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Die Bundesregierung wie auch der Bundestag stehen in der kommenden Legislaturperiode vor der Notwendigkeit, die Reichweite deutscher Verantwortung in der Weltpolitik neu zu bestimmen. Ohne eine Bestandsaufnahme, wie sich die internationale Arena verändert hat und welcher Wandel darüber hinaus geboten ist, können die Handlungspotentiale deutscher Außenpolitik nicht sachgerecht beurteilt werden.
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Internationale Machtverschiebungen, Positionsverluste des Westens, wachsender Autoritarismus, Schwächung multilateraler Institutionen und drängende globale Probleme wie der Klimawandel – all diese Herausforderungen erfordern eine Neuaufstellung deutscher Außenpolitik. Dabei gilt es die Grenzen der eigenen Leistungsfähigkeit, aber auch die gegebenen Handlungsspielräume richtig einzuschätzen. Ziele wie Prioritäten sollten sich daran orientieren.
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Deutsche Außenpolitik steht in einem sich verschärfenden Wettbewerb um internationalen Einfluss und die Deutungshoheit über Normen und Werte. In den einzelnen Feldern auswärtigen Handelns ist dieser Wettbewerb unterschiedlich ausgeprägt. Daher kann deutsche Präsenz in der internationalen Politik nur wirkungsmächtig sein, wenn die Ressourcen der involvierten Ressorts zusammengeführt werden.
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Im außenpolitischen Entscheidungsprozess müssen Freiräume für vorausschauende und mittelfristige Ansätze geschaffen werden. Auf diese Weise kann es gelingen, die Neigung zu Ad-hoc-Entscheidungen auszugleichen und ein vorwiegend reaktives Verhaltensmuster zu vermeiden.
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Deutschlands Außenbeziehungen müssen an belastbaren Partnerschaften und neuen Formen der Verantwortungsteilung in den verschiedenen Politikfeldern ausgerichtet sein. Wie dabei auftretende Zielkonflikte zu regeln sind, kann nur in einer offenen und transparenten Diskussion ausgehandelt werden.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung. Deutsche Außenpolitik im Wandel: Unstete Bedingungen, neue Impulse
1.1 Wandel erkennen und Wandel befördern
1.3 Welcher Wandel? Versuch einer Standortbestimmung
2 Zeit für Diplomatie: Das Modell eines neuen Mächtekonzerts als Stichwortgeber für Deutschland
2.1 Das neue Mächtekonzert – eine Blaupause
2.2 Punktueller Mehrwert für deutsche und europäische Außenpolitik
2.3 Impulse für die strategische Autonomie Europas
3.1 Das Führungsdilemma lässt sich entschärfen
3.2 Deutschlands Interessen und die EU‑Integration sind verquickt
3.3 Keine Hierarchie zwischen Werten und Interessen
4 Deutsche globale Gesundheitspolitik. Für eine nachhaltigere Ausrichtung
4.1 Deutschlands neue Ambivalenz
4.2 Veränderte internationale Landschaft
4.4 Multilaterale systemische Ansätze
4.5 Institutionelle Bedingungen
4.6 Wissenschaftliche und politische Begleitung in Deutschland
4.7 Koordination innerhalb der Bundesregierung
4.8 Möglichkeitsfenster und Weichenstellungen
5 Die EU auf dem Weg zu einer Fiskalunion?
5.2 Was ist bereits erreicht worden?
5.2.1 Mögliche Differenzierung zwischen Eurozone und EU-27
5.2.2 Das Problem der gesamtschuldnerischen Haftung
5.2.3 Demokratische Legitimation neuer fiskalischer Instrumente
5.3 Welche Streitfragen sind noch zu klären?
5.3.1 Ist ein dauerhafter Stabilisierungs- bzw. Transfermechanismus möglich?
5.3.2 Finanzierung des Mechanismus über gemeinsame Schuldtitel oder eine EU-Steuer?
5.3.3 Welche Konditionalitäten und Begrenzungen sollten eingeführt werden?
5.4 Aufgaben für die nächste Bundesregierung
6 Die EU im Spannungsfeld zwischen innerer Sicherheit und Rechtsgemeinschaft
6.1 Die bisherige Entwicklung der EU‑Sicherheitsunion
6.2 Mehrbedarf an europäischem Krisenmanagement und Solidarität
6.3 Eine vertiefte Rechtsgemeinschaft als Voraussetzung der Sicherheitsgemeinschaft
6.4 Das gegenseitige Vertrauen und die nationale Rechtsstaatlichkeit
6.5 Prioritäten und Handlungsempfehlungen für Deutschland
7.1 Politikansatz 1: Diplomatische Ad‑hoc‑Formate
7.2 Politikansatz 2: Militärische Koalitionen der Willigen
7.3 Politikansatz 3: Universelle Strafgerichtsbarkeit
8.1 Grundzüge der »alten« Bundeswehr
8.2 »Eckpunkte« für die Zukunft?
8.4 Nationale Führung und Planung
9 Maritime Wahl: Indo-pazifische versus arktisch-nordatlantische Prioritäten
9.1 Die Lage in der Arktis und im Nordatlantik
9.2 Der arktisch-nordatlantische Raum aus deutscher Sicht
9.3 Folgen für die deutsche Politik
10 Schwieriges Verhältnis zu Moskau. Deutsche Russlandpolitik muss weiter justiert werden
10.2 Deutsche Russlandpolitik: teilweise an der Realität vorbei
10.3 Neue Bundesregierung: (noch) mehr Realitätssinn erwünscht
10.4 Kosten und Nutzen der Neujustierung
11 Eine alternative »Ein China«-Politik
11.2 Eine defensiv ausgerichtete, wertegeleitete Außenwirtschaftspolitik
11.3 Internationale Zusammenarbeit im Hinblick auf China stärken und ausbauen
12 Den Worten Taten folgen lassen: Außenpolitik gegenüber Afrika und Lateinamerika
12.1 Migrationspolitik in Afrika
12.2 LAK im Kontext der Covid‑19‑Impfstoffpolitik
12.3 Politikwandel und Vertrauensbildung
13 Multilateralismus und Partnerschaft in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik
13.3 Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen
14 Nachhaltigkeitsaußenpolitik
14.1 Ausgangspunkt: Die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie 2021
15 Diplomatie für das 21. Jahrhundert. Sechs praktische Vorschläge
15.1 Nationale außenpolitische Dialogplattformen
15.2 Europäische Frühwarn-Netzwerke
15.3 Nationaler Sicherheitsrat im Deutschen Bundestag
15.4 Institutioneller Rahmen der Allianz für Multilateralismus
15.6 Institutionalisierte EU-Kompetenzbildung zu Asien
16 Hybride Bedrohungen und die Außen- und Sicherheitspolitik der EU
16.1 Resilienz und Sicherheitsunion
16.2 Die Schwachstellen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik
16.3 Die notwendige Neuaufstellung des EAD als strategische Intelligence Unit
16.4 Deutschlands Beitrag zum Umbau des EAD
17 Auf dem Weg zu einer internationalen Politik demokratischer Resilienz
17.1 Eine streitbare Demokratie auch nach außen?
17.2 Varianten von Autoritarismus und Autokratien in den Blick nehmen
17.3 Von der externen Demokratieförderung zu einer internationalen Politik demokratischer Resilienz
18 Build Back Better global denken: Strategien aus dem Globalen Süden stärken
18.1 Regionale Wiederaufbaustrategien verstehen
18.3 Build Back Better in Afrika
18.4 Lateinamerikanische Strategie(n)
18.5 Die Notwendigkeit kompatibler Regionalstrategien
18.5.1 B3W als attraktives Kooperationsangebot etablieren: deutsche G7-Präsidentschaft nutzen
18.5.2 Nearshoring fair gestalten: lokale Lieferketten durch die EU‑Handelspolitik stärken
18.5.3 Energiewende global denken: Maßnahmen für einen gerechten Übergang umsetzen
19 Klimaziele und Energiepolitik außenpolitisch stärker gestalten
19.1 Klimaschutz-Ambitionen und Veränderungen im Energiebereich
19.1.1 Ein Kohleausstieg gilt als dominante globale Klimalösung
19.1.2 Ausbau der erneuerbaren Energien und die Bedeutung Europas
19.2 Klima- und Energieaußenbeziehungen: Schnittstellen, Divergenzen und Partner
19.3 Optionen für eine aktive Gestaltung
20.1 Probleme, Herausforderungen und Chancen
20.2 Zielkonflikte und Zielbestimmung
20.3 Gestaltungselemente einer strategisch ausgerichteten Asyl- und Migrationspolitik
21.1 Frühzeitige Prävention statt Wartestellung
21.2 An kritischen Punkten aktiv werden
21.3 »Untypische« Konfliktverläufe mitdenken
21.4 Gestaltungswandel braucht »Leadership«
22.1 Gratwanderung zwischen normativer Nichtverbreitungspolitik und nuklearer Teilhabe
22.2 Das Glaubwürdigkeitsdilemma des nuklearen Ersteinsatzes
22.3 Politische Stabilitätserwägungen und Folgerungen
23 Ein Club demokratischer Marktwirtschaften als Antwort auf Chinas Rückzug in die Binnenwirtschaft?
23.1 Präferenz für wirtschaftliche Autonomie
23.2 Folgen für Deutschland und die Weltwirtschaft
23.4 Neue Wege in der Handelspolitik?
24 Nach- und Neujustierung der deutschen Europapolitik
24.1 Mut zum Gestaltungswandel in der Europapolitik trotz Anpassungsdruck
24.2 Die EU ist nicht Europa – Die EU‑Erweiterung kein Selbstläufer
24.3 Stärkung der intergouvernementalen Zusammenarbeit innerhalb der EU‑27
24.4 Neugestaltung der Beziehungen der EU zur EFTA und zum Vereinigten Königreich
24.5 Umgang mit dem EU-Nachbarschaftsraum (Westbalkan, Osteuropa)
25.1 Warum Deutschland eine sicherheitspolitische Ertüchtigung braucht
25.2 Eine Ertüchtigungs-Agenda in elf Schritten
26 Die europäische Sicherheitsordnung in einer geopolitischen Welt
26.1 Schwindender Einfluss unter geopolitischen Vorzeichen
26.2 Zwei Kernfragen: Welche Machtpolitik, mit welchen Partnern?
26.3 Flexibilisierung im Inneren, Neujustierung nach außen
27 Deutsche Amerikapolitik: Mehr Selbstbewusstsein und mehr Selbständigkeit
27.1 Keine Rückkehr zum Status quo ante
27.2 Mehr Initiative und Selbstbewusstsein in der Kooperation
27.3 Kooperation wo möglich, Unabhängigkeit wo nötig
27.4 Politische, militärische und wirtschaftliche Abhängigkeiten reduzieren
28 Partner oder Rivalen? Vom Umgang mit autoritären Mächten
28.1 Was macht Staaten zu Partnern, was zu Rivalen?
29 Am Ball bleiben: Deutsche Indo‑Pazifik‑Politik
29.1 Europäische Abstimmung und Zusammenarbeit
29.3 Thematische Schwerpunktsetzungen
29.4 Prioritätensetzung, Zielkonflikte, harte Entscheidungen
Einleitung. Deutsche Außenpolitik im Wandel: Unstete Bedingungen, neue Impulse
Günther Maihold / Stefan Mair / Melanie Müller / Judith Vorrath / Christian Wagner
Der überstürzte Abzug der westlichen Truppen aus Afghanistan und die schnelle Machtübernahme der Taliban in Kabul haben einige Grundfragen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik mit neuer Dringlichkeit auf die Tagesordnung gesetzt. In welcher Form und mit welchen Zielen soll »der Westen« sich künftig international engagieren? Welchen Grad an Verantwortung will die Bundesregierung dabei übernehmen? Wie wird sich Deutschland in Zukunft für Auslandseinsätze aufstellen? Nicht zuletzt geht es auch darum, wie durch präventives Handeln krisenhafte Zuspitzungen frühzeitiger erkannt und Gewaltkonflikte vermieden oder effektiver angegangen werden können.
Jenseits dieser aktuell stark diskutierten Aspekte verdeutlichen die Entwicklung in Afghanistan und die Debatte um Lehren aus dem internationalen Engagement, wie virulent Fragen nach globalen und regionalen Ordnungsrahmen und der Position Deutschlands darin sind. Eine neu gewählte Bundesregierung, aber auch der Bundestag werden für eine Vielzahl von Zukunftsthemen schnelle und zugleich weitreichende Antworten finden müssen.
Rahmenbedingungen und Kontexte sind nie statisch, doch scheinen die Veränderungen in jüngerer Zeit tiefgreifender und beschleunigt aufzutreten, was noch verstärkt wird durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie. Die Unstetigkeit hat im letzten Jahrzehnt viele Formate außenpolitischen Handelns erfasst, die bis dahin als stabil betrachtet wurden. Dies gilt – auch nach dem Ende der Trump-Präsidentschaft – für die Bereitschaft zu multilateralem Handeln im Weltmaßstab, für die Verpflichtung auf globale öffentliche Güter, ebenso für das Verhältnis von vorsorgendem Handeln und der Beseitigung von Schäden in Krisen und Konflikten. So ist davon auszugehen, dass der Westen an Anerkennung verlieren und der Einfluss seiner Werte und normativen Vorstellungen (weiter) schwinden wird. Dies betrifft nicht nur die Führungsmacht USA, sondern insgesamt den Nato-Verbund, die EU und Deutschland.
Wie weitreichend die daraus resultierenden Verschiebungen auf globaler Ebene sein werden, lässt sich gegenwärtig noch schwer abschätzen. Doch muss sich Deutschland darauf einstellen, dass in der internationalen Politik erhebliche Verwerfungen auftreten könnten – Partner wie Konkurrenten betreffend. Gleichzeitig ergibt sich aus diesen Entwicklungen die Notwendigkeit, aber auch die Chance, im europäischen wie internationalen Rahmen neue Impulse zu setzen.
Die Grundkoordinaten deutschen Engagements in der Weltpolitik sind dabei zu prüfen und eventuell neu zu bestimmen, wenn sich die Bundesrepublik auf diesem Feld zukunftsfähig aufstellen will. Viele internationale Parameter wandeln sich, was einen veränderten Blickwinkel und eine Neuausrichtung des eigenen Handelns erforderlich macht. Die Bundestagswahl 2021 wird unter diesen Bedingungen nicht nur aus Berliner Warte eine neue Phase der deutschen Außenpolitik1 einleiten. Mit dem Ende der »Ära Merkel« werden auch die internationalen Erwartungen an eine deutsche Führungsrolle neu sortiert.
Zu den traditionellen Pfeilern deutscher Außenpolitik gehören deren Einbettung in die europäische Integration und die transatlantische Partnerschaft. Diese Grundelemente wurden in den letzten Jahren erkennbaren Belastungstests unterzogen, als vermehrt populistische Regierungen an die Macht gelangten und die innenpolitische Polarisierung auch in vielen europäischen Staaten zunahm. In verschiedenen Regionen der Welt sind eine Erosion demokratischer Prozesse und ein wachsender – teils transnational verbundener – Autoritarismus zu beobachten. Auf internationaler Ebene untergräbt die strategische, zunehmend systemisch überhöhte Rivalität zwischen China und den USA die multilateralen Beziehungen. Gleichzeitig treten innerhalb des Globalen Südens neue Akteure auf den Plan, die regionale Einflusssphären anstreben. Westliche Staaten können nicht mehr ohne weiteres davon ausgehen, zentrale Spieler in anderen Weltregionen oder in multilateralen Foren zu sein. Die EU sieht sich mit der Aufgabe konfrontiert, mit sich verschärfenden Groß- und Regionalmachtrivalitäten umzugehen, eine eigene strategische Position zu finden und dabei Allianzen mit neuen Partnern zu schließen.2 Menschenrechtsverletzungen und gegen internationale Vereinbarungen verstoßende Regelbrüche belasten zunehmend das multilaterale System, dem deutsche und europäische Politik verpflichtet sind.
Auf diese Umbrüche im internationalen System treffen globale Herausforderungen wie der menschengemachte Klimawandel oder die Digitalisierung, aber auch hybride Bedrohungen aus dem Cyberraum und eine wachsende Konkurrenz um Ressourcen. Transnationale Migrationsbewegungen und Störungen des internationalen Handels erfordern strategische Entscheidungen im nationalen und europäischen Rahmen. Mit der Erosion alter Regionalordnungen und dem Auftreten neuer Akteure, die »ordnungsstiftend« eingreifen wollen, wird das Unterfangen noch komplexer, Konflikte nachhaltig zu regeln. Die große wirtschaftliche Dynamik in Asien und der Aufstieg Chinas haben nicht nur ökonomisch neue Bezugspunkte für die Außenpolitik gesetzt. Und durch die Corona-Pandemie werden viele Entwicklungen noch forciert – weil sie gesellschaftliche Spannungen verstärkt und die soziale Ungleichheit innerhalb bzw. zwischen den Regionen wachsen lässt, aber auch weil sie politische Aufmerksamkeit von anderen Themen abzieht.
Auch innenpolitisch sind veränderte Präferenzen und Interessen zu beobachten. So bietet die Bundestagswahl einen Anlass, die Gewichtung vorrangiger Themen und die Herausforderungen des internationalen Umfelds im Rahmen einer Standortbestimmung neu zu bewerten, das außenpolitische Selbstverständnis zu hinterfragen und daraus Handlungsoptionen zu entwickeln. Das ist der Ansatz dieser Sammelstudie, die sich um die Leitfrage dreht: Welche Neuorientierung, welche Weichenstellungen sollte die künftige Bundesregierung vornehmen, um bei der Gestaltung der Außenbeziehungen zentrale Probleme zu bewältigen, mögliche Chancen zu nutzen und neue Potentiale zu erschließen?3
Die vorliegenden Beiträge behandeln Politikfelder, Gestaltungsräume und Akteure, für die ein Perspektivwechsel notwendig oder wünschenswert ist, um Deutschland in der internationalen Arena und seinem innen- wie außenpolitischen Bezugsfeld neu zu positionieren. Im Zentrum steht naturgemäß der Wandel im internationalen Umfeld und die daraus entstehenden Herausforderungen. Es geht aber auch um die Frage, wie diverse Themen- und Handlungsfelder einzuordnen sind, deren Priorität sich verschoben hat. Schließlich werden jene normativen Debatten über deutsche außenpolitische Positionen aufgegriffen, die aus neuen konzeptionellen Zugängen wie auch parteipolitischen Präferenzen folgen, wobei zugleich deren Begründungskontexte zu bewerten sind. Hierzu gehört insbesondere, die Prinzipien, Werte und Regeln des Multilateralismus für die Zukunft zu definieren.
Wandel erkennen und Wandel befördern
Im Zentrum der folgenden Betrachtungen steht der Wandel, was keineswegs die unmittelbare Entwertung bisheriger Ansätze, Instrumente oder Konzepte meint. Vielmehr geht es darum, den Blick für jene Politikfelder zu schärfen, bei denen durch Umstellungen und Prioritätenverschiebungen ein Mehrwert für Deutschland in der internationalen Politik erzielt werden kann. Wachsender Problemdruck ist dabei einer der Faktoren, die zu berücksichtigen sind; es gilt aber auch Gestaltungsoptionen zu entwickeln, die neue Handlungsmöglichkeiten erschließen. Die Beiträge loten relevante Veränderungen, Spielräume und Ansatzpunkte für die deutsche Außenpolitik aus. Dabei nehmen die Autorinnen und Autoren durchaus kontroverse Perspektiven ein – auch untereinander. Bewusst wird auf einen umfassenden Problemaufriss verzichtet und der Blick über gängige Kategorien außenpolitischer Themen und Bezugspunkte hinaus gerichtet. Es werden gezielt jene Optionen in den Blick genommen, bei denen sich Deutschland durch aktives Handeln anders aufstellen und bestehende Chancen nutzen oder neue erschließen kann.
Hierzu bedarf es auch einer Revision des eigenen Handlungsinstrumentariums, von der Diplomatie über die Bundeswehr bis zu Entwicklungszusammenarbeit und Stabilisierungsengagement. Ebenso zu prüfen ist die Organisation des außenpolitischen Entscheidungsprozesses, der darunter leidet, dass Beteiligungsformate zerfasern und sich die Kompetenzen diverser Ressorts und Agenturen überlappen. Der Anspruch, dass Deutschlands Außenpolitik in unterschiedlichen Arenen und gegenüber Partnern wie Konkurrenten von Stimmigkeit geprägt ist (Stichwort Kohärenz), bedeutet eine kontinuierliche Herausforderung. Konvergenz zwischen einzelnen Handlungsfeldern zu stiften und Kompatibilität zu erzielen sind insofern zentrale Elemente für ein wirksames außenpolitisches Auftreten, nicht zuletzt in den internationalen »Club Governance«-Formaten wie OECD, G7 oder G20.
Wenn hier der Wandel in den Blick genommen wird, soll damit die Bedeutung von Kontinuität und stabilen Leitplanken für außenpolitisches Handeln nicht verkannt werden. Gerade in Krisenmomenten gehören Forderungen nach einem Kurs- oder Strategiewechsel zum Standardrepertoire des politischen Geschäfts. Wandel des staatlichen Außenverhaltens wird in dieser Studie als eine Veränderung des Möglichkeitsraumes von Außenpolitik verstanden.4 Damit verbunden ist die Vorstellung ungenutzter oder neuer Handlungsoptionen, die sich umsetzen lassen, sofern entsprechende Kompetenzen vorhanden und die nötigen Machtressourcen verfügbar sind. Umfang und Größe des Möglichkeitsraumes werden bestimmt durch externe Faktoren, die eigene Gestaltungskraft und den Willen, diese zu nutzen. Zudem variiert dieser Raum je nach Sachbereich und Politikfeld; wie er ausgestaltet wird, ist vom außenpolitischen Stil abhängig, der von aktiver Handlungsdisposition über reaktives Verhalten bis hin zu Nachlässigkeit reichen kann. Schon allein deshalb, weil die Grenzen zwischen Innen- und Außenpolitik aufweichen, verschieben sich Inhalte und organisatorische Zuweisungen außenpolitischen Handelns. Gleichzeitig greifen auch Legitimationsinteressen aus dem Bereich der Innenpolitik – etwa in Energie- oder Migrationsfragen – auf das außenpolitische Feld über.
Ohnehin sollte Wandel graduell verstanden werden. Er bezeichnet ein Spektrum an möglichen Veränderungen, das von punktuellen Kurskorrekturen über den Spurwechsel bis zum Umschwenken reicht. Es geht also nicht immer um eine grundsätzliche Abkehr von eingeführten Positionen, sondern teils auch um andere Prioritätensetzungen oder Anpassungen, die von außen oder innen an die Außenpolitik herangetragen werden und sich in unterschiedlichen Dimensionen hinsichtlich ihrer Reichweite und Tiefe fassen lassen.
Kategorien des Wandels
Die Beiträge dieser Studie gliedern sich entlang von vier Kategorien des Wandels, die außenpolitisches Handeln bestimmen und gleichzeitig Ansatzpunkte für künftige Weichenstellungen bieten.
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Anpassungswandel: Umbrüche, geopolitische Rivalitäten und Machtverschiebungen, die sich im internationalen Umfeld eines Landes vollziehen, können dessen Handlungsspielraum erweitern oder einschränken. In jedem Falle geht vom internationalen Umfeld ein Anpassungsdruck auf nationales Handeln aus. Stärke und Geschwindigkeit eines entsprechenden Wandels setzen neue Bedingungen für Außenpolitik, die oftmals unterschätzt werden. Der Aufstieg Chinas ist dabei ebenso erfasst wie die geopolitischen Ambitionen bei der Kontrolle strategischer Ressourcen.
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Identitätsbezogener Wandel: Wenn sich das nationale Selbstverständnis, die Aushandlung innenpolitischer Interessen- und Konsensmuster oder gesellschaftliche Machtkonfigurationen ändern, kann dies außenpolitische Rollenkonzepte beeinflussen und zur Neuaufstellung eines Landes in der internationalen Politik führen. Hierzu zählen auch Korrekturen bei der Priorisierung von Politikfeldern, neue Legitimationsgrundlagen für außenpolitisches Handeln (etwa durch Bewegungen wie »Fridays for Future«) oder Verpflichtungen kraft internationaler Übereinkünfte (beispielsweise der UN-Nachhaltigkeitsagenda) – Faktoren also, die sich auf etablierte Präferenzordnungen oder Handlungsmuster auswirken und Glaubwürdigkeitslücken schließen bzw. schließen können.
