentan nur ausgesetzt ist. Eine Wiederaufnahme von Treffen mit Russland auf höchster Ebene hat die EU vertagt. Sie wird aber früher oder später zu diesem Austausch zurückkehren und sich mit den USA bilateral über die sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit Ländern der öst­lichen Partnerschaft und über eine mögliche Er­wei­terung der Nato abstimmen müssen. Ein Mehr­wert wäre mit dem Mächtekonzert nur dann gegeben, wenn USA und EU diese Ziele dort transparenter und poten­tiell vertrauensbildender gegenüber Moskau kom­mu­ni­zieren könnten als über bisherige bilaterale Kanäle.

Aus deutscher Sicht überzeugt eine solche Superstruktur auch aus anderen Gründen nicht. Denn selbst wenn sich das Mächtekonzert beispielsweise auf Zielvorgaben und Maßnahmen in der Klimapolitik einigen könnte, bliebe es darauf angewiesen, dass die etablierten internationalen und regionalen Orga­ni­sationen das Vereinbarte in Regelwerke übersetzen und die beteiligten Länder es praktisch implementieren. Nicht nur institutionell, sondern auch was völ­ker­rechtliche Normen und konkrete internationale Abkommen betrifft, würde das Konzert auf dem Beste­henden fußen, ohne dessen Defizite zu beheben. Nötig und erlaubt wären also weiterhin Ad-hoc-Foren wie das Normandie- oder Astana-Format, zumal das Konzert kein starkes Profil beim Konfliktmanagement anstreben dürfte, besonders nicht bei der Vielzahl innerstaatlicher Konflikte und internationalisierter Bürgerkriege. Vielmehr sähen die Sechs ihre Aufgabe wohl darin, ein gemeinsames Verständnis zu ent­wickeln, was als politisch inakzeptable und damit zu vermeidende Intervention von außen gilt. Das Mächte­konzert würde sich also bestenfalls vor Ausbruch eines Konflikts deeskalierend einschalten. Es könnte sich jedoch als ebenso dysfunktional und träge ent­puppen, wie es gegenwärtig der Sicherheitsrat ist, der insofern den Zustand des kollektiven Sicherheits­systems der UN abbildet.

Das Mächtekonzert wäre der G7 ähnlicher als dem Sicherheitsrat, was seine zu erwartende Agenda betrifft. Allerdings dürfte diese inhaltlich weniger progressiv ausfallen, wenn China, Russland und etwa Indien ihre bisherigen Positionen in internationalen Foren nur fortschrieben und es keine Bereitschaft gäbe, in öffentliche Güter zu investieren. Mit Deutsch­land, Frankreich, Italien und dem Vereinigten König­reich (plus den EU-Spitzen) haben die Europäer bereits eine ausgezeichnete Plattform, um internationale Regelwerke zu gestalten. Die Bundesregierung sollte sich dafür einsetzen, dass die G7 nach Trump ambitionierter als Taktgeber internationaler Politik auftritt und ihre Agenda effektiver umsetzt. Das ist bescheidener als der Anspruch eines Mächtekonzerts, das als globale Steuerungsgruppe agiert. Die G7 sollte jedoch nicht – im Geiste des Summit for Democ­racy,4 einer D-105 oder des New Atlantic Charter6 – auf ein Bollwerk der Demokratie reduziert und ent­sprechend positioniert werden. Denn eine künftige Bundesregierung sollte nicht Blöcke zementieren; sie sollte vielmehr in Dialogformate und Problemlösungen ausdrücklich auch solche Länder einbeziehen können, die keinen liberalen Demokratieanforderungen genügen.

Auch wenn ihre Gipfeltreffen professionell vorbereitet werden, ist die G7 nicht den Weg der Institu­tionalisierung gegangen. Dagegen würde mit dem Mächtekonzert eine neue Superbürokratie entstehen. Wie bei der G7 läge aber auch hier der Schlüssel zur Effektivität in einem informellen und persön­lichen Austausch des Spitzenpersonals, das sich Zeit für Reflexion, Konsultation und Problemlösungen nimmt. Die deutsche Außenpolitik teilt das Interesse, dass über machtpolitische und ideologische Gräben hinweg Vertrauen und Berechenbarkeit des Handelns entstehen. Hier könnte ein Mehrwert des Konzert­modells liegen – gerade für Fragen, die einer Groß­abstimmung bedürfen.

Impulse für die strategische Autonomie Europas

Die EU wäre eine von sechs Mächten, die im Konzert mitspielen. Das träfe sich mit dem neuen Rollenbild einer EU, die »die Sprache der Macht«7 erlernen und eine geopolitische Wende einleiten will, um nicht selbst zum »Spielball der Mächte« zu werden.8 Aller­dings ist die EU ein Staatenverbund, der anders als die fünf (semi-)präsidentiellen oder diktatorisch regierten Partnerländer nur über längere Konsultationsprozeduren zu kollektiven Positionen gelangen könnte. Nach heutiger Logik müsste der Präsident des Euro­päischen Rats die EU im Konzert vertreten. Natürlich könnte Deutschland, zumal nach der Ära Merkel, sich bei nächster Gelegenheit im Mai 2022 für einen star­ken Ratspräsidenten entscheiden, der nicht nur reprä­sentativ wirkt, oder gleich die Personalunion mit dem Kommissionspräsidenten bei der nächsten Vertragsänderung anstreben. Als unmittelbare Einsicht aber bleibt, dass die EU nach heutiger Verfassung in jeg­lichem Format erhebliche Probleme hat, ihr Gewicht international einzubringen. Die Bundesregierung sollte – neben der Ausdehnung qualifizierter Mehr­heitsentscheidungen auf die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) – für eine stärkere Kontinuität sowie Zentralisierung des Entscheidungsapparats eintreten. In diese Richtung geht der Vor­schlag eines EU-Sicherheitsrats, in dem permanente und rotierende Mitglieder das auswärtige Handeln bestimmen würden, um die EU so entscheidungs­fähiger zu machen.9 Zugleich sollen diese Neuerungen institutionelle Anreize für politische Konvergenz­prozesse in der EU setzen.

Aus EU-Sicht wäre die positive Seite des Mächtekonzerts, dass es eine (friedliche) Koexistenz im System­konflikt zwischen den USA und dem liberal-demokratischen Westen auf der einen und China auf der anderen Seite ermöglichen würde. Auch könnte ein Kreis aus sechs Ländern die aufziehende G2-Struk­tur der Weltpolitik abmildern und einen dynamischen Modus vivendi anstreben. Doch in ihrer heuti­gen Statur würde die EU – wie Japan und Indien, mittelfristig auch Russland – nur zu den B-Akteuren des Konzerts gehören. Insofern ist das Modell womög­lich eine heilsame Drohung aus dem Reich des Realis­mus, die dazu mahnt, das Vorhaben einer strate­gischen Autonomie der EU-Europäer konsequenter zu verfolgen. Dass die drei Imperien USA, China und Russland – jedes auf seine Art – erhebliche innen­politische Destabilisierungspotentiale aufweisen, die unmittelbar auf die internationale Ordnung über­zuschwappen drohen, ist nur ein weiteres Argument für die Selbstbehauptung Europas.

Zwar könnte die EU auch im Mächtekonzert für eine progressive Agenda globaler Governance und Kooperation eintreten. Aber dort würde sie dafür wohl nicht mehr, sondern eher weniger Hebelwirkung erzielen als in den etablierten multilateralen Organisationen. In diesen entfaltet sie ihren Einfluss durch Kooperation mit mittleren Mächten und regio­nalen Organisationen sowie durch einen ständigen und bis zu drei gewählte Sitze im UN-Sicherheitsrat. Zudem müssten die Europäer nach Vorbild der E3 oder anderer flexibler Formate von Willigen zu grö­ßerer Elastizität finden, so dass sich interne Divergenzen überbrücken lassen und die externe Durchsetzungskraft gesteigert werden kann. Das könnte man in reformistischer Perspektive eine »sanfte Uto­pie« nennen.10

Ausblick

Der Vorschlag eines neuen Mächtekonzerts ist nicht zuletzt ein Plädoyer für mehr und bessere Diplomatie. Diese sollte agil und realistisch sein, indem sie sich auf erreichbare Ziele und relevante Akteure kon­zentriert. Deutschland und Europa sollten das Momen­tum der Biden-Administration dafür nutzen, die unter­schiedlichen Ansätze des Multilateralismus im Sinne der regelgebundenen internationalen Ord­nung aus einer starken EU heraus wirksam zu machen. Das Konzertmodell liefert einer künftigen Bundesregierung dazu zentrale Stichworte: die Verdichtung des Dialogs auf höchster Ebene zwischen den großen Global- und Regionalmächten in unterschiedlichen Formaten; die Stärkung regionaler Organisationen im Hinblick auf die Gestaltung jener Politikregime, an denen das Überleben der Menschheit hängt; Maßnahmen und Angebote zur Vertrauensbildung; Früh­warnung zur Vermeidung militärischer Aus­ein­ander­setzungen und ihrer Internationalisierung und Ent­grenzung durch Einmischung externer Akteure. Fundamental bleiben die UN, die EU und die Nato als Handlungsrahmen für Deutschland. Jedoch sollte die Bundesregierung die Effektivierung der G7 prioritär betreiben und die OSZE wieder stärker für euro-atlan­tische Sicherheit nutzen.

Auf Deutschland kommt es an. Berlin muss Mitführung übernehmen für ein Europa mit globaler Gestaltungsmacht

Eckhard Lübkemeier

Außenpolitik ist der Versuch eines Staates, durch Einwirken auf sein Umfeld Bedingungen zu schaffen, die seinen Interessen und Werten förderlich sind. Dafür braucht es Macht – definiert als die Fähigkeit, selbstgesteckte Ziele zu erreichen.1 Interessen, Werte und Macht sind konstitutiv für Außenpolitik. In der Bundesrepublik Deutschland haben sich Politik, Medien und Wissenschaft schwergetan, diese Triade in ihrer Gesamtheit anzunehmen. Dass Außenpolitik wertegebunden zu sein habe, war normatives All­gemeingut. Dass es auch darum geht, deutsche Inter­essen zu verfolgen, war zwar außenpolitische Praxis, wurde aber eher verbrämend als »Verantwortungs­politik« und selten unverblümt als berechtigt bezeichnet.2

Inzwischen gelten deutsche Interessen als ein legi­times Leitmotiv außen­politischen Handelns. Weiter­hin zögerlich hingegen wird der Begriff »Macht« ver­wendet. Dafür gibt es nachvollziehbare geschichtliche Gründe: Deutscher Machtwahn war ein Mit-Auslöser des Ersten Weltkriegs und die Triebfeder des von Nazi-Deutschland verursachten Zweiten Weltkriegs.

Neutral formuliert ist Macht ein Mittel zum Zweck, der in der Außenpolitik aus Interessen und Werten besteht. Je größer die Mittel und je geschickter sie angewendet werden, umso größer die Chance, eigene Interessen und Werte zur Geltung zu bringen. Das führt zu einer vierten für deutsche Außenpolitik rele­vanten Kategorie: Führung.

Führung bedeutet, in der Lage und bereit zu sein, andere Akteure zu Beiträgen zu veranlassen, mit denen kollektive Ziele erreicht werden können. Nur wer Macht hat, kann führen. Das kann und muss nicht ausschließlich ko­operativ, also im bereit­willigen Einvernehmen aller geschehen. Führung ist gerade dann gefragt, wenn divergierende Interessen auf einen Nenner zu bringen sind, was auch den robusten Einsatz von Macht erfordern kann.

Führung ist unerlässlich, um ein Kollektiv aus Akteuren mit heterogenen Interessen handlungsfähig zu machen. Führung war in Deutschland ein gemie­dener, fast tabuisierter Begriff.

Doch ob man es will oder nicht – Deutschland ist in der EU eine Führungsmacht. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Deutschland kann nicht Europas Hegemon sein: Seine Machtressourcen sind nicht überlegen genug; Deutschland ist eine wechselseitige Abhängigkeit mit EU-Mitgliedern eingegangen und hat sich auf eine EU-Konstruktion eingelassen, die nationale Macht durch europäische Kollektivkompetenz (Handel, Wettbewerb, Währung, Grenzen) be­schneidet.3

Doch hat Deutschland in der EU-Machthierarchie eine Spitzenposition. Das zählt, denn die EU bleibt trotz ihrer partiell supranationalen Struktur eine Union von Nationalstaaten. Machtunterschiede zwischen diesen fallen ins Gewicht, was Deutschland im EU-Maßstab zum Schwergewicht macht. Damit geht eine Führungsrolle einher. Nicht die Führungsrolle, weil Deutschland anders als die USA keine über­ragende Macht hat und deutsche Führung historisch vorbelastet ist. Deutschland kann nicht allein führen. Was es kann und muss, ist, eine europäische Mit-Füh­rungsmacht zu sein.4

Diese Rolle sollte unverhohlen angenommen wer­den. Dass Deutschland eine Führungsverantwortung für das europäische Projekt hat, ist weithin akzeptiert, und dass sie zur Bürde werden kann, trifft zu. Doch Führung eröffnet auch Chancen, denn wer mehr Macht hat, kann mehr als andere sein Umfeld mitgestalten.

Das Führungsdilemma lässt sich entschärfen

Ohnehin kann Deutschland sich nicht kleiner machen, als es ist. Damit entsteht ein Dilemma: Deutschland soll führen, aber nicht so, dass es den Partnern miss­fällt: Allen recht getan ist eine Kunst, die niemand kann. Zumal zu diesen »allen« Deutschland selbst gehört. Deutschland kann nicht altruistisch sein, weil es Interessen hat, die mit jenen seiner Partner nicht harmonieren müssen, die zu ignorieren sich jedoch keine Bundesregierung leisten kann, will sie nicht ihre Abwahl riskieren.

Kluge Führung kann das Dilemma kooperationsverträglich entschärfen. Das fängt damit an, nicht geschichtsvergessen aufzutreten. Geschichte wirkt nach, und wie sie von anderen interpretiert und instrumentalisiert wird, hat Deutschland letztlich nicht in der Hand. Die deutsche Außenpolitik wird weiterhin gut daran tun, das zu berücksichtigen.5

Zweitens gilt es, eigene Interessen nicht eigensüchtig zu verstehen. Führungsfähigkeit beruht nicht allein darauf, andere durch überlegene Gratifikations- oder Sanktionsmacht zu einem bestimmten Verhalten zu veranlassen. Zu führen fällt leichter, wenn die Beteiligten einander vertrauen. Dafür ist entscheidend, dass Führungsmacht für das Gemeinwohl eingesetzt wird. Zwar wird häufig umstritten sein, was dem Wohl aller dient und wer wie viel dafür einbringen sollte. Doch Führungsmächte müssen mehr als andere für das Gemeinwohl sorgen: weil ihre Machtressourcen größer sind und sie nur so auf der Basis von Vertrauen führen können.

Deutschland hat kluge Führung gezeigt, als es sich bereiterklärte, den pandemiebedingten Wirtschaftseinbruch durch zusätzliche EU-Mittel in Höhe von 750 Milliarden Euro abzufedern. Dafür werden ge­meinsame Schulden in großem Umfang aufgenommen – ein Integrationsschritt, den alle Bundesregierungen bis dato abgelehnt hatten.

Deutschland hatte das nicht deshalb nötig, weil es am meisten von der EU profitiert. Diese Ansicht geht fehl. Die EU ist wirtschaftlich und politisch für alle Mitgliedstaaten ein großer Gewinn.

Dass die EU-Mitgliedschaft zum außenpolitischen Kanon Deutschlands und seiner Staatsräson gehört, gibt die Präambel des Grundgesetzes vor (»von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen«), und die Einbindung Deutschlands in die Nato und die EU haben seiner Souveränität keinen Abbruch getan, sondern ihr genützt.

Doch was das mächtigste Land in der Mitte Europas zuverlässiger als alles andere an die EU bindet, sind seine Werte und Interessen.

Deutschlands Interessen und die EU‑Integration sind verquickt

Deutschlands außenpolitische Kerninteressen sind Frieden, Sicherheit, Wohlfahrt und Partizipation. Frieden ist ein zwischenstaatlicher Zustand, in dem Krieg kein Risiko darstellt, weil Konflikte ausschließlich und für alle Beteiligten verlässlich ohne An­wen­dung oder Androhung von Gewalt ausgetragen werden. Besteht ein solches Risiko, liegt ein Sicherheitsproblem vor. Sicherheitspolitik hat deshalb zum Ziel, notfalls auch durch Gegengewalt Schutz vor angedrohter oder angewandter Gewalt zu bieten. Wohl­fahrt ist eine Form von Wohlstand, die nach­haltig, weil klima- und ressourcenverträglich ist. Partizipation heißt, sein Umfeld so beeinflussen zu können, dass es günstige Bedingungen für Frieden, Sicherheit und Wohlfahrt bietet, also mitbestimmen zu können.

Deutschlands Kerninteressen sind verknüpft mit der europäischen Integration. Die EU ist eine Frie­dens­gemeinschaft: Gäbe es nur sie, könnten ihre Mit­glieder ihre Streitkräfte abschaffen, weil sie darauf vertrauen, dass sie ihre Konflikte gewaltfrei regeln. Für harte Sicherheit als Schutz vor gewaltbereiten Akteuren bedarf es weiterhin US-amerikanischer Rückendeckung über die Nato. Doch Europa als Gan­zes und europäische Nato-Verbündete werden mehr als bisher sicherheitspolitische Eigenverantwortung zeigen müssen: weil die von der Trump-Adminis­tration geschürten Zweifel an der Verlässlichkeit Washingtons fortbestehen, weil auch die Biden-Admi­nistration mehr europäische Eigenständigkeit fordert und europäische Souveränität prekär bleibt, wenn sie nicht auch sicherheitspolitisch unterlegt wird.

Hohe und nachhaltige Wohlfahrt ist eng mit der EU verbunden: Der Binnenmarkt wird angesichts transatlantischer Verstimmungen und gewachsener Spannungen mit China noch wichtiger; Klima- und Ressourcenschutz erfordern eine grüne Transforma­tion der europäischen Wirtschaft, und nur der Bin­nenmarkt verleiht ausreichende regulatorische Macht zur Wettbewerbskontrolle, Besteuerung und zum Setzen von Sozial- und Umweltstandards.

Europas regulatorische Macht verweist auf das vierte Kerninteresse »Partizipation«. Deutschland ist ein Schwergewicht in Europa, aber nicht in der Welt. Eine Ebenbürtigkeit mit den USA und China oder mit nichtstaatlichen Akteuren wie Google, Amazon und Facebook kann es nur im europäischen Verbund her­stellen. Europas Kollektivmacht eröffnet globale Mit­gestaltungschancen, die Deutschland allein nicht hätte.

Dabei geht es nicht nur um Selbstbehauptung gegenüber anderen Globalakteuren oder inmitten der aufziehenden amerikanisch-chinesischen Rivalität. Ein mächtiges Europa kann auch als »Schutzmacht« auftreten: für gerechte und nachhaltige Entwicklung, für Klima- und Ressourcenschutz, für Menschenrechte und eine regelbasierte internationale Ordnung.

Nur eine starke und stabile EU kann eine globale Gestaltungsmacht sein. Dazu braucht es eine intakte Demokratieunion. Die neue Bundesregierung sollte sich dafür einsetzen, die Erosion der Rechtsstaat­lichkeit in EU-Mitgliedstaaten auch durch eine kon­sequen­te Anwendung der neuen Konditionalitäts­regelung für den EU-Haushalt und die Corona-Wieder­aufbaumittel zu stoppen. Der Währungsunion fehlt eine vollwertige Banken- und Kapitalmarkt­union, damit der Euro zu einer veritablen Alternative zum US-Dollar werden kann. Wie beim Euro geht es auch in anderen Bereichen nicht um Abschottung, son­dern um Interdependenzparität, also das Eingehen von Kooperation mit ande­ren auf der Basis wechselseitiger Abhängigkeit. Konkret bedeutet dies, das 5G‑Netz nur durch europäische Unternehmen zu betreiben und Europa in Schlüsselbereichen wie Künstliche Intelligenz, Quanten- und Cloudcompu­ting, Halbleiter und Batterien autonom zu machen. Mehr als anderswo wird Deutschland in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik über nationale Schat­ten springen müssen. Sowohl eine europäische Ver­teidigungsunion als auch Deutschlands Absicherung über seine Nato-Mitgliedschaft erfordern nicht nur höhere Verteidigungsausgaben. Politische Führung heißt in diesem Kontext auch, den Wählerinnen und Wählern die Notwendigkeit nuklearer Abschreckung und einer auch militärisch abgestützten Außenpolitik zu vermitteln.

Keine Hierarchie zwischen Werten und Interessen

Auch in der Außenpolitik sind Interessen und Werte nicht zwangsläufig Gegen­sätze. Für Werte ein­zutre­ten kann kluge Interessenpolitik sein, denn Gewalt, Ent­rechtung und Ungerechtigkeiten können Kriege und Konflikte auslösen, zu wirtschaftlicher Not führen und natürlichen Raubbau nach sich ziehen – mit Auswirkungen (zum Beispiel in Form von Migra­tion), die Deutschlands Sicherheit und Wohlfahrt gefährden.

Doch können Werte und Prinzipien weder eine eindeutige noch alleinige Richtschnur sein. Die glo­bale Corona-Pandemie trifft arme Länder mit unter­versorgten Bevölkerungen ungleich härter als reiche wie Deutschland. Ist es egoistisch oder doch legitim, dass sich Staaten, in denen der Impfstoff entwickelt wurde, bei der Impfstoffverteilung bevorzugen? Klima­schutz gibt es nicht ohne China, den weltweit größten CO2-Emittenten; China hat sich als Markt und Lieferant weltwirtschaftlich unverzichtbar gemacht und ist geopolitisch zu einer Globalmacht geworden. Wie weit kann man Pekings diktatorische Führung wegen politischer Repression sanktionieren, ohne ihre für Klimaschutz, Weltwirtschaft und internationale Ordnung unerlässliche Kooperationsbereitschaft zu riskieren? Putin-Russland bedroht die Ukraine und hält Teile des Landes besetzt, was auch Deutschland verurteilt. Um die ukrainische Verteidigungsfähigkeit zu stärken, stellen die USA Militärmaterial bereit. Wenn das auch nach deutscher Auffassung der Ab­schreckung Moskaus dient, wäre es dann nicht gebo­ten, sich an der militärischen Ertüchtigung Kiews zu beteiligen? Wie weit dürfen oder müssen Deutschland und Europa gehen, um sich vor ungewollter Massenzuwanderung zu schützen? Dazu wurde ein Abkommen mit einem Erdoğan-Regime geschlossen, das innere Widersacher drangsaliert. Erst recht stellt sich das Werte-und-Interessen-Problem, wenn Migra­tionskontrolle die Kooperation mit skrupellosen Kräften in Transit- und Herkunftsregionen erfordert. Dann gibt es, so Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, »keinen moralisch sauberen Ausweg«.6

Aber selbst wenn es ihn gäbe: Werte können nicht die einzige Richtschnur sein. Interessen zählen eben­so. Außenpolitisch ist der Wählerauftrag, die Kern­interessen Frieden, Sicherheit und Wohlfahrt durch Partnerschaft mit anderen und wo nötig durch Behaup­tung gegen andere zu befördern. Keine demo­kratisch konstituierte Regierung kann das ignorieren. Zumal es keine Hierarchie zwischen Werten und Interessen gibt. Ist Frieden »nur« ein Interesse oder ein Wert? Als Bundeskanzler hat Helmut Schmidt schon den kalten Frieden des Nicht-Krieges zwischen den nuklear gerüsteten Ost-West-Antagonisten in den Rang eines »Grundwertes« erhoben.7

Schmidts Rede ist ein Lehrstück über den Umgang mit Zielkonflikten. Er diskutiert das »am Beispiel der polnischen Krise«. Gemeint ist die Verhängung des Kriegsrechts in Polen im Dezember 1981 durch ein kommunistisches Regime, das sich durch die unab­hängige Gewerkschaft Solidarność bedroht sah. Der Bundesregierung war vorgehalten worden, darauf zu schwach reagiert zu haben. Unabhängig davon, ob diese Kritik zutrifft oder nicht – Schmidt legt dar, dass Werte allein keinen eindeutigen Handlungskompass bilden, sondern dass »die vernunftgemäße Abwägung zu sehr verschiedenen Zielen und Wegen führen« kann.8

Deutschland wird sich, als zur europäischen Mit­führung berufene Macht, mehr als bisher solchen Abwägungen stellen müssen. Nie geschichtsvergessen, aber im Bewusstsein, dass die Bundesrepublik sich als demokratischer Stabilitätsanker in der Mitte Europas großes Vertrauen bei ihren Nachbarn erwor­ben hat. Und Deutschland kann sich inzwischen selbst vertrauen, dass es aus der Geschichte die rich­tigen, nämlich partnerschaftlich-europäischen Lehren gezogen hat. Auf Deutschland kommt es an – das verpflichtet, aber es ist auch gut so.

Deutsche globale Gesundheitspolitik. Für eine nachhaltigere Ausrichtung

Susan Bergner / Maike Voss

Die Covid-19-Pandemie hat Deutschlands globale Gesundheitspolitik einem Härte­test ausgesetzt. Als gewichtiger Akteur auf diesem Feld muss sich die neue Bundesregierung in einer veränderten Akteurslandschaft beweisen. Sie kann sich dabei in Krisen­zeiten nicht mehr bedingungslos auf klassische Part­ner wie die USA verlassen, zugleich aber an Vorarbeiten anknüpfen, die unter der Kanzlerschaft Angela Merkels geleistet wurden. Das bisherige Instrumen­tarium Deutschlands sowie internationale Koopera­tionsmechanismen reichen nicht aus, um künftige Gesundheitskrisen zu bewältigen. Erforderlich ist, globale Gesundheit in der deutschen Außenpolitik mit strategischer Weitsicht zu priorisieren. Als Bei­trag zu einer nachhaltig orientierten Gesundheits­politik müssen Zukunftsthemen bearbeitet und Blockaden in den eigenen Reihen abgebaut werden.

Die Covid-19-Pandemie hat gezeigt, dass alle Lebens- und Politikbereiche von der Funktionsfähig­keit der Gesundheitssysteme und von evidenz­orientierten politischen Entscheidungen abhängig sind. Deutlich wurde ebenso, dass die bisherige inter­nationale Zusammenarbeit in der globalen Gesund­heitspolitik nicht hinreichend auf Krisen dieser Dimension vorbereitet ist. Bestehende Instrumente wie die internationalen Gesundheitsvorschriften werden unzureichend umgesetzt; ebenso fehlt es an Finanzierung sowie einer international abgestimmten strategischen Vorausschau, die bereits auf Ebene der Bundesregierung beginnen sollte. Denn je schwächer die Koordination zur gemeinsamen Bewältigung der Pandemie, desto länger wird die Pandemie andauern.

Deutschlands neue Ambivalenz

Die hohe internationale Anerkennung, die Deutschland beim Thema globale Gesundheit genießt, ist maßgeblich auf das erfolgreiche Agenda-Setting Angela Merkels zurückzuführen. Gleichzeitig stehen Deutschland und die Europäische Union auf diesem Feld der wachsenden Konkurrenz Chinas und teils ge­genläufigen Interessen des Verbündeten USA gegen­über. Doch der künftigen Bundesregierung bietet sich mit ihrer G7-Präsidentschaft im Jahr 2022 und den Diskussionen über eine mögliche Europäische Gesund­heitsunion eine Gelegenheit, Deutschlands Verant­wortung wahrzunehmen und notwendige Verände­rungen anzustoßen.

Vorab jedoch sollte die ambivalente Rolle, die Deutschland derzeit einnimmt, erkannt und the­ma­tisiert werden. So ist die Bundesregierung maßgeblich dafür eingetreten, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sowie neue Instrumente der Pandemiebewältigung zu stärken. Gleichzeitig aber blockiert sie die Ausnahmeregelungen in der Welthandelsorganisa­tion (WTO) zum zeitweiligen Verzicht auf Patente für Impfstoffe und andere Medizingüter; damit droht sich die Bewältigung von Covid-19 weiter zu verzögern. Überdies schwächen solche Blockaden den Multilateralis­mus – der ein inhärentes Anliegen deutscher Außenpolitik ist.

Veränderte internationale Landschaft

Die EU ist zu einem zentralen Kanal für die deutsche globale Gesundheitspolitik geworden und sollte es auch bleiben. Während in diesem Rahmen unter ande­rem die Kooperation mit Frankreich gestärkt wurde, wie ein deutsch-französisches Non-Paper1 zum Reformprozess der WHO zeigt, haben sich die USA als schwieriger Partner erwiesen. Die Biden-Adminis­tra­tion bringt zwar neue Impulse für globale Gesundheit ein, doch kollidiert der amerikanische Führungs­anspruch mit dem gewachsenen Engagement Euro­pas. Dies zeigt sich am Beispiel des globalen Pan­demievertrags – eine Idee von EU-Ratspräsident Charles Michel, die von der WHO unterstützt, bislang jedoch von Washington und Peking blockiert bzw. verzögert wird.

China und die Afrikanische Union (AU) sind wei­tere Gesundheitsakteure, die ihre Aktivitäten in der Pandemie ausgeweitet haben. Die bilateralen Koope­rationen Chinas vor allem auf dem afrikanischen Kontinent sind vor dem Hintergrund geopolitischer Konkurrenz besonders interessant. Die AU wiederum fokussiert sich zunehmend darauf, mehr strategische Autonomie für Afrika zu erreichen, unter anderem in der eigenen Gesundheitswirtschaft.

Deutschland muss auf dem Feld globaler Gesundheit verschiedene Rollen ausbalancieren. In diesem Sinne geht es darum, als Partner Allianzen zu bilden – wie mit der AU – und gemeinsame Interessen zu ver­treten, aber auch, gespielt über die EU, als Gegen­gewicht zu Ländern wie China oder den USA eigene Impulse zu setzen.

Zukunftsthemen

Damit die deutsche globale Gesundheitspolitik ein nachhaltigeres Engagement entfalten kann, müs­sen Schlüsselthemen strategisch aufgegriffen wer­den. Eines davon ist »Deep Prevention«2 oder weiter gedacht »Deep Transformation«, ein Ansatz, der auf eine umfassende und gerechte Vorsorge für Gesundheitskrisen jeder Art abzielt – nicht nur für Infek­tionsausbrüche. Dazu gehören auch Auswirkungen des Klimawandels auf die Gesundheit. Entscheidende Bausteine für zukünftiges Handeln sind die Stärkung resilienter Gesundheitssysteme und eine wertegeleitete Politik, die eine allgemeine Gesundheitsversorgung (universal health coverage, UHC) für alle Menschen an allen Orten anstrebt.

Gleichermaßen gilt es, in der Entwicklungszusam­menarbeit die Finanzierung globaler Gesundheits­güter und neue Modelle für die Finanzierung von Gesundheit zu berücksichtigen und auszubauen, um Ausgangspunkte für eine robuste globale Gesundheits­politik zu schaffen. Dies dient auch dem Anlie­gen, das Vertrauen in bestehende Institutionen wie die WHO zu stärken.

Der Blick sollte künftig intensiver auf die Verschränkungen von globaler Gesundheit mit Themen wie Klima, Sicherheit und Geopolitik gerichtet wer­den. Dafür fehlt es jedoch in Deutschland an pro­aktiven ressortübergreifenden Mechanismen, die an nationale Gesundheitspolitiken rückgebunden sind.

Multilaterale systemische Ansätze

Um gezielt systemische Ansätze im multilateralen Raum voranzubringen, stehen verschiedene Optionen zur Wahl. Erstens sollten in existierenden Gesundheits­initiativen Komponenten zur Stärkung von Gesundheitssystemen nachgerüstet und in neuen Initiativen von Beginn eingeplant werden. Als inter­nationale Reaktion auf die Corona-Pandemie entstand die Multiakteursplattform ACT-A (Access to COVID-19 Tools Accelerator), deren Zweck es ist, Diagnostika, Impfstoffe und Therapeutika zu entwickeln und zu verteilen. Mit Zeitverzug wurde dabei auch eine Säule zur Stärkung von Gesundheitssystemen geschaffen. Es darf hier nicht nur darum gehen, Medizingüter in lokalen Strukturen abzusetzen; gefragt ist vielmehr ein umfassender Systemaufbau inklusiver handlungsfähiger Institutionen im Gesundheitswesen.

Zweitens könnten die laufenden Reformprozesse in der WHO dazu genutzt werden, ein Finanzierungsinstrument für Gesundheitssysteme zu entwerfen, statt nur die Eindämmung einzelner Krankheiten in den Blick zu nehmen. Bisher gibt es kein internationales Instrument, das langfristig darauf abzielt, robuste öffentliche Public-Health-Strukturen auf­zubauen. Dass hier nachgebessert werden muss, ist eine der Lehren aus der Covid-19-Pandemie.

Drittens wird innerhalb der WHO, nach dem er­wähn­ten Anstoß des Europäischen Rates, über einen internationalen Pandemievertrag diskutiert. Zu klä­ren bleibt, wo dabei der Mehrwert für die praktische Krisenbewältigung liegt, ob ein neues rechtliches Instru­ment grundlegende Probleme der globalen Gesundheit löst und wer im Detail von einem neuen Vertrag profitiert. Gleichzeitig könnte ein verbind­licher internationaler Pandemievertrag auch das Poten­tial haben, Synergien zu schaffen, Akteure besser zu vernetzen und es in Gesundheitskrisen zu ermöglichen, dass regionale Politiken mit der glo­balen Ebene abgestimmt werden. Zudem könnte die WHO dadurch eine zentrale Rolle bei der Bewältigung künftiger Pandemien erlangen.