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Gestaltungswandel: Außenpolitisches Handeln kann dadurch einen Wandel erfahren, dass sich die Fähigkeit und der Wille zur Gestaltung verändern. Nicht zuletzt werden dann Routinemuster überwunden. Ein neu entstandenes Interesse an internationaler Präsenz, die offensive Wahrnehmung von Einflusschancen, das Bestreben, einen Statusgewinn zu erlangen bzw. Statusverlust zu vermeiden – solche Faktoren können eine aktivere Mitgestaltung der internationalen Politik induzieren, wie etwa im Falle Südkoreas oder der Türkei zu erkennen. Dies lässt sich auch in der außenpolitischen Mittelwahl abbilden, etwa hinsichtlich des Politikstils.
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Partnerbezogener Wandel: Geltungsbereich und Wirkungshorizont außenpolitischen Wandels werden stark durch die Frage bedingt, mit welchen Partnern und in welchem Arrangement von Unterstützergruppen Ziele erreicht werden sollen. Zwar können Allianzbildung, Integrationsprozesse und Sozialisationseffekte in internationalen Organisationen dazu führen, dass Konvergenzprozesse im zwischenstaatlichen Verhalten angestoßen und vertieft werden. Doch sind solche Entwicklungen schwer abzuschätzen, wenn etwa China für Deutschland gleichzeitig als Partner, Wettbewerber und Rivale auftritt.5 Ähnliches gilt auch für die Beziehungen zu den USA. Partnerkonstellationen prägen die normative und operative Interessenartikulation und die Präferenzordnungen für außenpolitisches Handeln. Sie können Wandel im außenpolitischen Verhalten bilateral und im Gruppenkontext sowie politikfeldbezogen stärken oder schwächen.
Diese vier analytischen Kategorien überlappen sich und sind mit unterschiedlicher Gewichtung in nahezu allen Politikfeldern zu finden. Wie die nachfolgenden Beiträge zugeordnet werden, folgt der Einschätzung der Autorinnen und Autoren, welche Form des Wandels bei ihrem Thema jeweils vorrangig ist, ohne dass damit jedoch die anderen Dimensionen vernachlässigt würden.
Welcher Wandel? Versuch einer Standortbestimmung
Mit ihren 28 Beiträgen erfasst die Studie ein breites Spektrum an Handlungsfeldern, das die große Reichweite des konstatierten oder als notwendig erachteten Wandels verdeutlicht. Im Rahmen dieser Standortbestimmung werden mittel- und langfristige Perspektiven identifiziert, die die Grundanlage des außenpolitischen Handelns betreffen können oder auch kurzfristige Notwendigkeiten eines Umsteuerns sichtbar machen.6 Als Bestandsaufnahme verstanden geht es darum, Annahmen, Analysen und Ansätze in relevanten Bereichen zu hinterfragen, Warnzeichen sowie Verschiebungen des Handlungsrahmens zu erkennen und Potential für Wandel in der künftigen deutschen Außenpolitik aufzuzeigen.
Mit dieser Zielrichtung leiten die Beiträge jeweils Schlussfolgerungen und Empfehlungen ab, die eigene sachfeldbezogene Akzente setzen. Im Folgenden lassen sich gleichwohl einige Grundprinzipien für das außenpolitische Auftreten Deutschlands unter einer neuen Bundesregierung skizzieren:
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Die Architektur des außen- und sicherheitspolitischen Handelns muss zugunsten einer mittel- und langfristigen Perspektive verändert werden. Gerade angesichts grundlegender technologischer Dynamiken und massiver Machtverschiebungen in der internationalen Arena sollte Außenpolitik sich stärker jenseits öffentlicher Aufmerksamkeitsschwellen und krisengetriebener Logik positionieren. Notwendig ist dabei, Außenpolitik als eine langfristig angelegte Gestaltungsaufgabe zu betrachten, sie vorausschauend zu betreiben und für ein solches Politikverständnis entsprechende Freiräume und Ressourcen bereitzustellen. Dies kann durchaus auch einen Wandel im außenpolitischen Stil erforderlich machen.
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Ein solches Arrangement sollte es gestatten, angesichts begrenzter Handlungsressourcen thematische und geographische Prioritäten zu setzen. Es gilt die eigene Leistungsfähigkeit im Alltagsgeschäft realistisch einzuschätzen und den Anspruch globaler »Allzuständigkeit« zu vermeiden. Deutsche, aber auch europäische Alleingänge sind immer weniger erfolgreich – selbst eine Vorreiterrolle führt meist nicht mehr dazu, dass sich begeisterte Nachahmer finden. Im Vordergrund sollte daher das Ziel stehen, mit verschiedenen Partnern mittelfristige Interessenkonvergenzen in bestimmten Themenfeldern herzustellen und damit eine neue strategische Ausrichtung zu ermöglichen. Dies setzt aber voraus, dass die eigene Position klar artikuliert und selbstbewusst vertreten wird.
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Deutsche Außenpolitik benötigt auf manchen Feldern eine neue Gangart. Dabei gilt es, bestehende Pfadabhängigkeiten zu überwinden, einen neuen Blick auf relevante Akteursgruppen zu gewinnen – etwa solche aus dem »Globalen Süden«, der »NGO-Welt« oder der wachsenden Zahl von Diaspora-Gruppen – und sich von bisherigen Engführungen zu befreien, beispielsweise einem zu engen Fokus in der Migrationspolitik. Die Geltungsansprüche und Mitwirkungsinteressen anderer Staaten sind auch außerhalb des europäischen Kontexts aufzugreifen, wenn beständige, mehr als nur konjunkturelle Partnerschaften geschmiedet werden sollen. Neue Konfigurationen wie etwa in den russisch-chinesischen Beziehungen müssen stärker in den Blick gelangen. Der Umgang mit Großmächten ist für die deutsche Politik ein umkämpftes innenpolitisches Feld, da damit legitimatorische Interessen für die Positionierung von Parteien und Politikern verknüpft sind.
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Deutschland muss klar entscheiden, in welchen Themenfeldern und mit welchen Partnern es sein politisches Kapital nachdrücklich einsetzen will. Entscheidend im Sinne einer höheren Wirksamkeit ist dabei, dass Handlungsressourcen gebündelt werden. Zentral ist dabei das kohärente Zusammenspiel der verschiedenen Ressorts.
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Ohne eine Umorientierung im außenpolitischen Rollenverständnis wird der Wandel nicht durchsetzbar sein. Anhaltspunkte dafür bieten die umrissenen Kategorien des Wandels und die Schwerpunkte, die die nachfolgenden Beiträge setzen. Bestehende Zielkonflikte sollten öffentlich diskutiert, Kosten bzw. Nutzen bestimmter Entscheidungen sichtbar gemacht und entsprechende Abwägungen transparent vorgenommen werden. Dies würde zugleich erlauben, verschiedene Politikfelder auszubalancieren und eine breitere Grundlage für nötige Festlegungen zu schaffen. Ein solches Handeln ist nicht zuletzt auch im Umgang mit Partnern angezeigt.
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Bestehende Rahmenbedingungen gilt es immer wieder präsent zu machen, etwa den Anspruch auf Kompatibilität mit den Zielen der Nachhaltigkeitsagenda. Diese fordert eine klare Ausrichtung auf eine globale Politik öffentlicher Güter und macht damit Vorgaben, die eine elementare Richtschnur für das internationale Auftreten Deutschlands bilden. Die Verschränkung von Klimaschutz, Energie-, Technologie- und Industriepolitik ist nur ein Beispiel dafür, wie die verschiedenen Politikfelder zusammengedacht und in einem gemeinsamen Handlungskonzept integriert werden müssen. Die Bedeutung des Nachhaltigkeitsrahmens ist bislang in der Außenpolitik zu wenig sichtbar geworden; er sollte stärker in der politischen Praxis verankert werden.
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Die für deutsche Außenpolitik konstitutive Partnerbindung bringt Chancen, aber auch Abhängigkeiten mit sich. Dies erfordert ein umfassendes Erwartungsmanagement im Innern und nach außen. Gerade im Nato-Bündnis wie auch im europäischen Kontext ist das von zentraler Bedeutung. Die Orientierung an der wichtigen deutsch-französischen Partnerschaft darf nicht dazu führen, dass sich bei anderen EU-Mitgliedern ein Gefühl der Ausgeschlossenheit verbreitet. Nachbarschaft wird nicht mehr nur regional zu fassen sein, vielmehr benötigt Deutschland auch »globale« Nachbarn in verschiedenen Weltregionen, wenn es seinen Beitrag zur Lösung von Zukunftsproblemen leisten will. Dabei wird es nicht nur darum gehen, Arrangements der Lastenteilung zu erreichen – von größerer Bedeutung wird sein, auch ein neues Instrumentarium der Verantwortungsteilung und der gemeinsamen Gestaltung zu entwickeln.
Außenpolitische Kurskorrekturen sind nicht nur notwendig, weil sich innenpolitische Kräfteverhältnisse ändern; sie sind angesichts weltpolitischer Verschiebungen unverzichtbar. Dabei gilt es zu priorisieren, welche Art von Wandel eingetreten ist und eintreten soll. Die hier aufgezeigten Dimensionen machen deutlich, dass Wandel unterschiedlich begründet, veranlasst und ausgeprägt sein kann. Will deutsche Außenpolitik zukunftsfähig sein, muss sie damit nicht nur differenziert umgehen, sondern selber neue Impulse setzen.
Anpassungswandel
Zeit für Diplomatie: Das Modell eines neuen Mächtekonzerts als Stichwortgeber für Deutschland
Barbara Lippert
Die US-Politikberater Richard N. Haass und Charles Kupchan plädieren dafür, ein »neues Konzert der Großmächte« zu schaffen – und zwar als Gegenmodell zum liberal-demokratischen Multilateralismus, dem sich die EU und Deutschland in internationalen Organisationen und Allianzen weiterhin verschreiben.1 Weil deren Potential schwindet, nachhaltig für Sicherheit, Wohlstand und die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen zu sorgen, könnte den beiden Autoren zufolge die Stunde des Mächtekonzerts schlagen, um die Welt wieder »ordnungspolitisch in den Griff zu bekommen«.2 Es wäre kurzsichtig, diese Überlegungen sofort als Retro-Perspektive des 19. Jahrhunderts abzutun. Deutschland sollte ein solches Konzert zwar nicht politisch als alternatives Ordnungsmodell unterstützen, könnte aus den Gedankenspielen dazu aber Impulse für die Wiederbelebung einer regelgebundenen internationalen Ordnung ziehen.
Das neue Mächtekonzert – eine Blaupause
Ernüchterte Anhänger des Multilateralismus werden die Zentralprämisse des »new concert of powers« teilen: Die internationale Ordnung wird nicht länger von der Pax Americana gestützt. Letztere weicht einer multipolaren Ordnung, deren bipolarer Kern aus den Rivalen USA und China besteht. Die beiden sollen zusammen mit der EU sowie Indien, Japan und Russland das propagierte Konzert bilden. Auf diese sechs Mächte entfallen rund 70 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts (BIP) und der weltweiten Militärausgaben sowie 65 Prozent des Kohlendioxidausstoßes.3 Im Modell des Konzerts pflegen sie eine enge, informelle und flexible Zusammenarbeit, deren Ziel und Zweck darin besteht, Stabilität im Sinne des territorialen Status quo zu sichern. Die Sechs schließen wechselseitig eine Einmischung in innere Angelegenheiten aus und respektieren zugunsten politischer Inklusion jedweden Herrschaftstyp. Das Konzert versteht sich als Schaltzentrale internationaler Politik und ist faktisch den UN und Gruppen wie der G7 übergeordnet. Die entsprechende Autorität und Legitimität erwächst aus der Fähigkeit der Sechs, auf globale Herausforderungen gemeinsame Antworten zu finden. Dies betrifft etwa die Proliferation von Massenvernichtungswaffen, die Bedrohung durch terroristische Netzwerke, die Sorge um globale Gesundheit und die Folgen des Klimawandels. Spitzendiplomaten leisten die Vorarbeit; an einem Hauptsitz, etwa Genf oder Singapur, wo ein Sekretariat installiert ist, halten sie die Stellung. Eine enge, auf Konsens abgestellte Kommunikation untereinander soll verhindern, dass ein Mitglied die anderen mit einseitigen Maßnahmen überrascht. Wo Einigkeit nicht zu erzielen ist, bleibt jedoch auch das Mächtekonzert machtlos. Dessen Mitglieder können sogar unilateral handeln, wenn sie ihr vitales nationales Interesse bedroht sehen. Ausgeschlossen wird ein Mitglied nur dann, wenn es wiederholt in aggressiver Weise Interessen eines anderen verletzt.
Punktueller Mehrwert für deutsche und europäische Außenpolitik
Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen kommt dem Mächtekonzert insofern am nächsten, als beide ideologisch divers zusammengesetzt sind, was auch für die fünf ständigen Mitglieder des Rates gilt. Was könnte für Letztere, insbesondere Russland, China und die USA, der Anreiz sein, sich in ein übergeordnetes Konzert zu begeben? Aus Sicht Washingtons könnte das Format helfen, die offensiv revisionistischen Mächte China und Russland einzuhegen und vor allem Pekings hegemonialen Ansprüchen entgegenzutreten. Anders als der Wiener Kongress 1815 und die Siegermächte von 1945 kann das neue Konzert der Großmächte aber keine europäische oder globale Nachkriegsordnung begründen. Es muss die internationale Szenerie nehmen, wie sie ist und zudem in territorialer Hinsicht bleiben soll. Auch das Konzert dürfte etwa Russland keine freie Hand in seiner Nachbarschaft lassen. Vielmehr würde es pragmatisch versuchen, den militärischen Konfliktaustrag sowie unilaterale Eingriffe in den territorialen Status quo zu verhindern. Gefragt wären also Frühwarnung und diplomatische Entschärfung. Aus Sicht Pekings wie Moskaus erschiene die Absage an Regime-change-Strategien besonders attraktiv. Sich darauf wechselseitig verlassen zu können wäre der Kern des Solidaritätsversprechens unter den Sechs.
Die Mitgliedschaft im Mächtekonzert würde für die EU eine Statusaufwertung bedeuten, brächte sie aber nicht automatisch dazu, ihre außenpolitischen Interessen effektiver zu verfolgen. Für den Umgang mit der östlichen Nachbarschaft etwa böte ihr das Modell keine erkennbaren Vorteile. Vielmehr hat die EU mit der Pariser Charta und der OSZE konkretere Ansatzpunkte, will sie die Nachbarn in deren Recht unterstützen, Bündnisse und politische Ordnung frei zu wählen. Russland betrachtet die ehemaligen Sowjetrepubliken jedoch als seine exklusive Einflusssphäre, während die Ukraine und Georgien sich politisch und wirtschaftlich stärker dem Westen zuwenden. Die EU (wie die Nato) müsste ihre Angebote politischer Assoziierung und wirtschaftlicher Integration sowie die militärische Zusammenarbeit mit postsowjetischen Ländern also nicht einfrieren, aber auf Ebene des Mächtekonzerts aktiv verteidigen. Dieses würde von sich aus der europäischen Sicherheitsordnung wohl relativ wenig Aufmerksamkeit schenken. Fragen der nuklearstrategischen Stabilität werden direkt zwischen den USA und Russland sowie gegebenenfalls China verhandelt. Über den Nato-Russland-Rat haben die Europäer einen sicherheitspolitischen Gesprächskanal, der momentan nur ausgesetzt ist. Eine Wiederaufnahme von Treffen mit Russland auf höchster Ebene hat die EU vertagt. Sie wird aber früher oder später zu diesem Austausch zurückkehren und sich mit den USA bilateral über die sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit Ländern der östlichen Partnerschaft und über eine mögliche Erweiterung der Nato abstimmen müssen. Ein Mehrwert wäre mit dem Mächtekonzert nur dann gegeben, wenn USA und EU diese Ziele dort transparenter und potentiell vertrauensbildender gegenüber Moskau kommunizieren könnten als über bisherige bilaterale Kanäle.
Aus deutscher Sicht überzeugt eine solche Superstruktur auch aus anderen Gründen nicht. Denn selbst wenn sich das Mächtekonzert beispielsweise auf Zielvorgaben und Maßnahmen in der Klimapolitik einigen könnte, bliebe es darauf angewiesen, dass die etablierten internationalen und regionalen Organisationen das Vereinbarte in Regelwerke übersetzen und die beteiligten Länder es praktisch implementieren. Nicht nur institutionell, sondern auch was völkerrechtliche Normen und konkrete internationale Abkommen betrifft, würde das Konzert auf dem Bestehenden fußen, ohne dessen Defizite zu beheben. Nötig und erlaubt wären also weiterhin Ad-hoc-Foren wie das Normandie- oder Astana-Format, zumal das Konzert kein starkes Profil beim Konfliktmanagement anstreben dürfte, besonders nicht bei der Vielzahl innerstaatlicher Konflikte und internationalisierter Bürgerkriege. Vielmehr sähen die Sechs ihre Aufgabe wohl darin, ein gemeinsames Verständnis zu entwickeln, was als politisch inakzeptable und damit zu vermeidende Intervention von außen gilt. Das Mächtekonzert würde sich also bestenfalls vor Ausbruch eines Konflikts deeskalierend einschalten. Es könnte sich jedoch als ebenso dysfunktional und träge entpuppen, wie es gegenwärtig der Sicherheitsrat ist, der insofern den Zustand des kollektiven Sicherheitssystems der UN abbildet.
Das Mächtekonzert wäre der G7 ähnlicher als dem Sicherheitsrat, was seine zu erwartende Agenda betrifft. Allerdings dürfte diese inhaltlich weniger progressiv ausfallen, wenn China, Russland und etwa Indien ihre bisherigen Positionen in internationalen Foren nur fortschrieben und es keine Bereitschaft gäbe, in öffentliche Güter zu investieren. Mit Deutschland, Frankreich, Italien und dem Vereinigten Königreich (plus den EU-Spitzen) haben die Europäer bereits eine ausgezeichnete Plattform, um internationale Regelwerke zu gestalten. Die Bundesregierung sollte sich dafür einsetzen, dass die G7 nach Trump ambitionierter als Taktgeber internationaler Politik auftritt und ihre Agenda effektiver umsetzt. Das ist bescheidener als der Anspruch eines Mächtekonzerts, das als globale Steuerungsgruppe agiert. Die G7 sollte jedoch nicht – im Geiste des Summit for Democracy,4 einer D-105 oder des New Atlantic Charter6 – auf ein Bollwerk der Demokratie reduziert und entsprechend positioniert werden. Denn eine künftige Bundesregierung sollte nicht Blöcke zementieren; sie sollte vielmehr in Dialogformate und Problemlösungen ausdrücklich auch solche Länder einbeziehen können, die keinen liberalen Demokratieanforderungen genügen.
Auch wenn ihre Gipfeltreffen professionell vorbereitet werden, ist die G7 nicht den Weg der Institutionalisierung gegangen. Dagegen würde mit dem Mächtekonzert eine neue Superbürokratie entstehen. Wie bei der G7 läge aber auch hier der Schlüssel zur Effektivität in einem informellen und persönlichen Austausch des Spitzenpersonals, das sich Zeit für Reflexion, Konsultation und Problemlösungen nimmt. Die deutsche Außenpolitik teilt das Interesse, dass über machtpolitische und ideologische Gräben hinweg Vertrauen und Berechenbarkeit des Handelns entstehen. Hier könnte ein Mehrwert des Konzertmodells liegen – gerade für Fragen, die einer Großabstimmung bedürfen.
Impulse für die strategische Autonomie Europas
Die EU wäre eine von sechs Mächten, die im Konzert mitspielen. Das träfe sich mit dem neuen Rollenbild einer EU, die »die Sprache der Macht«7 erlernen und eine geopolitische Wende einleiten will, um nicht selbst zum »Spielball der Mächte« zu werden.8 Allerdings ist die EU ein Staatenverbund, der anders als die fünf (semi-)präsidentiellen oder diktatorisch regierten Partnerländer nur über längere Konsultationsprozeduren zu kollektiven Positionen gelangen könnte. Nach heutiger Logik müsste der Präsident des Europäischen Rats die EU im Konzert vertreten. Natürlich könnte Deutschland, zumal nach der Ära Merkel, sich bei nächster Gelegenheit im Mai 2022 für einen starken Ratspräsidenten entscheiden, der nicht nur repräsentativ wirkt, oder gleich die Personalunion mit dem Kommissionspräsidenten bei der nächsten Vertragsänderung anstreben. Als unmittelbare Einsicht aber bleibt, dass die EU nach heutiger Verfassung in jeglichem Format erhebliche Probleme hat, ihr Gewicht international einzubringen. Die Bundesregierung sollte – neben der Ausdehnung qualifizierter Mehrheitsentscheidungen auf die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) – für eine stärkere Kontinuität sowie Zentralisierung des Entscheidungsapparats eintreten. In diese Richtung geht der Vorschlag eines EU-Sicherheitsrats, in dem permanente und rotierende Mitglieder das auswärtige Handeln bestimmen würden, um die EU so entscheidungsfähiger zu machen.9 Zugleich sollen diese Neuerungen institutionelle Anreize für politische Konvergenzprozesse in der EU setzen.
Aus EU-Sicht wäre die positive Seite des Mächtekonzerts, dass es eine (friedliche) Koexistenz im Systemkonflikt zwischen den USA und dem liberal-demokratischen Westen auf der einen und China auf der anderen Seite ermöglichen würde. Auch könnte ein Kreis aus sechs Ländern die aufziehende G2-Struktur der Weltpolitik abmildern und einen dynamischen Modus vivendi anstreben. Doch in ihrer heutigen Statur würde die EU – wie Japan und Indien, mittelfristig auch Russland – nur zu den B-Akteuren des Konzerts gehören. Insofern ist das Modell womöglich eine heilsame Drohung aus dem Reich des Realismus, die dazu mahnt, das Vorhaben einer strategischen Autonomie der EU-Europäer konsequenter zu verfolgen. Dass die drei Imperien USA, China und Russland – jedes auf seine Art – erhebliche innenpolitische Destabilisierungspotentiale aufweisen, die unmittelbar auf die internationale Ordnung überzuschwappen drohen, ist nur ein weiteres Argument für die Selbstbehauptung Europas.
Zwar könnte die EU auch im Mächtekonzert für eine progressive Agenda globaler Governance und Kooperation eintreten. Aber dort würde sie dafür wohl nicht mehr, sondern eher weniger Hebelwirkung erzielen als in den etablierten multilateralen Organisationen. In diesen entfaltet sie ihren Einfluss durch Kooperation mit mittleren Mächten und regionalen Organisationen sowie durch einen ständigen und bis zu drei gewählte Sitze im UN-Sicherheitsrat. Zudem müssten die Europäer nach Vorbild der E3 oder anderer flexibler Formate von Willigen zu größerer Elastizität finden, so dass sich interne Divergenzen überbrücken lassen und die externe Durchsetzungskraft gesteigert werden kann. Das könnte man in reformistischer Perspektive eine »sanfte Utopie« nennen.10
Ausblick
Der Vorschlag eines neuen Mächtekonzerts ist nicht zuletzt ein Plädoyer für mehr und bessere Diplomatie. Diese sollte agil und realistisch sein, indem sie sich auf erreichbare Ziele und relevante Akteure konzentriert. Deutschland und Europa sollten das Momentum der Biden-Administration dafür nutzen, die unterschiedlichen Ansätze des Multilateralismus im Sinne der regelgebundenen internationalen Ordnung aus einer starken EU heraus wirksam zu machen. Das Konzertmodell liefert einer künftigen Bundesregierung dazu zentrale Stichworte: die Verdichtung des Dialogs auf höchster Ebene zwischen den großen Global- und Regionalmächten in unterschiedlichen Formaten; die Stärkung regionaler Organisationen im Hinblick auf die Gestaltung jener Politikregime, an denen das Überleben der Menschheit hängt; Maßnahmen und Angebote zur Vertrauensbildung; Frühwarnung zur Vermeidung militärischer Auseinandersetzungen und ihrer Internationalisierung und Entgrenzung durch Einmischung externer Akteure. Fundamental bleiben die UN, die EU und die Nato als Handlungsrahmen für Deutschland. Jedoch sollte die Bundesregierung die Effektivierung der G7 prioritär betreiben und die OSZE wieder stärker für euro-atlantische Sicherheit nutzen.