Institutionelle Bedingungen

Globale Gesundheit fängt zuhause an. Um dieser Devise gerecht zu werden, sollte in einem ersten Schritt die nachhaltige Entwicklungsagenda im eige­nen Gesundheitswesen umgesetzt und nationale mit globaler Gesundheitspolitik verknüpft werden. So könnte sich eine neue »Strategie für Public Health in Deutschland«3 positiv auf die Handlungsfähigkeit und Legitimität der deutschen globalen Gesundheits­politik in Europa und auf internationaler Bühne auswirken. Im zweiten Schritt sind in der Bundes­republik robuste institutionelle Strukturen für glo­bale Gesundheit zu schaffen, die auf Expertise aus dem deutschen Gesundheitswesen zurückgreifen.

Deutschland hat sich in den nationalen wie globalen Gesundheitspolitiken angesichts der Herausforderungen der Pandemie reaktiv verhalten und nur peu à peu einen institutionellen Wandel vollzogen. Zu­gleich aber zeigte sich Berlin bereit, mehr Verantwortung für globale Kooperationen und Reformprozesse zu übernehmen. Dieses erweiterte Selbstverständnis fand seinen Niederschlag vor allem in der neu for­mu­lierten Strategie der Bundesregierung zur globalen Gesundheit.4

Eine institutionelle Stärkung erfuhr das Thema im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammen­arbeit und Entwicklung, das eine Unterabteilung für Globale Gesundheit, Pandemieprävention und One Health einrichtete. Das Auswärtige Amt engagiert sich zunehmend an der Schnittstelle von globaler Gesundheit und Geopolitik; so befasst es sich nun ver­mehrt mit den Auswirkungen von Gesundheitskrisen auf den Multilateralismus. Das Bundesministerium für Gesundheit wiederum richtet zusammen mit der WHO einen Global Hub for Pandemic and Epidemic Intelligence5 in Berlin ein.

Zwar sind diese strukturellen Veränderungen begrü­ßenswert, jedoch braucht es mehr koordiniertes Vorgehen, damit sich Deutschland in einer veränderten Akteurslandschaft beweisen kann.

Wissenschaftliche und politische Begleitung in Deutschland

Ein Beirat der Bundesregierung für globale Gesundheit würde eine evidenzgeleitete Politik Deutschlands stärken. Auch könnte globale Gesundheit bei der Überarbeitung und Umsetzung der deutschen Nach­haltigkeitsstrategie6 noch mehr berücksichtigt wer­den. Der Unterausschuss für globale Gesundheit im Bundestag hat mit der Pandemie zunehmend an Bedeu­tung gewonnen. Er sollte daher in der nächs­ten Legislaturperiode beibehalten, personell gestärkt und in seinem Aufgabenspektrum erweitert werden. So könnte auch der Unterausschuss die Regierung in einer Art Kontrollfunktion bei der Messung der Erfolge globaler Gesundheitsstrategie7 unterstützen und deren Umsetzung begleiten. Erforderlich dafür ist seitens der Bundesregierung ein konkreterer Aktionsplan inklusive Review-Mechanismus zur Implementierung und zur Kontrolle der Fortschritte der Strategie.

Daneben lässt sich auf bestehende Strukturen zurückgreifen. Die 2020 geschaffene German Alliance for Global Health Research8 könnte stärker beratend in die Politik hineinwirken und von dortiger Seite angefragt werden. Außerdem ließe sich vermehrt wissenschaftliche Expertise aus anderen Politikbereichen nutzen. So befasst sich der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) in seinem nächsten Bericht mit pla­ne­tarer Gesundheit, also der Verbindung zwischen Umwelt, der Gesundheit von Tieren und jener von Menschen.

Gleichzeitig bedarf es eines Ausbaus der Aus- und Weiterbildung, um Nachwuchs für globale Gesundheitsstrukturen in Deutschland und international zu fördern. Die Bundesrepublik könnte versuchen, stra­tegisch mehr Personal in internationale Gesundheitsorganisationen zu entsenden sowie deutsche Wissen­schaftler und Wissenschaftlerinnen in WHO-Arbeits­gruppen und Kollaborationszentren in Deutschland zu fördern.

Koordination innerhalb der Bundesregierung

Schließlich muss sich die neue Bundesregierung dafür einsetzen, dass internationale Prozesse auf diesem Politikfeld von den Ministerien und Behörden effektiver koordiniert werden, denn die Zuständig­keiten für entsprechende Gesundheitsorganisationen sind zwischen einzelnen Ressorts fragmentiert. Ab­hilfe leisten könnte zum einen, dass bestehende For­mate wie der Ressortaustausch oder der Jour fixe der Staatssekretäre und Staatssekretärinnen ausgebaut werden. Zum anderen ist daran zu denken, neue Strukturen zu etablieren, die Intersektoralität und Kooperation unabhängig vom Engagement einzelner Personen sicherstellen. Mögliche Ansätze wären über­dies, zwischen den Ministerien nach japanischem Bei­spiel ein Rotationssystem für Personal einzurichten, im Kanzleramt eine Staatsministerin bzw. einen Staatsminister für globale Gesundheit zu ernennen oder Staatssekretäre bzw. Staatssekretärinnen mit interministeriellen Aufgaben zu betrauen. Auch durch ressortübergreifende Trainings und Simulationen kann eine umfassende und vorausschauende Ausrichtung globaler Gesundheitspolitik gefördert werden.

Möglichkeitsfenster und Weichenstellungen

Deutschland hat die Möglichkeit, auf europäischer und globaler Ebene zentrale Prozesse der globalen Gesundheitspolitik mitzugestalten, damit die Welt­gemeinschaft auf Gesundheitskrisen künftig besser vorbereitet ist, ihnen abgestimmter begegnen kann und sich Ungleichheiten entgegenwirken lässt. Deutschland kann hier auf wesentliche Vorarbeiten unter Kanzlerin Merkel zurückgreifen, muss zugleich aber Ambivalenzen in der eigenen Politik abbauen.

Kurzfristig ist das vordringliche Thema die weltweit gerechte Impfstoffverteilung, auch angesichts der geopolitischen Implikationen, die damit verbunden sind. Deutschland muss sich dem Vorwurf aus dem Globalen Süden stellen, Covid-19-Impfstoffe als globales öffentliches Gut angepriesen9 zu haben, diese letztlich aber nicht in ausreichendem Maße zu teilen.

Langfristig sind Weichenstellungen für zentrale Herausforderungen notwendig. Die Produktions­kapazitäten für Impfstoffe und Arzneimittel müssen weltweit gesteigert, Kapazitäten wie auch Produkte dezentraler verteilt werden; darüber hinaus bedarf es systemischer Ansätze für eine umfassende Pandemieprävention und zur Verringerung globaler Ungleichheiten.

Auf europäischer Ebene sind die Diskussionen über eine Gesundheitsunion in Gange. Gleichzeitig werden auf internationaler Ebene die Debatten über WHO-Reformprozesse und einen Pandemievertrag auf der Agenda bleiben. Damit kann Deutschland sich kurz­fristig eröffnende Möglichkeiten für langfristige Wei­chenstellungen in der globalen Gesundheit nutzen.

Die EU auf dem Weg zu einer Fiskalunion?

Peter Becker

Ein Meilenstein der europäischen Reaktion auf die Covid-19-Pandemie und deren Folgen war zweifellos die Einigung auf den Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) 2021–2027 und auf einen zusätzlichen euro­päischen Konjunkturhaushalt unter der Überschrift »NextGenerationEU« (NGEU). Die wichtigste Inno­vation bestand darin, dass es der EU nun möglich ist, zur Finanzierung des Konjunkturhaushalts selbst Kredite in bisher nicht gekanntem Umfang an den Finanzmärkten aufzunehmen. Es handelt sich dabei um weitgehende Maßnahmen, die vor der Pandemie-Krise kaum durchsetzbar, ja undenkbar gewesen wären. Diese Einigung markierte zweifellos auch einen deut­lichen Wandel der deutschen Europapolitik. Die Bun­desregierung hatte jedoch darauf bestanden, einige beschränkende Eckpunkte zu Form und Umfang des Konjunkturhaushalts sowie dessen Einmaligkeit fest­zuschreiben. Das Finanzpaket sollte kein dauerhaftes fiskalpolitisches Instrument der europäischen Politik werden, sondern eine einmalige Lösung sein und nur zur Finanzierung des NGEU genutzt werden.

Nun hat jedoch – unabhängig von einer noch aus­stehenden erfolgreichen Umsetzung des neuen Instru­mentariums – eine Debatte begonnen, ob der NGEU verstetigt und zu einem dauerhaften europäischen Finanzausgleich in einer europäischen Fiskalunion transformiert werden soll. Nicht mehr die Frage, ob sich die EU verschulden darf, wäre bei einem solchen Szenario zu diskutieren und auszuhandeln, sondern nur noch, wann und unter welchen Bedingungen diese Verschuldungsmöglichkeit genutzt werden kann.

Die Antwort der nächsten Bundesregierung wird entscheidend dafür sein, ob und wie die Bestrebungen hin zur dauerhaften fiskalischen Stabilisierung der EU umgesetzt werden und in welche Richtung sich mittelfristig der europäische Integrationsprozess weiterentwickeln wird. Berlin wird dabei eine Kom­promisslösung in der EU vermitteln müssen. Auf der einen Seite stehen die harten Positionen der spar­samen Nordeuropäer (insbesondere der Niederlande), die sich dafür einsetzen, die fiskalische Disziplin in allen Mitgliedstaaten glaubhaft und wirksam zu stär­ken. Auf der anderen Seite gibt es aus den südeuro­päischen Krisen- und Schuldnerstaaten (insbesondere aus Italien) die Forderung nach mehr Solidarität und Risikoteilung zwischen den EU-Mitgliedern. Klar ist nur, dass eine Rückkehr zum Status quo ante der Vor-Corona-Zeit keine Option sein wird.

Was wird diskutiert?

Die EU hat – nicht zuletzt als Reaktion auf die Ver­schuldungskrise in der Eurozone vor einem Jahrzehnt – sowohl neue Krisen- und Notfallinstrumente als auch Elemente der Prävention geschaffen, die nun weiter ausgebaut und ergänzt werden müssen. Unter dem Schlagwort der Fiskalunion wird derzeit intensiv über Instrumente zur fiskalischen Stabilisierung und zur Ausbalancierung der Konjunkturverläufe in den europäischen Volkswirtschaften debattiert. Angedach­tes Ziel ist dabei, die prozyklische Wirkung der Geld­politik abzufedern, ohne jedoch dauerhaft große Finanzressourcen umverteilen zu müssen und ohne die Schuldentragfähigkeit der Hochschulden-Mitglied­staaten weiter zu verschlechtern. Darüber hinaus dis­kutiert man über verbindliche Konditionalitäten und Begrenzungen für solche Stabilisierungsinstrumente, ebenso über die Frage, wie sie stärker demokratisch legitimiert werden könnten.

Was ist bereits erreicht worden?

Mit dem Kompromiss über den NGEU wurden einige fundamentale Fragen beantwortet, die seit einem Jahr­zehnt die Debatten über eine Fiskalkapazität oder ein Eurozonenbudget bestimmt hatten. Festlegungen gab es zu den folgenden Punkten.

1. Mögliche Differenzierung zwischen Eurozone und EU-27

Der befristete Konjunkturhaushalt NGEU wurde an den MFR gebunden; Finanzierung und Auszahlung erfolgen also im Rahmen der EU-27. Damit erübrigen sich Überlegungen, gesonderte Haushalte oder Finanz­instrumente zugunsten der Eurozone oder außerhalb der europäischen Verträge zu schaffen. Mit dem neu­en Instrumentarium wurde ein Zeichen euro­päischer Solidarität gesetzt, die für die gesamte EU gelten und nicht auf die Eurozone begrenzt sein soll.

2. Das Problem der gesamtschuldnerischen Haftung

Die Debatten über Notwendigkeit und Grenzen euro­päischer Solidarität waren bislang mit der deutschen Angst vor einer »gesamtschuldnerischen Haftung« im Zusammenhang mit Euro- oder Corona-Bonds verbunden. Befürchtet wurde, dass Deutschland bei einem Negativszenario von Ausfall oder Zahlungsverweigerung einzelner Schuldnerstaaten für deren Schuldtitel einspringen müsste. Durch die Anbindung an den europäischen Haushalt und die Schuldenaufnahme der EU ist diese Sorge weitgehend ausgeräumt: Die EU nutzt ihr eigenes Triple-A-Rating für eine zins­günstige Verschuldung.

3. Demokratische Legitimation neuer fiskalischer Instrumente

Transfers zwischen Mitgliedstaaten entfalten, selbst wenn sie nur temporärer Natur sind, immer Verteilungswirkungen und gehören deshalb zu den poli­tisch sensibelsten und konfliktträchtigsten Themen in der EU. Sie erfordern auch aus diesem Grund ein hohes Maß an demokratischer Legitimation. Mit dem Vorgehen bei Verabschiedung des NGEU wurde eine bedeutende Vorentscheidung für diese Frage getrof­fen: Alle Mitgliedstaaten gemeinsam haben das neue Instrument vereinbart, anschließend wurde das Ver­handlungsergebnis vom Europäischen Parlament mit der absoluten Mehrheit seiner Mitglieder und ebenso durch die nationalen Parlamente bestätigt.

Diese Form der demokratischen Legitimation unter Einbeziehung beider parlamentarischen Ebenen wird der Maßstab sein, wenn über ein weiteres Instrument zur Abfederung symmetrischer Schocks entschieden werden muss. Ein Beschluss, bei dem die nationalen Parlamente außen vor bleiben, wird nicht mehr mög­lich sein.

Welche Streitfragen sind noch zu klären?

Bei alldem müssen zusätzliche Vorbedingungen ge­schaffen werden, um die EU und die europäischen Volkswirtschaften fiskalisch stabilisieren zu können. Drei grundlegende Fragen sind hierbei noch zu klären.

1. Ist ein dauerhafter Stabilisierungs- bzw. Transfermechanismus möglich?

Zwar gehört die wirtschaftliche Konvergenz zu den expli­ziten Zielen der EU, und schon heute verfügt sie über Instrumente der Umverteilung. Dennoch beste­hen große Vorbehalte gegen jede Form dauer­hafter und unkonditionierter Umverteilung. Gerade auch die Erfahrungen mit dem deutschen Länderfinanzausgleich lehren, dass entsprechende Transfermechanismen selbst innerhalb relativ homogener Nationalstaaten allenfalls zähneknirschend akzeptiert werden. Bei dauerhaften grenzüberschreitenden Transfers innerhalb der EU wäre mit deutlich größeren Wider­ständen zu rechnen. Unbegrenzte und ungebundene Finanztransfers sind in der EU deshalb nicht denkbar.

Um schädliche Verteilungskonflikte möglichst zu vermeiden, sollten das Entscheidungsverfahren sowie die Auslösekriterien für einen zu schaffenden euro­päischen Stabilisierungsmechanismus vorab fest­geschrieben werden, also unabhängig vom jeweiligen Einzel- oder Krisenfall. Die Regelungen sollten dabei so transparent und klar sein, dass sie sich auch ex ante demokratisch legitimieren lassen. Im Vorfeld sollte fixiert werden, welche Indikatoren (etwa ein Konjunktureinbruch von mehreren Prozentpunkten oder rasch steigende Arbeitslosigkeit infolge einer Naturkatastrophe, Pandemie oder globalen Krise) von welcher EU-Institution (wahrscheinlich der Euro­päischen Kommission) gemäß welchem Verfahren (am besten nach Konsultierung des Europäischen Par­laments und nach einstimmiger Beschlussfassung des Rates) heranzuziehen sind, damit der Mechanismus angewandt wird. Zugleich sollten Eckpunkte für die Tilgung gemeinschaftlicher Schulden feststehen. Dies betrifft beispielsweise eine gesonderte Finanzierungsquelle für den EU-Haushalt, die dafür genutzt werden müsste, oder die Verpflichtung auf einen Tilgungsplan.

2. Finanzierung des Mechanismus über gemeinsame Schuldtitel oder eine EU-Steuer?

Bei einem symmetrischen Schock – wenn also wie während der Corona-Pandemie alle Mitgliedstaaten gemeinsam in die Krise rutschen – kann ein zen­traler Stabilisierungsmechanismus kontraproduktiv sein. Dies gilt dann, wenn der Bedarf an finanzieller Unterstützung so groß ist, dass ihm mit der gemeinsamen Geldpolitik allein nicht begegnet werden kann. In einem solchen Fall wirkt der Eingang von Transfers bei einem überdurchschnittlich stark betrof­fenen Mitgliedstaat zwar stabilisierend; doch bei dem nur relativ besser gestellten Mitgliedstaat, der sich ab­solut gesehen ebenfalls in einer schweren Rezession befinden kann, haben die Transferleistungen mög­licher­weise prozyklische, das heißt krisenverschärfende Folgen. Ein solcher Mechanismus könnte also auf der einen Seite stabilisierend, auf der anderen Seite aber destabilisierend wirken.

Erforderlich ist ein zentraler Mechanismus mit einer konjunkturzyklen- bzw. krisenübergreifenden Stabilisierungswirkung und einem Ausgleich über den Zeitverlauf. Die Transferzahlungen sollten nicht nur in Form von (zinsvergünstigten) Krediten fließen, die die Verschuldung der betroffenen Mitgliedstaaten weiter in die Höhe treiben und deren Schulden­tragfähigkeit auf eine weitere Belastungsprobe stellen würden. Vielmehr sollten auch nicht rückzahlbare Zuschüsse grundsätzlich möglich sein. Das Verhältnis von Krediten und Zuschüssen wäre im einzelnen Krisenfall für den betroffenen Mitgliedstaat jeweils gesondert und neu auszuhandeln. Jedoch müsste ein solcher Mechanismus über die Möglichkeit der zen­tralen Verschuldung verfügen. Notwendig dafür wäre entweder wie beim Europäischen Stabilitätsmechanis­mus (ESM) eine Fazilität außerhalb der Verträge, die mit Kapital aus den Mitgliedstaaten ausgestattet wird, oder die Ausgabe gemeinsamer Schuldtitel, der viel­diskutierten Euro-Bonds, oder eine gemeinschaftliche Verschuldung der EU wie beim NGEU. Die Tilgung der gemeinsamen oder der gemeinschaftlichen Schuld­titel würde dann durch langfristige Zahlungen der Mit­glied­staaten oder über das gemeinsame Budget erfolgen.

Eine Alternative wäre, der EU ein eigenes Steuererhebungsrecht einzuräumen. Auf diese Weise könnte sie unabhängig von den Abführungen der Mitgliedstaaten eigene Einnahmen generieren, mit denen sich die gemeinschaftlichen Schulden langsam zurückführen ließen. Langfristig könnte über diese Eigenmittelquelle ein EU-Stabilisierungsfonds für eine europäische Konjunkturpolitik finanziert wer­den – eine Art europäische Konjunkturausgleichsrücklage für eine antizyklische Wirtschaftspolitik der EU.

3. Welche Konditionalitäten und Begrenzungen sollten eingeführt werden?

Wenn unkonditionierte Finanztransfers in der EU nicht denkbar sind, müssen die grundlegenden Bedin­gungen für eine Auszahlung der europäischen Gelder vorab verbindlich und transparent vereinbart werden. Das gilt unter anderem für das Transfervolumen und eine mögliche Befristung der Zahlungsströme. Vor­stell­bar wäre, rechtlich eine Obergrenze des Volumens in Höhe von beispielsweise 0,5 Prozent des mitgliedstaatlichen Bruttonationaleinkommens (BNE) festzuschreiben. Genauso erforderlich wären ver­bind­liche Vorgaben zu den Aufgaben und Zielen, denen die Zahlungen dienen sollen. So dürften die euro­päischen Transfers nicht zur Tilgung alter Schulden verwendet werden; vielmehr sollten sie wie beim NGEU zugunsten gemeinschaftlicher Ziele eingesetzt werden – also einen europäischen Mehrwert schaf­fen.­ Sie müssten darüber hinaus auch mit den gemein­samen wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Zielsetzungen verbunden werden, auf die sich alle Mitgliedstaaten im Rahmen des Europäischen Semes­ters verpflichtet haben. Dazu gehört zweifellos auch die Umsetzung mittel- und langfristiger Struk­tur­reformen zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit. Mit solchen Reformen würde zugleich das Volumen der erforderlichen europäischen Transfers begrenzt. Schließlich sollten bereits vorab klare Ultima-Ratio-Regeln vereinbart werden, also Vorgaben dazu, in welchem Fall und unter welchen Bedingungen euro­päische Solidaritäts- und Stabilisierungshilfen nicht mehr gewährt werden dürften. Dies liefe auf die Mög­lichkeit einer Staateninsolvenz bzw. auf ein euro­päisches Verfahren zur geordneten Schuldenrestrukturierung hinaus.

Aufgaben für die nächste Bundesregierung

Die nächste Bundesregierung und die sie tragenden Parteien müssen zu diesen Fragen eigene Antworten und Kompromisse finden und dann erste Positionen definieren. Die deutschen Interessen sollten offen und transparent formuliert werden. Für entsprechende Festlegungen gilt es dann sowohl in der deutschen Innenpolitik als auch in der Europäischen Union zu werben und Partner zu suchen, insbesondere für die zu vereinbarenden Konditionalitäten. Denn eine solche Weiterentwicklung der EU wird es erforderlich machen, die europäischen Verträge anzupassen, wo­für ein Konsens in der EU und breite Unterstützung in der deutschen Innenpolitik nötig sind. Die tat­säch­lichen Verhandlungen auf europäischer Ebene sollten allerdings erst aufgenommen werden, wenn eine um­fassende Analyse des gerade geschaffenen NGEU vor­liegt. Erst dann wird erkennbar sein, inwiefern die EU das neue Instrumentarium wirkungsvoll und nach­haltig nutzen kann.

Ob dieses letztlich als europäische Fiskalunion, als Wirtschaftsunion, als Stabilitätsunion oder als stabili­sierendes Konjunkturinstrument bezeichnet wird, mag für die politische Symbolik von Bedeutung sein und gegebenenfalls auch als Zeichen parteipolitischer Durchsetzungsstärke gelten. Für die Weiterentwicklung der EU jedoch ist die Begriffswahl sekundär.

Die EU im Spannungsfeld zwischen innerer Sicherheit und Rechtsgemeinschaft

Raphael Bossong

Die EU ist von stetig wachsender Bedeutung, wenn es darum geht, breit gefächerte Herausforderungen der inneren Sicherheit anzugehen, wie etwa den Grenz­schutz, die Terrorismus- und Kriminalitätsbekämpfung, die Cybersicherheit sowie Teile des Katastrophenschutzes. Auch wenn die primäre Verantwortung für die innere Sicherheit auf nationaler Ebene verbleibt, sind die Mitgliedstaaten auf enge grenzüberschreitende Zusammenarbeit und einen unter­stützenden Beitrag der EU-Ebene angewiesen.

Gerade Deutschland als der größte zentraleuro­päische Staat mit den meisten Binnengrenzen und weit­läufig integrierten Wertschöpfungsketten hat ein essentielles Interesse, die Schengen-Zone zu erhalten und den Binnenmarkt abzusichern. Die exponierte Position Deutschlands zeigt sich beispielsweise an seiner Forderung, die sogenannte »sekundäre Migra­tion« aus EU-Außen­grenz­staaten stärker zu kontrollieren bzw. zu überwachen; ebenso in Fragen der poli­zeilichen Kooperation und des Ausbaus von Euro­pol, für die die politische Führung und der operative Beitrag Deutschlands von großer Relevanz sind.

Angesichts der Erfahrungen der letzten fünf Jahre scheint es notwendig, die EU-Sicherheitsunion primär dahingehend zu stärken, dass in Krisen schneller ver­bindliche Entscheidungen getroffen, mehr Ressourcen mobilisiert und verlässliche Solidarität geleistet werden kann. Ein Baustein für eine solche verbesserte europäische Handlungsfähigkeit sind eigene EU-Kräfte, die Aufgaben der inneren Sicherheit direkt übernehmen können. Die Kontroverse um die bis­herige Einsatzpraxis der EU-Grenzschutzagentur Frontex zeigt aber zugleich, dass die EU die Einhaltung von Grundrechten gewährleisten muss. Noch dringlicher ist es, das gegenseitige Vertrauen in die nationalen Straf- und Justiz­systeme zu bewahren, da in einigen Mitgliedstaaten die Gewaltenteilung in Frage gestellt wird. Mithin muss Deutschland zwei Dinge gegeneinander abwägen: einerseits eine Ver­tiefung der Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen, andererseits die Verteidigung der Rechtsgemeinschaft.

Die bisherige Entwicklung der EU‑Sicherheitsunion

Die EU-Politik für die innere Sicherheit hat sich bis 2015 vorrangig damit beschäftigt, die Bedingungen dafür zu schaffen, dass ausländerrechtliche, strafrechtliche und polizeiliche Instrumente grenzüberschreitend gegenseitig anerkannt werden. Heute geht es eher darum, technologischen und gesellschaft­lichen Dynamiken zu begegnen, die in vielen Mit­glied­staaten nur unzureichend oder gar nicht geregelt sind. Aktuelle Beispiele sind neue rechtliche Pflich­ten, mutmaßlich terroristische Online-Inhalte zu löschen,1 oder komplexe Verhandlungen darüber, wie elektronische Beweismittel grenzüberschreitend erhoben und weitergeleitet werden sollen.2 Einen Mehrwert kann die EU vor allem dann beisteuern, wenn neue sicherheitspolitische Fragen mit ihren Kern­kompetenzen im Binnenmarkt interagieren, etwa in der Bekämpfung der Geldwäsche.

Das zweite Standbein sind der Austausch und die Auswertung von Informationen. Dazu betreiben die EU-Mitgliedstaaten und EU-Agenturen für die innere Sicherheit eine Vielzahl gemeinsamer Datenbanken für (grenz)polizeiliche Zwecke3 sowie Netzwerke für den horizontalen Informationsaustausch.4 In den kommenden zwei Jahren sollen zudem umfassende Reformen für lückenlose biometrische Personenkontrollen und die Vernetzung aller EU-Datenbestände umgesetzt werden.5

Somit hat die EU bereits beträchtliche Fortschritte auf dem Weg zu einer »Sicherheitsunion« vorzuweisen. Das Ziel ist eine zunehmend breite und stärker operativ ausgerichtete EU-Sicherheitspolitik, die die Erwartungen der Bürger und Bürgerinnen aufgreift.

Mehrbedarf an europäischem Krisenmanagement und Solidarität

Die seit Jahren schwelende Flüchtlingskrise ebenso wie die Corona-Pandemie haben der EU jedoch vor Augen geführt, dass es ihr vielfach an gemeinsamer Handlungsfähigkeit und belastbarer Solidarität man­gelt. Improvisierte Maßnahmen zum Krisenmanagement haben zwar wiederholt zu einer nachträglichen Integration geführt, was sich beispielsweise auch in einer neuen Gesundheitsunion niederschlagen soll. Die Lehre, dass Europa durch Krisen stets vorankommt, ist aber keine historische Gesetzmäßigkeit. Die nach wie vor fehlende »europäische Lösung« zur Verteilung von Schutzsuchenden ist ein Beleg dafür.

Europäische Solidarität sollte thematisch offen gedacht werden, da jederzeit neuartige Krisen auf­treten können. Die Solidaritätsklausel im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)6 wird bislang allerdings nur verhalten ge­nutzt. Demnach könnten in Notlagen »alle […] zur Verfügung stehenden Mittel« zur gegenseitigen Unter­stützung mobilisiert werden. Bisher beschränkt sich das Verfahren zur Umsetzung dieser Klausel auf die sogenannte »Integrierte EU-Regelung für die politische Reaktion auf Krisen«,7 einen politischen Koordi­nierungsprozess unter Federführung der nationalen Botschafter in Brüssel. Dieser Mechanismus hat in der Pandemie erheblich an Substanz gewonnen und wurde jüngst durch einen Ausbau des EU-Katastro­phen­schutzmechanismus flankiert.8 Im Vergleich zu den wirtschafts- und finanzpolitischen Anstrengungen der EU zur Bewältigung der Pandemie zeigt sich jedoch, dass ungleich größere Reformen denkbar sind bzw. notwendig werden können.

Eine Grundsatzfrage für die Weiterentwicklung der Sicherheitsunion ist der Aufbau eigenständiger EU-Kräfte. Diese könnten Krisen abfedern, euro­päische Handlungsfähigkeit beweisen und das Ver­trauen zwischen den Mitgliedstaaten unterfüttern. Exemplarisch hierfür steht die Agentur Frontex, die bis 2027 bis zu 3.000 EU-Grenzpolizisten und ‑poli­zistinnen mit hoheitlichen Befugnissen und persön­licher Bewaffnung aufstellen soll.9 Eingesetzt werden sollen sie unter anderem an besonders belasteten Abschnitten der EU-Außengrenzen. Die Beamten, die aus den Mitgliedstaaten für diesen Zweck an Frontex abgeordnet werden, werden zwar auch künftig die deutliche Mehrheit aller europäischen Grenzschutzkräfte bilden;10 zugleich wahrt die nationale Kom­man­doführung in gemeinsamen Einsatzgruppen die rechtliche Verantwortung vor Ort.

Trotzdem steht mit der Schaffung einer EU-Grenz­schutztruppe grundsätzlich zur Debatte, ob die EU langfristig Elemente des staatlichen Gewaltmonopols übernehmen soll. Ergibt sich ein klarer Mehrwert der neuen Frontex-Grenzschutzbeamten in den nächsten Jahren, kann dies als Präzedenzfall für andere Agen­turen und Aufgabenbereiche dienen – etwa für Europol, für die EU-Asylagentur oder beim gemeinsamen Katastrophenschutz.

Eine vertiefte Rechtsgemeinschaft als Voraussetzung der Sicherheits­gemeinschaft

Einem solchen Paradigmenwechsel, der die EU deutlich in Richtung eigener Staatlichkeit bewegen würde, steht der Schutz von Grundrechten gegenüber, der in diesem Zusammenhang besondere Rele­vanz erhält. Das Spannungsverhältnis zwischen Frei­heit und Sicherheit, das es in allen liberalen Demokratien stetig auszutarieren gilt, ist auf EU-Ebene hochkomplex und noch nicht vollständig ausbuchstabiert. Die glaubhaften Anschuldigungen, Frontex decke11 unrechtmäßige Zurückweisungen von Schutz­suchenden an europäischen Außengrenzen oder könnte gar daran beteiligt sein, unterstreichen, dass eine effektive rechtliche und politische Kontrolle über eine entstehende EU-Sicherheitsexekutive garantiert sein muss.

Die EU-Grundrechtecharta, die mit dem Vertrag von Lissabon verbindlich wurde, weist klar über eine reine Wirtschaftsgemeinschaft hinaus und verpflichtet die EU zu einem umfassenden Verständnis libe­raler Rechtsstaatlichkeit. Die praktischen Folgen zeigen sich erst seit einigen Jahren. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) nimmt mit Bezug auf verschie­dene europäische Grundrechte, insbesondere beim Datenschutz, mittlerweile eine zentrale Rolle in Sicherheitsfragen ein, teilweise im scharfen Gegensatz zu politischen Entscheidungen auf europäischer wie nationaler Ebene.12

Ein weiterer, entscheidender Schritt steht nun an. In den kommenden Jahren wird der EuGH hoch­sensible Fälle entscheiden müssen, die sich mit einer direkten menschenrechtlichen Verantwortlichkeit der EU-Ebene und den operativen Handlungen von EU-Agenturen für die innere Sicherheit befassen.13 Dabei geht es vor allem um den Umgang mit Schutzsuchenden im Mittelmeer und in der europäischen Nachbarschaft. Alle Institutionen und Agenturen der EU müssen die EU-Grundrechtecharta einhalten. Die Mit­g­lied­staaten sind ihrerseits im Geltungsbereich des EU-Rechts daran gebunden, darüber hinaus an die Europäische Menschenrechtskonvention. Eine Nicht­beachtung dieser Verpflichtungen – etwa an EU-Außengrenzen – lässt sich nicht damit rechtfertigen, dass man auf Krisen und auf den Vorrang der mit­glied­staatlichen Kompetenz für die nationale Sicher­heit verweist.

Grundsätzlich ist zu klären, wie sich das EU-Recht in Ausnahmesituationen behauptet. Die EU muss ebenso wie ihre Mitglieder deutlicher erklären, wann und inwiefern Einschränkungen von Grundrechten gerechtfertigt und verhältnismäßig sind. Die recht­liche Verantwortung darf nicht länger zwischen den Mitgliedstaaten und EU-Akteuren verwischt werden.

Das gegenseitige Vertrauen und die nationale Rechtsstaatlichkeit

Noch dringlicher ist die Auseinandersetzung über die Unabhängigkeit der Justiz in einigen Mitgliedstaaten. Der EuGH und die EU-Kommission kritisieren natio­nale Justizreformen und die Aushöhlung der Gewal­ten­teilung in Polen und Ungarn in immer schärferen Tönen, während diese beiden Länder bereit scheinen, den Vorrang des EU-Rechts offen zurückzuweisen.

Jenseits der breit geführten Diskussion, EU-Finanz­zahlungen mit Blick auf Defizite der Rechtsstaatlichkeit einzuschränken, hat dieser Streit potentiell gra­vierende Auswirkungen auf Fragen der inneren Sicher­heit und Migration. Nationale Richter in meh­reren nordwesteuropäischen Staaten gehen zunehmend dazu über, die grenzüberschreitende Kooperation in diesen Feldern unter Vorbehalt zu stellen.14 Schon seit den frühen 2010er Jahren bestehen syste­matische Probleme, irreguläre Migratinnen, Migranten und Asylsuchende an einige andere Mitglied­staaten zu überstellen, die keine hinreichende Unter­kunft und menschenwürdige Behandlung gewährleisten können oder wollen. Die grundlegende Ableh­nung oder Missachtung des europäischen Asylrechts in manchen zentraleuropäischen Ländern vertieft dieses Dilemma weiter.