Auf Deutschland kommt es an. Berlin muss Mitführung übernehmen für ein Europa mit globaler Gestaltungsmacht
Eckhard Lübkemeier
Außenpolitik ist der Versuch eines Staates, durch Einwirken auf sein Umfeld Bedingungen zu schaffen, die seinen Interessen und Werten förderlich sind. Dafür braucht es Macht – definiert als die Fähigkeit, selbstgesteckte Ziele zu erreichen.1 Interessen, Werte und Macht sind konstitutiv für Außenpolitik. In der Bundesrepublik Deutschland haben sich Politik, Medien und Wissenschaft schwergetan, diese Triade in ihrer Gesamtheit anzunehmen. Dass Außenpolitik wertegebunden zu sein habe, war normatives Allgemeingut. Dass es auch darum geht, deutsche Interessen zu verfolgen, war zwar außenpolitische Praxis, wurde aber eher verbrämend als »Verantwortungspolitik« und selten unverblümt als berechtigt bezeichnet.2
Inzwischen gelten deutsche Interessen als ein legitimes Leitmotiv außenpolitischen Handelns. Weiterhin zögerlich hingegen wird der Begriff »Macht« verwendet. Dafür gibt es nachvollziehbare geschichtliche Gründe: Deutscher Machtwahn war ein Mit-Auslöser des Ersten Weltkriegs und die Triebfeder des von Nazi-Deutschland verursachten Zweiten Weltkriegs.
Neutral formuliert ist Macht ein Mittel zum Zweck, der in der Außenpolitik aus Interessen und Werten besteht. Je größer die Mittel und je geschickter sie angewendet werden, umso größer die Chance, eigene Interessen und Werte zur Geltung zu bringen. Das führt zu einer vierten für deutsche Außenpolitik relevanten Kategorie: Führung.
Führung bedeutet, in der Lage und bereit zu sein, andere Akteure zu Beiträgen zu veranlassen, mit denen kollektive Ziele erreicht werden können. Nur wer Macht hat, kann führen. Das kann und muss nicht ausschließlich kooperativ, also im bereitwilligen Einvernehmen aller geschehen. Führung ist gerade dann gefragt, wenn divergierende Interessen auf einen Nenner zu bringen sind, was auch den robusten Einsatz von Macht erfordern kann.
Führung ist unerlässlich, um ein Kollektiv aus Akteuren mit heterogenen Interessen handlungsfähig zu machen. Führung war in Deutschland ein gemiedener, fast tabuisierter Begriff.
Doch ob man es will oder nicht – Deutschland ist in der EU eine Führungsmacht. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Deutschland kann nicht Europas Hegemon sein: Seine Machtressourcen sind nicht überlegen genug; Deutschland ist eine wechselseitige Abhängigkeit mit EU-Mitgliedern eingegangen und hat sich auf eine EU-Konstruktion eingelassen, die nationale Macht durch europäische Kollektivkompetenz (Handel, Wettbewerb, Währung, Grenzen) beschneidet.3
Doch hat Deutschland in der EU-Machthierarchie eine Spitzenposition. Das zählt, denn die EU bleibt trotz ihrer partiell supranationalen Struktur eine Union von Nationalstaaten. Machtunterschiede zwischen diesen fallen ins Gewicht, was Deutschland im EU-Maßstab zum Schwergewicht macht. Damit geht eine Führungsrolle einher. Nicht die Führungsrolle, weil Deutschland anders als die USA keine überragende Macht hat und deutsche Führung historisch vorbelastet ist. Deutschland kann nicht allein führen. Was es kann und muss, ist, eine europäische Mit-Führungsmacht zu sein.4
Diese Rolle sollte unverhohlen angenommen werden. Dass Deutschland eine Führungsverantwortung für das europäische Projekt hat, ist weithin akzeptiert, und dass sie zur Bürde werden kann, trifft zu. Doch Führung eröffnet auch Chancen, denn wer mehr Macht hat, kann mehr als andere sein Umfeld mitgestalten.
Das Führungsdilemma lässt sich entschärfen
Ohnehin kann Deutschland sich nicht kleiner machen, als es ist. Damit entsteht ein Dilemma: Deutschland soll führen, aber nicht so, dass es den Partnern missfällt: Allen recht getan ist eine Kunst, die niemand kann. Zumal zu diesen »allen« Deutschland selbst gehört. Deutschland kann nicht altruistisch sein, weil es Interessen hat, die mit jenen seiner Partner nicht harmonieren müssen, die zu ignorieren sich jedoch keine Bundesregierung leisten kann, will sie nicht ihre Abwahl riskieren.
Kluge Führung kann das Dilemma kooperationsverträglich entschärfen. Das fängt damit an, nicht geschichtsvergessen aufzutreten. Geschichte wirkt nach, und wie sie von anderen interpretiert und instrumentalisiert wird, hat Deutschland letztlich nicht in der Hand. Die deutsche Außenpolitik wird weiterhin gut daran tun, das zu berücksichtigen.5
Zweitens gilt es, eigene Interessen nicht eigensüchtig zu verstehen. Führungsfähigkeit beruht nicht allein darauf, andere durch überlegene Gratifikations- oder Sanktionsmacht zu einem bestimmten Verhalten zu veranlassen. Zu führen fällt leichter, wenn die Beteiligten einander vertrauen. Dafür ist entscheidend, dass Führungsmacht für das Gemeinwohl eingesetzt wird. Zwar wird häufig umstritten sein, was dem Wohl aller dient und wer wie viel dafür einbringen sollte. Doch Führungsmächte müssen mehr als andere für das Gemeinwohl sorgen: weil ihre Machtressourcen größer sind und sie nur so auf der Basis von Vertrauen führen können.
Deutschland hat kluge Führung gezeigt, als es sich bereiterklärte, den pandemiebedingten Wirtschaftseinbruch durch zusätzliche EU-Mittel in Höhe von 750 Milliarden Euro abzufedern. Dafür werden gemeinsame Schulden in großem Umfang aufgenommen – ein Integrationsschritt, den alle Bundesregierungen bis dato abgelehnt hatten.
Deutschland hatte das nicht deshalb nötig, weil es am meisten von der EU profitiert. Diese Ansicht geht fehl. Die EU ist wirtschaftlich und politisch für alle Mitgliedstaaten ein großer Gewinn.
Dass die EU-Mitgliedschaft zum außenpolitischen Kanon Deutschlands und seiner Staatsräson gehört, gibt die Präambel des Grundgesetzes vor (»von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen«), und die Einbindung Deutschlands in die Nato und die EU haben seiner Souveränität keinen Abbruch getan, sondern ihr genützt.
Doch was das mächtigste Land in der Mitte Europas zuverlässiger als alles andere an die EU bindet, sind seine Werte und Interessen.
Deutschlands Interessen und die EU‑Integration sind verquickt
Deutschlands außenpolitische Kerninteressen sind Frieden, Sicherheit, Wohlfahrt und Partizipation. Frieden ist ein zwischenstaatlicher Zustand, in dem Krieg kein Risiko darstellt, weil Konflikte ausschließlich und für alle Beteiligten verlässlich ohne Anwendung oder Androhung von Gewalt ausgetragen werden. Besteht ein solches Risiko, liegt ein Sicherheitsproblem vor. Sicherheitspolitik hat deshalb zum Ziel, notfalls auch durch Gegengewalt Schutz vor angedrohter oder angewandter Gewalt zu bieten. Wohlfahrt ist eine Form von Wohlstand, die nachhaltig, weil klima- und ressourcenverträglich ist. Partizipation heißt, sein Umfeld so beeinflussen zu können, dass es günstige Bedingungen für Frieden, Sicherheit und Wohlfahrt bietet, also mitbestimmen zu können.
Deutschlands Kerninteressen sind verknüpft mit der europäischen Integration. Die EU ist eine Friedensgemeinschaft: Gäbe es nur sie, könnten ihre Mitglieder ihre Streitkräfte abschaffen, weil sie darauf vertrauen, dass sie ihre Konflikte gewaltfrei regeln. Für harte Sicherheit als Schutz vor gewaltbereiten Akteuren bedarf es weiterhin US-amerikanischer Rückendeckung über die Nato. Doch Europa als Ganzes und europäische Nato-Verbündete werden mehr als bisher sicherheitspolitische Eigenverantwortung zeigen müssen: weil die von der Trump-Administration geschürten Zweifel an der Verlässlichkeit Washingtons fortbestehen, weil auch die Biden-Administration mehr europäische Eigenständigkeit fordert und europäische Souveränität prekär bleibt, wenn sie nicht auch sicherheitspolitisch unterlegt wird.
Hohe und nachhaltige Wohlfahrt ist eng mit der EU verbunden: Der Binnenmarkt wird angesichts transatlantischer Verstimmungen und gewachsener Spannungen mit China noch wichtiger; Klima- und Ressourcenschutz erfordern eine grüne Transformation der europäischen Wirtschaft, und nur der Binnenmarkt verleiht ausreichende regulatorische Macht zur Wettbewerbskontrolle, Besteuerung und zum Setzen von Sozial- und Umweltstandards.
Europas regulatorische Macht verweist auf das vierte Kerninteresse »Partizipation«. Deutschland ist ein Schwergewicht in Europa, aber nicht in der Welt. Eine Ebenbürtigkeit mit den USA und China oder mit nichtstaatlichen Akteuren wie Google, Amazon und Facebook kann es nur im europäischen Verbund herstellen. Europas Kollektivmacht eröffnet globale Mitgestaltungschancen, die Deutschland allein nicht hätte.
Dabei geht es nicht nur um Selbstbehauptung gegenüber anderen Globalakteuren oder inmitten der aufziehenden amerikanisch-chinesischen Rivalität. Ein mächtiges Europa kann auch als »Schutzmacht« auftreten: für gerechte und nachhaltige Entwicklung, für Klima- und Ressourcenschutz, für Menschenrechte und eine regelbasierte internationale Ordnung.
Nur eine starke und stabile EU kann eine globale Gestaltungsmacht sein. Dazu braucht es eine intakte Demokratieunion. Die neue Bundesregierung sollte sich dafür einsetzen, die Erosion der Rechtsstaatlichkeit in EU-Mitgliedstaaten auch durch eine konsequente Anwendung der neuen Konditionalitätsregelung für den EU-Haushalt und die Corona-Wiederaufbaumittel zu stoppen. Der Währungsunion fehlt eine vollwertige Banken- und Kapitalmarktunion, damit der Euro zu einer veritablen Alternative zum US-Dollar werden kann. Wie beim Euro geht es auch in anderen Bereichen nicht um Abschottung, sondern um Interdependenzparität, also das Eingehen von Kooperation mit anderen auf der Basis wechselseitiger Abhängigkeit. Konkret bedeutet dies, das 5G‑Netz nur durch europäische Unternehmen zu betreiben und Europa in Schlüsselbereichen wie Künstliche Intelligenz, Quanten- und Cloudcomputing, Halbleiter und Batterien autonom zu machen. Mehr als anderswo wird Deutschland in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik über nationale Schatten springen müssen. Sowohl eine europäische Verteidigungsunion als auch Deutschlands Absicherung über seine Nato-Mitgliedschaft erfordern nicht nur höhere Verteidigungsausgaben. Politische Führung heißt in diesem Kontext auch, den Wählerinnen und Wählern die Notwendigkeit nuklearer Abschreckung und einer auch militärisch abgestützten Außenpolitik zu vermitteln.
Keine Hierarchie zwischen Werten und Interessen
Auch in der Außenpolitik sind Interessen und Werte nicht zwangsläufig Gegensätze. Für Werte einzutreten kann kluge Interessenpolitik sein, denn Gewalt, Entrechtung und Ungerechtigkeiten können Kriege und Konflikte auslösen, zu wirtschaftlicher Not führen und natürlichen Raubbau nach sich ziehen – mit Auswirkungen (zum Beispiel in Form von Migration), die Deutschlands Sicherheit und Wohlfahrt gefährden.
Doch können Werte und Prinzipien weder eine eindeutige noch alleinige Richtschnur sein. Die globale Corona-Pandemie trifft arme Länder mit unterversorgten Bevölkerungen ungleich härter als reiche wie Deutschland. Ist es egoistisch oder doch legitim, dass sich Staaten, in denen der Impfstoff entwickelt wurde, bei der Impfstoffverteilung bevorzugen? Klimaschutz gibt es nicht ohne China, den weltweit größten CO2-Emittenten; China hat sich als Markt und Lieferant weltwirtschaftlich unverzichtbar gemacht und ist geopolitisch zu einer Globalmacht geworden. Wie weit kann man Pekings diktatorische Führung wegen politischer Repression sanktionieren, ohne ihre für Klimaschutz, Weltwirtschaft und internationale Ordnung unerlässliche Kooperationsbereitschaft zu riskieren? Putin-Russland bedroht die Ukraine und hält Teile des Landes besetzt, was auch Deutschland verurteilt. Um die ukrainische Verteidigungsfähigkeit zu stärken, stellen die USA Militärmaterial bereit. Wenn das auch nach deutscher Auffassung der Abschreckung Moskaus dient, wäre es dann nicht geboten, sich an der militärischen Ertüchtigung Kiews zu beteiligen? Wie weit dürfen oder müssen Deutschland und Europa gehen, um sich vor ungewollter Massenzuwanderung zu schützen? Dazu wurde ein Abkommen mit einem Erdoğan-Regime geschlossen, das innere Widersacher drangsaliert. Erst recht stellt sich das Werte-und-Interessen-Problem, wenn Migrationskontrolle die Kooperation mit skrupellosen Kräften in Transit- und Herkunftsregionen erfordert. Dann gibt es, so Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, »keinen moralisch sauberen Ausweg«.6
Aber selbst wenn es ihn gäbe: Werte können nicht die einzige Richtschnur sein. Interessen zählen ebenso. Außenpolitisch ist der Wählerauftrag, die Kerninteressen Frieden, Sicherheit und Wohlfahrt durch Partnerschaft mit anderen und wo nötig durch Behauptung gegen andere zu befördern. Keine demokratisch konstituierte Regierung kann das ignorieren. Zumal es keine Hierarchie zwischen Werten und Interessen gibt. Ist Frieden »nur« ein Interesse oder ein Wert? Als Bundeskanzler hat Helmut Schmidt schon den kalten Frieden des Nicht-Krieges zwischen den nuklear gerüsteten Ost-West-Antagonisten in den Rang eines »Grundwertes« erhoben.7
Schmidts Rede ist ein Lehrstück über den Umgang mit Zielkonflikten. Er diskutiert das »am Beispiel der polnischen Krise«. Gemeint ist die Verhängung des Kriegsrechts in Polen im Dezember 1981 durch ein kommunistisches Regime, das sich durch die unabhängige Gewerkschaft Solidarność bedroht sah. Der Bundesregierung war vorgehalten worden, darauf zu schwach reagiert zu haben. Unabhängig davon, ob diese Kritik zutrifft oder nicht – Schmidt legt dar, dass Werte allein keinen eindeutigen Handlungskompass bilden, sondern dass »die vernunftgemäße Abwägung zu sehr verschiedenen Zielen und Wegen führen« kann.8
Deutschland wird sich, als zur europäischen Mitführung berufene Macht, mehr als bisher solchen Abwägungen stellen müssen. Nie geschichtsvergessen, aber im Bewusstsein, dass die Bundesrepublik sich als demokratischer Stabilitätsanker in der Mitte Europas großes Vertrauen bei ihren Nachbarn erworben hat. Und Deutschland kann sich inzwischen selbst vertrauen, dass es aus der Geschichte die richtigen, nämlich partnerschaftlich-europäischen Lehren gezogen hat. Auf Deutschland kommt es an – das verpflichtet, aber es ist auch gut so.
Deutsche globale Gesundheitspolitik. Für eine nachhaltigere Ausrichtung
Susan Bergner / Maike Voss
Die Covid-19-Pandemie hat Deutschlands globale Gesundheitspolitik einem Härtetest ausgesetzt. Als gewichtiger Akteur auf diesem Feld muss sich die neue Bundesregierung in einer veränderten Akteurslandschaft beweisen. Sie kann sich dabei in Krisenzeiten nicht mehr bedingungslos auf klassische Partner wie die USA verlassen, zugleich aber an Vorarbeiten anknüpfen, die unter der Kanzlerschaft Angela Merkels geleistet wurden. Das bisherige Instrumentarium Deutschlands sowie internationale Kooperationsmechanismen reichen nicht aus, um künftige Gesundheitskrisen zu bewältigen. Erforderlich ist, globale Gesundheit in der deutschen Außenpolitik mit strategischer Weitsicht zu priorisieren. Als Beitrag zu einer nachhaltig orientierten Gesundheitspolitik müssen Zukunftsthemen bearbeitet und Blockaden in den eigenen Reihen abgebaut werden.
Die Covid-19-Pandemie hat gezeigt, dass alle Lebens- und Politikbereiche von der Funktionsfähigkeit der Gesundheitssysteme und von evidenzorientierten politischen Entscheidungen abhängig sind. Deutlich wurde ebenso, dass die bisherige internationale Zusammenarbeit in der globalen Gesundheitspolitik nicht hinreichend auf Krisen dieser Dimension vorbereitet ist. Bestehende Instrumente wie die internationalen Gesundheitsvorschriften werden unzureichend umgesetzt; ebenso fehlt es an Finanzierung sowie einer international abgestimmten strategischen Vorausschau, die bereits auf Ebene der Bundesregierung beginnen sollte. Denn je schwächer die Koordination zur gemeinsamen Bewältigung der Pandemie, desto länger wird die Pandemie andauern.
Deutschlands neue Ambivalenz
Die hohe internationale Anerkennung, die Deutschland beim Thema globale Gesundheit genießt, ist maßgeblich auf das erfolgreiche Agenda-Setting Angela Merkels zurückzuführen. Gleichzeitig stehen Deutschland und die Europäische Union auf diesem Feld der wachsenden Konkurrenz Chinas und teils gegenläufigen Interessen des Verbündeten USA gegenüber. Doch der künftigen Bundesregierung bietet sich mit ihrer G7-Präsidentschaft im Jahr 2022 und den Diskussionen über eine mögliche Europäische Gesundheitsunion eine Gelegenheit, Deutschlands Verantwortung wahrzunehmen und notwendige Veränderungen anzustoßen.
Vorab jedoch sollte die ambivalente Rolle, die Deutschland derzeit einnimmt, erkannt und thematisiert werden. So ist die Bundesregierung maßgeblich dafür eingetreten, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sowie neue Instrumente der Pandemiebewältigung zu stärken. Gleichzeitig aber blockiert sie die Ausnahmeregelungen in der Welthandelsorganisation (WTO) zum zeitweiligen Verzicht auf Patente für Impfstoffe und andere Medizingüter; damit droht sich die Bewältigung von Covid-19 weiter zu verzögern. Überdies schwächen solche Blockaden den Multilateralismus – der ein inhärentes Anliegen deutscher Außenpolitik ist.
Veränderte internationale Landschaft
Die EU ist zu einem zentralen Kanal für die deutsche globale Gesundheitspolitik geworden und sollte es auch bleiben. Während in diesem Rahmen unter anderem die Kooperation mit Frankreich gestärkt wurde, wie ein deutsch-französisches Non-Paper1 zum Reformprozess der WHO zeigt, haben sich die USA als schwieriger Partner erwiesen. Die Biden-Administration bringt zwar neue Impulse für globale Gesundheit ein, doch kollidiert der amerikanische Führungsanspruch mit dem gewachsenen Engagement Europas. Dies zeigt sich am Beispiel des globalen Pandemievertrags – eine Idee von EU-Ratspräsident Charles Michel, die von der WHO unterstützt, bislang jedoch von Washington und Peking blockiert bzw. verzögert wird.
China und die Afrikanische Union (AU) sind weitere Gesundheitsakteure, die ihre Aktivitäten in der Pandemie ausgeweitet haben. Die bilateralen Kooperationen Chinas vor allem auf dem afrikanischen Kontinent sind vor dem Hintergrund geopolitischer Konkurrenz besonders interessant. Die AU wiederum fokussiert sich zunehmend darauf, mehr strategische Autonomie für Afrika zu erreichen, unter anderem in der eigenen Gesundheitswirtschaft.
Deutschland muss auf dem Feld globaler Gesundheit verschiedene Rollen ausbalancieren. In diesem Sinne geht es darum, als Partner Allianzen zu bilden – wie mit der AU – und gemeinsame Interessen zu vertreten, aber auch, gespielt über die EU, als Gegengewicht zu Ländern wie China oder den USA eigene Impulse zu setzen.
Zukunftsthemen
Damit die deutsche globale Gesundheitspolitik ein nachhaltigeres Engagement entfalten kann, müssen Schlüsselthemen strategisch aufgegriffen werden. Eines davon ist »Deep Prevention«2 oder weiter gedacht »Deep Transformation«, ein Ansatz, der auf eine umfassende und gerechte Vorsorge für Gesundheitskrisen jeder Art abzielt – nicht nur für Infektionsausbrüche. Dazu gehören auch Auswirkungen des Klimawandels auf die Gesundheit. Entscheidende Bausteine für zukünftiges Handeln sind die Stärkung resilienter Gesundheitssysteme und eine wertegeleitete Politik, die eine allgemeine Gesundheitsversorgung (universal health coverage, UHC) für alle Menschen an allen Orten anstrebt.
Gleichermaßen gilt es, in der Entwicklungszusammenarbeit die Finanzierung globaler Gesundheitsgüter und neue Modelle für die Finanzierung von Gesundheit zu berücksichtigen und auszubauen, um Ausgangspunkte für eine robuste globale Gesundheitspolitik zu schaffen. Dies dient auch dem Anliegen, das Vertrauen in bestehende Institutionen wie die WHO zu stärken.
Der Blick sollte künftig intensiver auf die Verschränkungen von globaler Gesundheit mit Themen wie Klima, Sicherheit und Geopolitik gerichtet werden. Dafür fehlt es jedoch in Deutschland an proaktiven ressortübergreifenden Mechanismen, die an nationale Gesundheitspolitiken rückgebunden sind.
Multilaterale systemische Ansätze
Um gezielt systemische Ansätze im multilateralen Raum voranzubringen, stehen verschiedene Optionen zur Wahl. Erstens sollten in existierenden Gesundheitsinitiativen Komponenten zur Stärkung von Gesundheitssystemen nachgerüstet und in neuen Initiativen von Beginn eingeplant werden. Als internationale Reaktion auf die Corona-Pandemie entstand die Multiakteursplattform ACT-A (Access to COVID-19 Tools Accelerator), deren Zweck es ist, Diagnostika, Impfstoffe und Therapeutika zu entwickeln und zu verteilen. Mit Zeitverzug wurde dabei auch eine Säule zur Stärkung von Gesundheitssystemen geschaffen. Es darf hier nicht nur darum gehen, Medizingüter in lokalen Strukturen abzusetzen; gefragt ist vielmehr ein umfassender Systemaufbau inklusiver handlungsfähiger Institutionen im Gesundheitswesen.
Zweitens könnten die laufenden Reformprozesse in der WHO dazu genutzt werden, ein Finanzierungsinstrument für Gesundheitssysteme zu entwerfen, statt nur die Eindämmung einzelner Krankheiten in den Blick zu nehmen. Bisher gibt es kein internationales Instrument, das langfristig darauf abzielt, robuste öffentliche Public-Health-Strukturen aufzubauen. Dass hier nachgebessert werden muss, ist eine der Lehren aus der Covid-19-Pandemie.
Drittens wird innerhalb der WHO, nach dem erwähnten Anstoß des Europäischen Rates, über einen internationalen Pandemievertrag diskutiert. Zu klären bleibt, wo dabei der Mehrwert für die praktische Krisenbewältigung liegt, ob ein neues rechtliches Instrument grundlegende Probleme der globalen Gesundheit löst und wer im Detail von einem neuen Vertrag profitiert. Gleichzeitig könnte ein verbindlicher internationaler Pandemievertrag auch das Potential haben, Synergien zu schaffen, Akteure besser zu vernetzen und es in Gesundheitskrisen zu ermöglichen, dass regionale Politiken mit der globalen Ebene abgestimmt werden. Zudem könnte die WHO dadurch eine zentrale Rolle bei der Bewältigung künftiger Pandemien erlangen.
Institutionelle Bedingungen
Globale Gesundheit fängt zuhause an. Um dieser Devise gerecht zu werden, sollte in einem ersten Schritt die nachhaltige Entwicklungsagenda im eigenen Gesundheitswesen umgesetzt und nationale mit globaler Gesundheitspolitik verknüpft werden. So könnte sich eine neue »Strategie für Public Health in Deutschland«3 positiv auf die Handlungsfähigkeit und Legitimität der deutschen globalen Gesundheitspolitik in Europa und auf internationaler Bühne auswirken. Im zweiten Schritt sind in der Bundesrepublik robuste institutionelle Strukturen für globale Gesundheit zu schaffen, die auf Expertise aus dem deutschen Gesundheitswesen zurückgreifen.
Deutschland hat sich in den nationalen wie globalen Gesundheitspolitiken angesichts der Herausforderungen der Pandemie reaktiv verhalten und nur peu à peu einen institutionellen Wandel vollzogen. Zugleich aber zeigte sich Berlin bereit, mehr Verantwortung für globale Kooperationen und Reformprozesse zu übernehmen. Dieses erweiterte Selbstverständnis fand seinen Niederschlag vor allem in der neu formulierten Strategie der Bundesregierung zur globalen Gesundheit.4
Eine institutionelle Stärkung erfuhr das Thema im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, das eine Unterabteilung für Globale Gesundheit, Pandemieprävention und One Health einrichtete. Das Auswärtige Amt engagiert sich zunehmend an der Schnittstelle von globaler Gesundheit und Geopolitik; so befasst es sich nun vermehrt mit den Auswirkungen von Gesundheitskrisen auf den Multilateralismus. Das Bundesministerium für Gesundheit wiederum richtet zusammen mit der WHO einen Global Hub for Pandemic and Epidemic Intelligence5 in Berlin ein.
Zwar sind diese strukturellen Veränderungen begrüßenswert, jedoch braucht es mehr koordiniertes Vorgehen, damit sich Deutschland in einer veränderten Akteurslandschaft beweisen kann.
Wissenschaftliche und politische Begleitung in Deutschland
Ein Beirat der Bundesregierung für globale Gesundheit würde eine evidenzgeleitete Politik Deutschlands stärken. Auch könnte globale Gesundheit bei der Überarbeitung und Umsetzung der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie6 noch mehr berücksichtigt werden. Der Unterausschuss für globale Gesundheit im Bundestag hat mit der Pandemie zunehmend an Bedeutung gewonnen. Er sollte daher in der nächsten Legislaturperiode beibehalten, personell gestärkt und in seinem Aufgabenspektrum erweitert werden. So könnte auch der Unterausschuss die Regierung in einer Art Kontrollfunktion bei der Messung der Erfolge globaler Gesundheitsstrategie7 unterstützen und deren Umsetzung begleiten. Erforderlich dafür ist seitens der Bundesregierung ein konkreterer Aktionsplan inklusive Review-Mechanismus zur Implementierung und zur Kontrolle der Fortschritte der Strategie.
Daneben lässt sich auf bestehende Strukturen zurückgreifen. Die 2020 geschaffene German Alliance for Global Health Research8 könnte stärker beratend in die Politik hineinwirken und von dortiger Seite angefragt werden. Außerdem ließe sich vermehrt wissenschaftliche Expertise aus anderen Politikbereichen nutzen. So befasst sich der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) in seinem nächsten Bericht mit planetarer Gesundheit, also der Verbindung zwischen Umwelt, der Gesundheit von Tieren und jener von Menschen.
Gleichzeitig bedarf es eines Ausbaus der Aus- und Weiterbildung, um Nachwuchs für globale Gesundheitsstrukturen in Deutschland und international zu fördern. Die Bundesrepublik könnte versuchen, strategisch mehr Personal in internationale Gesundheitsorganisationen zu entsenden sowie deutsche Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in WHO-Arbeitsgruppen und Kollaborationszentren in Deutschland zu fördern.
Koordination innerhalb der Bundesregierung
Schließlich muss sich die neue Bundesregierung dafür einsetzen, dass internationale Prozesse auf diesem Politikfeld von den Ministerien und Behörden effektiver koordiniert werden, denn die Zuständigkeiten für entsprechende Gesundheitsorganisationen sind zwischen einzelnen Ressorts fragmentiert. Abhilfe leisten könnte zum einen, dass bestehende Formate wie der Ressortaustausch oder der Jour fixe der Staatssekretäre und Staatssekretärinnen ausgebaut werden. Zum anderen ist daran zu denken, neue Strukturen zu etablieren, die Intersektoralität und Kooperation unabhängig vom Engagement einzelner Personen sicherstellen. Mögliche Ansätze wären überdies, zwischen den Ministerien nach japanischem Beispiel ein Rotationssystem für Personal einzurichten, im Kanzleramt eine Staatsministerin bzw. einen Staatsminister für globale Gesundheit zu ernennen oder Staatssekretäre bzw. Staatssekretärinnen mit interministeriellen Aufgaben zu betrauen. Auch durch ressortübergreifende Trainings und Simulationen kann eine umfassende und vorausschauende Ausrichtung globaler Gesundheitspolitik gefördert werden.
Möglichkeitsfenster und Weichenstellungen
Deutschland hat die Möglichkeit, auf europäischer und globaler Ebene zentrale Prozesse der globalen Gesundheitspolitik mitzugestalten, damit die Weltgemeinschaft auf Gesundheitskrisen künftig besser vorbereitet ist, ihnen abgestimmter begegnen kann und sich Ungleichheiten entgegenwirken lässt. Deutschland kann hier auf wesentliche Vorarbeiten unter Kanzlerin Merkel zurückgreifen, muss zugleich aber Ambivalenzen in der eigenen Politik abbauen.
Kurzfristig ist das vordringliche Thema die weltweit gerechte Impfstoffverteilung, auch angesichts der geopolitischen Implikationen, die damit verbunden sind. Deutschland muss sich dem Vorwurf aus dem Globalen Süden stellen, Covid-19-Impfstoffe als globales öffentliches Gut angepriesen9 zu haben, diese letztlich aber nicht in ausreichendem Maße zu teilen.
Langfristig sind Weichenstellungen für zentrale Herausforderungen notwendig. Die Produktionskapazitäten für Impfstoffe und Arzneimittel müssen weltweit gesteigert, Kapazitäten wie auch Produkte dezentraler verteilt werden; darüber hinaus bedarf es systemischer Ansätze für eine umfassende Pandemieprävention und zur Verringerung globaler Ungleichheiten.
Auf europäischer Ebene sind die Diskussionen über eine Gesundheitsunion in Gange. Gleichzeitig werden auf internationaler Ebene die Debatten über WHO-Reformprozesse und einen Pandemievertrag auf der Agenda bleiben. Damit kann Deutschland sich kurzfristig eröffnende Möglichkeiten für langfristige Weichenstellungen in der globalen Gesundheit nutzen.
Die EU auf dem Weg zu einer Fiskalunion?
Peter Becker
Ein Meilenstein der europäischen Reaktion auf die Covid-19-Pandemie und deren Folgen war zweifellos die Einigung auf den Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) 2021–2027 und auf einen zusätzlichen europäischen Konjunkturhaushalt unter der Überschrift »NextGenerationEU« (NGEU). Die wichtigste Innovation bestand darin, dass es der EU nun möglich ist, zur Finanzierung des Konjunkturhaushalts selbst Kredite in bisher nicht gekanntem Umfang an den Finanzmärkten aufzunehmen. Es handelt sich dabei um weitgehende Maßnahmen, die vor der Pandemie-Krise kaum durchsetzbar, ja undenkbar gewesen wären. Diese Einigung markierte zweifellos auch einen deutlichen Wandel der deutschen Europapolitik. Die Bundesregierung hatte jedoch darauf bestanden, einige beschränkende Eckpunkte zu Form und Umfang des Konjunkturhaushalts sowie dessen Einmaligkeit festzuschreiben. Das Finanzpaket sollte kein dauerhaftes fiskalpolitisches Instrument der europäischen Politik werden, sondern eine einmalige Lösung sein und nur zur Finanzierung des NGEU genutzt werden.
Nun hat jedoch – unabhängig von einer noch ausstehenden erfolgreichen Umsetzung des neuen Instrumentariums – eine Debatte begonnen, ob der NGEU verstetigt und zu einem dauerhaften europäischen Finanzausgleich in einer europäischen Fiskalunion transformiert werden soll. Nicht mehr die Frage, ob sich die EU verschulden darf, wäre bei einem solchen Szenario zu diskutieren und auszuhandeln, sondern nur noch, wann und unter welchen Bedingungen diese Verschuldungsmöglichkeit genutzt werden kann.
Die Antwort der nächsten Bundesregierung wird entscheidend dafür sein, ob und wie die Bestrebungen hin zur dauerhaften fiskalischen Stabilisierung der EU umgesetzt werden und in welche Richtung sich mittelfristig der europäische Integrationsprozess weiterentwickeln wird. Berlin wird dabei eine Kompromisslösung in der EU vermitteln müssen. Auf der einen Seite stehen die harten Positionen der sparsamen Nordeuropäer (insbesondere der Niederlande), die sich dafür einsetzen, die fiskalische Disziplin in allen Mitgliedstaaten glaubhaft und wirksam zu stärken. Auf der anderen Seite gibt es aus den südeuropäischen Krisen- und Schuldnerstaaten (insbesondere aus Italien) die Forderung nach mehr Solidarität und Risikoteilung zwischen den EU-Mitgliedern. Klar ist nur, dass eine Rückkehr zum Status quo ante der Vor-Corona-Zeit keine Option sein wird.
Was wird diskutiert?
Die EU hat – nicht zuletzt als Reaktion auf die Verschuldungskrise in der Eurozone vor einem Jahrzehnt – sowohl neue Krisen- und Notfallinstrumente als auch Elemente der Prävention geschaffen, die nun weiter ausgebaut und ergänzt werden müssen. Unter dem Schlagwort der Fiskalunion wird derzeit intensiv über Instrumente zur fiskalischen Stabilisierung und zur Ausbalancierung der Konjunkturverläufe in den europäischen Volkswirtschaften debattiert. Angedachtes Ziel ist dabei, die prozyklische Wirkung der Geldpolitik abzufedern, ohne jedoch dauerhaft große Finanzressourcen umverteilen zu müssen und ohne die Schuldentragfähigkeit der Hochschulden-Mitgliedstaaten weiter zu verschlechtern. Darüber hinaus diskutiert man über verbindliche Konditionalitäten und Begrenzungen für solche Stabilisierungsinstrumente, ebenso über die Frage, wie sie stärker demokratisch legitimiert werden könnten.
Was ist bereits erreicht worden?
Mit dem Kompromiss über den NGEU wurden einige fundamentale Fragen beantwortet, die seit einem Jahrzehnt die Debatten über eine Fiskalkapazität oder ein Eurozonenbudget bestimmt hatten. Festlegungen gab es zu den folgenden Punkten.
1. Mögliche Differenzierung zwischen Eurozone und EU-27
Der befristete Konjunkturhaushalt NGEU wurde an den MFR gebunden; Finanzierung und Auszahlung erfolgen also im Rahmen der EU-27. Damit erübrigen sich Überlegungen, gesonderte Haushalte oder Finanzinstrumente zugunsten der Eurozone oder außerhalb der europäischen Verträge zu schaffen. Mit dem neuen Instrumentarium wurde ein Zeichen europäischer Solidarität gesetzt, die für die gesamte EU gelten und nicht auf die Eurozone begrenzt sein soll.
2. Das Problem der gesamtschuldnerischen Haftung
Die Debatten über Notwendigkeit und Grenzen europäischer Solidarität waren bislang mit der deutschen Angst vor einer »gesamtschuldnerischen Haftung« im Zusammenhang mit Euro- oder Corona-Bonds verbunden. Befürchtet wurde, dass Deutschland bei einem Negativszenario von Ausfall oder Zahlungsverweigerung einzelner Schuldnerstaaten für deren Schuldtitel einspringen müsste. Durch die Anbindung an den europäischen Haushalt und die Schuldenaufnahme der EU ist diese Sorge weitgehend ausgeräumt: Die EU nutzt ihr eigenes Triple-A-Rating für eine zinsgünstige Verschuldung.
3. Demokratische Legitimation neuer fiskalischer Instrumente
Transfers zwischen Mitgliedstaaten entfalten, selbst wenn sie nur temporärer Natur sind, immer Verteilungswirkungen und gehören deshalb zu den politisch sensibelsten und konfliktträchtigsten Themen in der EU. Sie erfordern auch aus diesem Grund ein hohes Maß an demokratischer Legitimation. Mit dem Vorgehen bei Verabschiedung des NGEU wurde eine bedeutende Vorentscheidung für diese Frage getroffen: Alle Mitgliedstaaten gemeinsam haben das neue Instrument vereinbart, anschließend wurde das Verhandlungsergebnis vom Europäischen Parlament mit der absoluten Mehrheit seiner Mitglieder und ebenso durch die nationalen Parlamente bestätigt.
Diese Form der demokratischen Legitimation unter Einbeziehung beider parlamentarischen Ebenen wird der Maßstab sein, wenn über ein weiteres Instrument zur Abfederung symmetrischer Schocks entschieden werden muss. Ein Beschluss, bei dem die nationalen Parlamente außen vor bleiben, wird nicht mehr möglich sein.
Welche Streitfragen sind noch zu klären?
Bei alldem müssen zusätzliche Vorbedingungen geschaffen werden, um die EU und die europäischen Volkswirtschaften fiskalisch stabilisieren zu können. Drei grundlegende Fragen sind hierbei noch zu klären.
1. Ist ein dauerhafter Stabilisierungs- bzw. Transfermechanismus möglich?
Zwar gehört die wirtschaftliche Konvergenz zu den expliziten Zielen der EU, und schon heute verfügt sie über Instrumente der Umverteilung. Dennoch bestehen große Vorbehalte gegen jede Form dauerhafter und unkonditionierter Umverteilung. Gerade auch die Erfahrungen mit dem deutschen Länderfinanzausgleich lehren, dass entsprechende Transfermechanismen selbst innerhalb relativ homogener Nationalstaaten allenfalls zähneknirschend akzeptiert werden. Bei dauerhaften grenzüberschreitenden Transfers innerhalb der EU wäre mit deutlich größeren Widerständen zu rechnen. Unbegrenzte und ungebundene Finanztransfers sind in der EU deshalb nicht denkbar.
Um schädliche Verteilungskonflikte möglichst zu vermeiden, sollten das Entscheidungsverfahren sowie die Auslösekriterien für einen zu schaffenden europäischen Stabilisierungsmechanismus vorab festgeschrieben werden, also unabhängig vom jeweiligen Einzel- oder Krisenfall. Die Regelungen sollten dabei so transparent und klar sein, dass sie sich auch ex ante demokratisch legitimieren lassen. Im Vorfeld sollte fixiert werden, welche Indikatoren (etwa ein Konjunktureinbruch von mehreren Prozentpunkten oder rasch steigende Arbeitslosigkeit infolge einer Naturkatastrophe, Pandemie oder globalen Krise) von welcher EU-Institution (wahrscheinlich der Europäischen Kommission) gemäß welchem Verfahren (am besten nach Konsultierung des Europäischen Parlaments und nach einstimmiger Beschlussfassung des Rates) heranzuziehen sind, damit der Mechanismus angewandt wird. Zugleich sollten Eckpunkte für die Tilgung gemeinschaftlicher Schulden feststehen. Dies betrifft beispielsweise eine gesonderte Finanzierungsquelle für den EU-Haushalt, die dafür genutzt werden müsste, oder die Verpflichtung auf einen Tilgungsplan.
2. Finanzierung des Mechanismus über gemeinsame Schuldtitel oder eine EU-Steuer?
Bei einem symmetrischen Schock – wenn also wie während der Corona-Pandemie alle Mitgliedstaaten gemeinsam in die Krise rutschen – kann ein zentraler Stabilisierungsmechanismus kontraproduktiv sein. Dies gilt dann, wenn der Bedarf an finanzieller Unterstützung so groß ist, dass ihm mit der gemeinsamen Geldpolitik allein nicht begegnet werden kann. In einem solchen Fall wirkt der Eingang von Transfers bei einem überdurchschnittlich stark betroffenen Mitgliedstaat zwar stabilisierend; doch bei dem nur relativ besser gestellten Mitgliedstaat, der sich absolut gesehen ebenfalls in einer schweren Rezession befinden kann, haben die Transferleistungen möglicherweise prozyklische, das heißt krisenverschärfende Folgen. Ein solcher Mechanismus könnte also auf der einen Seite stabilisierend, auf der anderen Seite aber destabilisierend wirken.
Erforderlich ist ein zentraler Mechanismus mit einer konjunkturzyklen- bzw. krisenübergreifenden Stabilisierungswirkung und einem Ausgleich über den Zeitverlauf. Die Transferzahlungen sollten nicht nur in Form von (zinsvergünstigten) Krediten fließen, die die Verschuldung der betroffenen Mitgliedstaaten weiter in die Höhe treiben und deren Schuldentragfähigkeit auf eine weitere Belastungsprobe stellen würden. Vielmehr sollten auch nicht rückzahlbare Zuschüsse grundsätzlich möglich sein. Das Verhältnis von Krediten und Zuschüssen wäre im einzelnen Krisenfall für den betroffenen Mitgliedstaat jeweils gesondert und neu auszuhandeln. Jedoch müsste ein solcher Mechanismus über die Möglichkeit der zentralen Verschuldung verfügen. Notwendig dafür wäre entweder wie beim Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) eine Fazilität außerhalb der Verträge, die mit Kapital aus den Mitgliedstaaten ausgestattet wird, oder die Ausgabe gemeinsamer Schuldtitel, der vieldiskutierten Euro-Bonds, oder eine gemeinschaftliche Verschuldung der EU wie beim NGEU. Die Tilgung der gemeinsamen oder der gemeinschaftlichen Schuldtitel würde dann durch langfristige Zahlungen der Mitgliedstaaten oder über das gemeinsame Budget erfolgen.
Eine Alternative wäre, der EU ein eigenes Steuererhebungsrecht einzuräumen. Auf diese Weise könnte sie unabhängig von den Abführungen der Mitgliedstaaten eigene Einnahmen generieren, mit denen sich die gemeinschaftlichen Schulden langsam zurückführen ließen. Langfristig könnte über diese Eigenmittelquelle ein EU-Stabilisierungsfonds für eine europäische Konjunkturpolitik finanziert werden – eine Art europäische Konjunkturausgleichsrücklage für eine antizyklische Wirtschaftspolitik der EU.
3. Welche Konditionalitäten und Begrenzungen sollten eingeführt werden?
Wenn unkonditionierte Finanztransfers in der EU nicht denkbar sind, müssen die grundlegenden Bedingungen für eine Auszahlung der europäischen Gelder vorab verbindlich und transparent vereinbart werden. Das gilt unter anderem für das Transfervolumen und eine mögliche Befristung der Zahlungsströme. Vorstellbar wäre, rechtlich eine Obergrenze des Volumens in Höhe von beispielsweise 0,5 Prozent des mitgliedstaatlichen Bruttonationaleinkommens (BNE) festzuschreiben. Genauso erforderlich wären verbindliche Vorgaben zu den Aufgaben und Zielen, denen die Zahlungen dienen sollen. So dürften die europäischen Transfers nicht zur Tilgung alter Schulden verwendet werden; vielmehr sollten sie wie beim NGEU zugunsten gemeinschaftlicher Ziele eingesetzt werden – also einen europäischen Mehrwert schaffen. Sie müssten darüber hinaus auch mit den gemeinsamen wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Zielsetzungen verbunden werden, auf die sich alle Mitgliedstaaten im Rahmen des Europäischen Semesters verpflichtet haben. Dazu gehört zweifellos auch die Umsetzung mittel- und langfristiger Strukturreformen zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit. Mit solchen Reformen würde zugleich das Volumen der erforderlichen europäischen Transfers begrenzt. Schließlich sollten bereits vorab klare Ultima-Ratio-Regeln vereinbart werden, also Vorgaben dazu, in welchem Fall und unter welchen Bedingungen europäische Solidaritäts- und Stabilisierungshilfen nicht mehr gewährt werden dürften. Dies liefe auf die Möglichkeit einer Staateninsolvenz bzw. auf ein europäisches Verfahren zur geordneten Schuldenrestrukturierung hinaus.
Aufgaben für die nächste Bundesregierung
Die nächste Bundesregierung und die sie tragenden Parteien müssen zu diesen Fragen eigene Antworten und Kompromisse finden und dann erste Positionen definieren. Die deutschen Interessen sollten offen und transparent formuliert werden. Für entsprechende Festlegungen gilt es dann sowohl in der deutschen Innenpolitik als auch in der Europäischen Union zu werben und Partner zu suchen, insbesondere für die zu vereinbarenden Konditionalitäten. Denn eine solche Weiterentwicklung der EU wird es erforderlich machen, die europäischen Verträge anzupassen, wofür ein Konsens in der EU und breite Unterstützung in der deutschen Innenpolitik nötig sind. Die tatsächlichen Verhandlungen auf europäischer Ebene sollten allerdings erst aufgenommen werden, wenn eine umfassende Analyse des gerade geschaffenen NGEU vorliegt. Erst dann wird erkennbar sein, inwiefern die EU das neue Instrumentarium wirkungsvoll und nachhaltig nutzen kann.
Ob dieses letztlich als europäische Fiskalunion, als Wirtschaftsunion, als Stabilitätsunion oder als stabilisierendes Konjunkturinstrument bezeichnet wird, mag für die politische Symbolik von Bedeutung sein und gegebenenfalls auch als Zeichen parteipolitischer Durchsetzungsstärke gelten. Für die Weiterentwicklung der EU jedoch ist die Begriffswahl sekundär.
Die EU im Spannungsfeld zwischen innerer Sicherheit und Rechtsgemeinschaft
Raphael Bossong
Die EU ist von stetig wachsender Bedeutung, wenn es darum geht, breit gefächerte Herausforderungen der inneren Sicherheit anzugehen, wie etwa den Grenzschutz, die Terrorismus- und Kriminalitätsbekämpfung, die Cybersicherheit sowie Teile des Katastrophenschutzes. Auch wenn die primäre Verantwortung für die innere Sicherheit auf nationaler Ebene verbleibt, sind die Mitgliedstaaten auf enge grenzüberschreitende Zusammenarbeit und einen unterstützenden Beitrag der EU-Ebene angewiesen.
Gerade Deutschland als der größte zentraleuropäische Staat mit den meisten Binnengrenzen und weitläufig integrierten Wertschöpfungsketten hat ein essentielles Interesse, die Schengen-Zone zu erhalten und den Binnenmarkt abzusichern. Die exponierte Position Deutschlands zeigt sich beispielsweise an seiner Forderung, die sogenannte »sekundäre Migration« aus EU-Außengrenzstaaten stärker zu kontrollieren bzw. zu überwachen; ebenso in Fragen der polizeilichen Kooperation und des Ausbaus von Europol, für die die politische Führung und der operative Beitrag Deutschlands von großer Relevanz sind.
Angesichts der Erfahrungen der letzten fünf Jahre scheint es notwendig, die EU-Sicherheitsunion primär dahingehend zu stärken, dass in Krisen schneller verbindliche Entscheidungen getroffen, mehr Ressourcen mobilisiert und verlässliche Solidarität geleistet werden kann. Ein Baustein für eine solche verbesserte europäische Handlungsfähigkeit sind eigene EU-Kräfte, die Aufgaben der inneren Sicherheit direkt übernehmen können. Die Kontroverse um die bisherige Einsatzpraxis der EU-Grenzschutzagentur Frontex zeigt aber zugleich, dass die EU die Einhaltung von Grundrechten gewährleisten muss. Noch dringlicher ist es, das gegenseitige Vertrauen in die nationalen Straf- und Justizsysteme zu bewahren, da in einigen Mitgliedstaaten die Gewaltenteilung in Frage gestellt wird. Mithin muss Deutschland zwei Dinge gegeneinander abwägen: einerseits eine Vertiefung der Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen, andererseits die Verteidigung der Rechtsgemeinschaft.