Die Auseinandersetzungen über die polnischen Jus­tizreformen untergraben derweil den Europäischen Haftbefehl bzw. den damit zusammenhängenden Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens der EU‑Staaten in die jeweiligen nationalen Strafrechts­systeme. Bisher hat der EuGH entschieden, dass nur nach eingehender Prüfung gerechtfertigt werden kann, die Auslieferung einer gesuchten Person oder eines Häftlings in einen anderen Mitgliedstaat zu verweigern, das heißt, wenn im Einzelfall berechtigte Zweifel an einem fairen rechtsstaatlichen Verfahren vorliegen. Driften die EU-Länder in puncto Rechtsstaatlichkeit weiter auseinander, könnten solche punktuellen Vorbehalte zu systematischen werden und Polen und Ungarn in weiteren sicherheits­politischen Bereichen von der Zusammenarbeit mit anderen Mitgliedstaaten abgekoppelt werden. Der jüngste Skandal um die mutmaßliche Nutzung der aggressiven Überwachungssoftware Pegasus gegen ungarische Journalisten15 kann als schwerwiegende Verletzung des europäischen Grund- und Daten­schutzrechts angesehen werden.

Prioritäten und Handlungsempfehlungen für Deutschland

Deutschland steht widersprüchlichen Anforderungen gegenüber: Einerseits soll es die Krisenreaktionsfähig­keit und operative Dimension der Sicherheitsunion stärken, andererseits die EU-Rechtsgemeinschaft und das gegenseitige Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit bewahren. Im Zweifel sollte zum Schutz der natio­nalen Verfassungsordnung sowie des erreichten Inte­grationsniveaus der EU Priorität haben, die Grundrechte und die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit einzuhalten.

Dennoch sollte Deutschland die Sicherheitsunion in anderen Bereichen unmittelbar voranbringen. Die nächste politische Zielmarke ist die französische EU-Präsidentschaft im Frühjahr 2022, während der eine Reform des Schengenregimes vereinbart werden könnte. Gestärkte gegenseitige Aufsichtsmechanismen zur Vertrauensbildung zwischen den Mitgliedstaaten, neue Verfahren für gesundheitsbedingte Kon­trollen und technische Maßnahmen zum verbesserten Grenzschutz sollten erlauben, zur vollen Perso­nen­freizügigkeit zurückzukehren. Deutschland sollte hierbei, wenn nötig, den ersten Schritt tun und alle seit 2015 aufrechterhaltenen Binnengrenzkontrollen aufheben. Der Fortgang der Verhandlungen zum Europäischen Asyl- und Migrationspaket16 sollte hiervon unabhängig betrachtet werden. Parallel sollte Deutschland aktiv darauf hinwirken, die jüngste Reform des EU-Katastrophenschutz­mechanismus um­zusetzen, sowohl auf Ebene der gemeinschaftlichen Ressourcen wie auf innerstaatlicher Ebene – Letz­teres um eine engere europäische Anbindung zu gewährleisten.

Konflikte in Europas erweiterter südlicher Nachbarschaft. Angepasste Konzepte für die Konfliktbearbeitung gefragt

Hürcan Aslı Aksoy / Muriel Asseburg / Wolfram Lacher

Die aktuellen Konflikte in der erweiterten südlichen Nachbarschaft Europas lassen eine tiefe Krise regio­naler Ordnungen und eine zunehmend unübersichtliche Multipolarität erkennen. Immer bereitwilliger intervenieren Russland und eine wachsende Zahl von Regionalmächten in Konfliktherden von Syrien bis Libyen, vom Kaukasus über das Horn von Afrika bis in die Zentralafrikanische Republik (ZAR). Sie reagie­ren damit auf den Teilrückzug des amerikanischen Hegemons und drängen dabei zugleich den Einfluss der USA und Europas wei­ter zurück. Sowohl die USA als auch europäische Staaten lassen sich vielerorts in die Konkurrenz der Regionalmächte bzw. in lokale Aus­einandersetzungen hineinziehen und werden dadurch selbst zu Konfliktakteuren. Im UN-Sicher­heits­rat und auf EU-Ebene hat die neue Multipolarität eine starke Einschränkung der Beschlussfähigkeit zur Folge.

Herkömmliche Ansätze deutscher Krisenbearbeitung sind der Erosion der alten Ordnungen nicht mehr gewachsen. So geht die deutsche Beteiligung an UN- oder EU-Missionen auf eine Zeit zurück, in der die USA und europäische Staaten noch weitaus grö­ßeren Einfluss in Europas erweiterter Nachbarschaft ausübten und der UN-Sicherheitsrat weniger pola­risiert war. In der neuen Un­ordnung kommen UN-Missionen zur Friedenssicherung bzw. ‑erzwingung immer weniger in Frage, was selbst für Fact Finding-Missionen gilt. Wo der Sicherheitsrat weiterhin solche Missionen aufstellt, ist ihre Effektivität in zusehends komplexeren Konflikten oft noch beschränkter als in der Vergangenheit – die UN-Mission in der ZAR etwa gewährleistet kaum den Schutz der Zivil­bevölkerung und unterhält zudem problematische Beziehungen zu russischen Militärdienstleistern. EU-Missionen werden aufgrund der widerstrebenden Interessen der Mitgliedstaaten zunehmend unpolitisch konzipiert und den neuen, antagonistischen Bedingungen nicht gerecht. Deutlich wird dies beispielsweise bei der EU-Marinemission Irini, die ihren Auftrag, das gegen Libyen verhängte UN-Waffenembargo durchzusetzen, nicht einmal ansatzweise erfüllt.

Auch bei Vermittlungsbemühungen sind etablierte Formate, die lokale Konfliktparteien zusammenbringen, den Konstellationen oft nicht mehr angemessen. Denn in diesen Konflikten spielen Russland und regio­nale Mächte wie die Türkei, der Iran und die Ver­einig­ten Arabischen Emirate eine zunehmend domi­nante Rolle im Hintergrund, und dies häufig verdeckt und unter Rückgriff auf Söldner und lokale Milizen. Die Ineffektivität etablierter Foren zur Konfliktbearbeitung ist Anlass für Konkurrenten und Regionalmächte, Ad-hoc-Formate zu nutzen. Diese hegen die Konflikte zwar ein, stehen aber gleichzeitig einer nach­haltigen Regelung entgegen. So sind etwa die Genfer Syriengespräche unter Ägide des UN-Sonder­beauf­tragten durch das von Russland initiierte Astana-Format (in Kooperation mit Türkei und Iran) unterminiert worden. Schließlich setzen Interventionen der Regionalmächte, die sich nicht an völkerrechtlichen Prinzipien orientieren, und die Polarisierung im UN-Sicher­heitsrat der internationalen Straf­gerichtsbarkeit deutlich engere Grenzen, als dies in den 2000er Jahren der Fall gewesen war.

Ein effektives Engagement bei der Bearbeitung von Konflikten in der erweiterten südlichen Nachbarschaft ist im ureigenen Interesse Deutschlands, um negative Auswirkungen abzuwenden und eine über­zeugende Alternative zu den Angeboten illiberaler Akteure zu bieten. Dabei können Vermittlung, Frie­dens­sicherung und die Überwachung von Waffenstillständen nur von unparteiischen und glaubwürdigen Akteuren gewährleistet werden. Ein konsisten­teres Vorgehen ist auch gefragt, um der Straflosigkeit von Konfliktakteuren beizukommen, die einer nach­haltigen Befriedung entgegensteht. Für die Bewältigung der Herausforderungen komplexer Konflikte ist ein Politikwandel nötig. Drei Ansätze in Diplomatie, Verteidigung und Strafrecht bieten sich vorranging an, um deutschen Interessen künftig besser zu ent­sprechen. Allerdings bringen sie auch Dilemmata und Kosten mit sich.

Politikansatz 1: Diplomatische Ad‑hoc‑Formate

Mit dem Übergang zu einer multipolaren Ordnung wächst der Bedarf an diplomatischen Ansätzen für die Lösung von Konflikten. Angesichts der Ineffektivität der etablierten multilateralen Formate treten regio­nale Kooperationsforen und diplomatische Ad-hoc-Mechanismen in den Vordergrund.

Die jüngeren deutschen Erfahrungen geben Aufschlüsse über Kosten und Nutzen solcher Mechanismen. Deutschland etablierte etwa mit dem so­genann­ten Münchner Format mit Frankreich, Jorda­nien und Ägypten ein Forum, das sich 2020 für einen Zweistaatenansatz in Israel/Palästina starkmachte. Selbst wenn dieses Kleeblatt nicht der entscheidende Akteur war, konnte es dazu beitragen, dass Israel seine Annexionspläne aufgab, zu denen es die Trump-Administra­tion ermutigt hatte. Nachdem diese Pläne im Herbst 2020 vom Tisch waren, konnte das Forum allerdings kein Momentum mehr generieren, nicht zuletzt weil es keinen Konsens über das weitere Vorgehen gab. Im Libyenkonflikt unterstützt die Bundesregierung mit dem Berliner Prozess die Vermittlungsbemühungen der UN. Die verständliche Absicht, den Teilnehmerkreis auf die wichtigsten externen Akteure in Libyen zu beschränken, hat indes zu Spannungen in den deutschen Beziehungen mit Griechenland und Marokko geführt. Das ist ein Grundproblem diplomatischer Ad-hoc-Formate. Vor allem aber zeigt der Berliner Libyen-Prozess, dass solche Formate von der Bereitschaft führender Staaten abhängen, politisches Kapital zu investieren. Deutschland verließ sich im Berliner Prozess auf die Zusagen der Regierungen, das für Libyen geltende UN‑Waffenembargo zu respektieren und sich aus dem Land zurückzuziehen. Druck­mittel wie öffentliche Bloßstellung oder Sanktionen, um die Einhaltung dieser Zusagen sicherzustellen, gab es kaum. Resultat war und ist, dass trotz der Ber­liner Libyen-Konferenzen noch massiver interveniert wurde und es nicht zu einem Rückzug kam.

Kooperationsforen können Konflikte auch verschärfen. Im East Mediterranean Gas Forum (EMGF) etwa kooperieren Ägypten, Griechenland, die Repu­blik Zypern, Israel und weitere Mittelmeeranrainer mit Unterstützung von USA und EU in ihrer Energiepolitik, schließen aber de facto die Türkei aus. Damit ist die Lagerbildung im östlichen Mittelmeerraum verstärkt worden, statt ihr entgegen­zuwirken.

Ad-hoc-Formate haben den Vorteil, dass sie relativ schnell agieren können. Insofern sind sie zur Bearbei­tung akuter Krisen gut geeignet. Um erfolgreich zu sein, brauchen sie aber klare Ziele, einen inklusiven Teilnehmerkreis und den Willen der Handelnden, politisches Kapital mit dem Ziel zu investieren, Ver­einbarungen durchzusetzen – womit auch Kosten verbunden sind, etwa Spannungen in Beziehungen mit unkooperativen Staaten. Zudem können Ad-hoc-Formate zur Erosion multilateraler Institutionen bei­tragen. In diesem Sinne sollten sie Regionalorganisationen wie die Afrikanische Union einbinden bzw. die Unterstützung von Generalversammlung und/oder Sicherheitsrat suchen. Denn so würden sie mittelfristig in einen multilateralen Rahmen eingebettet.

Politikansatz 2: Militärische Koalitionen der Willigen

Angesichts von Beschlussunfähigkeit oder Differenzen in UN-Sicherheitsrat, Nato und EU verlegen sich enge Verbündete Deutschlands in den letzten Jahren zusehends auf Koalitionen der Willigen. Deren Ziele sind divers: Die Anti-IS-Koalition bekämpft den so­genannten »Islamischen Staat« (IS) und bildet örtliche Sicherheitskräfte aus; die europäische Seeüberwachungsinitiative in der Straße von Hormus dient dem Schutz der zivilen Schifffahrt; die von Frankreich angeführte Mission Takuba befähigt Spezialkräfte im Sahel zum Kampf gegen Jihadisten. Prinzipiell steht Deutschland Koalitionen der Willigen skeptisch gegen­über und verweist Verbündete bei Anfragen in der Regel auf die Bestimmung in Artikel 24 des Grund­gesetzes, nach der Auslandseinsätze der Bun­des­wehr nur im Rahmen eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit zulässig sind. Die Beteiligung an der Anti-IS-Koalition zeigt aber, dass es bei der Inter­pretation der verfassungsrechtlichen Normen durchaus politischen Spielraum gibt.

Koalitionen von Willigen werden stets in besonders schwierigen Konfliktkontexten intervenieren. Denn Ein­sätze, die international unumstritten und mit gerin­gen Risiken verbunden sind, dürften weiterhin im etablierten multilateralen Rahmen stattfinden. Unter den gegenwärtigen Umständen könnten Koali­tionen von Einzelstaaten auch bei der Friedenssicherung oder ‑durchsetzung effektiver sein als UN- oder EU-Missionen. Gleichwohl wären die an ihnen beteiligten Militärs größeren Gefahren ausgesetzt. Zur Macht­projektion einzelner Staaten, die sich gegen konkurrierende Regional- und Mittelmächte richtet, sind Koali­tionen der Willigen ebenfalls besser geeignet. Daraus erwächst allerdings das Risiko, mit solchen Operationen zum weiteren Niedergang der regel­basierten Weltordnung beizutragen. Eine Mindestanforderung für jegliche deutsche Beteiligung sollte daher die feste völkerrechtliche Verankerung solcher Interventionen sein, etwa indem Bezug auf das Prin­zip der Schutzverantwortung genommen wird.

Für jedwede Bundesregierung wird ein Engagement im Rahmen von Koalitionen der Willigen nur im Ausnahmefall in Frage kommen. Denn solche Einsätze bergen zweifellos größeren innenpolitischen Sprengstoff als die Entsendung von Soldaten in UN- und EU-Missionen. Daraus wiederum ergibt sich auch eine Chance für zielführenderes Handeln. Denn wäh­rend der Bundestag Einsätze im UN- und EU-Rahmen meist ohne ausgiebige Auseinandersetzung beschließt und verlängert, ist für ein Engagement in Koalitionen der Willigen eine eingehendere Diskussion über Ziele und Nutzen des Einsatzes nötig. Ein solches Vorgehen könnte Deutschland auch ermöglichen, mehr Einfluss auf die Ziele, Strategien und die Auswahl der Partner zu nehmen. Weil sie für deutsche Politik exzeptio­nellen Charakter haben, sind Koalitionen der Willi­gen letztlich jedoch kein Konzept, das für die künf­tige Konfliktbearbeitung ausreicht.

Politikansatz 3: Universelle Strafgerichtsbarkeit

Bürgerkriege in der erweiterten südlichen Nachbarschaft dürften sich kaum nachhaltig befrieden lassen, wenn die teils gravierenden Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen von den beteiligten Akteuren nicht aufgearbeitet werden. Dabei geht es insbesondere darum, potentielle Straftäter oder Straf­täterinnen abzuschrecken, Opfern von Gewalt bzw. deren Angehörigen ein Mindestmaß an Gerechtigkeit und Anerkennung zuteilwerden zu lassen und eine Basis für gesellschaftliche Aussöhnung zu schaffen. In den meisten Fällen sind jedoch Maßnahmen der Über­gangsjustiz, die den Wahrheitskommissionen Südafrikas, Perus oder Marokkos vergleichbar wären, nicht zu erwarten, da die jeweils dominanten Kon­flikt­parteien kein Interesse an einer Aufarbeitung haben. Hier kann die internationale Gemeinschaft zu Aufklärung und Aufarbeitung beitragen. Ein Merk­mal der internationalisierten Konflikte ist allerdings, dass auch mit einer gerichtlichen Aufarbeitung durch den Internationalen Strafgerichtshof (IStGh) oder inter­nationale Sondertribunale kaum zu rechnen ist, weil ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrats invol­viert sind. Darum bleibt lediglich die Auf­arbeitung durch nationale Gerichte nach dem Weltrechts­prinzip.

Deutschland könnte in mehrfacher Hinsicht eine Vorreiterrolle einnehmen: erstens indem es die straf­rechtliche Aufarbeitung mutmaßlicher Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch den IStGh konsistent unterstützt, wo immer dieser das Mandat hat; zweitens indem es Verfahren nach dem Weltrechtsprinzip vor nationalen Gerichten ermutigt (in Deutschland und anderen EU-Mitglied­staaten, in denen dies möglich ist); drittens indem es gerichtsfeste Dokumentationen von Kriegsverbrechen durch zivilgesellschaft­liche und internationale Orga­nisationen unterstützt und die Kapazitäten seiner eigenen Strafverfolgungsbehörden erweitert; und viertens indem es nicht­gerichtliche Maßnahmen der Übergangsjustiz fördert, wie Wahrheitskommis­sionen oder die Begleitung lokaler Aussöhnungsprozesse, die auch in autoritären Kontexten einen Beitrag zum fried­lichen Zusammenleben leisten können.

Eine solche Vorreiterrolle würde sowohl den Inter­essen Deutschlands an einer nachhaltigen Stabilisierung seiner erweiterten Nachbarschaft als auch dem Interesse an der Stärkung einer rechtebasierten, multi­lateralen Ordnung entsprechen. Sie würde eine stärkere Betonung strafrechtlicher Elemente und damit eine Veränderung des Ressourceneinsatzes mit sich bringen. Strafverfolgung, zumal in komplexen Gewaltsituationen, ist dabei alles andere als eine »nied­righängende Frucht«, die sich mit schneller Wirkung greifen ließe. Sie ist vielmehr mit einer Fülle von Dilemmata verbunden. Dazu gehört, dass eine Aufarbeitung kurzfristig die Kooperation mit Kon­fliktakteuren belasten kann und dass sie sich in der Regel auf die Verbrechen lokaler Akteure be­schränkt, während die Verbrechen internationaler Akteure ungesühnt bleiben.

Deutschland kann nur dann glaubwürdig als Vor­reiter fungieren, wenn es diese Rolle auch konsistent ausfüllt – dies impliziert, dass eine strafrechtliche Verfolgung nicht vor Staatsangehörigen befreundeter Staaten haltmacht (vergleiche etwa die IStGh-Ermitt­lung zu mutmaßlichen Kriegsverbrechen in den paläs­tinensischen Gebieten) und dass sie nicht aus Kosten­gründen eingestellt oder aus politischer Opportunität bzw. unter dem Eindruck von Drohungen auf die direkten Täter beschränkt wird, während die politisch Verantwortlichen nicht belangt werden (vergleiche etwa das Sondertribunal für den Libanon).

Sollen negative Spillover-Effekte von Konflikten in der erweiterten südlichen Nachbarschaft vermieden werden, muss Deutschland im eigenen Interesse effek­tiver als bislang zur Bearbeitung dieser Konflikte beitragen. Dazu gilt es, den Instrumentenkasten an die komplexer gewordenen Herausforderungen anzupassen. Diplomatische Ad-hoc-Formate, militä­rische Koalitionen der Wil­ligen und eine strafrecht­liche Aufarbeitung von Kriegsverbrechen können kurz‑, mittel- und langfristig von Nutzen für die Kon­fliktbearbeitung sein – allerdings nur, wenn die unintendierten Nebeneffekte von Anfang an mit­bedacht und aufgefangen werden.

Das Eckpunktepapier zur Zukunft der Bundeswehr: Notwendige Anpassung an sicherheitspolitische Herausforderungen

Florian Schöne

Gewalt und die Androhung von Gewalt, um Inter­essen durchzusetzen, ist auch in Europa wieder in evidenter Form Teil der politischen Realität. Die Annexion der Krim, die russischen Militäraufmärsche an der Grenze zur Ukraine und Propagandavideos von neuen Waffensystemen sind ein Beleg für diese Ent­wicklung. In Syrien wird mit Russlands Hilfe brutal Krieg gegen die Bevölkerung geführt, auch in dem Kalkül, die nach Europa strebende Flüchtlingsbewegung zur Destabilisierung der Europäischen Union zu nutzen.1 Chinas Einfluss wächst derweil weit über Asien hinaus. Das russische und das chinesische Vor­gehen ähneln sich; und die Kooperation der beiden Länder wird enger. In Afrika breiten sich gewalttätige Extremisten aus. Unter dem Eindruck dieser Ereignisse und Tendenzen rückt in Deutschland die Landes- und Bündnisverteidigung wieder stärker in den Fokus, doch die Grenzen zu internationalem Krisenmanage­ment verwischen dabei zusehends.

Allein kann die Bundesrepublik die Probleme kaum lösen, aber ihre Zurückhaltung bei der An­drohung und Nutzung von Gewalt erscheint ebenfalls nicht zielführend. Noch immer setzt die deutsche Außenpolitik zu sehr darauf, dass insbesondere die USA Konflikte beilegen. Washingtons Konzentration auf Asien macht es notwendig, dass sich die Europäer selbst um die Eindämmung der Gewalt in ihrer Nach­barschaft kümmern, in Gebieten eigenen Interesses – sei es in der Ukraine, Syrien, Libyen oder Mali. Die in Wort und Tat zur Schau getragene Nato-Skepsis des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump hat Europa gezeigt, dass US-amerikanische Sicherheitsgarantien keine Selbstverständlichkeit sind. Deutschland muss daher auch militärisch handlungsfähiger werden und im militärischen Konfliktmanagement eigenständiger vorangehen können. Das setzt auf nationaler Ebene integrierte, aus einer Hand geführte Streitkräfte mit eigener strategischer und operativer Planung voraus. Es ist im Interesse der Bundesrepublik, die Bundeswehr unter diesen Vorgaben zu entwickeln, wenn sie Bündnisse wie die Nato und zum Teil auch die EU stärken und weiterhin gestalten will. Eigene strate­gische und operative Planungen anzustellen und diese in Allianzsysteme einzubringen festigt die eigene Position. In Bündnisse eingebundene, auch in Ad-hoc-Koalitionen einsetzbare, das heißt eigenständige Streitkräfte sollten daher das Ziel der Anpassungs­bemühungen sein.

Im Mai 2021 hat das Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) dazu ein Eckpunktepapier2 veröffentlicht. Darin werden erste Schritte in diese Richtung unternommen. Um diesen Weg weiter­gehen zu können, müssen indes einige eingetretene Pfade verlassen werden.

Grundzüge der »alten« Bundeswehr

Die Bundeswehr ist seit ihrer Gründung in einer außergewöhnlichen Situation. So militärisch not­wendig deutsche Streitkräfte im beginnenden Kalten Krieg waren, so umstritten und im Ergebnis kompromissbehaftet war ihre Entstehung. Sie wurden eingehegt, von außen wie von innen.3 Die strategische und die operative Steuerung wurde an die Nato abgetreten. Verkürzt gesagt gab es keine autonomen strategischen Überlegungen und keine eigenen stra­tegischen (Verlege-)Mittel für die deutschen Streit­kräfte. Auch nach ihrer Neuausrichtung 2010/11 blieb die Bundeswehr dieser Tradition verhaftet. Die Ein­satz­armee war ebenfalls auf die Bündnisstruktur an­gewiesen. Die teilstreitkraftübergreifende Zusammen­arbeit wurde durch die Aufstellung der Streitkräftebasis und des Einsatzführungskommandos geför­dert und enorm verbessert. All diese Veränderungen mün­deten aber nicht in einer umfassenden nationalen Führungs­fähigkeit. Die Kapazitäten zur eigentlichen operativen Handlungsfähigkeit und zur Strategie­bildung wurden nicht wesentlich ausgebaut, der Fokus lag und liegt vor allem auf taktischen Herausforderungen. Die Selbständigkeit blieb eingeschränkt.

»Eckpunkte« für die Zukunft?

Konflikte sind heute dimensionsübergreifend und erfordern nationale Flexibilität, also mehr Eigen­ständigkeit, ohne allerdings die Bündnisstrukturen zu vernachlässigen. Auseinandersetzungen werden kom­plexer, sind langfristiger und weiträumiger angelegt und stellen daher höhere Ansprüche an strategisches Können. Die Bundeswehr muss heute weiterhin große Distanzen überwinden, um in ein mögliches Einsatz­gebiet, sei es Litauen oder Mali, zu gelangen. Dabei ist keinesfalls sicher, dass ein Einsatz an der Ostflanke unter Artikel-5-Bedingungen erfolgt, und schon gar nicht, dass der Verteidigungsfall tatsächlich ausgerufen wird. Gegner wie Russland nutzen rechtliche und gesellschaftliche Schwachstellen gezielt aus und hal­ten die Auseinandersetzung unterhalb der Schwelle zum Krieg. Das bedeutet aber nicht, dass bewaffnete Auseinandersetzungen auch mit deutscher Beteiligung ausgeschlossen bleiben müssen.

Dimensionen

Die US-Army hat 2018 das Konzept der »Multi-Domain Warfare«, der dimensionsübergreifenden Kriegsführung, in einer Doktrin4 zusammengefasst. Dabei geht es darum, einen (gleichwertigen) Gegner mit Angriffen aus allen Dimensionen (Land, See, Luft, Cyber, Weltraum) zu überfordern und damit seine Hand­lungsfähigkeit einzuschränken, bis sein Wille zum Kampf gebrochen ist.5 Diese Art der Gefechts­führung setzt Streitkräfte voraus, die ohne Verzug Daten austauschen können. Ein Jet der Luftwaffe muss der Artillerie des Heeres Koordinaten senden können. Der Jet muss wissen, wann die eigenen Cyberkräfte die gegnerische Flugabwehr gestört haben, damit er in deren Bereich einfliegen kann. Die Fregatte vor der Küste muss wissen, wann der Jet einfliegt, um den Beschuss zu unterbrechen. Satelli­ten, die das Gefechtsfeld überwachen, müssen allen Kräften Informationen zur Verfügung stellen können.

Um die Funktionalität dieses Konzerts sicherzu­stellen, braucht es eine zentrale Steuerung aller am Kampf beteiligten Systeme, das heißt eine operative Integration. Dafür müssen Strukturmaßnahmen um­gesetzt, darüber hinaus die Abläufe aber auch geübt werden. Das ist im multinationalen Rahmen zwar zu leisten, aber mit einem erheblichen Aufwand ver­bunden. Je mehr Nationen eingebunden werden, desto schwieriger wird es; auch weil zur Not nicht auf die deutsche Sprache zurückgegriffen werden kann. Die Koordination dimensionsspezifischer Fähigkeiten ist auf Korps-Ebene denkbar, und mit der Aufstellung sogenannter Component Commands soll eine solche Ebene laut Eckpunktepapier jetzt durch die Komman­dos der Teilstreitkräfte für den Bereich der Bundeswehr vorgeplant werden. Diese Maßnahme ist geeig­net, das Verständnis für den dimensionsübergreifenden Ansatz zu vertiefen. Auch werden damit der Ausbildungsstand des Personals und so letztlich die Leistungskapazität der Bündnisstrukturen verbessert. Die ins Auge gefassten Korps-Strukturen stellen aber auch die schnelle Verfügbarkeit von Kräften sicher, die die nationale Flexibilität erhöhen und Anknüpfungspunkte für Partner auch in Ad-hoc-Koalitionen bieten können. Sie sollten daher zukünftig in Übun­gen auch getestet werden, um den Nutzen nationaler Planungen und Fähigkeiten zu erweisen.

Nationale Führung und Planung

Mit dem Territorialen Führungskommando, welches das BMVg in den Eckpunkten skizziert, wird die Fähig­keit zur Einsatzführung auf dem Gebiet der Bundesrepublik verbessert, indem die derzeit zuständigen Stellen zusammengefasst werden. Weniger Schnitt­stellen und ein verstärkter Unterbau sind ein Gewinn nicht nur für die eigene Sicherheitsvorsorge, im Rahmen der sogenannten Amtshilfe, sondern auch für das Nato-Bündnis, das sich auf die »Drehscheibe Deutschland« – etwa in der Bündnisverteidigung – verlassen können muss. Gemeinsam mit dem Einsatz­führungskommando, das für die deutschen Anteile an Auslandseinsätzen zuständig ist, wird es mit dem Territorialen Führungskommando möglich sein, ein klares Lagebild über alle Einsätze in und außerhalb Deutschlands zu erstellen und die politische Führung damit in die Lage zu versetzen, informierte Entscheidungen zu treffen.

Die Veränderungen im Verteidigungsministerium dienen dazu, »der Bundesministerin/dem Bundes­minis­ter […] die Führung der Bundeswehr in den kom­plexen Krisen unser Zeit«6 zu ermöglichen. Sie schaffen die Voraussetzung zur Führung der Streit­kräfte aus einer Hand. Sie geben der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik flexiblere Optionen und sind damit angesichts hybrider Bedrohungen und unter den genannten rechtlichen Voraussetzungen zweckmäßig. Truppenführung war bisher keine Aufgabe des Ministeriums. Eine streitkräftegemeinsame Führungseinrichtung, die außerhalb des Minis­teriums territoriale Führung und Einsatzführung verbindet und der politischen Führung als zentrale Stelle zur Verfügung steht, würde weitere Schnitt­stellen obsolet machen und Doppelungen von Füh­rungszellen vermeiden.

Gemeinsame Führung braucht gemeinsame Planung. Diese muss so gestaltet werden, dass zwischen den Waffensystemen und Einheiten nicht nur Aus­tauschbeziehungen bestehen, sondern dass sich auch deren Fähigkeiten ergänzen. Eine unkoordinierte Selbständigkeit der Teilstreitkräfte könnte diesem Ziel zuwiderlaufen. Um dies zu verhindern, braucht es streit­kräftegemeinsame Vorgaben der obersten Füh­rung. Mit dem Planungsamt der Bundeswehr ist bereits eine solche koordinierende Stelle geschaffen worden. Dieses Amt sollte weiter gestärkt werden, beispielsweise durch die Unterstellung des im Eck­punktepapier beschriebenen Doktrinzentrums, un­geachtet dessen räumlicher Ansiedelung. Eine Dok­trin, im Sinne operativ-strategischer Vorgaben, verbindet Zukunftsvorstellungen (Konfliktszenarien) mit aktuellen Herausforderungen und ist integraler Teil der Streitkräfteplanung. Eine solche Leitlinie ist daher geeignet, die Lücke zwischen dem Fähigkeitsprofil und der taktischen Umsetzung zu schließen. Ein derartiges Zentrum wird das Verständnis für Dok­trinentwicklung stärken, was das deutsche Gewicht in den Bündnisprozessen, wie dem Nato Defence Plan­ning Process, erhöhen wird.

Strategiefähigkeit

Strategiefähigkeit ist ein wesentliches Element staat­lichen Handelns. Das Militär stellt der Regierung Optio­nen bereit, aber dazu muss es strategische Pro­zesse selbst durchdenken. Es ist kein einfaches Unter­fangen, strategisches Denken anstelle des klassischen taktischen zu fördern. Erforderlich ist dafür die Her­ausbildung einer strategischen Kultur.

Strategisches Denken ist Voraussetzung für eine »Verbesserung der strategischen Führungsfähigkeit«,7 wie sie im Eckpunktepapier anvisiert wird. Allein mit begleitenden Maßnahmen, wie der Einrichtung eines »Bundesbeirats Sicherheit«8 oder der Durchführung einer Sicherheitswoche im Bundestag9, lässt sich dieses Ziel nicht erreichen. Ein Bundessicherheitsrat wäre ebenfalls auf die Fähigkeit der höheren Offiziere angewiesen, das militärisch Notwendige als Teil des vernetzten Ansatzes ebenso zu bewerten wie das poli­tisch Machbare und die (langfristigen) Konsequenzen sowie darauf aufbauende Optionen zu erarbeiten. Strategisches Denken ist komplex und bedarf daher gezielter Schulung. Ohne versierte Lehre ist es schwie­rig, eine strategische Kultur zu entwickeln, die wie­der­um Grund­lage der Strategiefähigkeit ist. Diese Art zu denken sollte spätestens bei angehenden Stabs­offizieren angeregt und nachfolgend weiter gefestigt und vertieft werden. Der Basislehrgang für Stabs­offiziere und der Generalstabsdienstlehrgang sollten ent­sprechend angepasst werden.

Strategiefähigkeit setzt internen und externen Diskurs voraus. Um diesen Diskurs anzukurbeln, wurde 2018 in Hamburg das German Institute for Defence and Strategic Studies (GIDS) gegründet. Es soll unter anderem dazu dienen, der Öffentlichkeit die militärische Perspektive zugänglich zu machen. Es fehlt aber an internen Publikationsformaten, die die Hemm­schwelle zur Mitwirkung gerade jüngerer Soldaten senken könnten. Intern wie extern ist es zum einen an den militärischen Vorgesetzten, mit gutem Beispiel voranzugehen und den Diskurs an­zustoßen. Eine Verpflichtung, ab dem ersten Gene­ralsrang aufwärts pro Jahr einen Meinungsbeitrag zu militärstrategischen Themen zu liefern, wäre ein Startpunkt. Zum anderen ist es an der Politik, die Aus­einandersetzung sichtbar einzufordern. Ein Schritt in diese Richtung wäre die direkte Unterstellung des GIDS unter das Verteidigungsministerium. Dies könnte die Austauschbeziehungen verbessern und sich ebenfalls positiv auf die Akzeptanz dieses Think Tanks auswirken.

Fazit

Wer sich oder andere vor Gewalt schützen will, muss die glaubhafte Bereitschaft (die Fähigkeiten und den Willen) haben, Gegengewalt einzusetzen. Die neuen Konflikte werden in allen Dimensionen und mit allen Mitteln ausgetragen. Diese strategischen und opera­tiven Rahmenbedingungen erfordern Streitkräfte, die national führungsfähig und teilstreitkraftübergreifend genauso integriert sind, wie sie international anschlussfähig sein müssen.