Die bisherige Entwicklung der EU‑Sicherheitsunion
Die EU-Politik für die innere Sicherheit hat sich bis 2015 vorrangig damit beschäftigt, die Bedingungen dafür zu schaffen, dass ausländerrechtliche, strafrechtliche und polizeiliche Instrumente grenzüberschreitend gegenseitig anerkannt werden. Heute geht es eher darum, technologischen und gesellschaftlichen Dynamiken zu begegnen, die in vielen Mitgliedstaaten nur unzureichend oder gar nicht geregelt sind. Aktuelle Beispiele sind neue rechtliche Pflichten, mutmaßlich terroristische Online-Inhalte zu löschen,1 oder komplexe Verhandlungen darüber, wie elektronische Beweismittel grenzüberschreitend erhoben und weitergeleitet werden sollen.2 Einen Mehrwert kann die EU vor allem dann beisteuern, wenn neue sicherheitspolitische Fragen mit ihren Kernkompetenzen im Binnenmarkt interagieren, etwa in der Bekämpfung der Geldwäsche.
Das zweite Standbein sind der Austausch und die Auswertung von Informationen. Dazu betreiben die EU-Mitgliedstaaten und EU-Agenturen für die innere Sicherheit eine Vielzahl gemeinsamer Datenbanken für (grenz)polizeiliche Zwecke3 sowie Netzwerke für den horizontalen Informationsaustausch.4 In den kommenden zwei Jahren sollen zudem umfassende Reformen für lückenlose biometrische Personenkontrollen und die Vernetzung aller EU-Datenbestände umgesetzt werden.5
Somit hat die EU bereits beträchtliche Fortschritte auf dem Weg zu einer »Sicherheitsunion« vorzuweisen. Das Ziel ist eine zunehmend breite und stärker operativ ausgerichtete EU-Sicherheitspolitik, die die Erwartungen der Bürger und Bürgerinnen aufgreift.
Mehrbedarf an europäischem Krisenmanagement und Solidarität
Die seit Jahren schwelende Flüchtlingskrise ebenso wie die Corona-Pandemie haben der EU jedoch vor Augen geführt, dass es ihr vielfach an gemeinsamer Handlungsfähigkeit und belastbarer Solidarität mangelt. Improvisierte Maßnahmen zum Krisenmanagement haben zwar wiederholt zu einer nachträglichen Integration geführt, was sich beispielsweise auch in einer neuen Gesundheitsunion niederschlagen soll. Die Lehre, dass Europa durch Krisen stets vorankommt, ist aber keine historische Gesetzmäßigkeit. Die nach wie vor fehlende »europäische Lösung« zur Verteilung von Schutzsuchenden ist ein Beleg dafür.
Europäische Solidarität sollte thematisch offen gedacht werden, da jederzeit neuartige Krisen auftreten können. Die Solidaritätsklausel im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)6 wird bislang allerdings nur verhalten genutzt. Demnach könnten in Notlagen »alle […] zur Verfügung stehenden Mittel« zur gegenseitigen Unterstützung mobilisiert werden. Bisher beschränkt sich das Verfahren zur Umsetzung dieser Klausel auf die sogenannte »Integrierte EU-Regelung für die politische Reaktion auf Krisen«,7 einen politischen Koordinierungsprozess unter Federführung der nationalen Botschafter in Brüssel. Dieser Mechanismus hat in der Pandemie erheblich an Substanz gewonnen und wurde jüngst durch einen Ausbau des EU-Katastrophenschutzmechanismus flankiert.8 Im Vergleich zu den wirtschafts- und finanzpolitischen Anstrengungen der EU zur Bewältigung der Pandemie zeigt sich jedoch, dass ungleich größere Reformen denkbar sind bzw. notwendig werden können.
Eine Grundsatzfrage für die Weiterentwicklung der Sicherheitsunion ist der Aufbau eigenständiger EU-Kräfte. Diese könnten Krisen abfedern, europäische Handlungsfähigkeit beweisen und das Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten unterfüttern. Exemplarisch hierfür steht die Agentur Frontex, die bis 2027 bis zu 3.000 EU-Grenzpolizisten und ‑polizistinnen mit hoheitlichen Befugnissen und persönlicher Bewaffnung aufstellen soll.9 Eingesetzt werden sollen sie unter anderem an besonders belasteten Abschnitten der EU-Außengrenzen. Die Beamten, die aus den Mitgliedstaaten für diesen Zweck an Frontex abgeordnet werden, werden zwar auch künftig die deutliche Mehrheit aller europäischen Grenzschutzkräfte bilden;10 zugleich wahrt die nationale Kommandoführung in gemeinsamen Einsatzgruppen die rechtliche Verantwortung vor Ort.
Trotzdem steht mit der Schaffung einer EU-Grenzschutztruppe grundsätzlich zur Debatte, ob die EU langfristig Elemente des staatlichen Gewaltmonopols übernehmen soll. Ergibt sich ein klarer Mehrwert der neuen Frontex-Grenzschutzbeamten in den nächsten Jahren, kann dies als Präzedenzfall für andere Agenturen und Aufgabenbereiche dienen – etwa für Europol, für die EU-Asylagentur oder beim gemeinsamen Katastrophenschutz.
Eine vertiefte Rechtsgemeinschaft als Voraussetzung der Sicherheitsgemeinschaft
Einem solchen Paradigmenwechsel, der die EU deutlich in Richtung eigener Staatlichkeit bewegen würde, steht der Schutz von Grundrechten gegenüber, der in diesem Zusammenhang besondere Relevanz erhält. Das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit, das es in allen liberalen Demokratien stetig auszutarieren gilt, ist auf EU-Ebene hochkomplex und noch nicht vollständig ausbuchstabiert. Die glaubhaften Anschuldigungen, Frontex decke11 unrechtmäßige Zurückweisungen von Schutzsuchenden an europäischen Außengrenzen oder könnte gar daran beteiligt sein, unterstreichen, dass eine effektive rechtliche und politische Kontrolle über eine entstehende EU-Sicherheitsexekutive garantiert sein muss.
Die EU-Grundrechtecharta, die mit dem Vertrag von Lissabon verbindlich wurde, weist klar über eine reine Wirtschaftsgemeinschaft hinaus und verpflichtet die EU zu einem umfassenden Verständnis liberaler Rechtsstaatlichkeit. Die praktischen Folgen zeigen sich erst seit einigen Jahren. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) nimmt mit Bezug auf verschiedene europäische Grundrechte, insbesondere beim Datenschutz, mittlerweile eine zentrale Rolle in Sicherheitsfragen ein, teilweise im scharfen Gegensatz zu politischen Entscheidungen auf europäischer wie nationaler Ebene.12
Ein weiterer, entscheidender Schritt steht nun an. In den kommenden Jahren wird der EuGH hochsensible Fälle entscheiden müssen, die sich mit einer direkten menschenrechtlichen Verantwortlichkeit der EU-Ebene und den operativen Handlungen von EU-Agenturen für die innere Sicherheit befassen.13 Dabei geht es vor allem um den Umgang mit Schutzsuchenden im Mittelmeer und in der europäischen Nachbarschaft. Alle Institutionen und Agenturen der EU müssen die EU-Grundrechtecharta einhalten. Die Mitgliedstaaten sind ihrerseits im Geltungsbereich des EU-Rechts daran gebunden, darüber hinaus an die Europäische Menschenrechtskonvention. Eine Nichtbeachtung dieser Verpflichtungen – etwa an EU-Außengrenzen – lässt sich nicht damit rechtfertigen, dass man auf Krisen und auf den Vorrang der mitgliedstaatlichen Kompetenz für die nationale Sicherheit verweist.
Grundsätzlich ist zu klären, wie sich das EU-Recht in Ausnahmesituationen behauptet. Die EU muss ebenso wie ihre Mitglieder deutlicher erklären, wann und inwiefern Einschränkungen von Grundrechten gerechtfertigt und verhältnismäßig sind. Die rechtliche Verantwortung darf nicht länger zwischen den Mitgliedstaaten und EU-Akteuren verwischt werden.
Das gegenseitige Vertrauen und die nationale Rechtsstaatlichkeit
Noch dringlicher ist die Auseinandersetzung über die Unabhängigkeit der Justiz in einigen Mitgliedstaaten. Der EuGH und die EU-Kommission kritisieren nationale Justizreformen und die Aushöhlung der Gewaltenteilung in Polen und Ungarn in immer schärferen Tönen, während diese beiden Länder bereit scheinen, den Vorrang des EU-Rechts offen zurückzuweisen.
Jenseits der breit geführten Diskussion, EU-Finanzzahlungen mit Blick auf Defizite der Rechtsstaatlichkeit einzuschränken, hat dieser Streit potentiell gravierende Auswirkungen auf Fragen der inneren Sicherheit und Migration. Nationale Richter in mehreren nordwesteuropäischen Staaten gehen zunehmend dazu über, die grenzüberschreitende Kooperation in diesen Feldern unter Vorbehalt zu stellen.14 Schon seit den frühen 2010er Jahren bestehen systematische Probleme, irreguläre Migratinnen, Migranten und Asylsuchende an einige andere Mitgliedstaaten zu überstellen, die keine hinreichende Unterkunft und menschenwürdige Behandlung gewährleisten können oder wollen. Die grundlegende Ablehnung oder Missachtung des europäischen Asylrechts in manchen zentraleuropäischen Ländern vertieft dieses Dilemma weiter.
Die Auseinandersetzungen über die polnischen Justizreformen untergraben derweil den Europäischen Haftbefehl bzw. den damit zusammenhängenden Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens der EU‑Staaten in die jeweiligen nationalen Strafrechtssysteme. Bisher hat der EuGH entschieden, dass nur nach eingehender Prüfung gerechtfertigt werden kann, die Auslieferung einer gesuchten Person oder eines Häftlings in einen anderen Mitgliedstaat zu verweigern, das heißt, wenn im Einzelfall berechtigte Zweifel an einem fairen rechtsstaatlichen Verfahren vorliegen. Driften die EU-Länder in puncto Rechtsstaatlichkeit weiter auseinander, könnten solche punktuellen Vorbehalte zu systematischen werden und Polen und Ungarn in weiteren sicherheitspolitischen Bereichen von der Zusammenarbeit mit anderen Mitgliedstaaten abgekoppelt werden. Der jüngste Skandal um die mutmaßliche Nutzung der aggressiven Überwachungssoftware Pegasus gegen ungarische Journalisten15 kann als schwerwiegende Verletzung des europäischen Grund- und Datenschutzrechts angesehen werden.
Prioritäten und Handlungsempfehlungen für Deutschland
Deutschland steht widersprüchlichen Anforderungen gegenüber: Einerseits soll es die Krisenreaktionsfähigkeit und operative Dimension der Sicherheitsunion stärken, andererseits die EU-Rechtsgemeinschaft und das gegenseitige Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit bewahren. Im Zweifel sollte zum Schutz der nationalen Verfassungsordnung sowie des erreichten Integrationsniveaus der EU Priorität haben, die Grundrechte und die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit einzuhalten.
Dennoch sollte Deutschland die Sicherheitsunion in anderen Bereichen unmittelbar voranbringen. Die nächste politische Zielmarke ist die französische EU-Präsidentschaft im Frühjahr 2022, während der eine Reform des Schengenregimes vereinbart werden könnte. Gestärkte gegenseitige Aufsichtsmechanismen zur Vertrauensbildung zwischen den Mitgliedstaaten, neue Verfahren für gesundheitsbedingte Kontrollen und technische Maßnahmen zum verbesserten Grenzschutz sollten erlauben, zur vollen Personenfreizügigkeit zurückzukehren. Deutschland sollte hierbei, wenn nötig, den ersten Schritt tun und alle seit 2015 aufrechterhaltenen Binnengrenzkontrollen aufheben. Der Fortgang der Verhandlungen zum Europäischen Asyl- und Migrationspaket16 sollte hiervon unabhängig betrachtet werden. Parallel sollte Deutschland aktiv darauf hinwirken, die jüngste Reform des EU-Katastrophenschutzmechanismus umzusetzen, sowohl auf Ebene der gemeinschaftlichen Ressourcen wie auf innerstaatlicher Ebene – Letzteres um eine engere europäische Anbindung zu gewährleisten.
Konflikte in Europas erweiterter südlicher Nachbarschaft. Angepasste Konzepte für die Konfliktbearbeitung gefragt
Die aktuellen Konflikte in der erweiterten südlichen Nachbarschaft Europas lassen eine tiefe Krise regionaler Ordnungen und eine zunehmend unübersichtliche Multipolarität erkennen. Immer bereitwilliger intervenieren Russland und eine wachsende Zahl von Regionalmächten in Konfliktherden von Syrien bis Libyen, vom Kaukasus über das Horn von Afrika bis in die Zentralafrikanische Republik (ZAR). Sie reagieren damit auf den Teilrückzug des amerikanischen Hegemons und drängen dabei zugleich den Einfluss der USA und Europas weiter zurück. Sowohl die USA als auch europäische Staaten lassen sich vielerorts in die Konkurrenz der Regionalmächte bzw. in lokale Auseinandersetzungen hineinziehen und werden dadurch selbst zu Konfliktakteuren. Im UN-Sicherheitsrat und auf EU-Ebene hat die neue Multipolarität eine starke Einschränkung der Beschlussfähigkeit zur Folge.
Herkömmliche Ansätze deutscher Krisenbearbeitung sind der Erosion der alten Ordnungen nicht mehr gewachsen. So geht die deutsche Beteiligung an UN- oder EU-Missionen auf eine Zeit zurück, in der die USA und europäische Staaten noch weitaus größeren Einfluss in Europas erweiterter Nachbarschaft ausübten und der UN-Sicherheitsrat weniger polarisiert war. In der neuen Unordnung kommen UN-Missionen zur Friedenssicherung bzw. ‑erzwingung immer weniger in Frage, was selbst für Fact Finding-Missionen gilt. Wo der Sicherheitsrat weiterhin solche Missionen aufstellt, ist ihre Effektivität in zusehends komplexeren Konflikten oft noch beschränkter als in der Vergangenheit – die UN-Mission in der ZAR etwa gewährleistet kaum den Schutz der Zivilbevölkerung und unterhält zudem problematische Beziehungen zu russischen Militärdienstleistern. EU-Missionen werden aufgrund der widerstrebenden Interessen der Mitgliedstaaten zunehmend unpolitisch konzipiert und den neuen, antagonistischen Bedingungen nicht gerecht. Deutlich wird dies beispielsweise bei der EU-Marinemission Irini, die ihren Auftrag, das gegen Libyen verhängte UN-Waffenembargo durchzusetzen, nicht einmal ansatzweise erfüllt.
Auch bei Vermittlungsbemühungen sind etablierte Formate, die lokale Konfliktparteien zusammenbringen, den Konstellationen oft nicht mehr angemessen. Denn in diesen Konflikten spielen Russland und regionale Mächte wie die Türkei, der Iran und die Vereinigten Arabischen Emirate eine zunehmend dominante Rolle im Hintergrund, und dies häufig verdeckt und unter Rückgriff auf Söldner und lokale Milizen. Die Ineffektivität etablierter Foren zur Konfliktbearbeitung ist Anlass für Konkurrenten und Regionalmächte, Ad-hoc-Formate zu nutzen. Diese hegen die Konflikte zwar ein, stehen aber gleichzeitig einer nachhaltigen Regelung entgegen. So sind etwa die Genfer Syriengespräche unter Ägide des UN-Sonderbeauftragten durch das von Russland initiierte Astana-Format (in Kooperation mit Türkei und Iran) unterminiert worden. Schließlich setzen Interventionen der Regionalmächte, die sich nicht an völkerrechtlichen Prinzipien orientieren, und die Polarisierung im UN-Sicherheitsrat der internationalen Strafgerichtsbarkeit deutlich engere Grenzen, als dies in den 2000er Jahren der Fall gewesen war.
Ein effektives Engagement bei der Bearbeitung von Konflikten in der erweiterten südlichen Nachbarschaft ist im ureigenen Interesse Deutschlands, um negative Auswirkungen abzuwenden und eine überzeugende Alternative zu den Angeboten illiberaler Akteure zu bieten. Dabei können Vermittlung, Friedenssicherung und die Überwachung von Waffenstillständen nur von unparteiischen und glaubwürdigen Akteuren gewährleistet werden. Ein konsistenteres Vorgehen ist auch gefragt, um der Straflosigkeit von Konfliktakteuren beizukommen, die einer nachhaltigen Befriedung entgegensteht. Für die Bewältigung der Herausforderungen komplexer Konflikte ist ein Politikwandel nötig. Drei Ansätze in Diplomatie, Verteidigung und Strafrecht bieten sich vorranging an, um deutschen Interessen künftig besser zu entsprechen. Allerdings bringen sie auch Dilemmata und Kosten mit sich.
Politikansatz 1: Diplomatische Ad‑hoc‑Formate
Mit dem Übergang zu einer multipolaren Ordnung wächst der Bedarf an diplomatischen Ansätzen für die Lösung von Konflikten. Angesichts der Ineffektivität der etablierten multilateralen Formate treten regionale Kooperationsforen und diplomatische Ad-hoc-Mechanismen in den Vordergrund.
Die jüngeren deutschen Erfahrungen geben Aufschlüsse über Kosten und Nutzen solcher Mechanismen. Deutschland etablierte etwa mit dem sogenannten Münchner Format mit Frankreich, Jordanien und Ägypten ein Forum, das sich 2020 für einen Zweistaatenansatz in Israel/Palästina starkmachte. Selbst wenn dieses Kleeblatt nicht der entscheidende Akteur war, konnte es dazu beitragen, dass Israel seine Annexionspläne aufgab, zu denen es die Trump-Administration ermutigt hatte. Nachdem diese Pläne im Herbst 2020 vom Tisch waren, konnte das Forum allerdings kein Momentum mehr generieren, nicht zuletzt weil es keinen Konsens über das weitere Vorgehen gab. Im Libyenkonflikt unterstützt die Bundesregierung mit dem Berliner Prozess die Vermittlungsbemühungen der UN. Die verständliche Absicht, den Teilnehmerkreis auf die wichtigsten externen Akteure in Libyen zu beschränken, hat indes zu Spannungen in den deutschen Beziehungen mit Griechenland und Marokko geführt. Das ist ein Grundproblem diplomatischer Ad-hoc-Formate. Vor allem aber zeigt der Berliner Libyen-Prozess, dass solche Formate von der Bereitschaft führender Staaten abhängen, politisches Kapital zu investieren. Deutschland verließ sich im Berliner Prozess auf die Zusagen der Regierungen, das für Libyen geltende UN‑Waffenembargo zu respektieren und sich aus dem Land zurückzuziehen. Druckmittel wie öffentliche Bloßstellung oder Sanktionen, um die Einhaltung dieser Zusagen sicherzustellen, gab es kaum. Resultat war und ist, dass trotz der Berliner Libyen-Konferenzen noch massiver interveniert wurde und es nicht zu einem Rückzug kam.
Kooperationsforen können Konflikte auch verschärfen. Im East Mediterranean Gas Forum (EMGF) etwa kooperieren Ägypten, Griechenland, die Republik Zypern, Israel und weitere Mittelmeeranrainer mit Unterstützung von USA und EU in ihrer Energiepolitik, schließen aber de facto die Türkei aus. Damit ist die Lagerbildung im östlichen Mittelmeerraum verstärkt worden, statt ihr entgegenzuwirken.
Ad-hoc-Formate haben den Vorteil, dass sie relativ schnell agieren können. Insofern sind sie zur Bearbeitung akuter Krisen gut geeignet. Um erfolgreich zu sein, brauchen sie aber klare Ziele, einen inklusiven Teilnehmerkreis und den Willen der Handelnden, politisches Kapital mit dem Ziel zu investieren, Vereinbarungen durchzusetzen – womit auch Kosten verbunden sind, etwa Spannungen in Beziehungen mit unkooperativen Staaten. Zudem können Ad-hoc-Formate zur Erosion multilateraler Institutionen beitragen. In diesem Sinne sollten sie Regionalorganisationen wie die Afrikanische Union einbinden bzw. die Unterstützung von Generalversammlung und/oder Sicherheitsrat suchen. Denn so würden sie mittelfristig in einen multilateralen Rahmen eingebettet.
Politikansatz 2: Militärische Koalitionen der Willigen
Angesichts von Beschlussunfähigkeit oder Differenzen in UN-Sicherheitsrat, Nato und EU verlegen sich enge Verbündete Deutschlands in den letzten Jahren zusehends auf Koalitionen der Willigen. Deren Ziele sind divers: Die Anti-IS-Koalition bekämpft den sogenannten »Islamischen Staat« (IS) und bildet örtliche Sicherheitskräfte aus; die europäische Seeüberwachungsinitiative in der Straße von Hormus dient dem Schutz der zivilen Schifffahrt; die von Frankreich angeführte Mission Takuba befähigt Spezialkräfte im Sahel zum Kampf gegen Jihadisten. Prinzipiell steht Deutschland Koalitionen der Willigen skeptisch gegenüber und verweist Verbündete bei Anfragen in der Regel auf die Bestimmung in Artikel 24 des Grundgesetzes, nach der Auslandseinsätze der Bundeswehr nur im Rahmen eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit zulässig sind. Die Beteiligung an der Anti-IS-Koalition zeigt aber, dass es bei der Interpretation der verfassungsrechtlichen Normen durchaus politischen Spielraum gibt.
Koalitionen von Willigen werden stets in besonders schwierigen Konfliktkontexten intervenieren. Denn Einsätze, die international unumstritten und mit geringen Risiken verbunden sind, dürften weiterhin im etablierten multilateralen Rahmen stattfinden. Unter den gegenwärtigen Umständen könnten Koalitionen von Einzelstaaten auch bei der Friedenssicherung oder ‑durchsetzung effektiver sein als UN- oder EU-Missionen. Gleichwohl wären die an ihnen beteiligten Militärs größeren Gefahren ausgesetzt. Zur Machtprojektion einzelner Staaten, die sich gegen konkurrierende Regional- und Mittelmächte richtet, sind Koalitionen der Willigen ebenfalls besser geeignet. Daraus erwächst allerdings das Risiko, mit solchen Operationen zum weiteren Niedergang der regelbasierten Weltordnung beizutragen. Eine Mindestanforderung für jegliche deutsche Beteiligung sollte daher die feste völkerrechtliche Verankerung solcher Interventionen sein, etwa indem Bezug auf das Prinzip der Schutzverantwortung genommen wird.
Für jedwede Bundesregierung wird ein Engagement im Rahmen von Koalitionen der Willigen nur im Ausnahmefall in Frage kommen. Denn solche Einsätze bergen zweifellos größeren innenpolitischen Sprengstoff als die Entsendung von Soldaten in UN- und EU-Missionen. Daraus wiederum ergibt sich auch eine Chance für zielführenderes Handeln. Denn während der Bundestag Einsätze im UN- und EU-Rahmen meist ohne ausgiebige Auseinandersetzung beschließt und verlängert, ist für ein Engagement in Koalitionen der Willigen eine eingehendere Diskussion über Ziele und Nutzen des Einsatzes nötig. Ein solches Vorgehen könnte Deutschland auch ermöglichen, mehr Einfluss auf die Ziele, Strategien und die Auswahl der Partner zu nehmen. Weil sie für deutsche Politik exzeptionellen Charakter haben, sind Koalitionen der Willigen letztlich jedoch kein Konzept, das für die künftige Konfliktbearbeitung ausreicht.
Politikansatz 3: Universelle Strafgerichtsbarkeit
Bürgerkriege in der erweiterten südlichen Nachbarschaft dürften sich kaum nachhaltig befrieden lassen, wenn die teils gravierenden Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen von den beteiligten Akteuren nicht aufgearbeitet werden. Dabei geht es insbesondere darum, potentielle Straftäter oder Straftäterinnen abzuschrecken, Opfern von Gewalt bzw. deren Angehörigen ein Mindestmaß an Gerechtigkeit und Anerkennung zuteilwerden zu lassen und eine Basis für gesellschaftliche Aussöhnung zu schaffen. In den meisten Fällen sind jedoch Maßnahmen der Übergangsjustiz, die den Wahrheitskommissionen Südafrikas, Perus oder Marokkos vergleichbar wären, nicht zu erwarten, da die jeweils dominanten Konfliktparteien kein Interesse an einer Aufarbeitung haben. Hier kann die internationale Gemeinschaft zu Aufklärung und Aufarbeitung beitragen. Ein Merkmal der internationalisierten Konflikte ist allerdings, dass auch mit einer gerichtlichen Aufarbeitung durch den Internationalen Strafgerichtshof (IStGh) oder internationale Sondertribunale kaum zu rechnen ist, weil ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrats involviert sind. Darum bleibt lediglich die Aufarbeitung durch nationale Gerichte nach dem Weltrechtsprinzip.