Das Eckpunktepapier des Verteidigungsminis­teriums weist in die richtige Richtung, aber diese muss nun konsequent verfolgt werden. Die Bundeswehr muss in Ausbildung und Planung über die taktische Ebene hinausgehen und fähig werden, Mili­tärstrategien zu entwickeln und operativ zu führen; außerdem muss sie weiterhin Beiträge in den öffent­lichen Diskurs einbringen. Durchgängige Führungsfähigkeit bis in das Verteidigungsministerium, die Etablierung eines Doktrinzentrums, in dem eigene operative Leitlinien erarbeitet werden, und die Grün­dung eines Think Tanks als deutliches Zeichen für den Willen zum militärstrategischen Diskurs sind mit Blick auf die Geschichte der Bundeswehr keine selbst­verständlichen Maßnahmen. All diese Schritte sind geeignet, die Streitkräfte an die oben genannten sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen anzupassen, mithin zu mehr Selbständigkeit und die Über­nahme von mehr Verantwortung zu befähigen. Die Bundeswehr würde mit diesen Maßnahmen in die Lage versetzt, falls Bündnisstrukturen nicht greifen sollten, im Konzert mit gleichgesinnten Partnern agieren und möglicherweise sogar als Anlehnungs­nation vorangehen zu können. Das Resultat wären Streitkräfte, die – nicht unähnlich der französischen oder der britischen Armee – in Bündnisstrukturen integriert und trotzdem flexibel einsetzbar sind, Streit­kräfte, die die Ad-hoc-Handlungsfähigkeit Deutschlands verbessern würden. Die neue Bundes­regierung sollte diesen Weg weiterverfolgen.

Maritime Wahl: Indo-pazifische versus arktisch-nordatlantische Prioritäten

Michael Paul / Göran Swistek

Mit der Herausgabe der Leitlinien zum Indo-Pazifik hat die Bundesregierung deutlich gemacht, dass sie diese Region derzeit als den strategisch wichtigsten Raum betrachtet und ihr fortan außenpolitisch Priorität zumessen werde. Im Indo-Pazifik sei auch Deutschlands Sicherheit gefährdet. Deshalb gelte es, die inter­nationale Ordnung dort zu schützen. Deutschland will sich an dieser Aufgabe auch mit militärischen Fähigkeiten beteiligen. In seiner ersten Grund­satzrede Ende Juni 2021 betonte der Inspekteur der Marine, das mit der Entsendung der Fregatte Bayern begonnene Engagement in der Region künftig ver­stetigen zu wollen. Er wünsche sich eine Intensivierung der Kooperationen mit den großen Marinenatio­nen in diesem Raum, selbst wenn dies nur mit einer Ent­lastung bei den Verpflichtungen zu bewerkstelligen sei, Einheiten und Fähigkeiten in den stehenden Nato-Einsatzverbänden bereitzustellen.

Zugleich zeichnet sich aber für die Allianz ein dyna­misch eskalierender Konflikt mit Russland im Hohen Norden ab. Noch nie, seit dem Ende des Kalten Krieges, war das Verhältnis der Nato zu Moskau auf einem solchen Tiefpunkt. Für das Bündnis wäre ein geographischer Spagat, bei dem es dem arktisch-nord­atlantischen und dem indo-pazifischen Raum die gleiche Aufmerksamkeit widmet, kaum leistbar. Die Expertengruppe des Reflexions­prozesses »Nato 2030« hat jüngst in ihrem Abschlussbericht die Zunahme militärischer und auch als aggressiv zu bewertender Aktivitäten Russlands im Hohen Norden dargelegt. Als Konsequenz daraus empfiehlt sie der Nato, den Pfeiler der militärischen Abschreckung und Vertei­digung innerhalb des nordatlantischen und euro­päischen Raums zu stärken. Auch im Abschlusskommuniqué des Nato-Gipfeltreffens vom Juni 2021 wird die potentielle Bedrohung durch Russ­land außer­gewöhnlich deutlich betont. Die Regierungschefs der Bünd­nis­partner thematisieren gleichzeitig aber auch das zunehmende Ausgreifen Chinas auf den nordatlantischen Raum und stellen ein stärkeres Engagement mit Partnern im Indo-Pazifik in Aussicht. Bereits in ihrem Weißbuch von 2016 hat die Bundes­regierung den Horizont der deutschen Sicherheits­politik als global definiert. Doch aufgrund der Risiken und Bedrohun­gen im nordatlantischen und osteuropäischen Raum legte sie den sicherheitspolitischen Schwerpunkt in den vergangenen Jahren auf die Stär­kung der Fähigkeiten zur Landes- und Bündnisverteidigung. Eingedenk der begrenzten Res­sourcen und der bestehenden Einsatz­verpflich­tungen seiner Streit­kräfte ist auch für Deutschland ein Agie­ren in beiden geographischen und mehrheitlich maritim geprägten Zonen kaum zu realisieren. Hier bestünde die Gefahr, dass wesentliche Fähigkeiten über­strapaziert werden und durch Doppelungen mit Partnern und Alliierten an anderer Stelle offene »Flanken« entstehen.

Die Lage in der Arktis und im Nordatlantik

Seit der russischen Invasion Georgiens 2008, dem die völkerrechtswidrige Annexion der Krim 2014 und der seither andauernde Krieg in der Ukraine folgte, hat sich die sicherheitspolitische Lage in Europa und ent­lang des Nordatlantiks bis zur Arktis verändert. Russ­land nutzt derzeit ein breites Repertoire an verdeckten und offenen Mitteln zur Destabilisierung des Wes­tens, das von militärischer Aufrüstung und bewusster Provokation über die Einmischung in die Politik und Wahlen der europäischen Länder bis hin zu konstanten Übergriffen im Cyber- und Informationsraum reicht und der Durch­setzung seiner Interessen in Europa und im Nordatlantik dient. Durch diese Akte befin­den sich die Staaten des Westens bereits perma­nent in einem Konflikt, der jedoch von Seiten des Urhebers mit Bedacht oft nicht zuzuordnen ist und gegenwärtig noch unterhalb der Schwelle etwaiger physischer Gewalt bleibt. Moskaus Politik im Hohen Norden und in der Arktis ist unmittelbar mit seinen Interessen in Europa verknüpft. In geostrategischer Betrachtung stellt sich der europäische Kontinent aus russischer Perspektive als eine halbinselförmige Ver­längerung der eurasischen Landmasse dar. Europa besitzt die überwiegend frei zugängliche Küstenlinie zum Atlantik, die der Russischen Föderation fehlt. Russlands Zugang zum Atlantik erfolgt über die Ost­see oder die Arktis. Dort hat Moskau beachtliche mari­time und militärische Potentiale und Kräfte disloziert, die jedoch in ihrer Bewegungsfreiheit ein­geschränkt sind. Aus russischer Sicht sind die See­verbindungslinien, die im arktisch-nordatlantischen Raum verlaufen, nicht nur wesentlich zur Versorgung der eigenen Häfen. Sie gelten auch als potentielle Verkehrs- und Transportwege einer künftigen mari­timen Seidenstraße. Im Rahmen der angestrebten Intensivierung der Kooperation zwischen der Eura­sischen Wirtschaftsunion und der chinesischen Belt and Road Initiative (BRI) sieht Russland die Chance, sich geostrategisch aus einer Position am Rande Europas und Asiens in die Position einer handels­politischen Drehscheibe im Zentrum Eurasiens zu wechseln und damit seine Rolle als weltpolitischer Akteur aufzuwerten. Geoökonomisch manifestieren sich diese Bestrebungen in den land- und seeseitigen Übergängen der Seidenstraße nach Zentraleuropa und in den russischen Öl‑ und Gaspipelines nach Europa. Strategisch gehört dieses Gebiet, Zentral­europa, zur unmittelbaren Interessensphäre der russi­schen Außen- und Sicherheitspolitik. Es ist die Land­masse, die den Hohen Norden und die Ostsee mit dem Schwarzen Meer bzw. dem Mittelmeer verbindet. Moskaus Nordatlantik- und Arktispolitik ist – öko­nomisch und sicherheitspolitisch – somit auch ein Mittel seiner Strategie für Europa.

Der arktisch-nordatlantische Raum aus deutscher Sicht

Deutschland ist kein arktischer Staat, doch aufgrund seiner Rolle in der internationalen Gemeinschaft und seiner Interessen ist es stark in »Arktisthemen« invol­viert. Geostrategisch hat Deutschland eine ganz beson­dere Lage: Als Teil des Ostseeraums liegt es an den Schnitt­stellen zum Hohen Norden – dem Atlan­tik und der Ostsee. Damit verknüpft sind elementare außenwirtschaftliche und sicherheitspolitische See- und Landverbindungwege, die entweder durch oder an Deutschland vorbeiführen. Die deutsche Öffentlichkeit betrachtet die Arktis und den angrenzenden subarktischen Raum zuvorderst aus ökologischem, ökonomischem und politischem Blickwinkel. Als Mitglied des Ostseerats, der EU und der Nato sowie als Beobachter im Arktischen Rat und im Barents Euro-Arctic Council hat die Bundesregierung zahlreiche Themen auf ihrer Agenda, die direkt oder indirekt die Arktis betreffen. Diese Themen und die damit ver­bundenen Interessen wurden in den Leitlinien deutscher Arktispolitik im August 2019 gebündelt dargelegt.

Der Bundesrepublik ist als mittelgroßer Macht in besonderem Maße an verlässlicher internationaler Sicherheit, kollektiver Krisenbewältigung und Krisen­prävention gelegen. Deutschland ist eine kontinentale Mittelmacht und als außenhandels- und rohstoff­abhängige Nation ein Teil der Halbinsel Europa, die auf freie Seewege angewiesen ist. All diese essentiellen Rahmenbedingungen werden durch die wachsende Konkurrenz der Großmächte USA, China und Russ­land in Frage gestellt, womit auch die Handlungsspielräume Deutschlands beschnitten werden. Es liegt daher im deutschen Interesse, gemäß den Leitlinien deutscher Arktispolitik den »bestehenden geopolitischen Span­nungen in der Region zu begegnen und (Inter­essen-)Konflikten und potentiellen Krisen in der Arktis vorzubeugen«. Die Bundesregierung setzt sich dafür ein, die Arktis als konfliktarme Region zu erhalten, sie auf friedliche Weise zu nutzen und die Freiheit der Schifffahrt dort zu bewahren – schließlich erfolgt der deutsche Außenhandel wertmäßig zu fast 60 Prozent über die See.

Darüber hinaus ist es das Ziel deutscher Arktis­politik, dass bestehende internationale Verpflichtungen und Normen in der Region weiterhin beachtet wer­den. Zugleich erkennt die Bundesregierung die sich entwickelnde sicherheitspolitische Dynamik im Hohen Norden. Angesichts einer Rüstungs- und Eska­lationsspirale, die dort möglicherweise entsteht, bekennt sie sich zu ihren Bündnisverpflichtungen. Deutschland und die Bundeswehr müssen ihre mili­tärischen Fähigkeiten gemeinsam mit den nordeuropäischen Partnern verstärken und einen substantiell größeren Beitrag zur Wirksamkeit der europäischen Diplomatie und zur Verteidigungsfähigkeit des Bünd­nisses im subarktischen Raum leisten. Jedwede militä­rischen Aktivitäten in der Region sollen defensiver Natur sein. Gleichwohl soll die Bundeswehr die Mög­lich­keit haben, zum Ausdruck ihrer Bündnistreue und als Signal der Abschreckung an Manövern und Übungen in der Arktis oder im subarktischen Raum teilzunehmen. Was die Übungen und Manöver zu Land betrifft, ist vor allem auf die Teilnahme der durch Deutschland überwiegend gestellten und ge­führten Very-High-Readiness-Joint-Task-Force-Brigade (VJTF) an der Nato-Großübung Trident Juncture 2018 in Nord-Norwegen zu verweisen. Vereinzelt haben sich auch Soldaten des Seebataillons der Marine am arktischen Training mit niederländischen Marines beteiligt, in Vorbereitung der gemeinsam gestellten Amphibischen Task Group (ATG). Seeseitig ist die Deutsche Marine regelmäßig mit ihren Einheiten bei Übungen und Manövern im subarktischen Raum präsent. Ob als Bestandteil der stehenden maritimen Einsatzverbände der Nato, im Rahmen bilateraler Kooperationen insbesondere mit Norwegen oder bei Gelegenheit anderweitiger maritimer Übungen: Der subarktische Bereich des Nordatlantiks und der nördlichen Ostsee gehört zu den Standardseegebieten, in denen die Deutsche Marine operiert.

Aufgrund der Abhängigkeit Deutschlands vom freien Schiffsverkehr kommt der Bundeswehr beim Schutz der eigenen Küstengewässer und der angrenzenden Seegebiete sowie der internationalen See­verbindungslinien »eine besondere Verantwortung« zu, wie es in der Konzeption der Bundeswehr heißt. Im Falle von Ostsee und Nordsee ist diese Verantwortung relativ klar. Aber der Nordflankenraum der Nato besteht nicht nur aus dem Seegebiet zwischen Däne­mark und dem Baltikum, er erstreckt sich auch über das Europäische Nordmeer in den Hohen Norden. Deutschland und seinen europäischen Partnern ist es ebenso wie den USA ein wichtiges Anliegen, die Sicher­heit und Resilienz der Länder in diesem Raum zu erhöhen. Hierzu bedarf es spezieller militärischer Fähigkeiten in den Seegebieten des Hohen Nordens über und unter Wasser sowie im Luftraum. Im Vor­dergrund stehen dabei unter anderem Seefernaufklärer (Maritime Patrol Aircraft, MPA), U‑Boote und U‑Jagdeinheiten, die auch einen wichtigen Beitrag zur Lagebilderstellung und zum Wissen um maritime Räume (Maritime Domain Awareness) leisten. Die USA sind größter Bereitsteller solcher Fähigkeiten in der Nato. Vor dem Hintergrund der chinesischen Macht­politik im indo-pazifischen Raum sind sie jedoch zunehmend außerhalb Europas und seiner Peri­pherie gefordert. Viele der spezialisierten Fähig­keiten der US-Marine werden dementsprechend bevorzugt dort eingesetzt werden, wo sich eine Kon­frontation mit China nicht mehr ausschließen lässt. In seinen Einlassungen zum US-Verteidigungs­haushalt für das Jahr 2022 äußerte der Vorsitzende der Generalstabschefs General Mark A. Milley, dass die Arktis sehr wohl in Zukunft eine bedeutende geo­strategische Rolle für die USA bekommen werde. Doch derzeit gebe es im Hinblick auf Fähigkeiten und deren Finanzierung andere Prioritäten. Die Eska­la­tionsdynamik im Indo-Pazifik wird als drängender bewertet. Es liegt im deutschen Interesse, wenn sich die USA den dortigen sicherheitspolitischen Herausforderungen stellen. Damit verbindet Washington jedoch die Erwartung, dass die unmittelbaren Pro­bleme für Europas Sicherheit – auch im Hohen Nor­den – von den Ländern des betroffenen Kontinents eigenständiger und glaubwürdiger angegangen wer­den. Dies setzt jenseits von Führungs- oder Koordi­nations­aufgaben eine Stärkung militärischer Fähig­kei­ten, das Schließen spezifischer Fähigkeitslücken und eine Steigerung der militärischen Bereitschaft voraus.

Folgen für die deutsche Politik

In beiden geographischen Räumen mehren sich die Anzeichen für eine zunehmende Kooperation Chinas und Russlands. Die Basis dafür ist eine Überschneidung bzw. Kompatibilität der grundlegenden Inter­essen und Ziele. Die westlichen Demokratien stehen vor dem Problem, dass sowohl in der Arktis als auch im Indo-Pazifik mit den systemischen Konflikten sicher­heitspolitische Herausforderungen einher­gehen. Deutschland ist außenwirtschaftspolitisch ein Global Player, außen- und sicherheitspolitisch jedoch eine Mittelmacht mit begrenzten Ressourcen und Fähigkeiten. Da sich Letzteres voraussichtlich nicht ändern dürfte und auch der deutsche Verteidigungsetat in den nächsten Jahren stagnieren oder sich redu­zieren wird, ist abzusehen, dass die Bundeswehr als Instrument der Außen- und Sicherheitspolitik nicht gleichzeitig in diesen beiden maritimen und geo­politisch wichtigen Räumen eingesetzt werden kann.

Deutschland tut angesichts dieser Prämissen gut daran, sich mittelfristig mit seinen militärischen Fähigkeiten auf einen sicherheitspolitisch regional begrenzten Ansatz zu konzentrieren. Im indo-pazifi­schen Raum reichen die diplomatischen und außen­wirtschaftlichen Instrumente aus, um die deutschen Partner in der Region des nachhaltigen Interesses der Bundesrepublik zu versichern. Im Nordatlantik und im Hohen Norden dagegen sollten das diplomatische Engagement intensiviert und gleichzeitig militär­politische Maßnahmen, unter anderem im Rahmen der Nato, verstärkt werden, um diesen Raum zu stabilisieren.

Für Deutschland und Europa stellt Russland mit seinem Agieren derzeit die unmittelbarste und direk­teste Bedrohung dar – sowohl hinsichtlich der Frei­heit der Schifffahrt wie des Eskalationspotentials, das sich aus dem russischen Verhalten gegenüber nor­dischen Staaten und der anhaltenden Militarisierung des arktisch-nordatlantischen Raums ergibt. Diesen Bedrohungen können Europa und Deutschland gegen­wärtig nicht allein entgegentreten. Auf abseh­bare Zeit bedarf es dazu weiterhin der Fähigkeiten und der Präsenz der amerikanischen Streitkräfte. Die USA richten den Schwerpunkt ihrer Aktivitäten jedoch zunehmend auf den Systemkonflikt mit China im Indo-Pazifik. Würde Deutschland im Nordatlantik mehr Verantwortung übernehmen und damit die Amerikaner dort entlasten, böte dies den USA not­wendige Freiräume. Deutschland würde damit gleich­zeitig einen wahrnehmbaren Beitrag leisten, der dazu dient, die Fähigkeiten zur Abschreckung und Ver­teidigung im Rahmen der Nato zu stärken und die Sicherheitslage im Hohen Norden zu stabilisieren.

Schwieriges Verhältnis zu Moskau. Deutsche Russlandpolitik muss weiter justiert werden

Sabine Fischer

Die Beziehungen mit Russland werden auch für die nächste Bundesregierung eine der größten außen­politischen Herausforderungen sein. Sie gehören zu den kontroversesten Themen innerhalb der EU, sind konstitutiv für die europäische Sicherheit, haben eine markante transatlantische Dimension und sind als Folge der zunehmenden Bedeutung Chinas für Russ­land eng mit der Frage der künf­tigen Weltordnung verknüpft. Deutschland braucht keine grundlegend neue Russlandpolitik, aber es muss die Realität der russischen Innen- und Außen­politik noch stärker berücksichtigen.

Russische Realität

Drei Trends prägen die Entwicklung der russischen Politik:

1. Der russische Staat ist in den letzten zwei Jahr­zehnten kontinuierlich auto­kratischer geworden. Die Autokratisierung des politischen Systems geht einher mit der zusehends expliziteren Ablehnung von libe­raler Demokratie und Weltordnung. Beide gelten im offiziellen russischen Diskurs nur mehr als ideologischer Unterbau eines unilateralen westlichen Domi­nanzanspruchs. Diese Ansicht teilt auch Peking, was den politischen Schulterschluss Russlands und Chinas auf internationaler Bühne forciert.

2. Russland sieht sich als internationale Großmacht. Es erhebt den Anspruch, bei der Gestaltung regionaler Ordnungen (in seiner Nachbarschaft, im Nahen und Mittleren Osten) entscheidend mitzuwirken. Dieses Bestreben ist Ausfluss der Vorstellung von einer multipolaren Welt, in der Russland gleichauf mit Großmächten wie den USA und China agiert.

3. Russland nutzt die Schwachstellen westlicher Demokratien, um diese zu unterminieren. Darin sieht Moskau die Antwort auf westliche Einflussnahme in Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjet­union. Weil chinesische und russische Ziele und Methoden einander ähneln, sollten westliche Demo­kratien diesen Trend auch im Kontext der sich ver­schär­fenden globalen Systemkonkurrenz verstehen.

Zwischen diesen drei Trends gibt es eine enge Wech­selwirkung. Die Autokratisierung im Innern steigert das Bedürfnis des russischen Staates, west­liche Einflüsse abzuwehren und westliche Systeme zu unterminieren. Die geopolitische Konfrontation mit dem Westen wiederum dient auch der Legitimation im Innern. Alle drei Trends werden sich mit großer Wahrscheinlichkeit in den nächsten fünf bis zehn Jahren fortsetzen. Eine demokratische Transi­tion Russ­lands erscheint hingegen unwahrscheinlich. Das politische System weist trotz wachsender Legiti­mitätsprobleme einen relativ hohen Grad an Stabi­lität auf. Auch die internationalen Rahmenbedin­gungen (zunehmender Einfluss Chinas, Schwächung westlicher Demokratien) dürften eher stützend als destabilisierend wirken und es Russland ermöglichen, an seinem Kurs festzuhalten.

Deutsche Russlandpolitik: teilweise an der Realität vorbei

Die beschriebenen Trends begrenzen den Handlungsspielraum für deutsche und EU-Politik. So ist deren Einfluss auf innen­politische Entwicklungen in Russ­land zusehends geschrumpft. Die Konfrontation mit Moskau in der östlichen Nachbarschaft belastet das europäische Sicher­heits­system. Das politische und militärische Engagement Russlands im Nahen und Mittleren Osten wiederum steht in einem Zusammen­hang mit Flucht und Migration nach Deutschland bzw. in die EU. In der globalen Systemkonkurrenz mit China (und Russland) hat Deutschland zwischen der Wahrnehmung wachsender Bedrohungen und seinen Handels­- und Wirtschaftsinteressen noch keine klare Position gefunden.

Berlin hat seine Politik in den vergangenen Jahren den sich wandelnden Rahmenbedingungen in der Region angepasst und europäisch eingebettet. Den Staaten der östlichen Nachbarschaft misst die Bundes­regierung heute mehr Bedeutung zu als noch in den 2000er Jahren. Es ist nicht zuletzt Deutschland zu­zuschreiben, dass der EU-Konsens über die Sanktionen gegen Russland seit 2014 bestehen blieb. Ange­sichts des politi­schen Konflikts mit Moskau hat es Berlin außerdem zu einer Priorität gemacht, Kontakte in die russische Gesellschaft zu fördern.

Gleichzeitig lässt sich die deutsche Politik weiterhin von Grundannahmen leiten, die mit der Realität im Verhältnis zu Russland immer weniger in Ein­klang zu bringen sind. So ist nach wie vor die Über­zeugung verbreitet, ökonomische Verflechtung könne per­spek­tivisch Russlands wirtschaftliches und politisches System und dadurch auch seine Haltung zu Deutschland und zur EU positiv verändern. Ähn­liches gilt für die Hoffnung, Moskau ließe sich durch Dialog zu konzilianteren Posi­tionen bewegen. Beides entspricht seit Jahren nicht mehr dem Selbstverständ­nis von Russlands politischer Führung. Derartige Fehl­annahmen finden sich auf unterschiedlichen Ebenen der deutschen Politik. Die Folge sind nationale Allein­gänge besonders dort, wo wirtschaftliche Interessen im Spiel sind. Das prominenteste Beispiel ist die Pipe­line Nord Stream 2. Einzelne Bundesländer und an­dere Akteure betreiben immer wieder »Nebenaußen­politik« gegenüber Russland, zuletzt wiederholt, als es um die Beschaffung des russischen Corona-Impfstoffs Sputnik V ging. All dies führt zu Konflikten mit den europäischen Partnern wie auch mit Washington.

Neue Bundesregierung: (noch) mehr Realitätssinn erwünscht

Die nächste Bundesregierung sollte ihre Russland­politik verstärkt den realen Gegebenheiten anpassen und überkommene Grundannahmen revidieren. Auf globaler Ebene muss Berlin die Dynamik der russisch-chinesischen Beziehungen stärker in seine Kalkula­tion einbeziehen. Das Verhältnis zwischen beiden Staaten wird sich weiter vertiefen. Es wird auch, zu­ungunsten Russ­lands, asymmetrischer werden. Mos­kau wird sich dem jedoch kaum wider­setzen – es sei denn, es käme zu einer Umorientierung der russischen Außen­politik, die wiederum innenpolitische Veränderungen voraussetzen würde. Wahrschein­licher ist, dass Moskau und Peking wie bisher dort den Schul­ter­schluss üben werden, wo sie die Positio­nen der USA und anderer westlicher Akteure schwä­chen können. Der französische Präsident Emmanuel Macron startete 2019 eine an Moskau gerichtete diplo­matische Initiative in dem Glauben, die EU könne Russland mit Gegenangeboten aus der Um­armung mit China herauslösen. Dies erwies sich schnell als Illusion: Die russische politische Führung traute Macron nicht zu, in der EU, vor allem aber gegenüber Deutschland die Führung zu übernehmen. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt auch kaum noch Inter­esse am Engagement mit der EU. Mit der Wahl von Joe Biden zum amerikanischen Präsidenten hat sich die Chance ergeben, die transatlantischen Beziehungen (auch) im Hinblick auf Russland/Osteuropa zu reaktivieren. Die nächste Bundesregierung sollte trans­atlantische Konsolidie­rung bei der Gestaltung des Beziehungsvierecks EU–USA–Russland–China zur obersten Priorität machen. Dafür hat sie vorerst nur bis zum Beginn des nächsten US-Präsidentschafts­wahlkampfs Ende 2023 Zeit.

Deutschland muss mehr Verantwortung für europäische Sicherheit übernehmen. Das Verhältnis zu Russland ist in diesem Bereich äußerst angespannt. Moskau setzt in seiner erweiterten Nachbarschaft (inklusive Arktis und Naher/Mittlerer Osten) zunehmend auf militärische und hybride Mittel. Internatio­nale Rüstungskontrollregime erodieren, das gegen­seitige Vertrauen ist auf einem Tiefpunkt angelangt. In dieser Situation gilt es, im Rahmen von EU, Nato und OSZE die Verteidigungskapazitäten und die Resi­lienz westlicher Demo­kratien auszubauen. Dazu gehört auch, Finanzströme sowie politische und wirt­schaftliche Verflechtungen daraufhin zu überprüfen, wo sie auf politische Pro­zesse in Deutschland und anderen EU-Mitgliedstaaten einwirken. Moskau wird Angebote, über Rüstungskontrolle, Konfliktpräven­tion oder »de-conflicting« zu sprechen, erst dann ernst nehmen, wenn es mit einem konsolidierten und wehr­haften Gegenüber zu tun hat.

Berlin sollte auch seine Grundannahmen zur öst­lichen Nachbarschaft überprüfen. Die Region hat sich so weit ausdifferenziert, dass die 2009 geschaffene Östliche Partnerschaft der EU in zwei Teile zerfällt: die Asso­ziie­rungsprozesse auf der einen, die Beziehun­gen mit Armenien und Aserbaidschan auf der ande­ren Seite. Der belarussische Machthaber Luka­schenka hat die Teilnahme seines Landes an der Östlichen Partnerschaft ausgesetzt. Besonders viel Energie muss darauf verwendet werden, die Reformprozesse in den drei assoziierten Staaten Ukraine, Moldau und Georgien voranzubringen. Die Assoziierungsabkommen gibt es seit 2014, die Erfolgsbilanz ist gemischt. Alle drei Länder befinden sich in einem Teufelskreis aus internen Reformwiderständen, regio­naler Instabilität und dürftigem EU-Angebot. Alle drei wollen nach wie vor der EU beitreten. Deutschland hat, gemeinsam mit einigen anderen Mitgliedstaaten, diese Option bislang negiert – und sicherlich ist die EU bis auf weiteres nicht zu neuen Erweiterungs­prozessen in der Lage. Es ist aber in Deutschlands primärem Interesse, dass diese Staaten sich nachhaltig entwickeln und stabilisieren. Ihre Reformanstrengungen müssen deshalb zu einer prioritären Aufgabe gemacht und mit aller Kraft unterstützt werden. Entsprechende Schritte sind von großer Bedeutung für das Verhältnis der EU zu Russland, weil sie den Gestaltungsanspruch der EU in der Region festigen und zur Konsolidierung der Reformen in den asso­ziierten Staaten beitragen können. Gegenüber Bela­rus, Armenien und Aserbaidschan müssen Deutschland und die EU-Partner die vorhandenen engen Spiel­räume effizient nutzen.

Die deutschen Vorbehalte gegen eine intensi­vere sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit der Ukraine werden der traurigen Realität vor Ort nicht mehr gerecht. In den vergangenen zwei bis drei Jahren hat sich die Struktur des Konflikts im Donbas deutlich gewandelt. Mittlerweile haben weite Teile der Bevölkerung in den umstrittenen Territorien russische Pässe. Eine Offensive Moskaus »zum Schutz« dieser Neubürgerinnen und ‑bürger wird deshalb wahr­scheinlicher. Der russische Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze im Frühjahr 2021 belegt die gefährliche Dynamik des Konflikts. Um die von Russland annektierte Krim und im Asowschen Meer wachsen die Spannungen ebenfalls. Stellt sich Berlin der Diskussion über mehr sicherheitspolitische Unter­stützung für Kiew, lassen sich klare Bedingungen formulieren, unter denen eine solche Zusammen­arbeit stattfinden könnte. Konfliktlösung muss wieder viel stärker in den Fokus deutscher Politik gegenüber der östlichen Nachbarschaft rücken.

Die neue Bundesregierung wäre gut beraten, die deutsche Suche nach immer neuen Anlässen für »selek­tives Engagement« mit Russland einzustellen. Alle Themen, die unter diese vierte der fünf Leitlinien für die Russlandpolitik der EU fallen, liegen seit lan­gem auf dem Tisch. Ihre Anzahl ist begrenzt, was mit divergierenden Interessen zu tun hat, aber auch mit Moskaus schwindendem Willen, sich seinerseits zu engagieren. Die Absage an alle Angebote der EU, bei der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie zusammenzuarbeiten, ist dafür ein beredtes Beispiel. Ge­mein­sam mit den EU-Partnern sollte Deutschland die weni­gen Themen iden­tifizieren, bei denen kein Weg an Russland vorbeiführt bzw. die wegen überlappender Interessen auf Fortschritte hoffen lassen. Zur ersten Kategorie gehören regionale Krisen und Konflikte, besonders in der östlichen Nachbarschaft und im Nahen und Mittleren Osten, ebenso Rüstungskontrolle, Cybersicherheit und die Zukunft der Arktis. In der zweiten Kategorie ist die Auswahl sehr viel geringer. Derzeit bietet sich hier vor allem der Kampf gegen den Klimawandel an. Die Moskauer Klimapolitik ver­harrt zwar bislang hauptsächlich auf rhetorischer Ebene. Doch wird Russland als Öl- und Gasexporteur von der Umsetzung des europäischen Green Deal massiv betroffen sein, wodurch sich auch auf russi­scher Seite Ansatzpunkte für Ko­operation ergeben.

Gesellschaftlicher Austausch muss Priorität der deutschen Russlandpolitik bleiben. Autokratisierung und Pandemie haben den Spielraum dafür drastisch schrumpfen lassen. Moskau geht nun auch vermehrt gegen deutsche Organisationen vor, weshalb die deutsche Seite des Peters­burger Dialogs alle geplanten Aktivitäten bis auf weiteres suspendiert hat. Die neue Bundesregierung sollte prüfen, welche Funktion dieser Dialog unter den gegebenen Umständen für gesell­schaftlichen Austausch mit Russland haben kann. Sie sollte sich außerdem auf europäischer Ebene für (notfalls unilaterale) Schritte einsetzen, die rus­sischen Bürgerinnen und Bürgern die Einreise in die EU erleichtern.

Solche Veränderungen müssen sich auch in der institutionellen Aufhängung der deutschen Russland- und Osteuropapolitik niederschlagen. Das Amt des Koordinators bzw. der Koordinatorin für zwischen­gesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland, Zen­tral­asien und den Ländern der Östlichen Partnerschaft ist nicht mehr zeitgemäß und sollte auf meh­rere Schultern verteilt werden. Die neue Bundes­regierung sollte einen Koordinator bzw. eine Koordi­natorin für die Östliche Partnerschaft mit Schwer­punkt auf den assoziierten Ländern berufen und so deren Reformprozessen das Gewicht verleihen, das ihnen zusteht. Eine weitere Koordinatorin bzw. ein weiterer Koordinator sollte sich um die schrumpfenden Möglichkeiten zur Zusammenarbeit mit der rus­sischen Zivilgesellschaft kümmern. Beide Positionen sollten Personen mit politischem Gewicht und aus­geprägter Regionalkenntnis anvertraut werden. Für die zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit mit den zentralasiatischen Staaten könnte ein weiterer Koordinator oder eine Sonderbotschafterin im Aus­wärtigen Amt ernannt werden.

Kosten und Nutzen der Neujustierung

All dies bedeutet nicht, dass Deutschland sich aus jeglicher Form des Engagements mit Moskau zurück­ziehen soll. Doch muss die nächste Bundes­regierung ihr Handeln noch stärker an der politischen Realität in Russland ausrichten. Einer entsprechenden Ab­stim­mung innerhalb der EU und im westlichen Bünd­nis kommt oberste Priorität zu. Dies war bislang nicht immer der Fall, wie das Beispiel Nord Stream 2 zeigt. Solche Projekte, die zwangsläufig eigene Dynamiken und Pfadabhängigkeiten entwickeln, müssen in Zu­kunft vermieden werden. Beschreitet Berlin diesen Weg, ist kurzfristig mit weiteren Spannungen im Verhältnis zu Moskau zu rechnen – nachdem die Beziehungen spätestens mit der Causa Nawalny im Jahr 2020 einen präzedenzlosen Tiefstand erreicht haben. Mittel- bis langfristig jedoch kann eine solche Vorgehensweise die EU und das transatlantische Ver­hältnis russlandpolitisch konsolidieren. Dies würde Deutschland und den EU-Partnern größere Verhandlungsmacht in den zahlreichen Disputen sichern, die es mit Moskau zu bestehen gilt. Und Russland stün­den weniger Flanken offen, um die EU weiter zu schwächen.

Eine alternative »Ein China«-Politik

Hanns Günther Hilpert / Angela Stanzel

Die Chinapolitik Deutschlands und Europas hat in der vergangenen Dekade einen Kurswechsel voll­zogen. In einem gemeinsam am 19. März 2019 ver­öffent­lichten Strategiepapier bezeichneten die EU-Kommission und die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik China nicht nur als strategischen Partner, sondern auch als Konkurrenten und systemischen Rivalen. Diese Vervielfältigung von Einordnungen hat jedoch nicht bewirkt, dass die euro­päische Politik gegenüber China seitdem weniger beliebig oder weniger widersprüchlich geworden wäre. Nach wie vor verfolgen die verschiedenen Ak­teure auf europäischer, nationaler und subnationaler Ebene ihre jeweils eigene Agenda und blenden die dabei entstehenden Nebeneffekte auf andere Politik­bereiche aus.

In dieser ohnehin problematischen Konstellation sollte Deutschland den Eindruck vermeiden, es ver­halte sich ambivalent. Eine Chinapolitik, die vor­rangig die eigenen außenwirtschaftlichen Interessen bedient und versucht, das Land bei der Bewältigung globaler Probleme einzubinden, die aber die Gefahren hintanstellt, die von Chinas totalitärer Regierungsführung und expansiver Machtprojektion ausgehen: für die multilaterale liberale Ordnung, für Frieden und Stabilität im indo-pazifischen Raum, für die Selbst­behauptung Europas – eine solche China­politik ist für das ökonomisch und politisch bedeutendste Land Europas nicht mehr verantwortbar.

Leitgebend sollte vielmehr die fundamentale Ein­sicht sein, dass die Verteidigung der regelgebundenen liberalen Ordnungsprinzipien, das Einstehen für Menschenrechte und die politische Selbstbehauptung Europas wichtigere und höherwertige Ziele sind als die ökonomischen Erträge, die sich im Austausch mit China erzielen lassen. Zudem ist Chinapolitik immer auch Europa- und Bündnispolitik. Wenn Brüssel, Paris oder Washington erwarten, dass Deutschland solidarisch eine klarere, notfalls auch konfrontativere Haltung gegenüber China an den Tag legt, ist diese Erwartung nicht gleichzusetzen mit der Einforderung eines wirtschaftlichen »Decoupling« oder dem Beginn eines neuen Kalten Krieges. Weiterhin ist konkret dafür zu sorgen, dass Europas Unternehmen, Kon­su­menten, Staatsbürger und Regierungsinstitutionen wirksam vor chinesischen Übergriffen geschützt werden; und derartige Maßnahmen sind nur im euro­päischen Kontext realistisch.

Einklang statt Dreiklang

Entgegen dem oberflächlichen Anschein stehen die Chancen für ein einheitliches Auftreten gegenüber China gar nicht so schlecht. Die bei den EU-Mitglied­staaten anzutreffenden opportunistischen Verhaltensweisen sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Europas Hauptstädte zunehmend einig sind, wie China zu bewerten ist, nicht zuletzt unter dem Eindruck der unlängst zu beobachtenden aggressiven »Wolfsdiplomatie«, also dem Versuch Chinas, die Politik anderer durch massives Drohverhalten zu be­einflussen. Ungeachtet der zweifellos grandiosen Ent­wick­lungserfolge des Landes und einer nach wie vor erkennbaren Heterogenität in der Staats- und Partei­führung zeigt Chinas Innen- und Außenpolitik, dass es sich um ein nach leninistischen Methoden geführ­tes Einparteienregime handelt, das den eigenen Machterhalt gegebenenfalls brutal und entschlossen durchsetzt und seinen weltpolitischen Aufstieg nach selbstfestgelegten Konditionen handhabt. Die EU-Staaten stimmen ferner in der Einschätzung überein, dass die westliche Politik der Einbindung Chinas gescheitert ist. Die Hoffnung, China werde sich im Zuge von Modernisierung und Wohlstandsbildung im Innern liberalisieren und nach außen friedlich und regelkonform verhalten, hat sich als Fehl­einschätzung erwiesen.

Aus der konstatierten Einigkeit in der Bewertung sollte Geschlossenheit und Konsistenz im Handeln folgen. Dies kann nur gelingen, wenn die Europäer gemeinsam ihre Position bestimmen, idealerweise auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs der EU. Fundament dieser Positionierung können nur die europäischen Werte, Rechtsnormen und Ordnungsvorstellungen sein sowie die davon abgeleiteten Kern­interessen des Kontinents, das heißt konkret, eine regel­gebundene internationale Ordnung aufrecht­zuerhalten und Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und fairen Wettbewerb in Europa zu bewahren. Es geht darum, erstens den EU-Binnenmarkt und die damit verbundene Regulierungshoheit zu schützen, zwei­tens die politische Handlungsautonomie von EU und EU-Mitgliedstaaten zu gewährleisten, nicht zuletzt angesichts subversiver oder einschüchternder Maß­nahmen Chinas, drittens Recht und Regelbindung auf internationaler Ebene zu verteidigen.

Grenzt sich Europa gegenüber China politisch ab und setzt die Einhaltung internationaler Regeln und die eigene Selbstbestimmung an erste Stelle, sollte dies der Außenpolitik, aber auch weiteren Akteuren aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft Orientierung geben und der Chinapolitik die erforderliche Konsistenz und Ganzheitlichkeit verleihen. Eine derartige Akzentuierung der Chinapolitik wäre hand­lungs- und entscheidungsleitend für die Einzel­bereiche Diplomatie, Sicherheit, Handel, Wirtschaft, Technologie, Kultur und Menschenrechte; sie sollte ebenso für die Länder- und Kommunalebene maß­geb­lich sein. Dieser Gleichklang, der alle wesentlichen Politikfelder umfasst, lässt sich als neue »Ein China«-Politik1 beschreiben – ein Begriff, der Chinas Doktrin für die politische und territoriale Einheit von Volks­republik und Taiwan entlehnt ist.

Das EU-Strategiepapier sollte durch eine solche neue »Ein China«-Politik ergänzt und konkretisiert werden. Dort werden – wie bereits erwähnt – die Beziehungen zwischen der EU und China mit den Attributen Partnerschaft, Konkurrenz und systemische Rivalität gekennzeichnet. Dies gibt zwar das bilaterale Verhältnis in einem eleganten Dreiklang wieder. Diese »Kompartmentalisierung« leistet jedoch der Illusion Vorschub, dass es in der Zusammenarbeit mit China möglich wäre, zwischen Wirtschaft und Politik, zwischen bequemen und unbequemen Berei­chen zu trennen – in der Zusammenarbeit mit einem China, das den ökonomischen Austausch für seine politische und militärische Machtprojektion instrumentalisiert und das im In- und Ausland Regeln missachtet, wenn es geboten und nützlich erscheint.2 Das mit der Positionsbestimmung verbundene prio­ritäre politische Ziel, nämlich China dazu zu bringen, sich in der Zukunft an Regeln zu halten, bereitet dieser Illusion ein Ende.

Folgerichtig verpflichtet die »Ein China«-Politik dazu, auf die Verletzung internationaler Regeln in gebotener Weise zu reagieren, außerdem Korrup­tionsversuchen und Druckausübung durch China in Europa entschieden entgegenzutreten. Sie signalisiert China, was Europas Kerninteressen sind. Sie sollte aber nicht als ein Versuch missverstanden werden, sich im Sinne einer geopolitischen Parteinahme gegen den weltpolitischen Aufstieg Chinas zu stem­men oder gar einem Systemwechsel in dem Land den Weg zu ebnen. Anknüpfungspunkt der »Ein China«-Politik sind Chinas Regelverletzungen. Eine derartige Klarstellung ist aus zweierlei Gründen wichtig: Erstens macht sie die Chinapolitik anschlussfähig für die gesamte EU. Zweitens wirkt sie einer ungewollten Eskalation entgegen; schließlich sind beide Seiten daran interessiert, den Dialog und die Kooperation fort­zusetzen, wobei die politischen Unterschiede gegenseitig anerkannt werden (müssen).

Auch China hat Interesse an einer gedeihlichen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Zu­sam­menarbeit mit Deutschland und Europa. Im euro­päischen Interesse liegt es, den Einfluss der Gruppe der »Internationalisten« zu stärken sowie möglichst zu verhindern, dass sich die chinesische Politik (wei­ter) verhärtet. Die Senkung des globalen CO2-Aus­stoßes, die Pandemiebekämpfung, die Nonprolifera­tionspolitik, die Aufrechterhaltung von Sicherheit und Stabilität in kritischen Weltregionen sind nicht die einzigen Themen, bei denen China und der Wes­ten konstruktiv zusammenarbeiten müssen und dazu auch in der Lage sind. Hier gilt es, positive Signale Chi­nas aufzunehmen und die Kooperation zu fördern.

Die »Ein China«-Politik macht die Politik Deutschlands und Europas gegenüber dem Land redlicher, rationaler und berechenbarer. Sie setzt der Ambivalenz ein Ende. Politik und Wirtschaft sollten sich aber auch der Konsequenzen einer »Ein China«-Politik bewusst sein – die Positionierung wird ihren Preis haben. China wird die Haltung Europas zunächst als antagonistisch, als »unbotmäßig« einstufen und öko­nomisch oder politisch sanktionieren. Nachhaltige Schäden für deutsche Marktpositionen und mittelbar ebenfalls für Deutschlands politische Stellung gegen­über China sind nicht auszuschließen. Allerdings schadet sich China in einer arbeitsteiligen Weltwirtschaft durch Sanktionen und Boykotte immer auch selbst; daher ist die Solidarität innerhalb der EU so wichtig. Chinesische Strafmaßnahmen, wie beispiels­weise gegenüber Schweden oder Tschechien, sollte die EU mit gemeinsamen Reaktionen beantworten. Dies wäre gleichzeitig ein geeignetes Signal an Peking, dass »Strafmaßnahmen« Konsequenzen nach sich ziehen. Anzustreben wäre, dass sich über die EU hin­aus ein Kreis gleichgesinnter Staaten findet, der gemeinsam gegenüber China agiert und reagiert.

Eine defensiv ausgerichtete, wertegeleitete Außenwirtschaftspolitik

Im Fokus der deutschen und europäischen Außenwirtschaftspolitik gegenüber China standen bisher vor allem offensive Interessen. Dabei konnten hin­sichtlich Marktzugang und Wettbewerbsbedingungen durchaus Erfolge erzielt werden, zuletzt im Rahmen des Umfassenden Investitionsabkommens (CAI). Von einer Angleichung an das westliche marktwirtschaftliche System ist China indes heute weiter entfernt denn je.

Dabei liegen die aus europäischer Sicht kritischen Probleme inzwischen ohnehin nicht mehr nur im chinesischen Inlandsmarkt, sondern in dem problematischen Verhalten vieler chinesischer Akteure auf den internationalen Märkten und in den davon aus­gehenden Bedrohungen für den unternehmerischen Wettbewerb und die multilaterale Handelsordnung. Deshalb sollten Deutschland und die EU das Ziel eines diskriminierungsfreien Marktzugangs und fai­rer Wettbewerbsbedingungen in China zwar weiter­verfolgen, ihre Außenwirtschaftspolitik aber in erster Linie defensiv ausrichten. Während Chinas Wirtschaft sich unbeeindruckt von westlicher Kritik in Richtung volkswirtschaftlicher Autonomie transformiert und zunehmend von Kadern der Kommunis­tischen Partei kontrolliert wird, sollte es aus euro­päischer Perspektive hauptsächlich darum gehen, die heimischen Unternehmen, Konsumenten und Steuer­zahler vor chinesischen Praktiken und Übergriffen zu schützen, um den EU-Binnenmarkt und das euro­päische Wirtschafts- und Sozialmodell zu bewahren.

An eine defensive Außenwirtschaftspolitik wird eine Reihe von Forderungen3 gestellt. Verschiedene sinnvolle Maßnahmen wurden bereits umgesetzt oder eingeleitet, etwa das Investitions-Screening und das neue »anti-coercion instrument« der EU. Als Kompass für eine Außenwirtschaftspolitik, die China gegenüber defensiv ausgerichtet ist, taugen die Prinzipien der Reziprozität und Werteorientierung. So sollten beispielsweise chinesische Unternehmen unter den gleichen Bedingungen um öffentliche Aufträge in der EU konkurrieren, wie das umgekehrt von euro­päischen Unternehmen in China verlangt wird. Und wenn Waren und Leistungen aus China bezogen werden, ist sicherzustellen, dass bei ihrer Herstellung bzw. Erbringung auf Nachhaltigkeit geachtet wird und dass vor allem Menschenrechte eingehalten werden. Wichtig ist überdies, die Verwundbarkeiten in den Bereichen Import, Export, Investition und Tech­nologie zu mindern.

Viele in China erfolgreiche deutsche Unternehmen werden nicht umhinkommen, ihre Abhängigkeit vom chinesischen Absatzmarkt und Fertigungsstandort zu reduzieren. Um dies zu erreichen, bietet der Indo-Pazifik-Raum lukrative Alternativen. Hier sollte eine offensive Handelspolitik aktiv darauf hinwirken, Markt­barrieren abzubauen.

Internationale Zusammenarbeit im Hinblick auf China stärken und ausbauen

Das Vorhaben, China auf die Regeln des Völkerrechts, des Multilateralismus und liberaler Ordnungspolitik zu verpflichten, wird Europa nicht alleine schultern können. Europas zentrale Partner für politische Ab­stimmung und Zusammenarbeit sind die USA, Groß­britannien, Kanada sowie gleichgesinnte Staaten der Indo-Pazifik-Region. Die transatlantische Werte- und Sicherheitsgemeinschaft bildet ein gutes Fundament für politische und wirtschaftliche Kooperation in Bezug auf China, wenngleich Asien nicht Vertrags­gebiet der Nato ist. Es gilt, den systemischen und ernsthaften Ansatz der Biden-Administration kon­struktiv und kooperativ zu begleiten bzw. europäisch zu akzentuieren, zum Beispiel in den Bereichen Klima, Gesundheit und Infrastrukturentwicklung. Da der Systemwettbewerb mit China auf dem Gebiet der Technologie ausgetragen und entschieden wird, sollte die gemeinsame Exportkontrolle ausgeweitet, syste­matisiert und vor allem besser international koordiniert werden.

Darüber hinaus sollte der Westen die in internatio­naler Gerichtsbarkeit, Vereinten Nationen, Welt­han­dels­organisation (WTO) und Bretton-Woods-Institu­tionen verankerten Normen und Gepflogenheiten stärken und ausbauen. Werden Führungspositionen in internationalen Organisationen besetzt, darf Peking nicht das Feld überlassen werden, da China zunehmend versucht, internationale Organisationen zu instrumentalisieren, um die eigenen nationalen Werte und Interessen zu legitimieren.

Europas China-Strategie sollte die Drittländer in anderen Weltregionen berücksichtigen. Die Indo-Pazifik-Strategie der Bundesregierung bietet eine her­vorragende Grundlage, um die politische und wirt­schaftliche Zusammenarbeit mit den Ländern der Region zu intensivieren.4 Aber auch anderswo dürfte das hierbei verfolgte Ziel Strahlkraft besitzen, näm­lich Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Resilienz zu stärken, so dass dem politischen und ökonomischen Druck Pekings besser widerstanden werden kann. Allerdings müssen den Worten auch Taten folgen. Über Handels- und Sektorabkommen, über Kooperationsangebote für den Aufbau einer nachhaltigen Infra­struktur können Deutschland und die EU Dritt­ländern alternative Perspektiven eröffnen.

Die defätistische Einschätzung, dass das freiheit­liche System, Demokratie und Marktwirtschaft im Wettbewerb mit Chinas autoritärem Staatskapitalismus nicht überleben könnten, ist fehl am Platze.

Den Worten Taten folgen lassen: Außenpolitik gegenüber Afrika und Lateinamerika

Denis M. Tull / Claudia Zilla

Afrika sowie Lateinamerika und die Karibik (LAK) haben eine ambivalente Position in der Außenpolitik Deutschlands und der EU. Beide gelten als politisch wie ökonomisch periphere Regionen, die das inter­nationale System nur schwach prägen. Während die LAK-Staaten eine besonders aktive Phase (2000–2014) des regionalen und globalen Engagements bereits hinter sich gelassen haben, unternimmt Afrika seit einer Dekade verstärkte Anstrengungen, kollektive Hand­lungsfähigkeit aufzubauen und zu projizieren. Dieser Unterschied in den Ambitionen spiegelt sich teilweise im Relevanzverlust bzw. Relevanzgewinn der jeweiligen Regionen in der deutschen und euro­päischen Agenda wider. Davon abgesehen tun sich Berlin und Brüssel schwer damit, in den Bezie­hungen zu beiden Regionen Interessen und Ziele zu formulieren, die eine anhaltend große poli­tische Aufmerksamkeit rechtfertigen würden.

Dennoch beschwören deutsche und europäische Entscheidungsträger und ‑trägerinnen – begleitet von einer Vielzahl an Initiativen – seit Jahren die Notwendigkeit einer vertieften Zusammenarbeit oder gar »strategischer Partnerschaften« mit den »natür­lichen Verbündeten« (LAK) bzw. dem »Nachbarkontinent« (Afrika). Doch schon die immer wieder bemühte rhetorische Figur der »Partnerschaft auf Augenhöhe« lässt erahnen, wie asymmetrisch das Verhältnis zu den beiden Regionen derzeit ist.

Indes manifestieren sich globale Machtverschiebun­gen in Afrika und LAK. Nichtwestliche Staaten sind zu wichtigen Partnern beider Regionen bei Han­del, Infrastrukturprojekten, Krediten und Investitionen geworden. Im Zuge der Pandemie erweiterte China seine mittlerweile starke Rolle in LAK als Han­delspartner (zum Beispiel entfallen 33,9 Prozent des chile­nischen, 16,1 Prozent des brasilianischen und 14,3 Prozent des argentinischen Gesamthandels auf China)1 und Gläubiger (im Zeitraum 2005–2019 ver­gab China Infrastrukturkredite in Wert von 25 Mil­liarden US-Dollar)2 um eine entwicklungspolitische Komponente: Seit Beginn der Corona-Krise spendete die Volksrepublik Güter für den sanitären und medi­zinischen Bedarf im Wert von 215 Millionen US-Dol­lar.3 In Afrika sind die Umrisse eines »neuen Wett­laufs« um die Verfolgung strategischer Interessen zwischen ambitionierten Kleinstaaten (zum Beispiel Vereinigte Arabische Emirate), aufstrebenden Mittel­mächten (unter anderem Türkei) und globalen Groß­mächten (China, Russland) erkennbar. Derzeit sind 39 afrikanische und 13 LAK-Staaten Teil von Pekings »Neuer Seidenstraßeninitiative« (Belt and Road Initia­tive, BRI).

Der Aufstieg Chinas und generell der zunehmende Akteurspluralismus geht für beide Regionen zunächst mit einer substantiellen Erweiterung ihrer außen­politischen Handlungsoptionen einher. Die Relevanz und Attraktivität traditioneller Partner und einiger ihrer üblichen Instrumente verblasst. So fiel etwa der Anteil von Geldern für Entwicklungszusammenarbeit (EZ) am Zufluss externer Finanzströme nach Afrika von 60 Prozent im Jahr 1990 auf 29 Prozent im Jahr 2018 (LAK: 3,2 Prozent).4 Die Vor­stellung, Deutsch­land und die EU verlören in der Folge überall und unaufhaltsam an Boden, ist aller­dings ein Zerr­bild. Berlin und Brüssel haben es selbst in der Hand, ihren Einfluss zu wahren. Fraglich ist indes, mit welchen Mitteln dies passieren soll. Es wäre ein Trugschluss zu glauben, Europa könne mit BRI-ähnlichen Programmen und Krediten bzw. mit »Hard Power« in Konkur­renz zu China treten. Abgesehen von den Ressourcen fehlen der EU und ihren Mitgliedstaaten schlicht die Instrumente und der Rückhalt ihrer Gesellschaften, um ähnlich umfassend, schnell und riskant zu agie­ren wie Chinas (para‑)staatliche Organisationen.

Einfluss und Glaubwürdigkeit sind im Übrigen nicht alleine abhängig von wirtschaftlicher Potenz und harten Machtwährungen. Kein anderer Akteur neben Europa verfügt annähernd über eine vergleich­bare, historisch bedingte Tiefe und Dichte der Bezie­hungen zu Afrika und LAK. Diese »Soft-Power«-Fakto­ren stellen einen komparativen Vorteil dar, der jedoch zunehmend brüchiger zu werden droht. Dies liegt nicht nur am Aktivismus internationaler Kon­kurrenten. Widersprüche zwischen einer Rhetorik der Part­nerschaft und dem effektiven Handeln im Kontext bilateraler, biregionaler und globaler Her­ausforderungen und außenpolitische Inkonsistenzen haben das Vertrauen vieler Staaten des Globalen Südens in deutsche und europäische Beiträge zum Multilateralismus und einer gerechteren globalen Ordnung erschüttert. Mit besonderer Brisanz macht sich dieses Problem in zwei Politikfeldern bemerkbar: der Migra­tionspolitik und dem Umgang mit den Covid-19-Impfstoffen.

Migrationspolitik in Afrika

Kaum ein Thema hat die europäisch-afrikanischen Beziehungen mehr belastet als das der Migration. Seit 2015 hat die EU die von Afrika ausgehenden Wande­rungsbewegungen als die zentrale Herausforderung im Umgang mit dem Kontinent charakterisiert. Die Eindämmung dieser Migration wurde zu einem »inte­gralen Bestandteil« der deutschen und europäischen Afrikapolitik, zu einem Ziel, dem wie im Fall der Ent­wicklungspolitik ganze Politikfelder weitgehend untergeordnet wurden.5 Bausteine dieser Politik waren die Verlagerung der europäischen Außen­grenzen nach Nordafrika und in den Sahel und eine forcierte Praxis der Rückführung illegaler Migranten und Migrantinnen in die afrikanischen Herkunfts­länder. Mit Blick auf den Interessengegensatz zwi­schen Afrika und der EU versuchte Letztere, die Asym­metrie der Beziehungen für ihre migrations­politischen Inten­tionen nutzbar zu machen.6 Das heißt, dass die EU, um die rhetorisch verbrämte »gemeinsame Herausforderung« Migration zu bewälti­gen, zur »Erzeugung und Nutzung der [dafür] erfor­der­lichen Hebelwirkung« alle ihr zur Verfügung ste­hen­den »einschlägigen […] Maßnahmen, Instrumente und Hilfsmittel« einzusetzen bereit war, darunter ent­wicklungspolitische Konditionalitäten, Marktzugänge und Visarestriktionen.7 De facto wurde die »Kooperation« mit Afrika zu einer Frage der Einhaltung euro­päisch definierter Zielvorgaben, die über negative oder positive Anreize (EZ-Hilfspakete) sichergestellt werden sollte. Afrikanische Präferenzen wie mehr Möglichkeiten regulärer Mobilität und Migration nach Europa und mehr intraregionale Freizügigkeit in Westafrika (die durch die Unterstützung der EU für die Stärkung grenzpolizeilicher Kontrollen in der Region beschnitten wird), wurden kaum berücksichtigt.

Es ist wenig überraschend, dass diese Politik nur begrenzt und vermutlich nur kurzfristig erfolgreich ist, wurde sie doch mit der Erwartung an die afrika­nischen Regierungen verknüpft, eine Politik gegen die Freizügigkeit der eigenen Gesellschaft ins Werk zu setzen und damit ihre eigene Macht zu gefährden. Die EU hat ihre Teilerfolge teuer erkauft. Die Fokus­sierung auf Migrationsabwehr und die Unterordnung anderer Ziele hat ihre politische Glaubwürdigkeit nicht nur in den betroffenen Politikbereichen, son­dern insgesamt geschwächt.8

Bei der Gestaltung der Migrationspolitik wird die Perpetuierung der asymmetrischen Machtbeziehungen deutlich, von denen die EU stets behauptet, sie überwinden zu wollen. Kurz- und mittelfristig wach­sen durch das Vorgehen der Union aus Sicht eines zunehmend selbstbewussten Kontinents die Zweifel an der Eignung Europas als Partner. Langfristig unter­höhlt die Migrationspolitik auch den Einfluss der EU, der bislang über dichte politische und gesellschaft­liche Netzwerke, über Werte, Normen und Expertise gewon­nen und gefestigt wird.

LAK im Kontext der Covid‑19‑Impfstoffpolitik

LAK ist die von der Pandemie am stärksten betroffene Region der Welt. Mit nur rund acht Prozent der Welt­bevölkerung entfallen auf sie (Stand: 13. Juli 2021) rund 21 Prozent der Covid-19-Infektionsfälle und 32 Prozent der Todesfälle weltweit9 – und eine Ein­dämmung des Coronavirus auf dem Subkontinent ist noch nicht in Sicht. In dieser Notlage bemühen sich die LAK-Regierungen um den Zugang zu Impfstoffen aus aller Welt, durch die Beteiligung an COVAX, der Initiative der Weltgesundheitsorganisation (WHO), und durch Verhandlungen mit den Herstellern. Doch auf multilateralem wie bilateralem Wege geht es extrem langsam voran: Nur 15 Prozent der lateinameri­kanischen Bevölkerung haben bisher einen vollen Impfschutz erhalten.10 Pharmaunternehmen priori­sieren zahlungskräftige Staaten bei Verträgen über große Lieferungen; über den COVAX-Mechanismus gingen an LAK bisher lediglich etwas mehr als die Hälfte der Impfdosen, die bis Ende Juni 2021 in Aus­sicht gestellt worden waren. Zwar sind die Menschen im Globalen Süden stark auf die chinesischen (Sino­vac, Sinopharm, CanSino), russischen (Sputnik V) und indischen (Covishield) »Impfstoffe zweiter Klasse« angewiesen, doch offizielle Stimmen in Deutschland und Europa prangern diese Handelsbeziehung als »Impfstoff-Diplomatie« Chinas und Russlands an.

Die EU-Mitgliedstaaten haben sich auf eine gemein­same Impfstoffstrategie geeinigt. Auf deren Grund­lage hat die EU doppelt so viele Impfdosen bestellt, wie sie für den vollständigen Impfschutz ihrer Bevöl­kerung benötigt. Deutschland und die EU beteiligen sich zudem am COVAX-Mechanismus, der aufgrund einer anfänglichen Unterfinanzierung und der schwachen Verhandlungsmacht gegenüber den Impf­stoffherstellern von einer globalen Umverteilungs­initiative zu einem bescheidenen Hilfsprogramm geschrumpft ist. Die COVAX-Initiative ist mittlerweile auf jene Impfstoffe angewiesen, die sich reiche Staa­ten vorher für die eigene Bevölkerung oder für gesund­heitsdiplomatische Zwecke gesichert hatten und die nun teilweise zur Verfügung stellen. Anstatt die Ent­wicklung und Produktion von Vakzinen im Globalen Süden zu fördern, liefert COVAX in erster Linie Impf­stoffe aus der westlichen Welt (erst im Juni 2021 wurde der erste chinesische Impfstoff genehmigt). Im Februar 2021 listete die WHO zwei Versionen von Oxford-AstraZeneca-Impfstoffen aus der Republik Korea und Indien für den Noteinfalleinsatz und ver­teilte sie über COVAX. Doch die Impfung mit diesen Covid-19-Vakzinen wird von einigen Mitgliedstaaten der EU, die COVAX finanziell unterstützt, bei der Ein­reise nicht als Impfschutz anerkannt. Gleiches gilt in der ganzen EU für jene Vakzine, die nicht aus euro­päischer, britischer oder US-Entwicklung stammen.11 Während einige Gesundheitsfachleute darauf ver­weisen, dass nur eine freie bzw. Zwangslizenzierung und der Technologietransfer zur Impfstoffherstellung in ärmeren Ländern einen fairen globalen Impfstoffzugang sichern können, lehnt die Bundesregierung – im Einklang mit den Pharmaunternehmen – eine Patentfreigabe ab. Auch dies wird in LAK und Afrika aufmerksam zur Kenntnis genommen.

Politikwandel und Vertrauensbildung

Die Migrations- und die Covid-19-Impfpolitik stehen hier exemplarisch für globale Phänomene, von deren negativen Aspekten Afrika und LAK besonders betrof­fen sind. Strukturelle Disparitäten im Weltsystem füh­ren dazu, dass die Verwundbarkeit durch inter­nationale Herausforderungen und die nötige Resi­lienz ungleich über Staaten und Regionen hinweg verteilt sind. Deutschland und die EU verpassen auf diesen Politikfeldern die Chance, nicht nur zu einer nachhaltigen Problembewältigung beizutragen, son­dern auch die Rhetorik von der »Partnerschaft auf Augenhöhe« mit Afrika und LAK mit Leben zu füllen.

Abgesehen von ihrer begrenzten Wirksamkeit resul­tieren aus Europas Migrationspolitik gegenüber Afrika zahlreiche Zielkonflikte. Kurzfristige politische Ziele konterkarieren langfristige europäische Inter­essen und die Kohärenz in und zwischen Politik­feldern. Im Sinne sowohl der Effektivität der Migra­tionspolitik als auch der eigenen Glaubwürdigkeit sollte die EU ihren Instrumentenkasten um positive Anreize wie Mobilitätspartnerschaften für Arbeit und Bildung erweitern. Darin könnten afrikanische Regie­rungen die Bereitschaft zu Kompromissen und Gegen­angeboten erkennen, was es ihnen leichter machen würde, gegenüber der eigenen Bevölkerung für die innenpolitisch kontroverse Zusammenarbeit mit Europa zu werben.

Am Beispiel der Migrationspolitik wird auch deut­lich, dass die EU immer weniger in der Lage ist, wirt­schaftliche Asymmetrien und Geberdominanz in Macht zu übersetzen, denn Druck führt allenfalls partiell zu Kooperation. In Afrika sollte sich Europa nicht der »Sprache der Macht« (Ursula von der Leyen) bedienen, sondern stattdessen versuchen, seine noch existierenden komparativen Vorteile an »Soft Power« zu nutzen, indem es seine Rhetorik der Partnerschaft mit konkreten Angeboten bei Themen untermauert, die für Afrika zentrale Anliegen sind. Dazu zählt die Unter­stützung der Afrikanischen Freihandelszone. Auf globaler Ebene gilt es, im Dialog mit afrika­nischen Akteuren gemeinsame Interessen bei der Um­gestaltung multilateraler Institutionen (unter ande­rem UN-Sicherheitsrat, internationale Finanzinstitutionen) zu identifizieren. Denn deren Legitimität wird künftig auch davon abhängen, dass Afrika nicht län­ger nur Objekt, sondern auch Subjekt internationaler Politik ist.

Gegenüber den Staaten des lateinamerikanischen und karibischen Raums setzt partnerschaftliches Ver­halten in erster Linie voraus, dass Deutschland und die EU die Widersprüche und Inkonsistenzen an­erkennen, die die eigene Politik dort immer weniger attraktiv und glaubwürdig erscheinen lassen – zu­letzt im Kontext der Corona-Pandemie. Sie sollten sich bilateral zusammen mit LAK sowie global für den nachhaltigen Abbau der Asymmetrien einsetzen. In der globalen Impfstoffpolitik hieße dies konkret, zu­nächst die Blockadehaltung gegen eine Patentfreigabe bei Vakzinen aufzugeben. Darüber hinaus sollten Deutschland und die EU den Aufbau von Kapazitäten für die Impfstoffherstellung in der Entwicklungswelt und von überregionalen Produktionsnetzwerken (wie von AstraZeneca unternommen) fördern. Im Hinblick auf die Impfstoffverteilung ist es notwendig, die COVAX-Initiative zu stärken, zum einen finanziell und zum anderen dadurch, dass von bilateralen Ver­trägen mit den Impfstoffherstellern und gesonderten Lieferungen von Impfdosen an bestimmte Regionen (etwa der EU an den Westbalkan) abgesehen wird. Im Einklang mit dieser Leitlinie sollten keine Auf­frischungsdosen gekauft werden, solange weite Teile der Weltbevölkerung noch nicht geimpft sind. Im Sinne der Impfstoffvielfalt empfiehlt es sich, dass sich Deutschland und die EU der Anerkennung von Vak­zinen aus dem Globalen Süden öffnen und Menschen mit einem solchen Impfschutz die Einreise erlauben. Schließlich sollte die karitative Rhetorik der »Spende« aufgegeben und das Narrativ von Impfstoffen als »glo­balen öffentlichen Gütern« durch einen substan­tiel­len Politikwandel flankiert werden.

Identitätsbezogener Wandel

Multilateralismus und Partnerschaft in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik

Hanns W. Maull

Die deutsche Außenpolitik setzt konsequent auf Multi­lateralismus und bezieht daraus wesentlich ihre Identität. Das ist historisch folgerichtig und für eine Mittelmacht wie Deutschland politisch unumgänglich. Aber es gibt nicht »den« Multilateralismus: Jedes der vielfältigen Formate und jeder der zahlreichen Kontexte multilateraler Diplomatie sind in politische Ordnungszusammenhänge eingebettet, auf deren normativen Grundlagen nationale und internationale politische Ordnungen beruhen. Die Herausforderung für die deutsche Außenpolitik besteht deshalb darin, bestimmte, nämlich liberaldemokratische Formen des Multilateralismus voranzutreiben und autoritär oder gar neototalitär begründete Alternativen einzudämmen. Dies kann nur gelingen, wenn dieser normativ grundierte Multilateralismus der deutschen Außen­politik international einflussreich bleibt oder wird. Voraussetzung hierfür sind durchschlagskräftige Koalitionen von Staaten, die sich gegenseitig mit trag­fähigen Partnerschaften unterstützen und dies stärker als bislang üblich als wichtigen Aspekt ihrer außen­politischen Identität sehen. Dieser normativ gut ver­ankerte Multilateralismus »aus einem Guss« muss konzentrisch, ganzheitlich und strategisch angelegt und umgesetzt werden. Dazu ist es unerlässlich, ihn innenpolitisch und gesellschaftlich neu zu konzipieren und zu begründen.