Deutschland könnte in mehrfacher Hinsicht eine Vorreiterrolle einnehmen: erstens indem es die strafrechtliche Aufarbeitung mutmaßlicher Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch den IStGh konsistent unterstützt, wo immer dieser das Mandat hat; zweitens indem es Verfahren nach dem Weltrechtsprinzip vor nationalen Gerichten ermutigt (in Deutschland und anderen EU-Mitgliedstaaten, in denen dies möglich ist); drittens indem es gerichtsfeste Dokumentationen von Kriegsverbrechen durch zivilgesellschaftliche und internationale Organisationen unterstützt und die Kapazitäten seiner eigenen Strafverfolgungsbehörden erweitert; und viertens indem es nichtgerichtliche Maßnahmen der Übergangsjustiz fördert, wie Wahrheitskommissionen oder die Begleitung lokaler Aussöhnungsprozesse, die auch in autoritären Kontexten einen Beitrag zum friedlichen Zusammenleben leisten können.
Eine solche Vorreiterrolle würde sowohl den Interessen Deutschlands an einer nachhaltigen Stabilisierung seiner erweiterten Nachbarschaft als auch dem Interesse an der Stärkung einer rechtebasierten, multilateralen Ordnung entsprechen. Sie würde eine stärkere Betonung strafrechtlicher Elemente und damit eine Veränderung des Ressourceneinsatzes mit sich bringen. Strafverfolgung, zumal in komplexen Gewaltsituationen, ist dabei alles andere als eine »niedrighängende Frucht«, die sich mit schneller Wirkung greifen ließe. Sie ist vielmehr mit einer Fülle von Dilemmata verbunden. Dazu gehört, dass eine Aufarbeitung kurzfristig die Kooperation mit Konfliktakteuren belasten kann und dass sie sich in der Regel auf die Verbrechen lokaler Akteure beschränkt, während die Verbrechen internationaler Akteure ungesühnt bleiben.
Deutschland kann nur dann glaubwürdig als Vorreiter fungieren, wenn es diese Rolle auch konsistent ausfüllt – dies impliziert, dass eine strafrechtliche Verfolgung nicht vor Staatsangehörigen befreundeter Staaten haltmacht (vergleiche etwa die IStGh-Ermittlung zu mutmaßlichen Kriegsverbrechen in den palästinensischen Gebieten) und dass sie nicht aus Kostengründen eingestellt oder aus politischer Opportunität bzw. unter dem Eindruck von Drohungen auf die direkten Täter beschränkt wird, während die politisch Verantwortlichen nicht belangt werden (vergleiche etwa das Sondertribunal für den Libanon).
Sollen negative Spillover-Effekte von Konflikten in der erweiterten südlichen Nachbarschaft vermieden werden, muss Deutschland im eigenen Interesse effektiver als bislang zur Bearbeitung dieser Konflikte beitragen. Dazu gilt es, den Instrumentenkasten an die komplexer gewordenen Herausforderungen anzupassen. Diplomatische Ad-hoc-Formate, militärische Koalitionen der Willigen und eine strafrechtliche Aufarbeitung von Kriegsverbrechen können kurz‑, mittel- und langfristig von Nutzen für die Konfliktbearbeitung sein – allerdings nur, wenn die unintendierten Nebeneffekte von Anfang an mitbedacht und aufgefangen werden.
Das Eckpunktepapier zur Zukunft der Bundeswehr: Notwendige Anpassung an sicherheitspolitische Herausforderungen
Florian Schöne
Gewalt und die Androhung von Gewalt, um Interessen durchzusetzen, ist auch in Europa wieder in evidenter Form Teil der politischen Realität. Die Annexion der Krim, die russischen Militäraufmärsche an der Grenze zur Ukraine und Propagandavideos von neuen Waffensystemen sind ein Beleg für diese Entwicklung. In Syrien wird mit Russlands Hilfe brutal Krieg gegen die Bevölkerung geführt, auch in dem Kalkül, die nach Europa strebende Flüchtlingsbewegung zur Destabilisierung der Europäischen Union zu nutzen.1 Chinas Einfluss wächst derweil weit über Asien hinaus. Das russische und das chinesische Vorgehen ähneln sich; und die Kooperation der beiden Länder wird enger. In Afrika breiten sich gewalttätige Extremisten aus. Unter dem Eindruck dieser Ereignisse und Tendenzen rückt in Deutschland die Landes- und Bündnisverteidigung wieder stärker in den Fokus, doch die Grenzen zu internationalem Krisenmanagement verwischen dabei zusehends.
Allein kann die Bundesrepublik die Probleme kaum lösen, aber ihre Zurückhaltung bei der Androhung und Nutzung von Gewalt erscheint ebenfalls nicht zielführend. Noch immer setzt die deutsche Außenpolitik zu sehr darauf, dass insbesondere die USA Konflikte beilegen. Washingtons Konzentration auf Asien macht es notwendig, dass sich die Europäer selbst um die Eindämmung der Gewalt in ihrer Nachbarschaft kümmern, in Gebieten eigenen Interesses – sei es in der Ukraine, Syrien, Libyen oder Mali. Die in Wort und Tat zur Schau getragene Nato-Skepsis des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump hat Europa gezeigt, dass US-amerikanische Sicherheitsgarantien keine Selbstverständlichkeit sind. Deutschland muss daher auch militärisch handlungsfähiger werden und im militärischen Konfliktmanagement eigenständiger vorangehen können. Das setzt auf nationaler Ebene integrierte, aus einer Hand geführte Streitkräfte mit eigener strategischer und operativer Planung voraus. Es ist im Interesse der Bundesrepublik, die Bundeswehr unter diesen Vorgaben zu entwickeln, wenn sie Bündnisse wie die Nato und zum Teil auch die EU stärken und weiterhin gestalten will. Eigene strategische und operative Planungen anzustellen und diese in Allianzsysteme einzubringen festigt die eigene Position. In Bündnisse eingebundene, auch in Ad-hoc-Koalitionen einsetzbare, das heißt eigenständige Streitkräfte sollten daher das Ziel der Anpassungsbemühungen sein.
Im Mai 2021 hat das Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) dazu ein Eckpunktepapier2 veröffentlicht. Darin werden erste Schritte in diese Richtung unternommen. Um diesen Weg weitergehen zu können, müssen indes einige eingetretene Pfade verlassen werden.
Grundzüge der »alten« Bundeswehr
Die Bundeswehr ist seit ihrer Gründung in einer außergewöhnlichen Situation. So militärisch notwendig deutsche Streitkräfte im beginnenden Kalten Krieg waren, so umstritten und im Ergebnis kompromissbehaftet war ihre Entstehung. Sie wurden eingehegt, von außen wie von innen.3 Die strategische und die operative Steuerung wurde an die Nato abgetreten. Verkürzt gesagt gab es keine autonomen strategischen Überlegungen und keine eigenen strategischen (Verlege-)Mittel für die deutschen Streitkräfte. Auch nach ihrer Neuausrichtung 2010/11 blieb die Bundeswehr dieser Tradition verhaftet. Die Einsatzarmee war ebenfalls auf die Bündnisstruktur angewiesen. Die teilstreitkraftübergreifende Zusammenarbeit wurde durch die Aufstellung der Streitkräftebasis und des Einsatzführungskommandos gefördert und enorm verbessert. All diese Veränderungen mündeten aber nicht in einer umfassenden nationalen Führungsfähigkeit. Die Kapazitäten zur eigentlichen operativen Handlungsfähigkeit und zur Strategiebildung wurden nicht wesentlich ausgebaut, der Fokus lag und liegt vor allem auf taktischen Herausforderungen. Die Selbständigkeit blieb eingeschränkt.
»Eckpunkte« für die Zukunft?
Konflikte sind heute dimensionsübergreifend und erfordern nationale Flexibilität, also mehr Eigenständigkeit, ohne allerdings die Bündnisstrukturen zu vernachlässigen. Auseinandersetzungen werden komplexer, sind langfristiger und weiträumiger angelegt und stellen daher höhere Ansprüche an strategisches Können. Die Bundeswehr muss heute weiterhin große Distanzen überwinden, um in ein mögliches Einsatzgebiet, sei es Litauen oder Mali, zu gelangen. Dabei ist keinesfalls sicher, dass ein Einsatz an der Ostflanke unter Artikel-5-Bedingungen erfolgt, und schon gar nicht, dass der Verteidigungsfall tatsächlich ausgerufen wird. Gegner wie Russland nutzen rechtliche und gesellschaftliche Schwachstellen gezielt aus und halten die Auseinandersetzung unterhalb der Schwelle zum Krieg. Das bedeutet aber nicht, dass bewaffnete Auseinandersetzungen auch mit deutscher Beteiligung ausgeschlossen bleiben müssen.
Dimensionen
Die US-Army hat 2018 das Konzept der »Multi-Domain Warfare«, der dimensionsübergreifenden Kriegsführung, in einer Doktrin4 zusammengefasst. Dabei geht es darum, einen (gleichwertigen) Gegner mit Angriffen aus allen Dimensionen (Land, See, Luft, Cyber, Weltraum) zu überfordern und damit seine Handlungsfähigkeit einzuschränken, bis sein Wille zum Kampf gebrochen ist.5 Diese Art der Gefechtsführung setzt Streitkräfte voraus, die ohne Verzug Daten austauschen können. Ein Jet der Luftwaffe muss der Artillerie des Heeres Koordinaten senden können. Der Jet muss wissen, wann die eigenen Cyberkräfte die gegnerische Flugabwehr gestört haben, damit er in deren Bereich einfliegen kann. Die Fregatte vor der Küste muss wissen, wann der Jet einfliegt, um den Beschuss zu unterbrechen. Satelliten, die das Gefechtsfeld überwachen, müssen allen Kräften Informationen zur Verfügung stellen können.
Um die Funktionalität dieses Konzerts sicherzustellen, braucht es eine zentrale Steuerung aller am Kampf beteiligten Systeme, das heißt eine operative Integration. Dafür müssen Strukturmaßnahmen umgesetzt, darüber hinaus die Abläufe aber auch geübt werden. Das ist im multinationalen Rahmen zwar zu leisten, aber mit einem erheblichen Aufwand verbunden. Je mehr Nationen eingebunden werden, desto schwieriger wird es; auch weil zur Not nicht auf die deutsche Sprache zurückgegriffen werden kann. Die Koordination dimensionsspezifischer Fähigkeiten ist auf Korps-Ebene denkbar, und mit der Aufstellung sogenannter Component Commands soll eine solche Ebene laut Eckpunktepapier jetzt durch die Kommandos der Teilstreitkräfte für den Bereich der Bundeswehr vorgeplant werden. Diese Maßnahme ist geeignet, das Verständnis für den dimensionsübergreifenden Ansatz zu vertiefen. Auch werden damit der Ausbildungsstand des Personals und so letztlich die Leistungskapazität der Bündnisstrukturen verbessert. Die ins Auge gefassten Korps-Strukturen stellen aber auch die schnelle Verfügbarkeit von Kräften sicher, die die nationale Flexibilität erhöhen und Anknüpfungspunkte für Partner auch in Ad-hoc-Koalitionen bieten können. Sie sollten daher zukünftig in Übungen auch getestet werden, um den Nutzen nationaler Planungen und Fähigkeiten zu erweisen.
Nationale Führung und Planung
Mit dem Territorialen Führungskommando, welches das BMVg in den Eckpunkten skizziert, wird die Fähigkeit zur Einsatzführung auf dem Gebiet der Bundesrepublik verbessert, indem die derzeit zuständigen Stellen zusammengefasst werden. Weniger Schnittstellen und ein verstärkter Unterbau sind ein Gewinn nicht nur für die eigene Sicherheitsvorsorge, im Rahmen der sogenannten Amtshilfe, sondern auch für das Nato-Bündnis, das sich auf die »Drehscheibe Deutschland« – etwa in der Bündnisverteidigung – verlassen können muss. Gemeinsam mit dem Einsatzführungskommando, das für die deutschen Anteile an Auslandseinsätzen zuständig ist, wird es mit dem Territorialen Führungskommando möglich sein, ein klares Lagebild über alle Einsätze in und außerhalb Deutschlands zu erstellen und die politische Führung damit in die Lage zu versetzen, informierte Entscheidungen zu treffen.
Die Veränderungen im Verteidigungsministerium dienen dazu, »der Bundesministerin/dem Bundesminister […] die Führung der Bundeswehr in den komplexen Krisen unser Zeit«6 zu ermöglichen. Sie schaffen die Voraussetzung zur Führung der Streitkräfte aus einer Hand. Sie geben der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik flexiblere Optionen und sind damit angesichts hybrider Bedrohungen und unter den genannten rechtlichen Voraussetzungen zweckmäßig. Truppenführung war bisher keine Aufgabe des Ministeriums. Eine streitkräftegemeinsame Führungseinrichtung, die außerhalb des Ministeriums territoriale Führung und Einsatzführung verbindet und der politischen Führung als zentrale Stelle zur Verfügung steht, würde weitere Schnittstellen obsolet machen und Doppelungen von Führungszellen vermeiden.
Gemeinsame Führung braucht gemeinsame Planung. Diese muss so gestaltet werden, dass zwischen den Waffensystemen und Einheiten nicht nur Austauschbeziehungen bestehen, sondern dass sich auch deren Fähigkeiten ergänzen. Eine unkoordinierte Selbständigkeit der Teilstreitkräfte könnte diesem Ziel zuwiderlaufen. Um dies zu verhindern, braucht es streitkräftegemeinsame Vorgaben der obersten Führung. Mit dem Planungsamt der Bundeswehr ist bereits eine solche koordinierende Stelle geschaffen worden. Dieses Amt sollte weiter gestärkt werden, beispielsweise durch die Unterstellung des im Eckpunktepapier beschriebenen Doktrinzentrums, ungeachtet dessen räumlicher Ansiedelung. Eine Doktrin, im Sinne operativ-strategischer Vorgaben, verbindet Zukunftsvorstellungen (Konfliktszenarien) mit aktuellen Herausforderungen und ist integraler Teil der Streitkräfteplanung. Eine solche Leitlinie ist daher geeignet, die Lücke zwischen dem Fähigkeitsprofil und der taktischen Umsetzung zu schließen. Ein derartiges Zentrum wird das Verständnis für Doktrinentwicklung stärken, was das deutsche Gewicht in den Bündnisprozessen, wie dem Nato Defence Planning Process, erhöhen wird.
Strategiefähigkeit
Strategiefähigkeit ist ein wesentliches Element staatlichen Handelns. Das Militär stellt der Regierung Optionen bereit, aber dazu muss es strategische Prozesse selbst durchdenken. Es ist kein einfaches Unterfangen, strategisches Denken anstelle des klassischen taktischen zu fördern. Erforderlich ist dafür die Herausbildung einer strategischen Kultur.
Strategisches Denken ist Voraussetzung für eine »Verbesserung der strategischen Führungsfähigkeit«,7 wie sie im Eckpunktepapier anvisiert wird. Allein mit begleitenden Maßnahmen, wie der Einrichtung eines »Bundesbeirats Sicherheit«8 oder der Durchführung einer Sicherheitswoche im Bundestag9, lässt sich dieses Ziel nicht erreichen. Ein Bundessicherheitsrat wäre ebenfalls auf die Fähigkeit der höheren Offiziere angewiesen, das militärisch Notwendige als Teil des vernetzten Ansatzes ebenso zu bewerten wie das politisch Machbare und die (langfristigen) Konsequenzen sowie darauf aufbauende Optionen zu erarbeiten. Strategisches Denken ist komplex und bedarf daher gezielter Schulung. Ohne versierte Lehre ist es schwierig, eine strategische Kultur zu entwickeln, die wiederum Grundlage der Strategiefähigkeit ist. Diese Art zu denken sollte spätestens bei angehenden Stabsoffizieren angeregt und nachfolgend weiter gefestigt und vertieft werden. Der Basislehrgang für Stabsoffiziere und der Generalstabsdienstlehrgang sollten entsprechend angepasst werden.
Strategiefähigkeit setzt internen und externen Diskurs voraus. Um diesen Diskurs anzukurbeln, wurde 2018 in Hamburg das German Institute for Defence and Strategic Studies (GIDS) gegründet. Es soll unter anderem dazu dienen, der Öffentlichkeit die militärische Perspektive zugänglich zu machen. Es fehlt aber an internen Publikationsformaten, die die Hemmschwelle zur Mitwirkung gerade jüngerer Soldaten senken könnten. Intern wie extern ist es zum einen an den militärischen Vorgesetzten, mit gutem Beispiel voranzugehen und den Diskurs anzustoßen. Eine Verpflichtung, ab dem ersten Generalsrang aufwärts pro Jahr einen Meinungsbeitrag zu militärstrategischen Themen zu liefern, wäre ein Startpunkt. Zum anderen ist es an der Politik, die Auseinandersetzung sichtbar einzufordern. Ein Schritt in diese Richtung wäre die direkte Unterstellung des GIDS unter das Verteidigungsministerium. Dies könnte die Austauschbeziehungen verbessern und sich ebenfalls positiv auf die Akzeptanz dieses Think Tanks auswirken.
Fazit
Wer sich oder andere vor Gewalt schützen will, muss die glaubhafte Bereitschaft (die Fähigkeiten und den Willen) haben, Gegengewalt einzusetzen. Die neuen Konflikte werden in allen Dimensionen und mit allen Mitteln ausgetragen. Diese strategischen und operativen Rahmenbedingungen erfordern Streitkräfte, die national führungsfähig und teilstreitkraftübergreifend genauso integriert sind, wie sie international anschlussfähig sein müssen.
Das Eckpunktepapier des Verteidigungsministeriums weist in die richtige Richtung, aber diese muss nun konsequent verfolgt werden. Die Bundeswehr muss in Ausbildung und Planung über die taktische Ebene hinausgehen und fähig werden, Militärstrategien zu entwickeln und operativ zu führen; außerdem muss sie weiterhin Beiträge in den öffentlichen Diskurs einbringen. Durchgängige Führungsfähigkeit bis in das Verteidigungsministerium, die Etablierung eines Doktrinzentrums, in dem eigene operative Leitlinien erarbeitet werden, und die Gründung eines Think Tanks als deutliches Zeichen für den Willen zum militärstrategischen Diskurs sind mit Blick auf die Geschichte der Bundeswehr keine selbstverständlichen Maßnahmen. All diese Schritte sind geeignet, die Streitkräfte an die oben genannten sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen anzupassen, mithin zu mehr Selbständigkeit und die Übernahme von mehr Verantwortung zu befähigen. Die Bundeswehr würde mit diesen Maßnahmen in die Lage versetzt, falls Bündnisstrukturen nicht greifen sollten, im Konzert mit gleichgesinnten Partnern agieren und möglicherweise sogar als Anlehnungsnation vorangehen zu können. Das Resultat wären Streitkräfte, die – nicht unähnlich der französischen oder der britischen Armee – in Bündnisstrukturen integriert und trotzdem flexibel einsetzbar sind, Streitkräfte, die die Ad-hoc-Handlungsfähigkeit Deutschlands verbessern würden. Die neue Bundesregierung sollte diesen Weg weiterverfolgen.
Maritime Wahl: Indo-pazifische versus arktisch-nordatlantische Prioritäten
Michael Paul / Göran Swistek
Mit der Herausgabe der Leitlinien zum Indo-Pazifik hat die Bundesregierung deutlich gemacht, dass sie diese Region derzeit als den strategisch wichtigsten Raum betrachtet und ihr fortan außenpolitisch Priorität zumessen werde. Im Indo-Pazifik sei auch Deutschlands Sicherheit gefährdet. Deshalb gelte es, die internationale Ordnung dort zu schützen. Deutschland will sich an dieser Aufgabe auch mit militärischen Fähigkeiten beteiligen. In seiner ersten Grundsatzrede Ende Juni 2021 betonte der Inspekteur der Marine, das mit der Entsendung der Fregatte Bayern begonnene Engagement in der Region künftig verstetigen zu wollen. Er wünsche sich eine Intensivierung der Kooperationen mit den großen Marinenationen in diesem Raum, selbst wenn dies nur mit einer Entlastung bei den Verpflichtungen zu bewerkstelligen sei, Einheiten und Fähigkeiten in den stehenden Nato-Einsatzverbänden bereitzustellen.
Zugleich zeichnet sich aber für die Allianz ein dynamisch eskalierender Konflikt mit Russland im Hohen Norden ab. Noch nie, seit dem Ende des Kalten Krieges, war das Verhältnis der Nato zu Moskau auf einem solchen Tiefpunkt. Für das Bündnis wäre ein geographischer Spagat, bei dem es dem arktisch-nordatlantischen und dem indo-pazifischen Raum die gleiche Aufmerksamkeit widmet, kaum leistbar. Die Expertengruppe des Reflexionsprozesses »Nato 2030« hat jüngst in ihrem Abschlussbericht die Zunahme militärischer und auch als aggressiv zu bewertender Aktivitäten Russlands im Hohen Norden dargelegt. Als Konsequenz daraus empfiehlt sie der Nato, den Pfeiler der militärischen Abschreckung und Verteidigung innerhalb des nordatlantischen und europäischen Raums zu stärken. Auch im Abschlusskommuniqué des Nato-Gipfeltreffens vom Juni 2021 wird die potentielle Bedrohung durch Russland außergewöhnlich deutlich betont. Die Regierungschefs der Bündnispartner thematisieren gleichzeitig aber auch das zunehmende Ausgreifen Chinas auf den nordatlantischen Raum und stellen ein stärkeres Engagement mit Partnern im Indo-Pazifik in Aussicht. Bereits in ihrem Weißbuch von 2016 hat die Bundesregierung den Horizont der deutschen Sicherheitspolitik als global definiert. Doch aufgrund der Risiken und Bedrohungen im nordatlantischen und osteuropäischen Raum legte sie den sicherheitspolitischen Schwerpunkt in den vergangenen Jahren auf die Stärkung der Fähigkeiten zur Landes- und Bündnisverteidigung. Eingedenk der begrenzten Ressourcen und der bestehenden Einsatzverpflichtungen seiner Streitkräfte ist auch für Deutschland ein Agieren in beiden geographischen und mehrheitlich maritim geprägten Zonen kaum zu realisieren. Hier bestünde die Gefahr, dass wesentliche Fähigkeiten überstrapaziert werden und durch Doppelungen mit Partnern und Alliierten an anderer Stelle offene »Flanken« entstehen.
Die Lage in der Arktis und im Nordatlantik
Seit der russischen Invasion Georgiens 2008, dem die völkerrechtswidrige Annexion der Krim 2014 und der seither andauernde Krieg in der Ukraine folgte, hat sich die sicherheitspolitische Lage in Europa und entlang des Nordatlantiks bis zur Arktis verändert. Russland nutzt derzeit ein breites Repertoire an verdeckten und offenen Mitteln zur Destabilisierung des Westens, das von militärischer Aufrüstung und bewusster Provokation über die Einmischung in die Politik und Wahlen der europäischen Länder bis hin zu konstanten Übergriffen im Cyber- und Informationsraum reicht und der Durchsetzung seiner Interessen in Europa und im Nordatlantik dient. Durch diese Akte befinden sich die Staaten des Westens bereits permanent in einem Konflikt, der jedoch von Seiten des Urhebers mit Bedacht oft nicht zuzuordnen ist und gegenwärtig noch unterhalb der Schwelle etwaiger physischer Gewalt bleibt. Moskaus Politik im Hohen Norden und in der Arktis ist unmittelbar mit seinen Interessen in Europa verknüpft. In geostrategischer Betrachtung stellt sich der europäische Kontinent aus russischer Perspektive als eine halbinselförmige Verlängerung der eurasischen Landmasse dar. Europa besitzt die überwiegend frei zugängliche Küstenlinie zum Atlantik, die der Russischen Föderation fehlt. Russlands Zugang zum Atlantik erfolgt über die Ostsee oder die Arktis. Dort hat Moskau beachtliche maritime und militärische Potentiale und Kräfte disloziert, die jedoch in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt sind. Aus russischer Sicht sind die Seeverbindungslinien, die im arktisch-nordatlantischen Raum verlaufen, nicht nur wesentlich zur Versorgung der eigenen Häfen. Sie gelten auch als potentielle Verkehrs- und Transportwege einer künftigen maritimen Seidenstraße. Im Rahmen der angestrebten Intensivierung der Kooperation zwischen der Eurasischen Wirtschaftsunion und der chinesischen Belt and Road Initiative (BRI) sieht Russland die Chance, sich geostrategisch aus einer Position am Rande Europas und Asiens in die Position einer handelspolitischen Drehscheibe im Zentrum Eurasiens zu wechseln und damit seine Rolle als weltpolitischer Akteur aufzuwerten. Geoökonomisch manifestieren sich diese Bestrebungen in den land- und seeseitigen Übergängen der Seidenstraße nach Zentraleuropa und in den russischen Öl‑ und Gaspipelines nach Europa. Strategisch gehört dieses Gebiet, Zentraleuropa, zur unmittelbaren Interessensphäre der russischen Außen- und Sicherheitspolitik. Es ist die Landmasse, die den Hohen Norden und die Ostsee mit dem Schwarzen Meer bzw. dem Mittelmeer verbindet. Moskaus Nordatlantik- und Arktispolitik ist – ökonomisch und sicherheitspolitisch – somit auch ein Mittel seiner Strategie für Europa.
Der arktisch-nordatlantische Raum aus deutscher Sicht
Deutschland ist kein arktischer Staat, doch aufgrund seiner Rolle in der internationalen Gemeinschaft und seiner Interessen ist es stark in »Arktisthemen« involviert. Geostrategisch hat Deutschland eine ganz besondere Lage: Als Teil des Ostseeraums liegt es an den Schnittstellen zum Hohen Norden – dem Atlantik und der Ostsee. Damit verknüpft sind elementare außenwirtschaftliche und sicherheitspolitische See- und Landverbindungwege, die entweder durch oder an Deutschland vorbeiführen. Die deutsche Öffentlichkeit betrachtet die Arktis und den angrenzenden subarktischen Raum zuvorderst aus ökologischem, ökonomischem und politischem Blickwinkel. Als Mitglied des Ostseerats, der EU und der Nato sowie als Beobachter im Arktischen Rat und im Barents Euro-Arctic Council hat die Bundesregierung zahlreiche Themen auf ihrer Agenda, die direkt oder indirekt die Arktis betreffen. Diese Themen und die damit verbundenen Interessen wurden in den Leitlinien deutscher Arktispolitik im August 2019 gebündelt dargelegt.
Der Bundesrepublik ist als mittelgroßer Macht in besonderem Maße an verlässlicher internationaler Sicherheit, kollektiver Krisenbewältigung und Krisenprävention gelegen. Deutschland ist eine kontinentale Mittelmacht und als außenhandels- und rohstoffabhängige Nation ein Teil der Halbinsel Europa, die auf freie Seewege angewiesen ist. All diese essentiellen Rahmenbedingungen werden durch die wachsende Konkurrenz der Großmächte USA, China und Russland in Frage gestellt, womit auch die Handlungsspielräume Deutschlands beschnitten werden. Es liegt daher im deutschen Interesse, gemäß den Leitlinien deutscher Arktispolitik den »bestehenden geopolitischen Spannungen in der Region zu begegnen und (Interessen-)Konflikten und potentiellen Krisen in der Arktis vorzubeugen«. Die Bundesregierung setzt sich dafür ein, die Arktis als konfliktarme Region zu erhalten, sie auf friedliche Weise zu nutzen und die Freiheit der Schifffahrt dort zu bewahren – schließlich erfolgt der deutsche Außenhandel wertmäßig zu fast 60 Prozent über die See.
Darüber hinaus ist es das Ziel deutscher Arktispolitik, dass bestehende internationale Verpflichtungen und Normen in der Region weiterhin beachtet werden. Zugleich erkennt die Bundesregierung die sich entwickelnde sicherheitspolitische Dynamik im Hohen Norden. Angesichts einer Rüstungs- und Eskalationsspirale, die dort möglicherweise entsteht, bekennt sie sich zu ihren Bündnisverpflichtungen. Deutschland und die Bundeswehr müssen ihre militärischen Fähigkeiten gemeinsam mit den nordeuropäischen Partnern verstärken und einen substantiell größeren Beitrag zur Wirksamkeit der europäischen Diplomatie und zur Verteidigungsfähigkeit des Bündnisses im subarktischen Raum leisten. Jedwede militärischen Aktivitäten in der Region sollen defensiver Natur sein. Gleichwohl soll die Bundeswehr die Möglichkeit haben, zum Ausdruck ihrer Bündnistreue und als Signal der Abschreckung an Manövern und Übungen in der Arktis oder im subarktischen Raum teilzunehmen. Was die Übungen und Manöver zu Land betrifft, ist vor allem auf die Teilnahme der durch Deutschland überwiegend gestellten und geführten Very-High-Readiness-Joint-Task-Force-Brigade (VJTF) an der Nato-Großübung Trident Juncture 2018 in Nord-Norwegen zu verweisen. Vereinzelt haben sich auch Soldaten des Seebataillons der Marine am arktischen Training mit niederländischen Marines beteiligt, in Vorbereitung der gemeinsam gestellten Amphibischen Task Group (ATG). Seeseitig ist die Deutsche Marine regelmäßig mit ihren Einheiten bei Übungen und Manövern im subarktischen Raum präsent. Ob als Bestandteil der stehenden maritimen Einsatzverbände der Nato, im Rahmen bilateraler Kooperationen insbesondere mit Norwegen oder bei Gelegenheit anderweitiger maritimer Übungen: Der subarktische Bereich des Nordatlantiks und der nördlichen Ostsee gehört zu den Standardseegebieten, in denen die Deutsche Marine operiert.
Aufgrund der Abhängigkeit Deutschlands vom freien Schiffsverkehr kommt der Bundeswehr beim Schutz der eigenen Küstengewässer und der angrenzenden Seegebiete sowie der internationalen Seeverbindungslinien »eine besondere Verantwortung« zu, wie es in der Konzeption der Bundeswehr heißt. Im Falle von Ostsee und Nordsee ist diese Verantwortung relativ klar. Aber der Nordflankenraum der Nato besteht nicht nur aus dem Seegebiet zwischen Dänemark und dem Baltikum, er erstreckt sich auch über das Europäische Nordmeer in den Hohen Norden. Deutschland und seinen europäischen Partnern ist es ebenso wie den USA ein wichtiges Anliegen, die Sicherheit und Resilienz der Länder in diesem Raum zu erhöhen. Hierzu bedarf es spezieller militärischer Fähigkeiten in den Seegebieten des Hohen Nordens über und unter Wasser sowie im Luftraum. Im Vordergrund stehen dabei unter anderem Seefernaufklärer (Maritime Patrol Aircraft, MPA), U‑Boote und U‑Jagdeinheiten, die auch einen wichtigen Beitrag zur Lagebilderstellung und zum Wissen um maritime Räume (Maritime Domain Awareness) leisten. Die USA sind größter Bereitsteller solcher Fähigkeiten in der Nato. Vor dem Hintergrund der chinesischen Machtpolitik im indo-pazifischen Raum sind sie jedoch zunehmend außerhalb Europas und seiner Peripherie gefordert. Viele der spezialisierten Fähigkeiten der US-Marine werden dementsprechend bevorzugt dort eingesetzt werden, wo sich eine Konfrontation mit China nicht mehr ausschließen lässt. In seinen Einlassungen zum US-Verteidigungshaushalt für das Jahr 2022 äußerte der Vorsitzende der Generalstabschefs General Mark A. Milley, dass die Arktis sehr wohl in Zukunft eine bedeutende geostrategische Rolle für die USA bekommen werde. Doch derzeit gebe es im Hinblick auf Fähigkeiten und deren Finanzierung andere Prioritäten. Die Eskalationsdynamik im Indo-Pazifik wird als drängender bewertet. Es liegt im deutschen Interesse, wenn sich die USA den dortigen sicherheitspolitischen Herausforderungen stellen. Damit verbindet Washington jedoch die Erwartung, dass die unmittelbaren Probleme für Europas Sicherheit – auch im Hohen Norden – von den Ländern des betroffenen Kontinents eigenständiger und glaubwürdiger angegangen werden. Dies setzt jenseits von Führungs- oder Koordinationsaufgaben eine Stärkung militärischer Fähigkeiten, das Schließen spezifischer Fähigkeitslücken und eine Steigerung der militärischen Bereitschaft voraus.
Folgen für die deutsche Politik
In beiden geographischen Räumen mehren sich die Anzeichen für eine zunehmende Kooperation Chinas und Russlands. Die Basis dafür ist eine Überschneidung bzw. Kompatibilität der grundlegenden Interessen und Ziele. Die westlichen Demokratien stehen vor dem Problem, dass sowohl in der Arktis als auch im Indo-Pazifik mit den systemischen Konflikten sicherheitspolitische Herausforderungen einhergehen. Deutschland ist außenwirtschaftspolitisch ein Global Player, außen- und sicherheitspolitisch jedoch eine Mittelmacht mit begrenzten Ressourcen und Fähigkeiten. Da sich Letzteres voraussichtlich nicht ändern dürfte und auch der deutsche Verteidigungsetat in den nächsten Jahren stagnieren oder sich reduzieren wird, ist abzusehen, dass die Bundeswehr als Instrument der Außen- und Sicherheitspolitik nicht gleichzeitig in diesen beiden maritimen und geopolitisch wichtigen Räumen eingesetzt werden kann.
Deutschland tut angesichts dieser Prämissen gut daran, sich mittelfristig mit seinen militärischen Fähigkeiten auf einen sicherheitspolitisch regional begrenzten Ansatz zu konzentrieren. Im indo-pazifischen Raum reichen die diplomatischen und außenwirtschaftlichen Instrumente aus, um die deutschen Partner in der Region des nachhaltigen Interesses der Bundesrepublik zu versichern. Im Nordatlantik und im Hohen Norden dagegen sollten das diplomatische Engagement intensiviert und gleichzeitig militärpolitische Maßnahmen, unter anderem im Rahmen der Nato, verstärkt werden, um diesen Raum zu stabilisieren.
Für Deutschland und Europa stellt Russland mit seinem Agieren derzeit die unmittelbarste und direkteste Bedrohung dar – sowohl hinsichtlich der Freiheit der Schifffahrt wie des Eskalationspotentials, das sich aus dem russischen Verhalten gegenüber nordischen Staaten und der anhaltenden Militarisierung des arktisch-nordatlantischen Raums ergibt. Diesen Bedrohungen können Europa und Deutschland gegenwärtig nicht allein entgegentreten. Auf absehbare Zeit bedarf es dazu weiterhin der Fähigkeiten und der Präsenz der amerikanischen Streitkräfte. Die USA richten den Schwerpunkt ihrer Aktivitäten jedoch zunehmend auf den Systemkonflikt mit China im Indo-Pazifik. Würde Deutschland im Nordatlantik mehr Verantwortung übernehmen und damit die Amerikaner dort entlasten, böte dies den USA notwendige Freiräume. Deutschland würde damit gleichzeitig einen wahrnehmbaren Beitrag leisten, der dazu dient, die Fähigkeiten zur Abschreckung und Verteidigung im Rahmen der Nato zu stärken und die Sicherheitslage im Hohen Norden zu stabilisieren.
Schwieriges Verhältnis zu Moskau. Deutsche Russlandpolitik muss weiter justiert werden
Die Beziehungen mit Russland werden auch für die nächste Bundesregierung eine der größten außenpolitischen Herausforderungen sein. Sie gehören zu den kontroversesten Themen innerhalb der EU, sind konstitutiv für die europäische Sicherheit, haben eine markante transatlantische Dimension und sind als Folge der zunehmenden Bedeutung Chinas für Russland eng mit der Frage der künftigen Weltordnung verknüpft. Deutschland braucht keine grundlegend neue Russlandpolitik, aber es muss die Realität der russischen Innen- und Außenpolitik noch stärker berücksichtigen.
Russische Realität
Drei Trends prägen die Entwicklung der russischen Politik:
1. Der russische Staat ist in den letzten zwei Jahrzehnten kontinuierlich autokratischer geworden. Die Autokratisierung des politischen Systems geht einher mit der zusehends expliziteren Ablehnung von liberaler Demokratie und Weltordnung. Beide gelten im offiziellen russischen Diskurs nur mehr als ideologischer Unterbau eines unilateralen westlichen Dominanzanspruchs. Diese Ansicht teilt auch Peking, was den politischen Schulterschluss Russlands und Chinas auf internationaler Bühne forciert.
2. Russland sieht sich als internationale Großmacht. Es erhebt den Anspruch, bei der Gestaltung regionaler Ordnungen (in seiner Nachbarschaft, im Nahen und Mittleren Osten) entscheidend mitzuwirken. Dieses Bestreben ist Ausfluss der Vorstellung von einer multipolaren Welt, in der Russland gleichauf mit Großmächten wie den USA und China agiert.
3. Russland nutzt die Schwachstellen westlicher Demokratien, um diese zu unterminieren. Darin sieht Moskau die Antwort auf westliche Einflussnahme in Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Weil chinesische und russische Ziele und Methoden einander ähneln, sollten westliche Demokratien diesen Trend auch im Kontext der sich verschärfenden globalen Systemkonkurrenz verstehen.
Zwischen diesen drei Trends gibt es eine enge Wechselwirkung. Die Autokratisierung im Innern steigert das Bedürfnis des russischen Staates, westliche Einflüsse abzuwehren und westliche Systeme zu unterminieren. Die geopolitische Konfrontation mit dem Westen wiederum dient auch der Legitimation im Innern. Alle drei Trends werden sich mit großer Wahrscheinlichkeit in den nächsten fünf bis zehn Jahren fortsetzen. Eine demokratische Transition Russlands erscheint hingegen unwahrscheinlich. Das politische System weist trotz wachsender Legitimitätsprobleme einen relativ hohen Grad an Stabilität auf. Auch die internationalen Rahmenbedingungen (zunehmender Einfluss Chinas, Schwächung westlicher Demokratien) dürften eher stützend als destabilisierend wirken und es Russland ermöglichen, an seinem Kurs festzuhalten.
Deutsche Russlandpolitik: teilweise an der Realität vorbei
Die beschriebenen Trends begrenzen den Handlungsspielraum für deutsche und EU-Politik. So ist deren Einfluss auf innenpolitische Entwicklungen in Russland zusehends geschrumpft. Die Konfrontation mit Moskau in der östlichen Nachbarschaft belastet das europäische Sicherheitssystem. Das politische und militärische Engagement Russlands im Nahen und Mittleren Osten wiederum steht in einem Zusammenhang mit Flucht und Migration nach Deutschland bzw. in die EU. In der globalen Systemkonkurrenz mit China (und Russland) hat Deutschland zwischen der Wahrnehmung wachsender Bedrohungen und seinen Handels- und Wirtschaftsinteressen noch keine klare Position gefunden.
Berlin hat seine Politik in den vergangenen Jahren den sich wandelnden Rahmenbedingungen in der Region angepasst und europäisch eingebettet. Den Staaten der östlichen Nachbarschaft misst die Bundesregierung heute mehr Bedeutung zu als noch in den 2000er Jahren. Es ist nicht zuletzt Deutschland zuzuschreiben, dass der EU-Konsens über die Sanktionen gegen Russland seit 2014 bestehen blieb. Angesichts des politischen Konflikts mit Moskau hat es Berlin außerdem zu einer Priorität gemacht, Kontakte in die russische Gesellschaft zu fördern.
Gleichzeitig lässt sich die deutsche Politik weiterhin von Grundannahmen leiten, die mit der Realität im Verhältnis zu Russland immer weniger in Einklang zu bringen sind. So ist nach wie vor die Überzeugung verbreitet, ökonomische Verflechtung könne perspektivisch Russlands wirtschaftliches und politisches System und dadurch auch seine Haltung zu Deutschland und zur EU positiv verändern. Ähnliches gilt für die Hoffnung, Moskau ließe sich durch Dialog zu konzilianteren Positionen bewegen. Beides entspricht seit Jahren nicht mehr dem Selbstverständnis von Russlands politischer Führung. Derartige Fehlannahmen finden sich auf unterschiedlichen Ebenen der deutschen Politik. Die Folge sind nationale Alleingänge besonders dort, wo wirtschaftliche Interessen im Spiel sind. Das prominenteste Beispiel ist die Pipeline Nord Stream 2. Einzelne Bundesländer und andere Akteure betreiben immer wieder »Nebenaußenpolitik« gegenüber Russland, zuletzt wiederholt, als es um die Beschaffung des russischen Corona-Impfstoffs Sputnik V ging. All dies führt zu Konflikten mit den europäischen Partnern wie auch mit Washington.
Neue Bundesregierung: (noch) mehr Realitätssinn erwünscht
Die nächste Bundesregierung sollte ihre Russlandpolitik verstärkt den realen Gegebenheiten anpassen und überkommene Grundannahmen revidieren. Auf globaler Ebene muss Berlin die Dynamik der russisch-chinesischen Beziehungen stärker in seine Kalkulation einbeziehen. Das Verhältnis zwischen beiden Staaten wird sich weiter vertiefen. Es wird auch, zuungunsten Russlands, asymmetrischer werden. Moskau wird sich dem jedoch kaum widersetzen – es sei denn, es käme zu einer Umorientierung der russischen Außenpolitik, die wiederum innenpolitische Veränderungen voraussetzen würde. Wahrscheinlicher ist, dass Moskau und Peking wie bisher dort den Schulterschluss üben werden, wo sie die Positionen der USA und anderer westlicher Akteure schwächen können. Der französische Präsident Emmanuel Macron startete 2019 eine an Moskau gerichtete diplomatische Initiative in dem Glauben, die EU könne Russland mit Gegenangeboten aus der Umarmung mit China herauslösen. Dies erwies sich schnell als Illusion: Die russische politische Führung traute Macron nicht zu, in der EU, vor allem aber gegenüber Deutschland die Führung zu übernehmen. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt auch kaum noch Interesse am Engagement mit der EU. Mit der Wahl von Joe Biden zum amerikanischen Präsidenten hat sich die Chance ergeben, die transatlantischen Beziehungen (auch) im Hinblick auf Russland/Osteuropa zu reaktivieren. Die nächste Bundesregierung sollte transatlantische Konsolidierung bei der Gestaltung des Beziehungsvierecks EU–USA–Russland–China zur obersten Priorität machen. Dafür hat sie vorerst nur bis zum Beginn des nächsten US-Präsidentschaftswahlkampfs Ende 2023 Zeit.
Deutschland muss mehr Verantwortung für europäische Sicherheit übernehmen. Das Verhältnis zu Russland ist in diesem Bereich äußerst angespannt. Moskau setzt in seiner erweiterten Nachbarschaft (inklusive Arktis und Naher/Mittlerer Osten) zunehmend auf militärische und hybride Mittel. Internationale Rüstungskontrollregime erodieren, das gegenseitige Vertrauen ist auf einem Tiefpunkt angelangt. In dieser Situation gilt es, im Rahmen von EU, Nato und OSZE die Verteidigungskapazitäten und die Resilienz westlicher Demokratien auszubauen. Dazu gehört auch, Finanzströme sowie politische und wirtschaftliche Verflechtungen daraufhin zu überprüfen, wo sie auf politische Prozesse in Deutschland und anderen EU-Mitgliedstaaten einwirken. Moskau wird Angebote, über Rüstungskontrolle, Konfliktprävention oder »de-conflicting« zu sprechen, erst dann ernst nehmen, wenn es mit einem konsolidierten und wehrhaften Gegenüber zu tun hat.
Berlin sollte auch seine Grundannahmen zur östlichen Nachbarschaft überprüfen. Die Region hat sich so weit ausdifferenziert, dass die 2009 geschaffene Östliche Partnerschaft der EU in zwei Teile zerfällt: die Assoziierungsprozesse auf der einen, die Beziehungen mit Armenien und Aserbaidschan auf der anderen Seite. Der belarussische Machthaber Lukaschenka hat die Teilnahme seines Landes an der Östlichen Partnerschaft ausgesetzt. Besonders viel Energie muss darauf verwendet werden, die Reformprozesse in den drei assoziierten Staaten Ukraine, Moldau und Georgien voranzubringen. Die Assoziierungsabkommen gibt es seit 2014, die Erfolgsbilanz ist gemischt. Alle drei Länder befinden sich in einem Teufelskreis aus internen Reformwiderständen, regionaler Instabilität und dürftigem EU-Angebot. Alle drei wollen nach wie vor der EU beitreten. Deutschland hat, gemeinsam mit einigen anderen Mitgliedstaaten, diese Option bislang negiert – und sicherlich ist die EU bis auf weiteres nicht zu neuen Erweiterungsprozessen in der Lage. Es ist aber in Deutschlands primärem Interesse, dass diese Staaten sich nachhaltig entwickeln und stabilisieren. Ihre Reformanstrengungen müssen deshalb zu einer prioritären Aufgabe gemacht und mit aller Kraft unterstützt werden. Entsprechende Schritte sind von großer Bedeutung für das Verhältnis der EU zu Russland, weil sie den Gestaltungsanspruch der EU in der Region festigen und zur Konsolidierung der Reformen in den assoziierten Staaten beitragen können. Gegenüber Belarus, Armenien und Aserbaidschan müssen Deutschland und die EU-Partner die vorhandenen engen Spielräume effizient nutzen.
Die deutschen Vorbehalte gegen eine intensivere sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit der Ukraine werden der traurigen Realität vor Ort nicht mehr gerecht. In den vergangenen zwei bis drei Jahren hat sich die Struktur des Konflikts im Donbas deutlich gewandelt. Mittlerweile haben weite Teile der Bevölkerung in den umstrittenen Territorien russische Pässe. Eine Offensive Moskaus »zum Schutz« dieser Neubürgerinnen und ‑bürger wird deshalb wahrscheinlicher. Der russische Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze im Frühjahr 2021 belegt die gefährliche Dynamik des Konflikts. Um die von Russland annektierte Krim und im Asowschen Meer wachsen die Spannungen ebenfalls. Stellt sich Berlin der Diskussion über mehr sicherheitspolitische Unterstützung für Kiew, lassen sich klare Bedingungen formulieren, unter denen eine solche Zusammenarbeit stattfinden könnte. Konfliktlösung muss wieder viel stärker in den Fokus deutscher Politik gegenüber der östlichen Nachbarschaft rücken.
Die neue Bundesregierung wäre gut beraten, die deutsche Suche nach immer neuen Anlässen für »selektives Engagement« mit Russland einzustellen. Alle Themen, die unter diese vierte der fünf Leitlinien für die Russlandpolitik der EU fallen, liegen seit langem auf dem Tisch. Ihre Anzahl ist begrenzt, was mit divergierenden Interessen zu tun hat, aber auch mit Moskaus schwindendem Willen, sich seinerseits zu engagieren. Die Absage an alle Angebote der EU, bei der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie zusammenzuarbeiten, ist dafür ein beredtes Beispiel. Gemeinsam mit den EU-Partnern sollte Deutschland die wenigen Themen identifizieren, bei denen kein Weg an Russland vorbeiführt bzw. die wegen überlappender Interessen auf Fortschritte hoffen lassen. Zur ersten Kategorie gehören regionale Krisen und Konflikte, besonders in der östlichen Nachbarschaft und im Nahen und Mittleren Osten, ebenso Rüstungskontrolle, Cybersicherheit und die Zukunft der Arktis. In der zweiten Kategorie ist die Auswahl sehr viel geringer. Derzeit bietet sich hier vor allem der Kampf gegen den Klimawandel an. Die Moskauer Klimapolitik verharrt zwar bislang hauptsächlich auf rhetorischer Ebene. Doch wird Russland als Öl- und Gasexporteur von der Umsetzung des europäischen Green Deal massiv betroffen sein, wodurch sich auch auf russischer Seite Ansatzpunkte für Kooperation ergeben.
Gesellschaftlicher Austausch muss Priorität der deutschen Russlandpolitik bleiben. Autokratisierung und Pandemie haben den Spielraum dafür drastisch schrumpfen lassen. Moskau geht nun auch vermehrt gegen deutsche Organisationen vor, weshalb die deutsche Seite des Petersburger Dialogs alle geplanten Aktivitäten bis auf weiteres suspendiert hat. Die neue Bundesregierung sollte prüfen, welche Funktion dieser Dialog unter den gegebenen Umständen für gesellschaftlichen Austausch mit Russland haben kann. Sie sollte sich außerdem auf europäischer Ebene für (notfalls unilaterale) Schritte einsetzen, die russischen Bürgerinnen und Bürgern die Einreise in die EU erleichtern.