Multilateralismus

Nicht nur Deutschland, auch viele andere Staaten erheben den Anspruch, eine multilaterale Außen­politik zu betreiben, allen voran China. Nachdem Donald Trump als Präsident ins Weiße Haus ein­gezogen war und begonnen hatte, seine Politik am Prinzip »America first« auszurichten, präsentierte der chinesische Staatspräsident Xi Jinping China als Garanten einer offenen multilateralen Weltordnung. Damit verbindet die chinesische Außenpolitik aller­dings andere Vorstellungen als die deutsche. Die Prin­zipien und Normen der auf dem Regelwerk der Ver­einten Nationen (UN) beruhenden internationalen Ordnung interpretiert die chinesische Führung in ihrem ganz eigenen Sinne. Sie vergrößert, wo sie kann, ihren personellen und inhaltlichen Einfluss in den bestehenden Organisationen und baut daneben neue, eigene multilaterale Strukturen auf, die sowohl bereits existierende Institutionen ergänzen als auch Alternativen dazu bieten. All das illustriert, wie weit die Vorstellungen darüber auseinandergehen, was unter Multilateralismus zu verstehen und wie er zu praktizieren sei. Dies kann nicht überraschen: Multi­laterale Diplomatie ist zunächst einmal schlicht ein Instrument, um nationale Ziele und Interessen durch­zusetzen. In diesen wiederum spiegeln sich die nor­ma­tiven Grundlagen, auf deren Basis Entscheidungs­träger handeln.

Wenn also von Multilateralismus gesprochen wird, muss stets geklärt werden, was damit gemeint ist. Zwei Aspekte sind dabei besonders relevant, näm­lich zum einen die unterschiedlichen Prinzipien und Werte, die mit dem Begriff des Multilateralismus ver­bunden werden, zum anderen die Formate, in denen er sich vollzieht. Während die spezifische Ausgestaltung des Multilateralismus in der Regel historischen und pragmatischen, also sachbezogenen Überlegungen folgt, sind die unterschiedlichen Wertekonstellationen, die in die Praxis multilateraler Außenpolitiken einfließen, von grundsätzlicher Bedeutung. Denn in den Prinzipien und Normen, denen sich Regierungen verpflichtet fühlen, manifestieren sich ihre jeweiligen außenpolitischen Identitäten wie auch (im doppelten Sinne des Begriffs) die innenpolitische Verfassung der Akteure. In ihrem Weißbuch1 bekennt sich die Bun­des­regierung zu einem »wertebasierten Multilateralismus«. Damit meint sie die liberaldemokratischen Prinzipien und Normen sowie die proeuropäische Ori­entierung gemäß den Vorgaben des Grundgesetzes.

Die geopolitischen Machtverschiebungen im Verlauf der letzten beiden Jahrzehnte sowie das Auf­kommen rechtspopulistischer Kräfte in den west­lichen Demokratien haben die Auseinandersetzungen um den Multilateralismus in den vergangenen Jahren befeuert. Deshalb beschränkt sich der Fundus an Ge­meinsamkeiten inzwischen weitgehend auf die (wie gezeigt auslegungsfähige) Charta und die Institutio­nen der Vereinten Nationen. Das ist besser als nichts, aber die fortschreitende Lähmung des Sicherheitsrats durch die Vetomächte zeigt doch, dass diese Gemeinsamkeiten in der internationalen Zusammenarbeit wenig belastbar sind.

Tragfähige Partnerschaft

Auch der Begriff Partnerschaft, den besonders die chi­nesische Außenpolitik kultiviert, impliziert Kooperation auf der Basis von Gemeinsamkeiten. Insofern verstellt er tendenziell den Blick auf mögliche antago­nistische Aspekte in den internationalen Beziehungen. Es stellt sich daher auch in diesem Zusammenhang die Frage nicht nur nach den Interessensdefinitionen der Partner, sondern auch nach den Werte­grundlagen, die diese prägen. Denn die Definition der nationalen Interessen eines Landes wird wesentlich durch die Prinzipien und Werte bestimmt, welche die Entscheidungsträger vertreten. Partnerschaften kön­nen ebenfalls höchst unterschiedlich ausgeprägt sein, je nach den Beteiligten und den spezifischen Pro­blem­zusammenhängen.

Eine weitere wichtige Frage bei partnerschaftlicher Zusammenarbeit lautet, auf welche Weise sowohl Kosten als auch mögliche Gewinne des Zusammenwirkens zwischen den Partnern aufgeteilt werden sollen. Diese Frage ist insofern heikel, als kollektives Han­deln die Chance (für den Einzelnen) wie das Problem (für das Kollektiv) des Trittbrettfahrens im­pliziert. Anders ausgedrückt: Partnerschaft wie Multi­lateralismus erfordern, dass die Beteiligten bereit sind, ihre Ressourcen einzubringen und sich selbst so anzupassen oder zu verändern, dass die angestrebten Ziele erreicht werden können. Deutschland benötigt von seinen Partnern diese Bereitschaft, um seine Ziele zu verwirklichen und seine Interessen durchzusetzen. Dasselbe erwarten seine Partner auch von Deutschland.

Deutschlands wichtigste Partner sind gegenwärtig Frankreich und die USA sowie die anderen Mitgliedstaaten der beiden herausragenden multilateralen Kontexte der deutschen Außenpolitik: der Euro­päischen Union und der Nato. In anderer Weise und auf der Grundlage fundamental unterschiedlicher Prinzipien und Werte sind aber auch Russland und China als bedeutende Partner für Deutschland zu betrachten.2 Effektivität und Legitimität von Part­ner­schaften und Multilateralismus hängen nicht unwesentlich davon ab, ob und in welchem Maße es gelingt, für die gemeinsamen Anliegen innen­politische Unterstützung zu finden und durch innere Anpassungen Ressourcen zu mobilisieren. Ein Bei­spiel dafür wäre die Aufstockung nationaler Verteidigungs­haushalte, um die innerhalb der Nato eingegan­genen Verpflichtungen zu erfüllen. Dies gilt für Deutsch­lands Partner, aber auch für Deutschland selbst.

Gewiss wird es bei der partnerschaftlichen Zusam­menarbeit im Multilateralismus auch vorkommen, dass manche Ergebnisse relativ leicht zu erreichen sind. Das kann zum einen dann der Fall sein, wenn Resultate sich mit eher geringem Aufwand an Res­sourcen und internen Veränderungen erzielen lassen, zum anderen, wenn die Kosten weiteren an der Zu­sam­menarbeit Beteiligten aufgebürdet werden kön­nen. Vieles spricht allerdings dafür, dass nicht zuletzt aufgrund ökologischer Grenzen des Wachstums sich die Möglichkeiten zusehends erschöpft haben, natio­nale Anpassungslasten in das internationale Umfeld und damit in die internationalen Beziehungen zu ver­lagern. Es scheint eher, dass um der Zukunft willen gewissermaßen eine Schubumkehr erforderlich ist, nämlich von der Externalisierung zur Internalisierung von Anpassungsleistungen.

Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen

Deutschlands Zukunft hängt entscheidend davon ab, wie sich die europäische und die internationale Politik in den kommenden Jahren entwickeln wer­den. Um die internationale Ordnung im Sinne seiner Prinzipien, Werte und Interessen beeinflussen zu können, braucht Deutschland einen normativ fest verankerten, wirkungsmächtigen Multilateralismus und dazu tragfähige Partnerschaften. Eine Voraus­setzung hierfür ist das gesellschaftliche Bewusstsein, dass zwischen Außenpolitik und den eigenen Zu­kunfts­perspektiven ein enger Zusammenhang be­steht. Eine andere Bedingung ist die kollektive Bereit­schaft, für einen solchen Multilateralismus größere Anstrengungen zu unternehmen und mehr Ressourcen zu investieren.

1. Die internationalen Auseinandersetzungen um die Frage, welche Prinzipien, Werte und Regeln den Multilateralismus in Zukunft leiten sollen, werden sich in den kommenden Jahren weiter intensivieren. Protagonisten dabei sind China und Russland auf der einen Seite, die USA bzw. die EU und ihre Verbündeten auf der anderen. Es geht bei diesem Tauziehen nicht nur um die künftige Gestalt der internationalen Ordnung, sondern auch um die Zukunft der liberalen Demokratie als politisches Ordnungsmodell. Das Tau­ziehen hat bereits begonnen und wird über die ge­samte kommende Legislaturperiode hinweg an­dau­ern. Perspektivisch weist es aber weit darüber hinaus.

2. Multilateralismus vollzieht sich in vielen un­ter­schiedlichen Konstellationen. Die Sachfragen, die dabei jeweils zu bearbeiten sind, überschneiden und beeinflussen sich häufig gegenseitig – etwa beim Zusammenhang zwischen Handels- und Klima­politik. Zudem geht es bei den Entscheidungen in den je­wei­li­gen Kontexten häufig keineswegs nur um Sach­fragen, sondern auch um die dahinter stehenden Prin­zipien und Werte. Multilaterale Außenpolitik kann deshalb nicht nur »kompartmentalisiert«, also allein auf die jeweiligen Sachfragen orientiert betrie­ben werden, auch wenn dies bis zu einem gewissen Grad unvermeidlich ist.

3. Die bisherige Praxis des deutschen Multilateralismus begünstigte Tendenzen der »Versäulung«, bei der die Querbezüge zwischen den einzelnen Politikfeldern aus dem Blick geraten. Daher sollte die neue Bundesregierung den Multilateralismus-Strang der deutschen Außenpolitik auf der Grundlage einer stra­tegischen Gesamtkonzeption konzentrisch und ganz­heitlich umsetzen.

4. Die außenpolitischen Koordinierungsmechanismen sollten dementsprechend auf exekutiver und parlamentarischer Ebene fortentwickelt werden. Dazu sollten die strategischen Orientierungen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, zum Bei­spiel in Form eines Weißbuchs, explizit ausformuliert werden und in regelmäßigen Abständen Gegenstand parlamentarischer Diskussionen sein. Zudem sollte der Bundessicherheitsrat in diesem Sinne aufgewertet und ausgebaut werden.

5. Den Kern des konzentrischen Multilateralismus bildet seine normative Grundausrichtung an libe­raldemokratischen Prinzipien und Werten. Insti­tutionell repräsentiert werden diese durch die Euro­päische Union, die transatlantischen Beziehungen und die Beziehungen zu anderen liberalen Demokratien. Auch gehört es in diesen Kernbereich, die ge­nannten Prinzipien und Werte innerhalb der Verein­ten Nationen zu wahren und weiterzuentwickeln. Hier ist das oben beobachtete Tauziehen um die zu­künftige Ausrichtung der UN bereits in vollem Gange. Der zweite Kreis des konzentrischen Multilateralismus besteht darin, multilaterales Handeln in den unterschiedlichen Formaten systematisch abzugleichen und zu koordinieren. Der dritte betrifft die ein­zelnen Sachbereiche und ihre jeweiligen multilateralen Kontexte selbst.

6. Multilaterale Außenpolitik ist innenpolitisch voraussetzungsreich und anspruchsvoll. Gefragt ist dabei zum einen politische Unterstützung für eine angemessene materielle Ausstattung der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Zum anderen gilt es, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft hinlänglich gegen Einwirkungsversuche von außen zu schüt­zen und Risikovorsorge zu betreiben. Auch dies erfor­dert Ressourcen und Investitionen. Zur Orientierung: 1990 floss gut ein Fünftel des Bundeshaushalts (21,5 Prozent) in die Außenbeziehungen, 2021 nur noch knapp ein Achtel (12 Prozent).3

7. Effektive Partnerschaften sind die wichtigste Voraussetzung für eine gestaltungsfähige deutsche Außenpolitik. Erschwert werden sie durch die zuneh­mende Binnenorientierung der Außenpolitik bei Deutsch­lands Partnern, aber auch in Deutschland selbst. Andererseits können transnationale gesellschaft­liche Akteure als neue Partner wichtige Impulse geben und Handlungsmöglichkeiten eröffnen.

8. Eine erfolgreiche deutsche Außenpolitik braucht nicht nur inhaltliche Impulse, sondern auch innenpolitische und gesellschaftliche Veränderungen. Es geht darum, umzudenken und der Außenpolitik mehr Gewicht zu verleihen. Dieses Umdenken ein­zuleiten und voranzutreiben gehört zu den wichtig­sten politischen Herausforderungen der kommenden Legislaturperiode. Zugleich gilt es, ähnliche Veränderungen auch bei Deutschlands Partnern anzuregen und voranzubringen. Nur so besteht die Chance, die sich weiter öffnende Schere zwischen dem, was Multi­lateralismus zu leisten hat, und dem, was er derzeit zu leisten vermag, wieder zu schließen. Nur so lässt sich gewährleisten, dass die Werte der liberalen Demo­kratie in der internationalen Politik wie auch in Europa selbst erhalten bleiben und sich weiter entfalten können.

Nachhaltigkeitsaußenpolitik

Marianne Beisheim / Felicitas Fritzsche

Ausgangspunkt: Die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie 2021

2020/21 hat die Bundesregierung die »Deutsche Nach­haltigkeitsstrategie« fort­geschrieben.1 Inspiriert vom Weltnachhaltigkeitsbericht 20192 werden darin sechs Transformationsbereiche identifiziert, bei denen fünf sogenannte »Hebel« angesetzt werden sollen. Einer der Hebel ist »Internationale Verantwortung und Zusammenarbeit«.3 Dies führt den bewährten Ansatz fort, dass die Strategie nicht nur in Deutschland, sondern auch mit und durch Deutschland umgesetzt werden soll. Allerdings sind die Hebel in der Strategie weder sonderlich ausgearbeitet noch vorausschauend strategisch durchdacht. So werden unter dem Titel »Nachhaltigkeitsaußenpolitik« bislang lediglich the­matisch passende Aktivitäten aufgelistet. Basis hierfür war der 2020er Ressortbericht des Auswärtigen Amtes (AA) »Diplomatie für Nachhaltigkeit«.4 Darin berichtet das Amt über themenbezogene Aktivitäten wie Nach­haltigkeitsdialoge oder Deutschlands Anstrengungen zu »Klima und Sicherheit« im UN-Sicherheitsrat.

Unter der Überschrift »Nächste Schritte« kündigt die Bundesregierung in der Nachhaltigkeitsstrategie an: »International wird Deutschland seine Aktivitäten ebenfalls weiter konsequent vorantreiben und zeigen, dass Nachhaltigkeit zentrales Merkmal der deutschen Außenpolitik sowie der multilateralen Zusammen­arbeit ist«.5 Das AA hatte bereits in seinem Ressort­bericht gefragt: »Wie können wir noch mehr Bereiche unseres außenpolitischen Handelns an der Agenda 2030 ausrichten? Wie können wir die langfristigen Ziele der Agenda mit ›klassischer Diplomatie‹ [...] verknüpfen und erreichen?« Antworten auf diese Fragen »sollen durch eine umfassende und kontinuierliche Debatte im Auswärtigen Amt und im Dialog mit der Öffentlichkeit gefunden werden.«6

Wandel

In der Vergangenheit war all dies Rhetorik, die selten jenseits von Eröffnungsreden wirklich ernst genommen wurde. Weitreichende, transformative Maßnahmen lehnten verantwortliche Politiker gerne mit dem Verweis auf mögliche »Gelbwesten-Proteste« auf deutschen Straßen ab. Das überzeugt schon konzeptio­nell nicht, denn soziale und wirtschaftliche Belange sollen als zwei der drei Dimensionen von Nachhaltigkeit immer mitgedacht werden.

Im April 2021 hat der Bürgerrat »Deutschlands Rolle in der Welt« einen Bericht an den Deutschen Bundestag übergeben.7 Darin heißt es: »Deutschland soll Nachhaltigkeit […] als globale Querschnittsaufgabe […] vorantreiben und ins Zentrum seines politischen Handelns stellen«. Dabei solle Deutschland auch »im Interesse anderer Länder handeln«.8 Ende März hatte das Bundesverfassungsgericht gefordert, dass die Regierung nicht nur ihr nationales Klimaschutzgesetz nachbessern, sondern auch ihr internatio­nales Handeln intensivieren müsse.9 Sich häufende Extremwetterereignisse, wie zuletzt die Starkregen­fluten, bestärken zudem den gesellschaftlichen Druck, der zuvor bereits durch »Fridays for Future« aufgebaut wurde. Innenpolitisch ist also durchaus sowohl Handlungsbedarf als auch Legitimations­potential vorhanden. Entsprechend formulierte der Staatssekretärsausschuss Mitte Juni mit Blick auf die kommende Legislaturperiode in einer Erklärung: »Die Verwirklichung der Ziele der Agenda 2030 ist ein Gestaltungsaufgabe von höchster Priorität«.10 Die nächste Bundesregierung solle die Strategie »früh wieder aufgreifen und in einem Grundsatzbeschluss im Jahr 2022 nächste Schritte« vorsehen.11

Auf internationaler Ebene setzt der alte und neue UN-Generalsekretär António Guterres auf einen »inte­grierten und vernetzten Multilateralismus«, um die Umsetzung der 2030-Agenda voranzubringen und den Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs) näher­zukommen – wie er auch in seiner Rede im Deut­schen Bundestag im Dezember 2020 erläuterte.12 Auch Deutschland ver­tritt gemäß »Weißbuch Multi­lateralismus« einen wertebasierten, inklusiven und effektiven Multilateralismus und hat zusammen mit den anderen UN-Mitgliedstaaten die 2030-Agenda und die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung in der Erklä­rung zum 75. Geburtstag der Weltorganisation zur »Roadmap« für die nächsten zehn Jahre ausgerufen. Aber um diese Roadmap auch in die Tat umsetzen zu können, müsste Deutschlands Außenpolitik den Hebel »Internatio­nale Verantwortung und Zusammen­arbeit« deutlich ernster nehmen und stra­te­gischer nutzen.

Empfehlungen

Die neue Bundesregierung und insbesondere das AA sollten das Thema Nachhaltigkeit politischer und auch geopolitischer verorten und strategischer ange­hen.13 Das Bestreben sollte darauf gerichtet sein, die zu beobachtenden Ver­änderungen der internatio­nalen Ordnung positiv mitzugestalten, auch da, wo das AA inhaltlich nicht federführend ist. Über Res­sort­zuständigkeiten hin­weg könnte das AA vor allem sein Wissen um die »politics« sowohl in den Ländern und Regionen als auch in den verschiedenen multi­lateralen Kontexten und Verhandlungen stärker geltend machen. Dies sind – je nach theoretischem Blickwinkel – geopolitische Großwetterlagen und Verschiebungen darin, Macht­spiele und Souveränitätsvorbehalte, Interessen und Interdependenzen, Werte und Narrative, hegemoniale Blöcke, gebildet von Eliten in Politik, Wirtschaft, Militär, Gesellschaft. Hingegen fehlt dieses Wissen oft den rein sektoral oder technisch denkenden Spezialistinnen und Spe­zialisten. Dabei ist es in multilateralen, aber auch in pluri- und bilateralen Kontexten für zielgerichtete Verhandlungsstrategien überaus relevant.

Die konsensuale Verabschiedung der 2030-Agenda und der SDGs durch die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen wird vom »Weißbuch Multilateralismus« zu Recht als Beleg gesehen, dass sich »die Staatengemein­schaft trotz unterschiedlicher Interessen global auf gemeinsame Ziele verständigen kann«.14 Das böte die Möglichkeit, internationale Kooperation strategisch mit Blick auf diese gemeinsamen Ziele zu gestalten. 2016 hatte das Auswärtige Amt eine »Kartierung« durch­geführt, um über die Auslandsvertretungen zu erfahren, wie Regierungen anderer Staaten die SDGs umsetzen wollen. Im Weißbuch kommt diese Ver­knüpfung mit den klassischen Arenen der Diplomatie zu kurz. Die nächste Bundesregierung könnte einen erneuten proaktiven »Outreach« anstoßen, um Ein­blicke zu sammeln, wo Deutschland als Ideengeber und Kooperationspartner gefragt ist – gerade auch im Kontext von Bemühungen um »better and greener recovery« nach der Covid-19-Pandemie. So könnte die 2030-Agenda konzeptionell und institutionell tat­säch­lich zentraler im AA platziert werden und dann auch in den auswärtigen Beziehungen in prominenterer Form handlungsleitend sein.

Die Ergebnisse eines solchen Prozesses könnten dann auch die weiteren Aktivitäten der Allianz für den Multilateralismus inspirieren. Deren Mitglieder könnten auf dieser Basis Ideen für multilaterale Transformationspartnerschaften entwickeln – die Allianz also als »Part­nerschaftsinkubator« nutzen. Außerdem sollte auch über eine Schnittstelle bei den UN nachgedacht wer­den, mit deren Hilfe diese Initiativen keine Parallel-Veranstaltungen blieben, sondern zeitnah an rele­vante multilaterale Prozesse angedockt würden. Multilaterale Partnerschaften wie Covid-19 Vaccines Global Access (COVAX) sind ein wichtiger Test für den inklusiven und vernetzten Multilateralismus. Nicht an den Vereinten Nationen vorbei, sondern gemeinsam oder zumindest in enger Abstimmung mit ihnen sollten weitere derartige Initiativen erarbeitet wer­den. Wie das Beispiel COVAX zeigt,15 wäre eine Ein­heit sinnvoll, die begleitend überprüft, transparent macht und an politisch relevanter Stelle thematisiert, ob die Partner ihre eingegangenen Verpflichtungen einhalten und wo sich die Zusammenarbeit verbessern ließe. Auch bilateral arbeiten das AA und andere Ministerien bereits gemeinsam an Klima- und Ener­gie­partnerschaften. Hieran könnte die neue Bundes­regierung anknüpfen und sich dabei für breiter aus­gestaltete Transformationsanstrengungen engagieren.

Im »Weißbuch Multilateralismus« heißt es, dass sich Deutschland nicht nur Versuchen entgegenstellen will, die 2030-Agenda aufzuweichen, sondern sich auch für ihre integrierte Umsetzung einsetzt.16 Dieser Ansatz wird im Weißbuch selbst allerdings noch nicht hinreichend deutlich. Wie der Weltnachhaltigkeitsbericht (GSDR) aufzeigt, ließen sich durch eine integrierte Behandlung wichtige Synergien und damit schnellere Fortschritte bei der Erreichung mehrerer Ziele gleichzeitig realisieren. Grundlage einer kohä­renten Nachhaltigkeitsaußenpolitik muss daher auch eine konsequentere ressortübergreifende Zusammen­arbeit sein. Das Sustainable Development Solutions Network (SDSN) Germany hat den Vorschlag aufgegriffen, analog zum Klimakabinett (in dem das AA nicht vertreten ist) ein Transformationskabinett für internationale nachhaltige Entwicklung zu schaffen.17 Gelänge es hier, innen- wie außenpolitische Leitplanken im Sinne der drei Dimensionen von Nachhaltigkeit zu setzen, wäre das für die Politikkohärenz posi­tiv. Dafür wäre es auch wichtig, die Klimapolitik – aktuell mit Rückenwind: international durch die Biden-Administration, europäisch durch den Green Deal, national durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts – besser mit der 2030-Agenda und den SDGs zu verbinden. Das wäre in beiderseitigem Inter­esse, denn gemeinsam mit weiteren Schlüsseltransfor­mationen wie der Verkehrs-, der Bau- oder der Agrar- und Ernährungs­wende würde es auf diese Weise gelin­gen, hinreichend schnell und effektiv beim Schutz globaler Güter voranzukommen. Die UN und viele Mitgliedstaaten sind auf der Suche nach der­artigen bewährten Politiken.18

Ein Beispiel: Die G7-Länder einigten sich im Mai 2021 nach jahrelangen, der Bewältigung des Klima­wandels geltenden Verhandlungen auf ein Ende der Subventionen für Kohlekraftwerke.19 Dieses Instrument galt als »tiefhängende Frucht«, also eine poli­tische Maßnahme, die leicht durchzuführen ist und schnellen Erfolg verspricht. Jedoch verhinderten soziale und wirtschaftliche Bedenken lange Zeit eine Einigung. Besser wäre es daher, Subventionen im Sinne eines integrierten Ansatzes umwelt-, wirtschafts- und sozialverträglich so auszugestalten, dass sie eine »just and fair transition« fördern.20 Derartige Modelle oder Anreize könnten es für Schwellen- und Entwicklungsländer deutlich attraktiver machen, Trans­formationspfade zu beschreiten.

Wird der Problemdruck größer, könnten nicht nur innovative Technologien, sondern auch Transformationspartnerschaften und integrierte Politikansätze »made in Germany« ein außenpolitischer Schlager werden. Das wird aber nur gelingen, wenn die näch­ste Bundesregierung rasch beginnt, ihre Botschaften in der Nachhaltigkeitsaußenpolitik engagierter aus­zuformulieren und glaubwürdiger zu vermitteln, ins­besondere durch eigene Vorleistungen.

Diplomatie für das 21. Jahrhundert. Sechs praktische Vorschläge

Volker Stanzel

Veränderungen im außenpolitischen Umfeld erfor­dern nicht nur inhaltliche, sondern auch strukturelle und institutionelle Anpassung. Ihre Umsetzung in praktische Diplomatie hinkt aber hinter den Bedürf­nissen der nationalen und internationalen Öffentlichkeiten her, die von neuen Befindlichkeiten geprägt sind. Damit wird staatliche Steuerungsfähigkeit zum Schaden repräsentativer Demokratien immer mehr in Frage gestellt. Sechs Maßnahmen erscheinen deshalb ratsam:

  1. nationale Dialogplattformen zu aktuellen außen­politischen Fragen,

  2. europäische Frühwarn-Netzwerke,

  3. ein im Bundestag verankerter Nationaler Sicherheitsrat,

  4. feste Konsultationsmechanismen im Rahmen der Allianz für den Multilateralismus,

  5. eine internationale Revisionskonferenz für die Wiener Übereinkommen über diplomatische und konsularische Beziehungen,

  6. institutionalisierte EU-Kompetenzbildung zu Asien entlang der Leitlinien zum Indo-Pazifik.

1. Nationale außenpolitische Dialogplattformen

Außenpolitik interessiert Bürger dann, wenn sie direkt betroffen sind. Das ist nicht ungewöhnlich. Neu hingegen ist, wie schnell außenpolitische The­men eine schwer kontrollierbare Wirkung entfalten, wenn Bürger sich in ihrer Existenz bedroht und bei der Suche nach Problemlösungen – da Wahlen meist noch fern sind – unzureichend informiert fühlen. Schwindendes Vertrauen kann die innenpolitische Landschaft sogar kurzfristig einschneidend verändern und damit das Funktionieren demokratischer Mecha­nismen erheblich beeinträchtigen. Beispiele sind die Weltfinanzkrise, die Flüchtlingskrise und die Corona-Pandemie, die samt und sonders populistische Bewe­gungen hervorbrachten. Der Brexit, die Gelbwestenbewegung in Frankreich, Regierungsbeteiligungen populistischer Parteien und die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten zeigen indes, dass solche außen­politischen, aber in die Innenpolitik hineinreichenden Krisen bislang in Deutschland weniger lauten Widerhall fanden als anderswo.

Wenn eine Bundesregierung auch für die Zukunft einen ausreichenden öffentlichen Konsens über ihr außenpolitisches Regierungshandeln sicherstellen möchte, dann müssen Wege gefunden werden, dem Wunsch nach Beteiligung stärker zu entsprechen. Dafür gibt es bereits Experimente in Gestalt verschiedener Bürgerplattformen. Die bisherigen Formate sind allerdings noch nicht populär, weil ihre Wir­kung auf das Regierungshandeln nicht durchschaubar ist, so dass dieses weder transparenter noch ver­trauenswürdiger erscheint. Hier bedarf es also eines weiteren Schritts. Er muss zum einen den naheliegen­den »Feigenblatt«-Verdacht vermeiden, zum andern verlässliche Rechenschaftslegung über die neuen Wege der Außenpolitik leisten. Andere Formen der Partizipation wie etwa der vom Deutschen Bundestag erwogene Bürgerrat oder der Bürgerdialog des fran­zösischen Präsidenten Macron können, gefestigt und ausgeweitet, der institutionalisierten Verstetigung natio­naler Dialogplattformen zu außenpolitischen Themen dienen. Ihre Legitimität werden derartige Plattformen selbst schaffen müssen. Sie wird davon abhängen, wie erfolg­reich diese bei Bewahrung oder Befestigung demo­kratischen Staatsverständnisses sind.

2. Europäische Frühwarn-Netzwerke

Die Corona-Pandemie war nicht nur ein Warnsignal dafür, wie rasch Bürgerinnen und Bürger sich zu wenig an der Politik beteiligt fühlen können. Vor Augen geführt hat sie auch die diplomatische Dys­funktionalität angesichts der Fragmentierung inter­nationaler Öffentlichkeiten selbst in Partnerländern, die mit Deutschland eng verbunden sind. Beispiele dafür sind die spontane Schließung von Grenzen auch innerhalb des Schengenraums, Streit über die Verteilung der Impfstoffe sowie Erfolge populistischer Gruppierungen und Persönlichkeiten.

Offenkundig genügt es nicht mehr, auf traditio­nelle Weise die Öffentlichkeiten anderer Staaten zu beobachten, um krisenhafte Stimmungslagen in der Tiefe zu erfassen und gemeinsam mit Partnerregierungen politisch zu bearbeiten. Das ist besonders dort wichtig, wo eigene Maßnahmen mit den Partnern koordiniert werden müssen. Auch dafür liefern die oben genannten Krisen Beispiele. Zudem werden Maß­nahmen eher dann akzeptiert, wenn die han­deln­den Regierungen glaubhaft machen können, dass sie sich in ihrer Vertretung nationaler Interessen gegenseitig respektieren. Innerhalb der EU könnten Plattformen für intensive grenzüberschreitende Dis­kussion dafür sorgen, dass politisch relevante Bewe­gungen in den Öffentlichkeiten rechtzeitig wahr­genommen werden. Ein Beispiel für geeignete Struk­turen ist etwa das Global Diplomacy Lab, das derzeit bereits vom Auswärtigen Amt in kleinem Umfang als Experiment gefördert wird. Solche Plattformen könnten europäisch verklammert und als Frühwarn-Netzwerke Indi­kator für politisch relevante Stimmungsströmungen sein. Sie werden ebenso wichtig sein wie die nationalen Dialog­plattformen, denn sie werden einen Einblick in national unterschiedliche Meinungs- und Empfindungsströmungen ermöglichen, welche die Politik der Regierungen mitbestimmen können und außen­politisch berücksichtigt werden müssen.

3. Nationaler Sicherheitsrat im Deutschen Bundestag

Nicht nur außenpolitische, sondern auch innen-, wirt­schafts- und gesellschaftspolitisch vernetzte Sicherheits­fragen betreffen heute mehr als die drei traditionell zuständigen Ressorts Auswärtiges Amt, Bundesminis­terium der Verteidigung und Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Aspekte etwa wirtschaftlicher oder finanzpolitischer Sanktionen – das heißt neuer Instrumente zwischen­staatlicher Auseinandersetzung – oder Probleme wie die des Cyberhacking, der Klima- oder der Migrations­politik offenbaren, wie breit das Spektrum außen- und sicherheitspolitischer Fragen ist, mit dem sich demo­kratisches Regierungshandeln heute befassen muss.

Deswegen ergibt es Sinn, diese Themen in ihrer Konsequenz für Regierungsentscheidungen gebündelt zu behandeln. Hierfür gibt es in den USA den Natio­nalen Sicherheitsrat, der im Weißen Haus angesiedelt ist. Auch in Deutschland wurde dieses Modell immer wieder diskutiert. Es hat sich niemals verwirklichen lassen, weil es bedeuten würde, dass sich die Zustän­dig­keiten im Kanzleramt ballen. Damit wären aber entscheidende Kompetenzen nolens volens auch sol­chen Ressorts entglitten, die von Angehörigen ande­rer Koalitionsparteien geführt werden. Diesen Macht­verlust, auch wenn er nur relativ ist, können Koali­tions­partner nicht hinnehmen. Die Lösung wäre, einen deutschen Nationalen Sicherheitsrat ohne exe­kutive Befugnisse im Deutschen Bundestag zu ver­ankern. Gerade bei Entwicklungen, die auf eine Beteiligung der Bundeswehr an Auslandseinsätzen außerhalb des Nato-Gebietes hinauslaufen, oder bei Maßnahmen, die deutsche Wirtschaftsinteressen empfindlich schädigen könnten (wie bei Sanktionen oft der Fall), würde das Parlament jedenfalls konsultativ mitwirken, anders als der Bundessicherheitsrat, der ein Ausschuss des Bundeskabinetts ist. Ein Natio­naler Sicherheitsrat im Deutschen Bundestag würde gewähr­leisten, dass sowohl alle relevanten Ressorts beteiligt werden als auch das Parlament rechtzeitig hinzugezogen wird. Das brächte mehr Effektivität gerade bei Sachverhalten, die oft unter Zeitdruck zwischen Exe­kutive und Legislative abgestimmt werden müssen, etwa Entscheidungen über Militäreinsätze. Der for­male Status des Nationalen Sicherheitsrats müsste dem von Parlamentsausschüssen entsprechen, denn das wäre vor allem mit Blick auf die erheblichen Ver­traulichkeits- und Sicherheits­erfordernisse wichtig.

4. Institutioneller Rahmen der Allianz für Multilateralismus

Die Allianz für den Multilateralismus, von der Bun­desregierung 2019 ins Leben gerufen und derzeit von rund 70 Staaten unterstützt, ist eine Reaktion auf die Erkenntnis, dass die internationale Ordnung in Gefahr ist. Institutionelle Gestalt bekam der liberale Internationalismus mit den Vereinten Nationen und der Gesamtheit des seit 1945 etablierten regelbasierten Systems. Freilich war der Grundgedanke, dass alle souveränen Staaten ihre Probleme durch Verhandlun­gen unter Verzicht auf Gewaltmittel lösen, immer prekär. Dennoch war er für den Umgang der Staaten miteinander weitgehend anerkannt. Dieses einigermaßen funktionierende System ist besonders aus zwei Richtungen gefährdet:

Zum einen entstehen seit Ende des Kalten Krieges immer mehr Räume, in denen Staaten versucht sind, sich aus dem Rahmen von Rechten und Pflichten des internationalen Systems zu lösen. Damit erschüttern sie dessen Zusammenhalt und die Voraussetzungen für vernetzte internationale Kooperation. Beispiele sind das Verhalten Russlands oder der Türkei und unter Donald Trump teilweise auch der USA.

Zum andern hat in Gestalt der Volksrepublik China ein Akteur die internationale Bühne betreten, der sich explizit für ein anderes internationales Ord­nungssystem einsetzt. So äußern sich chinesische Führer, die offen andere Formen der internationalen Beziehungen als die bestehenden fordern; so strebt es China mit internationalen Aktivitäten an, etwa der Neuen Seidenstraße oder der Asiatischen Infrastrukturinvestmentbank (Asian Infrastructure Investment Bank, AIIB). Je größer Chinas internationaler Einfluss wird, desto mehr ist zu befürchten, dass das bestehende internationale Ordnungssystem in seiner Wirksam­keit geschwächt und am Ende womöglich in seiner Existenz bedroht wird.

Nun sind große Mächte wie die USA oder China weniger abhängig von der regelbasierten liberalen internationalen Ordnung. Mittelmächte wie die EU-Mitgliedstaaten dagegen sind auf ein funktionierendes internationales System angewiesen, wollen sie ihren Wohlstand und ihre Sicherheit bewahren. In­sofern war es dringend geboten, für solche Staaten eine Plattform wie die Allianz für den Multilateralismus einzurichten. Sie dient jedoch bisher kaum mehr als dem Gedankenaustausch von Außenministern der Allianz am Rande internationaler Konferenzen. Das sollte geändert werden. Um dem Prozess der Diffusion der globalen Ordnung zu begegnen, bedarf es eines effektiven institutionellen Rahmens, etwa in Form eines Sekretariats für die Allianz für den Multilateralismus, ver­nünftigerweise bei der EU angesiedelt. Deutschland hat die Allianz initiiert und ist deshalb der richtige Akteur, um nun auch die Verbesserung ihrer Handlungs­fähigkeit anzustoßen.

5. Revisionskonferenz für die Wiener Übereinkommen über diplomatische und konsularische Beziehungen

Globalisierung und Digitalisierung, die ökonomische und die technologische Revolution, sind nicht nur weitere Kräfte, die zur Fragmentierung der globalen Ordnung beitragen. Sie lösen selbst traditionelle Grund­prinzipien der Diplomatie auf, wie den Aus­tausch sachlich fundierter Informationen als Grund­lage außenpolitischer Kommunikation und Verhandlung. Der Wettlauf mit dem Infotainment der sozia­len Medien auf der Basis »alternativer Fakten« beeinflusst den zwischenstaatlichen Umgang, wie etwa die Russland-Diskussion in der EU zeigt. Neue diplomatische Akteure wie internationale Organisa­tionen, nichtstaatliche Organisationen oder trans­nationale Unternehmen sind Teil eines politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und oft gewalt­geprägten Netzwerks. Es gleicht sozusagen einem Meta-Universum der internationalen Gemeinschaft, das sich unkontrolliert ausbreitet, ohne dass seine Finalität zu erkennen wäre. Unübersehbar ist jedoch, dass bisherige Regeln diplomatischer zwischenstaat­licher Interaktion bei der Lösung von Problemen nicht mehr so weit führen wie gewöhnlich angenom­men. Versuche struktureller Anpassung unterschiedlicher Art in verschiedenen Nationen reichen schon deshalb nicht weit genug, weil sie jeweils auf einen Staat beschränkt sind, aber die Problematik, welche die neuen Akteure schaffen, ein globales Phänomen ist.

Als Antwort auf die globalen Fragmentierungs­prozesse wird oft über die Reform, sprich Erweiterung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen diskutiert. Seit den ersten derartigen Vorschlägen vor einem Vier­teljahrhundert mehren sich allerdings die Zwei­fel, dass ein erweitertes Gremium leichter Einigkeit unter den Beteiligten erzielen könnte als das beste­hende. Aussichtsreicher dürfte es deshalb sein, den eigentlichen Werkzeugkasten der internationalen Interaktion und Kommunikation eingehend zu über­prüfen. Er besteht im Wesentlichen aus den Regelungen für den diplomatischen bzw. konsularischen Ver­kehr zwischen Staaten, den Aufgaben staatlicher Vertreter und den Prinzipien friedlicher Streitbeilegung, wie sie in den beiden Wiener Abkommen zu diplomatischen und konsularischen Beziehungen von 1961 und 1963 festgehalten sind. Eine Revisionskonferenz für die Wiener Übereinkommen über diplomatische und konsularische Beziehungen sollte damit beauftragt wer­den, Bestimmungen für die regelbasierte Integration internationaler Organisationen, nichtstaatlicher Orga­nisationen und trans­nationaler Unternehmen in den zwischenstaatlichen Verkehr zu entwickeln und die bestehenden Regeln anzupassen.

6. Institutionalisierte EU-Kompetenz­bildung zu Asien

Die Leitlinien zum Indo-Pazifik, welche die Bundes­regierung im September 2020 beschlossen hat, sollen dazu dienen, Deutschlands Beziehungen in die Region geographisch und thematisch zu diversifizieren. Dabei sollen sie helfen, den normativen und institutionellen Austausch voranzubringen, und zwar im Lichte wirtschaftlicher, aber auch sicherheits­politischer Belange. Sie folgen einem vergleichbaren französischen Strategiepapier aus dem Jahr 2018, in dem allerdings Frankreich als »Nation des Indo-Pazi­fik« erscheint. Ende 2020 brachten auch die Niederlande ein eigenes Leitlinien-Papier heraus. Mit ihren Dokumenten wollen die drei Staaten Bestrebungen der Europäischen Kommission unterstützen, eine kohärente Strategie der EU für den Indo-Pazifik zu entwickeln.

Die zunehmende magnetfeldartige Ausstrahlung der neuen Macht Chinas führt tendenziell dazu, dass die europäischen Interessen in anderen Teilen der Region vernachlässigt werden. Das hat zur Folge, dass Peking indirekt weiter gestärkt wird. Dies gilt es aus­zutarieren. Die genannten Strategieentwürfe sind Ausdruck des Bestrebens, Länder in Asien stärker in den Blick zu nehmen, die dank ihres eigenen Charak­ters und ihrer Politik wichtige Partner für Deutschland sind und bleiben sollten. Um erfolgversprechend zu sein, sollte laut den Leitlinien daher nicht nur die europäische Perspektive erweitert, sondern auch die Zusammenarbeit mit den Staaten der Region sinnvoll intensiviert werden. Dies wiederum setzt umfassende Kompetenzbildung in einem Maße voraus, das der großen und weiter wachsenden Bedeutung der indo-pazifischen Region auf der Ebene gesellschaftlicher, politischer, wirtschaftlicher und persönlicher Kon­takte entspricht. Vorbild könnte die frühere euro­päische Kompetenzentwicklung in transatlantischen Angelegenheiten und in den Beziehungen zu Russ­land sein. Wie in diesen beiden Fällen sollte auch der Aufbau europäischen Wissens über den Indo-Pazifik vielfältig konzipiert sein. Das heißt, er sollte in eige­nen Forschungsinstituten wie etwa dem Mercator Institute for China Studies (Merics), an Universitäten und in zivilgesellschaftlichen Einrichtungen wie bei­spielsweise der Atlantik-Brücke stattfinden. Dazu bedarf es einer von der EU ausgehenden Kompetenzinitia­tive zum Indo-Pazifik, die von der neuen Bundesregierung anzustoßen wäre.

Hybride Bedrohungen und die Außen- und Sicherheitspolitik der EU

Annegret Bendiek / Raphael Bossong

Die globale Sicherheitslage ist zunehmend von so­genannten hybriden Bedrohungen gekennzeichnet, die darauf abzielen, die öffentliche Ordnung eines anderen Staates zu stören. Die Akteure, von denen sie ausgehen, sind nicht primär staatliche, sondern (meist) solche, die nur indirekt oder verdeckt unter­stützt werden durch eine staatliche Beteiligung (vgl. Matrix, S. 71).1 Hierzu gehören beispielsweise Hacker- oder Trollgruppen, die seitens staatlicher Stellen ermu­tigt oder auch nur geduldet werden und die kritische Infrastrukturen stören oder nationale Wahl­prozesse zu manipulieren versuchen.

Vor einigen Jahren waren hybride Bedrohungen geprägt durch die Gleichzeitigkeit von bewaffneten Konflikten und der Anwendung nichtgewaltsamer, verdeckter Instrumente zur Einflussnahme.2 Heute hingegen steht die Vielfalt der beteiligten Akteure im Vordergrund ebenso wie der verschränkte Einsatz mehrerer ziviler, aber illegitimer Ansätze zur Desta­bilisierung,3 etwa die gezielte Übernahme von Wirt­schaftssektoren, die systematische Manipulation von Medien oder von Diasporagruppen.4 Insbesondere mit Blick auf Russland und China wird von europäischer Seite davon ausgegangen, dass alle zur Verfügung stehenden Mittel miteinander gekoppelt werden – unterhalb der Schwelle zum bewaffneten Konflikt. Der »Werkzeugkasten« für hybride Bedrohungen ist entsprechend immer mannigfaltiger und umfassen­der geworden, selbst wenn er einen vorwiegend nicht­militärischen Charakter hat. Klassische Sicherheits­politik, verstanden als die Sicherung von Grenzen bzw. Territorialverteidigung, greift hier systematisch zu kurz. Denn hybride Bedrohungen gefährden den inneren Zusammenhalt demokratischer Gesellschaf­ten und damit den Kern der europäischen Idee.

Resilienz und Sicherheitsunion

Eine zeitgemäße sicherheitspolitische Antwort muss spiegelbildlich zur Vielfältigkeit hybrider Bedrohungen eine große Anzahl von Sektoren und Akteuren einbinden. Da die meisten Versuche zur Störung der öffentlichen Ordnung verdeckt ansetzen, muss zuvor­derst die Widerstandsfähigkeit der demokratischen Gesellschaft auf breiter Front gestärkt werden.5

Die Europäische Union (EU) verschreibt sich bereits seit Jahren dem Ansatz der Resilienz und versucht dabei, immer mehr Bereiche der modernen, grenzüberschreitenden Risikogesellschaft zu erfassen. So bildet die Umsetzung zahlreicher Rechtsakte zum Investitionsschutz, zur Energiewirtschaft, zu trans­nationalen Verkehrsnetzen, Kommunikations- und Infrastrukturen oder zum integrierten (digitalen) Binnenmarkt einen Beitrag zum gemeinschaftlichen Resilienzaufbau. Im Vergleich zu Staaten in der Nach­barschaft hat somit die europäische Integration in ihrer rechtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaft­lichen Dimension die Widerstandsfähigkeit der EU gegen illegitime Einflussnahme von außen steigern können.

Matrix Struktur hybrider Konflikte

Akteur

primär staatlich

auch privat/
Proxy-Akteur

Ziel

territoriale Kontrolle

zwischenstaatliche
militärische Bedrohung

asymmetrische Kriege

öffentliche Ordnung

staatliche Interferenz

hybrid

Dennoch gilt – mehr noch als jemals zuvor seit ihrer Gründung mit dem Vertrag von Maastricht 1993 – der Satz, dass der einzelne Mitgliedstaat zu klein ist, um sich behaupten zu können in der Kon­kurrenz zwischen China, den USA und Russland so­wie gegenüber der Vielzahl neuer hybrider Bedrohun­gen. Seit dem Ukrainekonflikt thematisiert nicht nur die Nato, sondern auch die EU solche Bedrohungen in etlichen strategischen Dokumenten, Arbeitsgruppen und einem gemeinsamen Exzellenzzentrum.6 Vor allem der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) ist bestrebt, Desinformationskampagnen aufzudecken und zu kontern.7 Allgemein sollen der Ausbau einer Sicherheits- wie einer Verteidigungsunion8 dazu bei­tragen, einem breit gefächerten Spektrum hybrider Bedrohungen zu begegnen – im Sinne einer passiven bzw. zivilen Verteidigung durch höhere Sicherheitsstandards und verbesserte EU-Koordinationsmecha­nismen.9

Die Schwachstellen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik

Die zentrale Schwachstelle der EU bleibt die mangelnde fokussierte Erfassung, gemeinsame Bewertung und proaktive, vorausschauende außenpolitische Ant­wort auf hybride Bedrohungen. Bisher wurde und wird immer noch, weitestgehend erfolglos, versucht, zu einer effizienteren Entscheidungsfindung in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) zu gelangen, indem qualifizierte Mehrheitsverfahren im Rat ausgeweitet werden. Der vielleicht wichtigste Grund für dieses Scheitern liegt darin, dass die mit­gliedstaatlichen Bedrohungsanalysen und sicherheits­politischen Lagebilder stark divergieren; oftmals lassen sie keine gemeinsame Deutung der Situation zu und damit auch keine einheitliche Formulierung sicherheitspolitischer Maßnahmen. Zwischen Italien und Schweden oder zwischen Portugal und Estland klaffen existieren verständlicherweise große Unterschiede in der Wahrnehmung sicherheitspolitischer Bedrohungen. Wenn jeder EU-Staat die Bedrohungslage nur vor seinem jeweiligen nationalen Hintergrund versteht, kann sich die Gesamtheit der Mit­glied­staaten lediglich auf eine minimalistische GASP eini­gen und kein koordiniertes Vorgehen in Großmacht­konflikten entwickeln. Diese Grundproblematik ist nicht neu, stellt sich heute aber in einem radikal ver­schärften Ausmaß.

Mit dem »Strategischen Kompass« haben die Vertei­digungspolitiker und ‑politikerinnen unter der deut­schen Ratspräsidentschaft 2020 einen neuerlichen Versuch unternommen, die bestehenden Unterschiede in den Bedrohungsanalysen der EU-Mitglieder zu ver­ringern.10 Gleichwohl weist der Strategische Kompass zwei wesentliche Defizite auf: Erstens organisiert er den sicherheitspolitischen Meinungsbildungsprozess im Hinblick auf eine gemeinsame europäische Lage­bildformulierung lediglich in einzelnen, ausgewählten Feldern und findet keinen systematischen Nieder­schlag. Er stellt eine Ad-hoc-Maßnahme dar, ohne den strukturellen Wandel von Sicherheitsbedrohungen in eine entsprechende institutionelle Reaktion zu über­führen, die über ein Weißbuch zur Verteidigung hin­ausginge. Sein zweites Defizit ist fast noch gravierender: Der gesamte Prozess ist von den Verteidigungsministerien der EU-Länder geprägt und damit tenden­ziell fachlich zu schmal angelegt, um dem Charakter hybrider Bedrohungen angemessen Rechnung zu tragen. Sicherheitspolitik als territoriale Verteidigungspolitik ist ein Luxus, den Europa sich heute nicht mehr leisten kann.

Um der Komplexität hybrider Bedrohungslagen gerecht zu werden, muss europäische Sicherheits­politik überdies die Integrität des demokratischen Prozesses (zum Beispiel Wahlen) schützen, digitale Kompetenzen der Bevölkerung weiter ausbilden, Überlegungen zur strategischen Ver- und Entflechtung anstellen und umsetzen, Lieferketten (zum Bei­spiel für wichtige Medikamente und Rohstoffe) auf ihr Gefährdungspotential hin analysieren und vieles mehr. Das aber greift weit über eine territoriale Ver­teidigungspolitik hinaus. Es ist eine umfassend zu denkende Politik, die an einem Ort anzusiedeln ist, der hierfür entsprechend ausgerüstet ist.

Die notwendige Neuaufstellung des EAD als strategische Intelligence Unit

Die beiden Defizite des Strategischen Kompasses lassen sich korrigieren. Hierzu bräuchte es eine syste­matische europäische Institutionalisierung mit dem Ziel, eine umfassende und permanente Lagebewertung zu erhalten, und zwar in den Händen des EAD.11 Letzterer sollte mit der langfristig verankerten Kom­petenz ausgestattet werden, einen kontinuierlichen und europaweiten Prozess der Lagebildentwicklung und ‑fortentwicklung anzustoßen, Expertisen aus den Mitgliedstaaten und EU-Delegationen wie auch aus den Kommissionsdiensten anzufordern und das sicherheitspolitische Wissen Europas über die neue Welt der hybriden Bedrohungen zu organisieren. Es reicht bei weitem nicht aus, dass die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten eine zur Abwehr hybri­der Bedrohungen eingesetzte Ratsarbeitsgruppe12 nur punktuell informieren müssen. Insbesondere gilt es, das EU Intelligence Analysis Centre (EU INTCEN) und seine militärische Partnereinrichtung im EU-Militär­stab (EUMS INT) als zentrale Zulieferer des EAD für die Ratsarbeit aufzuwerten. EU INTCEN und EUMS INT sind zwar organisatorisch vom EAD ge­trennt, kooperieren aber seit langem über den zivil-militä­rischen Ver­bund der Single Intelligence Analysis Capacity (SIAC) des EAD.13

2016 wurde innerhalb des EU INTCEN die Hybrid Fusion Cell (HFC) ins Leben gerufen, die als Analysestab das Modell für eine institutionell und methodisch breit angelegte Analyse hybrider Bedrohungen darstellt.14 Die HFC ist bis dato nicht zu einem stra­tegischen Analysestab weiterentwickelt worden, der das umfängliche Wissen der Mitgliedstaaten (finished intelligence), die Expertise der Kommission wie der verschiedenen internationalen Exzellenzzentren auf diesem Gebiet mit Informationen aus Open-Source-Quellen verbindet. Notwendig wäre, dass die natio­nalen Behörden initiativ Analysen zur SIAC weiter­leiten (Push-Prinzip) und das EU INTCEN nicht nur auf Nachfrage (Request for Information) angewiesen ist (Pull-Prinzip). Eine derartige Aufwertung der HFC sollte im Ergebnis dazu führen, dass regelmäßig eine vereinbarte Anzahl von Analysen vorgelegt wird, die als valide Entscheidungsgrundlagen für die GASP bzw. die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungs­politik (GSVP) fungieren können. Die Zuständigkeit des EAD wäre dabei nicht auf die militärische Dimen­sion der Sicherheitspolitik zu beschränken – wie bis­her im Strategischen Kompass vorgesehen –, sondern sollte als Querschnittsaufgabe alle relevanten Berei­che der öffentlichen Ordnung im Sinne des Anspruchs der Sicherheitsunion thematisieren.

Deutschlands Beitrag zum Umbau des EAD

Deutschland sollte eine politische Initiative zur Stär­kung des EAD lancieren mit dem Ziel, dass regel­mäßig gemeinschaftliche nachrichtendienstliche Lagebeurteilungen erstellt werden. Hierbei geht es weder darum, einen europäischen Geheimdien­st zu schaffen, noch darum, nationale Verfassungsprinzipien auszuhebeln. Es geht schlicht um die Grundlage, auf der jeder gemeinsame Standpunkt im Rat basie­ren muss: um eine gemeinsame Vorstellung von den drängendsten Risiken und Bedrohungen. Erst sie ermög­licht, über angemessene Gegenmaßnahmen zu entscheiden.

Heute sind nicht nur die (physischen) Grenzen Euro­pas herausgefordert, sondern auch seine innere Ver­fasstheit. So dürften selbst Länder wie Frankreich, die den Herausforderungen durch hybride Bedrohungen an der Ostflanke der EU skeptisch gegenüber­stehen, den europäischen Mehrwert erkennen. Eine Vergemeinschaftung der Bedrohungsanalyse kann auch großen Staaten wie Deutschland und Frankreich neue Ein­sich­ten bieten, etwa wenn Muster und Risiken in mehreren EU-Staaten gleichzeitig auftreten. Welche thematischen Schwerpunkte bei der Berichterstattung gesetzt werden, sollte fortlaufend nach den oben beschriebenen Lagen anhand der Ma­trix (siehe S. 71) entschieden werden. Eine solche Matrix würde es zugleich allen Staaten erlauben, ihre jeweiligen Ressourcen stärker komplementär nach Regionen und Themen aufzuteilen.

Abnehmer einer Lagebewertung zu hybriden Bedro­hungen sind nicht nur die Führungspersonen der EU-Institutionen, das Politische und Sicherheitspolitische Komitee (PSK) und der Militärausschuss der Europäischen Union (EUMC), sondern ebenso aus­gewählte Ausschüsse des Europäischen Parlaments sowie die Hauptstädte auf Regierungs- und Dienst­ebene. Nicht zuletzt könnte ein fest institutionalisierter Analyseaustausch auf EU-Ebene eine grundlegende Reform des Bundessicherheitsrats befördern.

Auf dem Weg zu einer internationalen Politik demokratischer Resilienz

Günther Maihold

Autoritäre Regime sind in vielen Teilen der Welt zur Norm geworden. Nach der dritten Welle der Transi­tion zur Demokratie1 (1974–1990) sprechen wir seit 1995 von der dritten Welle des Autoritarismus.2 Viele Länder, die sich auf dem Weg zur Demokratie befan­den, sind in einer »Grauzone« zwischen unvollständiger Demokratisierung und autokratischen Neigungen stecken geblieben, aus der der Weg oft eher zurück in die Vergangenheit führt. Die Vorzeichen eines demo­kratischen Aufbruchs haben getrogen, nicht nur mit Blick auf die Staaten des postsozialistischen Raumes; auch etablierte Demokratien sind in den Strudel einer zunehmenden autoritären Durchsetzung von Politik­stilen und ‑methoden geraten.

Vieles vollzieht sich hinter einer legalen Fassade, meist gesteuert von »gewählten Autokraten«, die demo­kratische Institutionen und Verfahren sowie die rechtsstaatliche Ordnung im Namen einer »neuen Demokratie« aushöhlen und unterlaufen.3 Ihr Vor­gehen gegen die liberale Demokratie folgt einem Muster: Sie schüren Ressentiments und vertiefen die gesellschaftliche Spaltung; die Legitimation für diese Politik verschaffen sie sich durch und in Wahlen, die mit Hilfe »populärer« Maßnahmen wie der Abwehr von Zuwanderung oder wirtschaftlichem Erfolg gewonnen werden. Als entscheidende Faktoren für den Verfall der Demokratien werden die politische Polarisierung und der Zusammenbruch der Parteiensysteme angesehen. Autonome Institutionen, freie Medien und eine unabhängige Justiz werden zu Ziel­objekten illiberaler Praktiken, in Europa ebenso wie in anderen Regionen der Welt.

Mittlerweile hat sich erwiesen, dass diesem Trend mit Ad-hoc-Politik nicht beizukommen ist. Auch über rein reaktives Handeln in Gestalt von Warnungen, Klagen oder auch Sanktionen lässt sich dieser Verfall demokratischen Regierens nicht aufhalten. Deutschland als demokratieorientiertes Gemeinwesen hat in seiner Außenpolitik immer neu zu entscheiden, in welchen Fällen des Abgleitens in autoritäre Formen ein Engagement notwendig oder sogar lohnend ist oder sein könnte. Wenn Deutschland in den Bemü­hun­gen um die Verhinderung eines weiteren »back­sliding« bei Demokratie und Menschenrechten eine pro­filiertere Rolle spielen will, muss es sich zunächst der Frage stellen, wie eine entsprechende Außen­politik jenseits symbolischer Aktionen und angesichts der eingeschränkten Wirksamkeit von Reisediplo­matie leistungsfähiger werden kann. Es gilt konkret zu klären, ob unser Land eine echte Möglichkeit zur Einflussnahme besitzt oder auch bereit wäre, dauer­haft die Kosten für die Beilegung einer Krise oder die Bewältigung der sie auslösenden Probleme zu über­nehmen.

Eine streitbare Demokratie auch nach außen?

Es gehört zur DNA der Bundesrepublik Deutschland, sich im Inneren als streitbare, wehrhafte Demokratie zu begreifen. Artikel 1 und 20 schreiben diesen Status in Verbindung mit Artikel 79,3 des Grundgesetzes fest. Die Verteidigung von Demokratie und Menschen­rechten ist damit die Grundlage des Handelns aller Verfassungsorgane geworden und Teil der außen­politischen Identität Deutschlands. Sollte sich dieses demokratiepolitische Mandat im außenpolitischen Handeln nur auf Fragen der internationalen Politik beziehen oder auch auf Angelegenheiten der Innenpolitik anderer Staaten? Dabei gilt es zu unter­scheiden: Erstens reicht die Geltungskraft unseres Demokratieverständnisses in solchen Fällen in außen­politische Belange hinein, in denen die rechtliche Ord­nung in Deutschland aus der internationalen Umge­bung heraus gefährdet oder in Frage gestellt wird, zum Beispiel durch Angriffe terroristischer Organisationen oder durch Cyberattacken auf essentielle Insti­tutionen der demokratischen Infrastruktur, etwa solche, die der Durchführung von Wahlen dienen. Zweitens ist die Achtung der Demokratie ein Gut, das nicht im gerne bemühten Gebot der unzulässigen »Einmischung in innere Angelegenheiten« seine Beschränkung finden kann.

Varianten von Autoritarismus und Autokratien in den Blick nehmen

Die Welt autoritär regierter Staaten ist nicht homo­gen. Ein einheitlicher Maßstab für außenpolitisches Handeln ihnen gegenüber wird daher kaum anzulegen sein. Hinzu kommt, dass gerade ihr internatio­naler Auftritt und die damit oft verbundene Anerken­nung für viele autokratische Staatslenker ein will­kommenes Instrument zur Machtkonsolidierung darstellt, das ihnen auch innenpolitische Legitimität verschafft. Deutsche Außenpolitik steht damit vor einem schwierigen Problem: Sie kann ihr Urteil nicht allein auf die Bewertung der »Qualitäten« des jewei­ligen Regimes und dessen innere Dynamiken stützen, sondern muss auch das regionale und globale Umfeld mitberücksichtigen.

Das Spektrum möglicher Ausprägungen autoritärer Herrschaftspraktiken ist sehr groß,4 von repressiven Autokratien, wie in Nordkorea und Syrien, über libe­rale Autokratien, die Medien und Zivilgesellschaften noch Entfaltungsmöglichkeiten belassen, wie Jorda­nien oder Marokko, bis hin zu Modernisierungs­autokratien, die repressive Elemente mit der Gewäh­rung bestimmter bürgerlicher Freiheiten kombinieren, wie dies am Fall Saudi-Arabiens sichtbar wird. Eine besondere Stellung nehmen »autoritäre Gravi­tationszentren« wie Russland, Saudi-Arabien oder Venezuela ein, die nicht nur im engeren regionalen Rahmen ein autokratisches Rollenmodell vorleben und verbreiten, sondern sogar entsprechende Herr­schaftstechniken durch kollektive Lernprozesse aus­feilen und über gemeinsame Diffusionsinstrumente weltweit propagieren.5 Enge Partner Deutschlands wie das Nato-Mitglied Türkei gilt es in besonderem Maße in den Blick zu nehmen, weil an sie ein höhe­rer Anspruch an die Durchsetzung demokratischer Regeln zu stellen ist, als dies von weniger nahestehenden Regimen gefordert werden kann. Zudem muss eingeschätzt werden, ob die jeweiligen auto­ritären Regime revisionistische oder gar expansionistische Tendenzen aufweisen, also eine den internatio­nalen Status quo verändernde Strategie verfolgen. Entsprechend abgestuft muss die deutsche Außen­politik auf die Verstöße dieser Staaten gegen grund­legende Normen und Regeln von Demokratie reagie­ren. Demokratieförderung, sei es im Rahmen staat­licher Kooperation oder durch zivilgesellschaftliche Akteure wie die politischen Stiftungen, trifft auch zunehmend auf Widerstand in den Gastländern, die das Engagement im Dienste der Menschenrechte und politischer Teilhabe einschränken, erschweren oder gar unmöglich machen.

Von der externen Demokratieförderung zu einer internationalen Politik demo­kratischer Resilienz

In der Vergangenheit stützte sich Demokratieförderung auf zwei Ansätze, einen antagonistischen und einen fördernden: Mit spezifischen, etwa gegen bestimmte Personen gerichteten Strafmaßnahmen (wie gegenwärtig in den Fällen Belarus, Nicaragua und Venezuela) oder umfassenderen Sanktionsregimen (wie im Beispiel Kuba) wurde versucht, einen Regime­wandel zu befördern, nicht zuletzt indem man Oppo­sitionelle unterstützte oder deren Diaspora-Organi­sationen subventionierte. Dem stand die fördernde Herangehensweise gegenüber, bei der Maßnahmen zum Demokratieaufbau im Vordergrund standen mit dem Ziel, vorhandene Partizipationsräume zu erwei­tern und der Vielfalt der Stimmen im Sinne einer plu­ralistischen Gesellschaft zum Ausdruck zu verhelfen. Man wollte Impulse geben und verband damit die Hoffnung, Parlamente, Parteien, Medien und zivil­gesellschaftliche Gruppen in den Adressatenländern via Nachahmung und Überzeugung, aber auch über das Setzen von Konditionalitäten (wie etwa im EU-Beitrittsverfahren) zur Entwicklung und Ausweitung demokratischer Normen zu bewegen.6 Zentral ist dabei, Vertrauen in die Instanzen und Verfahren der Demokratie zu schaffen, um zu verhindern, dass durch den demokratischen Wettbewerb innergesell­schaftliche Konfliktlinien aktiviert werden, die von (noch) schwachen Institutionen meist nicht bearbeitet werden können. Diesem Ziel dienen in erster Linie die klassischen Instrumente der Parteienförderung und der Erweiterung von Partizipationsräumen zivil­gesellschaftlicher Akteure. Im Mittelpunkt eines ent­sprechenden Engagements stehen bislang meist die politischen Eliten, an deren Machterhaltungsinter­essen sich dieser etablierte Ansatz der Demokratie­förderung oft­mals bricht, da es nicht gelingt, sie in demokratischen Verfahren zu sozialisieren.

Heute muss sich ein neues Verständnis von Demokratieförderung konstituieren, bei dem nicht nur das Anstoßen und Dynamisieren, sondern auch das Ver­teidigen demokratischer Standards in den Blick genom­men wird. Dies verlagert die Perspektive hin zu der Frage, welche Instrumente, Verfahren und Orga­nisationen geeignet sind, die Widerstandsfähigkeit von Demokratien zu stärken. Es geht darum, eine Politik der demokratischen Resilienz zu formulieren,7 die sich auf jene institutionellen Beziehungen fokus­siert, die für das Funktionieren demokratischer Herr­schaft essentiell sind und antidemokra­tisches Ver­halten abwehren können: also robuste Institutionen wie transparente und faire Wahlverfahren, effektive Gewaltenteilung, freie Medien. Dabei ist zudem die transnationale Dimension der Demokratieanfechtung in Rechnung zu stellen, die sich in Gestalt gezielter externer Angriffe auf demokratische Verfahren (wie Wahlen) mittels hybrider Interventionen anderer Staaten herausgebildet hat.8

Doch auch ein solch anspruchsvolles Programm zur Stärkung der demokratischen Widerstandskraft bedarf der Prioritätensetzung, und zwar nicht nur in Bezug auf die Auswahl der Länder, sondern auch auf die eigenen Möglichkeiten. Angesichts begrenzter Hand­lungsressourcen muss sich eine Politik demokratischer Resilienz auf die frühe Phase von Autokratisierungsprozessen konzentrieren,9 in der bestehende Freiräume noch genutzt und die Widerstandsfähigkeit, insbesondere der Justiz, gegebenenfalls noch gestärkt werden können. Sind erst einmal die insti­tutionellen Beziehungen massiv geschwächt, kann eine solche Politik nur noch reagieren, mit einem stark reduzierten Arsenal an Optionen. Eine Politik der demokratischen Resilienz ist eine Politik »ohne rote Linien«, die agil und eng vor Ort agieren muss, auch wenn die betreffenden Partner und Institutionen demokratisch nicht »lupenrein« sind. Mit der Kritik der Anwendung »doppelter Standards« wird man dabei weiterhin leben müssen.

Empfehlenswert ist daher eine präventive Ausrichtung, die nicht statischen Formaten folgt, sondern auch strategische Anpassungen zulässt, um die Leis­tungsfähigkeit demokratischer Verfahren zu steigern und zu erweitern. Daraus folgt, Länder wie etwa El Salvador, Indonesien und die Philippinen in den Blick zu nehmen, in denen Maßnahmen aktiver Ent-Polari­sierung oder transformativer Re-Polarisierung noch erfolgreich sein können.10 Dies bedeutet nicht, völlig auf reziproke Strategien der Oppositionskräfte gegen­über staatlichen Maßnahmen zu verzichten, sondern mit anderen Themen und Formaten zu arbeiten, die bestehende Polarisierungsmuster weder be- noch ver­stärken. Eine solche Strategie verlangt von den han­delnden Akteuren umfassende lokale Kenntnisse und die schnelle Verfügbarkeit von Ressourcen. Letztere könnten durch einen »Resilienzfonds« bereitgestellt werden, auf den unbürokratisch zugegriffen werden darf.

Prioritäten festlegen: Eine Politik der demokratischen Resilienz muss sich primär auf jene Institutionen in Staaten konzentrieren, in denen Gefährdungen sicht­bar werden oder eine Abschwächung autoritärer Herr­schaftspraktiken (wie gegenwärtig im Sudan) zu erkennen ist. Robuste Institutionen müssen in den entsprechenden Staaten mit »leichten« Apparaten, also geringem bürokratischen Aufwand, flexibel und zeitnah gestützt werden. Damit fallen etwa autoritäre Gravitationszentren aus einem solchen Raster heraus, da sie nur schwer mit proaktivem Handeln zu beein­flussen sind.

Politisierung von Kooperationsformaten: Eine Politik der demokratischen Resilienz zu betreiben bedeutet, »klare Kante« zu zeigen und Fehlentwicklungen öffent­lich auch in anderen Ländern als solche an­zusprechen. Wer gegen Demokratieabbau angehen will, muss klare Positionen formulieren. Mögliche negative Konsequenzen sollten durch Formate der Risiko- und Verantwortungsteilung abgefedert werden – im nationalen Kontext durch den Aufbau von Netzwerkstrukturen, digitalen Formaten und Multiakteursallianzen; international durch gemeinsames Handeln verschiedener Geber und ihrer Durch­führungsorganisationen.

Lagerbildung entgegenwirken: Es gilt zu vermeiden, Regierungen mit autoritären Tendenzen in eine gemeinsame Front zu treiben, in der Fehlannahme, mit der Bildung eines demokratischen Blocks ließen sich demokratische Werte und Prinzipien besser durch­setzen. Denn mit einem solchen Vorgehen könnten auch entgegengesetzte Wirkungen auftreten: Wenn die Welt erneut in Lager aufgespalten wird und neue Gräben aufgerissen werden, dürfte gemein­sames Handeln erschwert oder sogar unmöglich werden. Wirtschaftliche Interdependenz und soziale Verflechtungen bilden nach wie vor wichtige Vor­aus­setzungen für das Einwirken auf den autoritären Charakter eines Regimes.

Build Back Better global denken: Strategien aus dem Globalen Süden stärken

Christina Saulich / Svenja Schöneich

»Build Back Better« (BBB) ist eine Strategie für den sozioökonomischen Wiederaufbau nach der Corona-Pandemie. Ziel ist es, Schwachstellen im weltweiten Wirtschaftssystem zu korrigieren. Die Bundesregie­rung hat sich in ihrem Aufbau- und Resilienzplan und im Rahmen des Europäischen Aufbauplans dazu verpflichtet, den Wiederaufbau nach der Gesund­heitskrise an den Prämissen sozialer Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit auszurichten. Während der Fokus bisher auf der Bekämpfung der Pandemie und ihrer Folgen in Deutschland und Europa lag, muss die kommende Regierungskoalition BBB nun stärker in globaler Dimension denken. Als Folge der internationalen Vernetzung bei der Produktion von Gütern, beim Handel und bei Investitionen entlang globaler Lieferketten hängen die Erholung und künftige Resi­lienz der deutschen und europäischen Wirtschaft auch von der Bewältigung der wirtschaftlichen Krisen und von der politischen Stabilität in den Ländern des Globalen Südens ab. Mögliche negative Auswirkungen der deutschen bzw. europäischen BBB-Strategie auf andere (Sub-)Kontinente oder Regionen müssen daher eingehender berücksichtigt werden. Andernfalls drohen sie die wirtschaftlichen und entwicklungspolitischen Ziele Deutschlands und Europas zu konterkarieren. Um dies zu vermeiden, sollte sich die neu gewählte Bundesregierung für einen globalen »Dialog der Strategien« einsetzen.

Regionale Wiederaufbaustrategien verstehen

Die Schwerpunkte der Wiederaufbaustrategien in den Regionen des Globalen Südens und des Globalen Nordens unterscheiden sich je nach den sozioökonomischen Herausforderungen, die vor Ort als besonders drängend angesehen werden. Wo sie sich über­schneiden, zum Beispiel bei der Stärkung regionaler Wertschöpfungsketten, variiert die Umsetzung aber aufgrund der unterschiedlichen räumlichen Kontexte stark. Im Vergleich zu den meisten asiatischen Län­dern, die über wettbewerbsfähige verarbeitende In­dus­trien und hohe Produktionskapazitäten verfügen, stellt die Konsolidierung regionaler Wertschöpfungs­ketten für Lateinamerika und Afrika aufgrund des (mit einigen Ausnahmen) niedrigen Industrialisierungsgrads eine große Herausforderung dar. Beide Regionen fungieren in globalen Lieferketten oft als Lieferanten kritischer Rohstoffe für den Globalen Norden und stehen daher im Fokus dieses Beitrags. Weil Produktion und Handel international verzahnt sind, wirken sich Eingriffe an einer Stelle automatisch auf die gesamte Lieferkette aus. Um den Wieder­aufbau in Lateinamerika und Afrika zu unterstützen und Auswirkungen der deutschen und europäischen BBB-Strategie auf beide Kontinente abschätzen zu können, ist es wichtig, regionale Strategien besser zu verstehen.

Europäische Prioritäten

Die Europäische Union setzt in ihrem Aufbauplan »NextGenerationEU« und dem 2021 beschlossenen Siebenjahreshaushalt auf Klimaschutz und Digitalisierung. Da Deutschland den Haushalt maßgeblich mitgeplant hat, decken sich die Schwerpunkte des Deutschen Aufbau- und Resilienzplans (DARP) wei­testgehend mit denen der EU. Ein Drittel der Investi­tionen auf EU-Ebene fließt in die Umsetzung des »Grünen Deals«, der die EU bis 2050 klimaneutral machen soll. Mit Hilfe des »Fonds für einen gerechten Übergang« sollen die sozioökonomischen Kosten der grünen Transition abgefedert werden. Zentrale Ele­mente in der Debatte über BBB sind die Konzepte Reshoring und Nearshoring. Zur Steigerung der stra­tegischen Autonomie der EU und der Versorgungs­sicherheit, die insbesondere die Versorgung mit den für die grüne Transition notwendigen Rohstoffen betrifft, sollen ausgewählte Produktionsstätten in EU-Mitgliedstaaten oder Nachbarländer verlegt werden. Im Juni 2021 schloss sich Deutschland im Zuge des G7-Gipfels darüber hinaus der Initiative Build Back Better World (B3W)1 an. B3W zielt darauf ab, um­fangreiche Investitionen in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen in den Bereichen Klima, Gesundheit, Digitalisierung und Geschlechtergerechtigkeit zu fördern.

Build Back Better in Afrika

Die afrikanischen Staaten setzen bei der Bekämpfung der Pandemie auf regionale Kooperation im Rahmen der Afrikanischen Union (AU) und der afrikanischen Regionalorganisationen sowie auf die Unterstützung durch internationale Akteure wie die WHO, die Welt­bank, die International Finance Corporation (IFC), aber auch von Seiten Chinas. Die von der AU ent­wickelte Regionalstrategie priorisiert den Aufbau von Ressourcen zur Bekämpfung des Coronavirus, unter anderem durch die Africa Centres for Disease Control and Prevention. Im Februar 2021 forderte die AU, das TRIPS-Abkommen, das auch die Rechte des geistigen Eigentums an Produkten und Technologien schützt, die der Bekämpfung des Virus dienen, für die Dauer der Pandemie auszusetzen. Die Forderung scheiterte bisher unter anderem am Widerstand der EU.

Die Mobilisierung finanzieller Ressourcen ist ein weiterer wichtiger Baustein der afrikanischen BBB-Strategie. Stimulus-Pakete der Afrikanischen Ent­wick­lungsbank und internationaler Organisationen und die von den G20-Finanz­ministern beschlossene Aus­setzung von Zinszahlungen für öffentliche Schulden und Staatsanleihen für einkommensschwache Länder konnten die regionale Liquiditätskrise jedoch nur bedingt abfedern. Für den wirtschaftlichen Wiederaufbau setzt die AU auf eine schnelle und effektive Operationalisierung der im Januar 2021 gestarteten Afrikanischen Freihandelszone (AfCFTA). Durch die Beseitigung von Schranken für den intraregionalen Handel sollen innerafrikanische Wertschöpfungs­ketten gestärkt und ausländische Direktinvestitionen angezogen werden.2 Die AfCFTA hat das Potential, langfristig die wirtschaftliche Resilienz afrikanischer Staaten zu erhöhen, und kann mittelfristig eine wichtige Rolle beim Wiederaufbau spielen. Für eine erfolgreiche Umsetzung des Freihandelsabkommens bedarf es jedoch – neben politischem Willen – um­fangreicher ökonomischer Reformen in den AU-Mitgliedstaaten, Investitionen und unterstützender Maßnahmen zur Stärkung des Privatsektors.

Lateinamerikanische Strategie(n)

Die Staaten Lateinamerikas haben sehr unterschiedlich auf die Pandemie reagiert. Inzwischen bündeln jedoch viele ihre Bestrebungen und formulieren gemeinsame Ziele für den Wiederaufbau. Regionale Organisationen wie die Economic Commission for Latin America and the Caribbean (ECLAC) und die Community of Latin American and Caribbean States (CELAC) ermitteln die Herausforderungen für die Region und erarbeiten Strategien für den Wieder­aufbau. Dabei rücken sie besonders das Problem der sozialen Ungleichheit in den Mittelpunkt, das in den meisten Staaten Lateinamerikas mit einem gro­ßen Misstrauen der Bürger in staatliche Institutionen einhergeht. Die teils intransparenten oder gar wider­sprüchlichen Maßnahmen im Umgang mit der Pan­demie haben diese Distanz zum Staat in vielen Fällen noch verstärkt. Die Wiederaufbaustrategien der lateinamerikanischen Regierungen richten sich daher auf die Stärkung von effektiver Governance unter den Vorgaben sozialer Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit, wozu unter anderem die Digitalisierung genutzt werden soll.

Für viele lateinamerikanische Staaten ist der Roh­stoffabbau und -export der Hauptpfeiler ihrer Wirt­schaft. Diese Branche hat aber massiv unter der Krise gelitten. Ziel der BBB-Strategie ist es daher, den Ressourcenexport zu fördern und den gesamten Roh­stoffsektor gerechter und nachhaltiger zu restrukturieren, zum Beispiel durch vermehrte Investitionen in neue Technologien und den Ausbau erneuerbarer Energien. Einige Länder haben bereits Conditional-Cash-Transfer-Programme eingeführt, die Anreize zum Umwelt- und Gesundheitsschutz und zur nach­haltigen Produktionsweise enthalten, und Fiskalpakte beschlossen, mit einem Schwerpunkt auf nachhaltige Investitionen.3

Die Notwendigkeit kompatibler Regionalstrategien

Die europäische Wirtschaft ist eng mit den Produk­tions- und Verarbeitungsstandorten in Lateinamerika und Afrika vernetzt. Insofern hängt der Wieder­aufbau in Europa und Deutschland auch unmittelbar von einer erfolgreichen Bekämpfung der Pandemie und der wirtschaftlichen Erholung in diesen Regionen ab. Regionale BBB-Strategien müssen daher mit­einan­der kompatibel sein. In Anlehnung an die deutschen und europäischen Prioritäten für den Wiederaufbau ergeben sich für die künftige Bundesregierung drei zentrale Aktionsfelder, durch die sich die BBB-Stra­tegien in Lateinamerika und Afrika stärken lassen und Deutschland in einen globalen »Dialog der Stra­tegien« eintreten kann.

B3W als attraktives Kooperationsangebot etablieren: deutsche G7-Präsidentschaft nutzen

Die G7-Staaten stellen ihr Infrastrukturprojekt Build Back Better World (B3W) als wertebasierte und trans­parente Alternative zur chinesischen Belt and Road Initia­tive (BRI) dar. Im Rahmen von B3W sollen Part­nerschaften auf Augenhöhe mit Ländern des Globalen Südens etabliert werden. Die bisherige Verteilung des Corona-Impfstoffs und die Entscheidung, den Patent­schutz auf die Impfstoffentwicklung nicht auszusetzen, haben jedoch bestehende globale Machtungleich­wichte erneut manifestiert und die Glaubwürdigkeit der B3W-Initiative in Frage gestellt. Dagegen haben viele Länder des Globalen Südens Chinas Masken- und Impfdiplomatie positiv bewertet. Gleichzeitig sehen einige Regierungen in den Ziel­regionen das Vorgehen Pekings im Kontext der BRI aber auch durch­aus kritisch.

B3W bietet eine Gelegenheit für Deutschland, sich im Verbund mit der G7 als attraktiver Partner für Staaten mit mittlerem und niedrigem Einkommen zu positionieren. Die Initiative sollte dabei jedoch vor dem Hintergrund der schwelenden Rivalität zwischen China und den USA nicht als Gegenpol zur BRI aus­gestaltet werden, sondern die adressierten Länder durch attraktive Kooperationsangebote überzeugen. Dafür müssen sich Investitionen an den Wiederaufbaustrategien der Partnerregionen orientieren. Die neu gewählte Bun­des­regierung sollte die Chance der anstehenden G7-Präsidentschaft ergreifen, die Kriterien für die Umset­zung von B3W maßgeblich mitzugestalten. Mit Blick auf das deutsche und das geplante europäische Sorg­falts­pflichtengesetz sollte der Einhaltung hoher Nach­haltigkeits- und Transparenzstandards Vorrang ein­geräumt werden. Diese und die Mechanismen zu deren Überprüfung sollten gemeinsam mit den Part­ner­ländern festgelegt werden.

Nearshoring fair gestalten: lokale Lieferketten durch die EU‑Handelspolitik stärken

Versorgungsengpässe während der Pandemie haben deutlich gemacht, dass die Organisation von Liefer­ketten dringend überdacht werden muss. In der EU und in Ländern des Globalen Südens sollen mittels Nearshoring, Reshoring und Decoupling einzelner Wirtschaftssektoren regionale Lieferketten gestärkt werden. In ressourcenreichen Ländern in Latein­amerika und Afrika, die über wenig weiterverarbeitende Industrie verfügen, ist dies nicht ohne einen zusätzlichen Industrialisierungsschub zu realisieren. Sollte die EU Teile der Verarbeitung in geographischer Nähe zu Europa ansiedeln, würde dies dem Bestreben zuwiderlaufen, in den genannten Regionen die Bildung und Konsolidierung robuster lokaler Wert­schöpfungsketten zu unterstützen. Die zukünftige Bundesregierung sollte daher ihre starke Stimme in der EU nutzen, um sich im Rahmen der euro­päischen Handelspolitik für den Auf- und Ausbau wirtschaftlich, sozial und ökologisch nachhaltiger und transparenter Verarbeitungsindustrien in Län­dern des Globalen Südens einzusetzen. Ziel sollte es dabei sein, die Krisenfestigkeit internationaler Liefer­ketten zu stärken und die eigene Versorgungssicher­heit zu erhöhen.

Mit Blick auf Afrika sollte sich die neue Bundes­regierung beim nächsten EU-AU-Gipfel für eine um­fassendere Unterstützung der AfCFTA einsetzen. Die bestehenden Maßnahmen könnten durch Hilfen beim Aufbau von Produktionskapazitäten und bei der Einrichtung eines Mechanismus ergänzt werden, der Ungleichheiten innerhalb der AfCFTA abmildert. Die EU sollte dabei nicht auf wirtschaftliche Partnerschaftsabkommen mit einzelnen afrikanischen Regio­nalorganisa­tionen hinwirken. Dies könnte sich nega­tiv auf die Umsetzung der AfCFTA und den Aufbau von verarbeitenden Industrien in der Frei­handelszone auswirken. Darüber hinaus sollten europäische und internationale Investitionsprogramme wie der EU External Investment Plan für Afrika, der Compact with Africa der G20 und B3W stärker auf die AfCFTA ausgerichtet werden. Mit Blick auf Lateinamerika sollte sich Deutschland dafür einsetzen, dass im Rah­men der Verhandlungen über bilaterale Freihandelsabkommen, wie jenes zwischen Chile und der EU, neben handelspolitischen Erwägungen auch der Aus­bau nachhaltiger, lokaler Verarbeitungsindustrien berücksichtigt wird.

Energiewende global denken: Maßnahmen für einen gerechten Übergang umsetzen

Der Fokus der deutschen und europäischen BBB-Strategie liegt auf der grünen Transition. Mögliche negative Effekte der in anderen Regionen angestrebten Dekarbonisierung werden bisher jedoch wenig berücksichtigt. Das große Interesse an der Sicherheit der Versorgung mit kritischen Mineralien, die für die Entwicklung grüner Technologien unabdingbar sind, darf aber nicht dazu führen, dass soziale und öko­logische Auswirkungen in den Abbau- und Verarbei­tungsländern ausgeklammert werden und das Ziel, die lokale Wertschöpfung zu fördern, aus dem Blick gerät. Geplante Policy-Instrumente zur Umsetzung des »Grünen Deals« wie der CO2-Grenzausgleichs­mechanismus für Importe stellen kohleabhängige Länder im Globalen Süden vor wirtschaftliche Her­ausforderungen. Es fehlt ihnen am Zugang zu Tech­nologien und an finanziellen Spielräumen, die nötig sind, um die Energiewende voranzutreiben und deren soziale Kosten abzufedern. Die negativen gesellschaftlichen und ökologischen Begleiterscheinungen des Abbaus und der Verarbeitung von Rohstoffen im Globalen Süden zu vermindern ist eine wichtige Vor­aussetzung, wenn es darum gehen soll, die Nachhaltigkeit von in Deutschland produzierten Endprodukten zu steigern. Um dies zu erreichen, sollte die neue Bundesregierung im Rahmen bilateraler Partner­schaften einen Schwerpunkt auf Technologie- und Wissenstransfer legen. Darüber hinaus sollte sie sich im Zuge des G20-Gipfels im Oktober und ihrer anste­henden G7-Präsidentschaft für die Schaffung eines globalen Fonds einsetzen, der die sozioökonomischen Kosten der Energiewende in Ländern des Globalen Südens mindert.

Bei Betrachtung der beschriebenen drei Aktions­felder wird deutlich, dass mangelnde Kompatibilität zwischen regionalen BBB-Strategien das Bemühen um einen gerechten und nachhaltigen globalen Wie­deraufbau konterkarieren kann. Um dies zu verhindern, ist ein internationaler »Dialog der Strategien« notwendig, bei dem regionale Prioritäten und deren Auswirkungen diskutiert und abgestimmt werden.

Gestaltungswandel

Klimaziele und Energiepolitik außenpolitisch stärker gestalten

Susanne Dröge / Kirsten Westphal

Die Klima- und die Energieaußenpolitik Deutschlands hatten in der Vergangenheit viele Schnittstellen, folg­ten aber ihren jeweiligen Pfadabhängigkeiten und wur­den weitgehend getrennt bearbeitet.1 Der Energie­sektor verursacht jedoch zwei Drittel der klima­schädlichen Emissionen weltweit und steht damit im Zen­trum der Klimaagenda. Um zügig mehr klimafreundlichen Strom sowie grünen Wasserstoff (H2) zu erzeugen, müssen neben einer Verbesserung der Energieeffizienz die erneuerbaren Energien massiv ausgebaut werden. Ein Umbau der langlebigen Infra­strukturen in der Industrie, im Gebäudebestand und bei den Verkehrsnetzen muss dies begleiten. Mit dem Green Deal hat die EU ihre Klimapolitik auch für die Industrie, den Verkehr und die Landwirtschaft erneut konkretisiert und erwei­tert. Klimaschutz-, Energie-, Technologie- und Industriepolitik verschränken sich also immer mehr. International sind sie allerdings Austragungsfeld geoökonomischer Rivalitäten. Ent­sprechend braucht die Diplomatie sowohl eine neue Taktrate als auch eine mittelfristige strategische Orientierung.

Klimaschutz-Ambitionen und Veränderungen im Energiebereich

2021 hat sich die Bundesregierung nach dem Be­schluss des Bundesverfassungsgerichts vom 24. März 2021 den Zielen verpflichtet,2 Klimaneutralität bis 2045 zu erreichen und bis 2030 die Treibhausgas­emissionen um 65 Prozent im Vergleich zu 1990 zu senken. Dies verstärkt noch einmal das Primat des Klimaschutzes. Gleichzeitig veranschaulicht der deutsche Energieverbrauchsmix, dass fossile Energie­quellen dominieren; Anteile von 33,7 Prozent bei Erdöl, 26,6 Prozent bei Erdgas, 15,8 Prozent bei Kohle sowie 6,0 Prozent bei Kernkraft und 16,6 Prozent bei erneuerbaren Energien verdeutlichen die Dimension des Transformationsbedarfs.3

Auch auf EU-Ebene wurde beschlossen, klima­neutral zu werden, und zwar bis 2050; EU-weit sollen die Emissionen bis 2030 um 55 Prozent gegenüber 1990 sinken. Im Zuge des »Fit for 55«-Pakets hat die Europäische Kommission im Juli 2021 ein erstes Maß­nahmenbündel vorgeschlagen, und mit dem Euro­päischen Aufbauplan »NextGenerationEU« sollen klima­freundliche Investitionen gefördert werden.4

Da ein europäischer Alleingang schwer umsetzbar und teuer ist und zudem an den Außengrenzen und in den Nachbarschaftsbeziehungen zu Verwerfungen führen kann, geht kein Weg daran vorbei, die tief­greifende und schnelle Dekarbonisierung über engere Kooperation anzustoßen.5 Grundlegende Aufgabe für die deutsche und europäische Klimadiplomatie ist es daher, den klimapolitischen Konsens, wie er 2015 mit dem Pariser Abkommen geschaffen wurde, zu erhal­ten und zu vertiefen. Die Energiediplomatie muss sowohl für den »Phase-out« bei den fossilen Energiequellen als auch für den »Phase-in« von erneuerbaren Elektronen und Molekülen intensiviert werden.

Ein Kohleausstieg gilt als dominante globale Klimalösung

Der weltweite Ausstieg aus der Kohle ist klima­politisches Ziel vieler Mitgliedstaaten der Organisa­tion für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent­wick­lung (OECD). Die globale Nachfrage nach diesem Energieträger ist ungebrochen – trotz der Pandemie – und wird von China angetrieben, das rund 56 Pro­zent des globalen Kohleangebots verbrennt.6 Für die deutsche Kohleverstromung steht 2038 als spätestes Ausstiegsdatum fest, was mit einer sozialverträg­lichen Trans­formation (»just transition«) einhergehen soll. Lang­fristig wird es mit Blick auf die Klimaziele notwendig sein, ebenfalls auf Erdgas zu verzichten.

Wie stark und schnell der Erdölverbrauch in Deutschland und der EU zurückgehen wird, hängt davon ab, wie umfassend alternative Energiequellen für Transport und Mobilität genutzt werden. Eine zügige Reduktion des Ölverbrauchs wird weitreichende geopolitische Folgen haben; die EU steht für zwölf Prozent des globalen Verbrauchs.7 Die Abkehr der EU vom Öl wird Länder in ihrer Nachbarschaft wie Alge­rien, Nigeria, Angola und Aserbaidschan empfindlich treffen. Was die Ölförderung angeht, könnte der An­teil der arabischen Golfstaaten und Russlands weiter steigen, während sich aufgrund der Kehrtwende in der US-Klimapolitik unter Präsident Biden die Anzei­chen mehren, dass in den USA einer verlängerten und ausgeweiteten Öl- (und auch Gas-)Förderung regula­torisch ein Riegel vorgeschoben wird.8

Ausbau der erneuerbaren Energien und die Bedeutung Europas

Zwar erleben die erneuerbaren Energien weltweit einen rasanten Aufstieg, aber weder reicht das Tempo noch die Kapazität, um dem Bedarf gerecht zu wer­den, geschweige denn, um die Erderwärmung nach­haltig zu verlangsamen. Selbst wenn Europa noch großes Ausbaupotential hat, werden Deutschland und die EU grünen Strom ebenso wie klimaneutrales H2 importieren müssen, um ihren Bedarf zu decken. Dafür müssen Leitungen und Netze entsprechend gesamteuropäisch ausgebaut werden. Zudem ist die europäische Energiewende abhängig von neuen tech­nologischen Lösungen wie Offshore-Windparks, effi­zienteren Batterien und Elektrolyseuren. Metalle und seltene Erden, aber auch die komplexen Lieferketten für diese Rohstoffe und für Technologiekomponenten ergänzen die Liste der neuen außenpolitischen Her­aus­forderungen. Klimaneutrale Rohstoffe und Ener­gie­träger müssen zeitnah, verlässlich und kosten­günstig verfügbar sein, wenn europäischen Industrien keine Standortnachteile entstehen sollen.

Klima- und Energieaußenbeziehungen: Schnittstellen, Divergenzen und Partner

Um ein Sinken der Importe fossiler Brennstoffe und den Ausbau klimafreundlicher Alternativen außen­politisch zu flankieren, brauchen Klima- und Energie­außenbeziehungen Leitplanken. Deutschland und die EU sollten die notwendigen Normen, Standards und Regeln zunächst in der EU sowie im gesamten Euro­päischen Wirtschaftsraum, in der Energiegemeinschaft und dem Vereinigten Königreich weiterentwickeln.9 Insbesondere Wasserstoff muss in die EU-Ener­gieunion integriert werden. Sodann gilt es, diese Leitplanken auch global zu verhandeln und letztlich umzusetzen.

Mit den USA, China und Japan und weiteren G20-Staaten müssen handelspolitische Rahmenbedingungen, eine koordinierte Bepreisung von Kohlendioxid (CO2) sowie konkrete klima- bzw. energiebezogene Stan­dards für relevante Sektoren und Güter aus­gehandelt und verankert werden.

Angesichts begrenzter Ressourcen ist es geboten, sich geographisch auf Ankerpartnerländer der afro-euro-asiatischen Ellipse zu konzentrieren.10 Damit sind jene Länder der Nachbarschaft im Mittelmeer-, Schwarzmeer- und Kaspischen Raum gemeint, mit denen sowohl klimapolitische Ziele als auch alte und neue Themen der Energieaußenpolitik bearbeitet werden müssen. Dort werden Stand­orte der Erzeugung liegen und überdies wichtige Leitungen für den Bezug grüner Elektronen und Moleküle verlaufen.

Der Umgang mit Russland bleibt wohl die größte geopolitische und wirtschaftliche Aufgabe aufgrund seiner herausragenden Stellung als Öl-, Gas- und Rohstofflieferant. Das Eskalationspotential ist groß; prominentestes Beispiel ist die Pipeline Nord Stream 2. Des Weiteren ist die geplante Abkopplung des Balti­kums, der Ukraine und der Republik Moldau vom postsowjetischen Stromnetz brisant. Die Integration der Ukraine in den europäischen Energiemarkt ist bereits eine politische Priorität. Eine Zusammenarbeit mit Russland beim Thema Wasserstoff könnte helfen, zu einer Positivagenda zu gelangen und eine Balance zwischen Kooperation, Konfrontation und Wett­bewerb herzustellen.

Schließlich sind der Maghreb, Ägypten und die Türkei energiepolitische Schlüsselländer und außer­dem Brückenköpfe nach Afrika, in den Nahen Osten und nach Asien, wo sich eine Interkonnektivitäts­dynamik entfaltet. Die dort entstehenden Wirtschafts- und Logistikkorridore sollten als Teil der EU-Afrika-Partnerschaft im Rahmen des Green Deal ausgestaltet werden.

Ob die genannten Partnerländer sich stärker für klimafreundliche Energien engagieren werden, wird nicht zuletzt davon abhängen, wie sie politisch mit den Erfahrungen der sich mehrenden klima­bedingten Extremwetterereignisse umgehen.

Optionen für eine aktive Gestaltung

Die deutsche Klima- und Energiediplomatie braucht eine neue Gangart. Es muss gelingen, den Flicken­teppich der deutschen Klima- und Energiepartnerschaften anhand von Prioritäten in eine kohärentere Landschaft zu überführen. Die Priorisierung sollte geographische und inhaltliche Ziele abbilden. Die neue Bundesregierung sollte erstens eine Bestandsaufnahme ihrer energie- und klimapolitischen Inter­essen mit Blick auf die jeweiligen ausländischen Part­ner vornehmen, zweitens eine Strategie ausarbeiten, die diese widerspiegelt.

Zu den Prioritäten gehört der Umgang mit Lieferanten fossiler Brennstoffe, der sich aktuell im Spannungsfeld zwischen Versorgungssicherheit und Klimaschutz voll­zieht. Eine ressortspezifische Priorisierung, die sich an umwelt-, entwicklungs- oder außenwirtschafts­politischen Überlegungen orientiert, hätte weiterhin ihre Bedeutung. Sie würde aber Teil eines Abstimmungsprozesses zwischen den Ressorts sein, der letztlich auf ein strategisches Zusammenspiel deutscher Diplomatie abzielt und widersprüchliche Signale in den Außenbeziehungen minimiert. Eine besondere Herausforderung wird die Dekarbonisierung der Gaswertschöpfungskette darstellen.

Geographisch kann Energiepolitik entlang konzen­trischer Kreise entwickelt werden. Diese müssen in klima­politischer Hinsicht ergänzt und konkretisiert werden. Für die zügige und tiefgreifende Transformation hin zur Klimaneutralität sind zum einen vor­handene ebenso wie neue Infrastrukturen entscheidend, zum anderen ein gemeinsamer Rechts- und Normenbereich. Das bringt eine Refokussierung auf die EU und weitere europäische Partner mit sich, erweitert um die Nachbarregionen der Nord- und Ostsee, des Schwarzmeer- und des Mittelmeerraums. Geeignete Foren für die »Stromnachbarn« und die »Wasserstoffnachbarn« sollten entlang von Industriezentren, Trassen und Netzen ausgebaut werden. Dar­über hinaus muss Deutschland diese neuen Dimen­sionen der Außenbeziehungen in die europäische Handelspolitik hineintragen. Mittels geltender und künftiger Abkommen können Normen gesetzt und Transaktionskosten verringert werden – bestenfalls auch auf Ebene der Welthandelsorganisation.

Die handelspolitische Debatte über den Klimaschutz wird konkreter werden angesichts des Vorschlags der Kommission, ab 2026 an der EU-Grenze eine Abgabe für bestimmte energieintensive Güter einzuführen, die sich nach dem CO2-Gehalt der Produktionsprozesse richtet (CO2-Grenzausgleichsmechanismus/Carbon Border Adjustment Mechanism, CBAM).11 Einige Län­der in der EU-Nachbarschaft reagierten darauf bereits mit steigendem Interesse an einer CO2-Bepreisung, auch OECD-Partner möchten mit der EU in dieser Frage kooperieren – während unter anderem China und Russland mit handelspolitischen Konsequenzen drohen, sollte es zur Umsetzung kommen. Die Bun­desregierung sollte sich von solcher Droh-Rhetorik nicht beeindrucken lassen und stattdessen das Gele­genheitsfenster nutzen, 2022 über die G7, die G20 und weitere Foren die Klimaschutzpolitik auf eine gemein­same Umsetzungsbasis zu stellen, nämlich den CO2-Preis und Emissionsstandards.

Instrumente und ihre nationale Umsetzung bleiben in den nächsten Jahren wichtige Verhandlungsthemen auf der Ebene der Vereinten Nationen, in den G‑Formaten und in existierenden multilateralen Institutionen. Für die effektive regionale und globale Zusammenarbeit bei neuen Technologien, Energieträgern, Interkonnektivität, Standards und Normen fehlt es aber noch an multilateralen Institutionen. Eine Bündelung der wachsenden Zahl paralleler Foren sollte zudem zügig vorangebracht werden. Dies wäre eine Aufgabe für die deutsche G7-Präsidentschaft 2022, mit der die neue Bundesregierung ihr Profil schärfen könnte.

Die Prominenz, die die Folgen des Klimawandels und der Druck in Richtung mehr Klimaschutz in Poli­tik und Öffentlichkeit erlangt haben, hat in Europa und den USA die Dekarbonisierung zu einem Teil des Wett­streits um globale Führungsansprüche werden lassen. Dieser Wettstreit findet seinen Niederschlag in den globalen Klimaverhandlungen. Er wird jedoch auch wirtschaftlich ausgetragen. Deutschland kann nur zusammen mit seinen europäischen Partnern die kri­tische Größe erlangen und die außenpolitischen Hebel entwickeln, um in diesem Wettstreit zu beste­hen. Technologieführerschaft, Standard- und Nor­men­setzung, Regelraum und Marktgröße sollten Leit­linien der neuen Strategie sein und den gängigen diplomatischen Instrumentenkasten erweitern, um mehr Gewicht in die Waagschale werfen zu können.

Deutsche und europäische Asyl- und Migrationspolitik: Vom Krisenmodus zur vorausschauenden Gestaltung

Steffen Angenendt / Nadine Biehler / Nadine Knapp / Anne Koch / Amrei Meier

In den vergangenen Jahren waren die deutsche und die europäische Asyl- und Migrationspolitik stark krisengetrieben, insbesondere während und nach den umfangreichen Zuwanderungen von 2015/2016. Dabei haben die Regierungen vor allem versucht, mit kurzfristigen nationalen Maßnahmen die Zahl der Flüchtlinge und irregulären Migrantinnen und Migranten zu begrenzen.

Die Kosten eines bloß reaktiven Handlungsmodus sind aber gerade in diesem Politikfeld hoch. Das Ad-hoc-Vorgehen der Vergangenheit hatte proble­ma­tische Folgen – so wurden die libysche Küstenwache und ihre menschenrechtsverletzenden Praktiken gefördert, die zunehmend autokratische Regierung der Türkei politisch gestärkt und die unwürdigen Zustände für Geflüchtete auf den griechischen Inseln verstetigt. Dies hat der Bundesregierung und der EU-Kommission Kritik eingebracht. Das Europäische Par­lament ebenso wie UN- und Menschenrechtsorganisationen sehen das Europa- und Völkerrecht verletzt, insbesondere die Genfer Flüchtlingskonvention.1 Eine solche Politik nährt zudem Zweifel an der Fähigkeit der Regierenden, die komplexen Herausforderungen in dem Bereich zu bewältigen. Davon profitieren vor allem populistische Parteien und Bewegungen, die vermeintlich einfache Lösungen anbieten. Eine vor­wiegend reaktive Politik vergibt letztlich Chancen, Migration so zu gestalten, dass sie zur nachhaltigen Zukunftssicherung in Gesellschaft und Wirtschaft beitragen kann.