Solche Veränderungen müssen sich auch in der institutionellen Aufhängung der deutschen Russland- und Osteuropapolitik niederschlagen. Das Amt des Koordinators bzw. der Koordinatorin für zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland, Zentralasien und den Ländern der Östlichen Partnerschaft ist nicht mehr zeitgemäß und sollte auf mehrere Schultern verteilt werden. Die neue Bundesregierung sollte einen Koordinator bzw. eine Koordinatorin für die Östliche Partnerschaft mit Schwerpunkt auf den assoziierten Ländern berufen und so deren Reformprozessen das Gewicht verleihen, das ihnen zusteht. Eine weitere Koordinatorin bzw. ein weiterer Koordinator sollte sich um die schrumpfenden Möglichkeiten zur Zusammenarbeit mit der russischen Zivilgesellschaft kümmern. Beide Positionen sollten Personen mit politischem Gewicht und ausgeprägter Regionalkenntnis anvertraut werden. Für die zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit mit den zentralasiatischen Staaten könnte ein weiterer Koordinator oder eine Sonderbotschafterin im Auswärtigen Amt ernannt werden.
Kosten und Nutzen der Neujustierung
All dies bedeutet nicht, dass Deutschland sich aus jeglicher Form des Engagements mit Moskau zurückziehen soll. Doch muss die nächste Bundesregierung ihr Handeln noch stärker an der politischen Realität in Russland ausrichten. Einer entsprechenden Abstimmung innerhalb der EU und im westlichen Bündnis kommt oberste Priorität zu. Dies war bislang nicht immer der Fall, wie das Beispiel Nord Stream 2 zeigt. Solche Projekte, die zwangsläufig eigene Dynamiken und Pfadabhängigkeiten entwickeln, müssen in Zukunft vermieden werden. Beschreitet Berlin diesen Weg, ist kurzfristig mit weiteren Spannungen im Verhältnis zu Moskau zu rechnen – nachdem die Beziehungen spätestens mit der Causa Nawalny im Jahr 2020 einen präzedenzlosen Tiefstand erreicht haben. Mittel- bis langfristig jedoch kann eine solche Vorgehensweise die EU und das transatlantische Verhältnis russlandpolitisch konsolidieren. Dies würde Deutschland und den EU-Partnern größere Verhandlungsmacht in den zahlreichen Disputen sichern, die es mit Moskau zu bestehen gilt. Und Russland stünden weniger Flanken offen, um die EU weiter zu schwächen.
Die Chinapolitik Deutschlands und Europas hat in der vergangenen Dekade einen Kurswechsel vollzogen. In einem gemeinsam am 19. März 2019 veröffentlichten Strategiepapier bezeichneten die EU-Kommission und die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik China nicht nur als strategischen Partner, sondern auch als Konkurrenten und systemischen Rivalen. Diese Vervielfältigung von Einordnungen hat jedoch nicht bewirkt, dass die europäische Politik gegenüber China seitdem weniger beliebig oder weniger widersprüchlich geworden wäre. Nach wie vor verfolgen die verschiedenen Akteure auf europäischer, nationaler und subnationaler Ebene ihre jeweils eigene Agenda und blenden die dabei entstehenden Nebeneffekte auf andere Politikbereiche aus.
In dieser ohnehin problematischen Konstellation sollte Deutschland den Eindruck vermeiden, es verhalte sich ambivalent. Eine Chinapolitik, die vorrangig die eigenen außenwirtschaftlichen Interessen bedient und versucht, das Land bei der Bewältigung globaler Probleme einzubinden, die aber die Gefahren hintanstellt, die von Chinas totalitärer Regierungsführung und expansiver Machtprojektion ausgehen: für die multilaterale liberale Ordnung, für Frieden und Stabilität im indo-pazifischen Raum, für die Selbstbehauptung Europas – eine solche Chinapolitik ist für das ökonomisch und politisch bedeutendste Land Europas nicht mehr verantwortbar.
Leitgebend sollte vielmehr die fundamentale Einsicht sein, dass die Verteidigung der regelgebundenen liberalen Ordnungsprinzipien, das Einstehen für Menschenrechte und die politische Selbstbehauptung Europas wichtigere und höherwertige Ziele sind als die ökonomischen Erträge, die sich im Austausch mit China erzielen lassen. Zudem ist Chinapolitik immer auch Europa- und Bündnispolitik. Wenn Brüssel, Paris oder Washington erwarten, dass Deutschland solidarisch eine klarere, notfalls auch konfrontativere Haltung gegenüber China an den Tag legt, ist diese Erwartung nicht gleichzusetzen mit der Einforderung eines wirtschaftlichen »Decoupling« oder dem Beginn eines neuen Kalten Krieges. Weiterhin ist konkret dafür zu sorgen, dass Europas Unternehmen, Konsumenten, Staatsbürger und Regierungsinstitutionen wirksam vor chinesischen Übergriffen geschützt werden; und derartige Maßnahmen sind nur im europäischen Kontext realistisch.
Einklang statt Dreiklang
Entgegen dem oberflächlichen Anschein stehen die Chancen für ein einheitliches Auftreten gegenüber China gar nicht so schlecht. Die bei den EU-Mitgliedstaaten anzutreffenden opportunistischen Verhaltensweisen sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Europas Hauptstädte zunehmend einig sind, wie China zu bewerten ist, nicht zuletzt unter dem Eindruck der unlängst zu beobachtenden aggressiven »Wolfsdiplomatie«, also dem Versuch Chinas, die Politik anderer durch massives Drohverhalten zu beeinflussen. Ungeachtet der zweifellos grandiosen Entwicklungserfolge des Landes und einer nach wie vor erkennbaren Heterogenität in der Staats- und Parteiführung zeigt Chinas Innen- und Außenpolitik, dass es sich um ein nach leninistischen Methoden geführtes Einparteienregime handelt, das den eigenen Machterhalt gegebenenfalls brutal und entschlossen durchsetzt und seinen weltpolitischen Aufstieg nach selbstfestgelegten Konditionen handhabt. Die EU-Staaten stimmen ferner in der Einschätzung überein, dass die westliche Politik der Einbindung Chinas gescheitert ist. Die Hoffnung, China werde sich im Zuge von Modernisierung und Wohlstandsbildung im Innern liberalisieren und nach außen friedlich und regelkonform verhalten, hat sich als Fehleinschätzung erwiesen.
Aus der konstatierten Einigkeit in der Bewertung sollte Geschlossenheit und Konsistenz im Handeln folgen. Dies kann nur gelingen, wenn die Europäer gemeinsam ihre Position bestimmen, idealerweise auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs der EU. Fundament dieser Positionierung können nur die europäischen Werte, Rechtsnormen und Ordnungsvorstellungen sein sowie die davon abgeleiteten Kerninteressen des Kontinents, das heißt konkret, eine regelgebundene internationale Ordnung aufrechtzuerhalten und Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und fairen Wettbewerb in Europa zu bewahren. Es geht darum, erstens den EU-Binnenmarkt und die damit verbundene Regulierungshoheit zu schützen, zweitens die politische Handlungsautonomie von EU und EU-Mitgliedstaaten zu gewährleisten, nicht zuletzt angesichts subversiver oder einschüchternder Maßnahmen Chinas, drittens Recht und Regelbindung auf internationaler Ebene zu verteidigen.
Grenzt sich Europa gegenüber China politisch ab und setzt die Einhaltung internationaler Regeln und die eigene Selbstbestimmung an erste Stelle, sollte dies der Außenpolitik, aber auch weiteren Akteuren aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft Orientierung geben und der Chinapolitik die erforderliche Konsistenz und Ganzheitlichkeit verleihen. Eine derartige Akzentuierung der Chinapolitik wäre handlungs- und entscheidungsleitend für die Einzelbereiche Diplomatie, Sicherheit, Handel, Wirtschaft, Technologie, Kultur und Menschenrechte; sie sollte ebenso für die Länder- und Kommunalebene maßgeblich sein. Dieser Gleichklang, der alle wesentlichen Politikfelder umfasst, lässt sich als neue »Ein China«-Politik1 beschreiben – ein Begriff, der Chinas Doktrin für die politische und territoriale Einheit von Volksrepublik und Taiwan entlehnt ist.
Das EU-Strategiepapier sollte durch eine solche neue »Ein China«-Politik ergänzt und konkretisiert werden. Dort werden – wie bereits erwähnt – die Beziehungen zwischen der EU und China mit den Attributen Partnerschaft, Konkurrenz und systemische Rivalität gekennzeichnet. Dies gibt zwar das bilaterale Verhältnis in einem eleganten Dreiklang wieder. Diese »Kompartmentalisierung« leistet jedoch der Illusion Vorschub, dass es in der Zusammenarbeit mit China möglich wäre, zwischen Wirtschaft und Politik, zwischen bequemen und unbequemen Bereichen zu trennen – in der Zusammenarbeit mit einem China, das den ökonomischen Austausch für seine politische und militärische Machtprojektion instrumentalisiert und das im In- und Ausland Regeln missachtet, wenn es geboten und nützlich erscheint.2 Das mit der Positionsbestimmung verbundene prioritäre politische Ziel, nämlich China dazu zu bringen, sich in der Zukunft an Regeln zu halten, bereitet dieser Illusion ein Ende.
Folgerichtig verpflichtet die »Ein China«-Politik dazu, auf die Verletzung internationaler Regeln in gebotener Weise zu reagieren, außerdem Korruptionsversuchen und Druckausübung durch China in Europa entschieden entgegenzutreten. Sie signalisiert China, was Europas Kerninteressen sind. Sie sollte aber nicht als ein Versuch missverstanden werden, sich im Sinne einer geopolitischen Parteinahme gegen den weltpolitischen Aufstieg Chinas zu stemmen oder gar einem Systemwechsel in dem Land den Weg zu ebnen. Anknüpfungspunkt der »Ein China«-Politik sind Chinas Regelverletzungen. Eine derartige Klarstellung ist aus zweierlei Gründen wichtig: Erstens macht sie die Chinapolitik anschlussfähig für die gesamte EU. Zweitens wirkt sie einer ungewollten Eskalation entgegen; schließlich sind beide Seiten daran interessiert, den Dialog und die Kooperation fortzusetzen, wobei die politischen Unterschiede gegenseitig anerkannt werden (müssen).
Auch China hat Interesse an einer gedeihlichen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Zusammenarbeit mit Deutschland und Europa. Im europäischen Interesse liegt es, den Einfluss der Gruppe der »Internationalisten« zu stärken sowie möglichst zu verhindern, dass sich die chinesische Politik (weiter) verhärtet. Die Senkung des globalen CO2-Ausstoßes, die Pandemiebekämpfung, die Nonproliferationspolitik, die Aufrechterhaltung von Sicherheit und Stabilität in kritischen Weltregionen sind nicht die einzigen Themen, bei denen China und der Westen konstruktiv zusammenarbeiten müssen und dazu auch in der Lage sind. Hier gilt es, positive Signale Chinas aufzunehmen und die Kooperation zu fördern.
Die »Ein China«-Politik macht die Politik Deutschlands und Europas gegenüber dem Land redlicher, rationaler und berechenbarer. Sie setzt der Ambivalenz ein Ende. Politik und Wirtschaft sollten sich aber auch der Konsequenzen einer »Ein China«-Politik bewusst sein – die Positionierung wird ihren Preis haben. China wird die Haltung Europas zunächst als antagonistisch, als »unbotmäßig« einstufen und ökonomisch oder politisch sanktionieren. Nachhaltige Schäden für deutsche Marktpositionen und mittelbar ebenfalls für Deutschlands politische Stellung gegenüber China sind nicht auszuschließen. Allerdings schadet sich China in einer arbeitsteiligen Weltwirtschaft durch Sanktionen und Boykotte immer auch selbst; daher ist die Solidarität innerhalb der EU so wichtig. Chinesische Strafmaßnahmen, wie beispielsweise gegenüber Schweden oder Tschechien, sollte die EU mit gemeinsamen Reaktionen beantworten. Dies wäre gleichzeitig ein geeignetes Signal an Peking, dass »Strafmaßnahmen« Konsequenzen nach sich ziehen. Anzustreben wäre, dass sich über die EU hinaus ein Kreis gleichgesinnter Staaten findet, der gemeinsam gegenüber China agiert und reagiert.
Eine defensiv ausgerichtete, wertegeleitete Außenwirtschaftspolitik
Im Fokus der deutschen und europäischen Außenwirtschaftspolitik gegenüber China standen bisher vor allem offensive Interessen. Dabei konnten hinsichtlich Marktzugang und Wettbewerbsbedingungen durchaus Erfolge erzielt werden, zuletzt im Rahmen des Umfassenden Investitionsabkommens (CAI). Von einer Angleichung an das westliche marktwirtschaftliche System ist China indes heute weiter entfernt denn je.
Dabei liegen die aus europäischer Sicht kritischen Probleme inzwischen ohnehin nicht mehr nur im chinesischen Inlandsmarkt, sondern in dem problematischen Verhalten vieler chinesischer Akteure auf den internationalen Märkten und in den davon ausgehenden Bedrohungen für den unternehmerischen Wettbewerb und die multilaterale Handelsordnung. Deshalb sollten Deutschland und die EU das Ziel eines diskriminierungsfreien Marktzugangs und fairer Wettbewerbsbedingungen in China zwar weiterverfolgen, ihre Außenwirtschaftspolitik aber in erster Linie defensiv ausrichten. Während Chinas Wirtschaft sich unbeeindruckt von westlicher Kritik in Richtung volkswirtschaftlicher Autonomie transformiert und zunehmend von Kadern der Kommunistischen Partei kontrolliert wird, sollte es aus europäischer Perspektive hauptsächlich darum gehen, die heimischen Unternehmen, Konsumenten und Steuerzahler vor chinesischen Praktiken und Übergriffen zu schützen, um den EU-Binnenmarkt und das europäische Wirtschafts- und Sozialmodell zu bewahren.
An eine defensive Außenwirtschaftspolitik wird eine Reihe von Forderungen3 gestellt. Verschiedene sinnvolle Maßnahmen wurden bereits umgesetzt oder eingeleitet, etwa das Investitions-Screening und das neue »anti-coercion instrument« der EU. Als Kompass für eine Außenwirtschaftspolitik, die China gegenüber defensiv ausgerichtet ist, taugen die Prinzipien der Reziprozität und Werteorientierung. So sollten beispielsweise chinesische Unternehmen unter den gleichen Bedingungen um öffentliche Aufträge in der EU konkurrieren, wie das umgekehrt von europäischen Unternehmen in China verlangt wird. Und wenn Waren und Leistungen aus China bezogen werden, ist sicherzustellen, dass bei ihrer Herstellung bzw. Erbringung auf Nachhaltigkeit geachtet wird und dass vor allem Menschenrechte eingehalten werden. Wichtig ist überdies, die Verwundbarkeiten in den Bereichen Import, Export, Investition und Technologie zu mindern.
Viele in China erfolgreiche deutsche Unternehmen werden nicht umhinkommen, ihre Abhängigkeit vom chinesischen Absatzmarkt und Fertigungsstandort zu reduzieren. Um dies zu erreichen, bietet der Indo-Pazifik-Raum lukrative Alternativen. Hier sollte eine offensive Handelspolitik aktiv darauf hinwirken, Marktbarrieren abzubauen.
Internationale Zusammenarbeit im Hinblick auf China stärken und ausbauen
Das Vorhaben, China auf die Regeln des Völkerrechts, des Multilateralismus und liberaler Ordnungspolitik zu verpflichten, wird Europa nicht alleine schultern können. Europas zentrale Partner für politische Abstimmung und Zusammenarbeit sind die USA, Großbritannien, Kanada sowie gleichgesinnte Staaten der Indo-Pazifik-Region. Die transatlantische Werte- und Sicherheitsgemeinschaft bildet ein gutes Fundament für politische und wirtschaftliche Kooperation in Bezug auf China, wenngleich Asien nicht Vertragsgebiet der Nato ist. Es gilt, den systemischen und ernsthaften Ansatz der Biden-Administration konstruktiv und kooperativ zu begleiten bzw. europäisch zu akzentuieren, zum Beispiel in den Bereichen Klima, Gesundheit und Infrastrukturentwicklung. Da der Systemwettbewerb mit China auf dem Gebiet der Technologie ausgetragen und entschieden wird, sollte die gemeinsame Exportkontrolle ausgeweitet, systematisiert und vor allem besser international koordiniert werden.
Darüber hinaus sollte der Westen die in internationaler Gerichtsbarkeit, Vereinten Nationen, Welthandelsorganisation (WTO) und Bretton-Woods-Institutionen verankerten Normen und Gepflogenheiten stärken und ausbauen. Werden Führungspositionen in internationalen Organisationen besetzt, darf Peking nicht das Feld überlassen werden, da China zunehmend versucht, internationale Organisationen zu instrumentalisieren, um die eigenen nationalen Werte und Interessen zu legitimieren.
Europas China-Strategie sollte die Drittländer in anderen Weltregionen berücksichtigen. Die Indo-Pazifik-Strategie der Bundesregierung bietet eine hervorragende Grundlage, um die politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den Ländern der Region zu intensivieren.4 Aber auch anderswo dürfte das hierbei verfolgte Ziel Strahlkraft besitzen, nämlich Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Resilienz zu stärken, so dass dem politischen und ökonomischen Druck Pekings besser widerstanden werden kann. Allerdings müssen den Worten auch Taten folgen. Über Handels- und Sektorabkommen, über Kooperationsangebote für den Aufbau einer nachhaltigen Infrastruktur können Deutschland und die EU Drittländern alternative Perspektiven eröffnen.
Die defätistische Einschätzung, dass das freiheitliche System, Demokratie und Marktwirtschaft im Wettbewerb mit Chinas autoritärem Staatskapitalismus nicht überleben könnten, ist fehl am Platze.
Den Worten Taten folgen lassen: Außenpolitik gegenüber Afrika und Lateinamerika
Denis M. Tull / Claudia Zilla
Afrika sowie Lateinamerika und die Karibik (LAK) haben eine ambivalente Position in der Außenpolitik Deutschlands und der EU. Beide gelten als politisch wie ökonomisch periphere Regionen, die das internationale System nur schwach prägen. Während die LAK-Staaten eine besonders aktive Phase (2000–2014) des regionalen und globalen Engagements bereits hinter sich gelassen haben, unternimmt Afrika seit einer Dekade verstärkte Anstrengungen, kollektive Handlungsfähigkeit aufzubauen und zu projizieren. Dieser Unterschied in den Ambitionen spiegelt sich teilweise im Relevanzverlust bzw. Relevanzgewinn der jeweiligen Regionen in der deutschen und europäischen Agenda wider. Davon abgesehen tun sich Berlin und Brüssel schwer damit, in den Beziehungen zu beiden Regionen Interessen und Ziele zu formulieren, die eine anhaltend große politische Aufmerksamkeit rechtfertigen würden.
Dennoch beschwören deutsche und europäische Entscheidungsträger und ‑trägerinnen – begleitet von einer Vielzahl an Initiativen – seit Jahren die Notwendigkeit einer vertieften Zusammenarbeit oder gar »strategischer Partnerschaften« mit den »natürlichen Verbündeten« (LAK) bzw. dem »Nachbarkontinent« (Afrika). Doch schon die immer wieder bemühte rhetorische Figur der »Partnerschaft auf Augenhöhe« lässt erahnen, wie asymmetrisch das Verhältnis zu den beiden Regionen derzeit ist.
Indes manifestieren sich globale Machtverschiebungen in Afrika und LAK. Nichtwestliche Staaten sind zu wichtigen Partnern beider Regionen bei Handel, Infrastrukturprojekten, Krediten und Investitionen geworden. Im Zuge der Pandemie erweiterte China seine mittlerweile starke Rolle in LAK als Handelspartner (zum Beispiel entfallen 33,9 Prozent des chilenischen, 16,1 Prozent des brasilianischen und 14,3 Prozent des argentinischen Gesamthandels auf China)1 und Gläubiger (im Zeitraum 2005–2019 vergab China Infrastrukturkredite in Wert von 25 Milliarden US-Dollar)2 um eine entwicklungspolitische Komponente: Seit Beginn der Corona-Krise spendete die Volksrepublik Güter für den sanitären und medizinischen Bedarf im Wert von 215 Millionen US-Dollar.3 In Afrika sind die Umrisse eines »neuen Wettlaufs« um die Verfolgung strategischer Interessen zwischen ambitionierten Kleinstaaten (zum Beispiel Vereinigte Arabische Emirate), aufstrebenden Mittelmächten (unter anderem Türkei) und globalen Großmächten (China, Russland) erkennbar. Derzeit sind 39 afrikanische und 13 LAK-Staaten Teil von Pekings »Neuer Seidenstraßeninitiative« (Belt and Road Initiative, BRI).
Der Aufstieg Chinas und generell der zunehmende Akteurspluralismus geht für beide Regionen zunächst mit einer substantiellen Erweiterung ihrer außenpolitischen Handlungsoptionen einher. Die Relevanz und Attraktivität traditioneller Partner und einiger ihrer üblichen Instrumente verblasst. So fiel etwa der Anteil von Geldern für Entwicklungszusammenarbeit (EZ) am Zufluss externer Finanzströme nach Afrika von 60 Prozent im Jahr 1990 auf 29 Prozent im Jahr 2018 (LAK: 3,2 Prozent).4 Die Vorstellung, Deutschland und die EU verlören in der Folge überall und unaufhaltsam an Boden, ist allerdings ein Zerrbild. Berlin und Brüssel haben es selbst in der Hand, ihren Einfluss zu wahren. Fraglich ist indes, mit welchen Mitteln dies passieren soll. Es wäre ein Trugschluss zu glauben, Europa könne mit BRI-ähnlichen Programmen und Krediten bzw. mit »Hard Power« in Konkurrenz zu China treten. Abgesehen von den Ressourcen fehlen der EU und ihren Mitgliedstaaten schlicht die Instrumente und der Rückhalt ihrer Gesellschaften, um ähnlich umfassend, schnell und riskant zu agieren wie Chinas (para‑)staatliche Organisationen.
Einfluss und Glaubwürdigkeit sind im Übrigen nicht alleine abhängig von wirtschaftlicher Potenz und harten Machtwährungen. Kein anderer Akteur neben Europa verfügt annähernd über eine vergleichbare, historisch bedingte Tiefe und Dichte der Beziehungen zu Afrika und LAK. Diese »Soft-Power«-Faktoren stellen einen komparativen Vorteil dar, der jedoch zunehmend brüchiger zu werden droht. Dies liegt nicht nur am Aktivismus internationaler Konkurrenten. Widersprüche zwischen einer Rhetorik der Partnerschaft und dem effektiven Handeln im Kontext bilateraler, biregionaler und globaler Herausforderungen und außenpolitische Inkonsistenzen haben das Vertrauen vieler Staaten des Globalen Südens in deutsche und europäische Beiträge zum Multilateralismus und einer gerechteren globalen Ordnung erschüttert. Mit besonderer Brisanz macht sich dieses Problem in zwei Politikfeldern bemerkbar: der Migrationspolitik und dem Umgang mit den Covid-19-Impfstoffen.
Migrationspolitik in Afrika
Kaum ein Thema hat die europäisch-afrikanischen Beziehungen mehr belastet als das der Migration. Seit 2015 hat die EU die von Afrika ausgehenden Wanderungsbewegungen als die zentrale Herausforderung im Umgang mit dem Kontinent charakterisiert. Die Eindämmung dieser Migration wurde zu einem »integralen Bestandteil« der deutschen und europäischen Afrikapolitik, zu einem Ziel, dem wie im Fall der Entwicklungspolitik ganze Politikfelder weitgehend untergeordnet wurden.5 Bausteine dieser Politik waren die Verlagerung der europäischen Außengrenzen nach Nordafrika und in den Sahel und eine forcierte Praxis der Rückführung illegaler Migranten und Migrantinnen in die afrikanischen Herkunftsländer. Mit Blick auf den Interessengegensatz zwischen Afrika und der EU versuchte Letztere, die Asymmetrie der Beziehungen für ihre migrationspolitischen Intentionen nutzbar zu machen.6 Das heißt, dass die EU, um die rhetorisch verbrämte »gemeinsame Herausforderung« Migration zu bewältigen, zur »Erzeugung und Nutzung der [dafür] erforderlichen Hebelwirkung« alle ihr zur Verfügung stehenden »einschlägigen […] Maßnahmen, Instrumente und Hilfsmittel« einzusetzen bereit war, darunter entwicklungspolitische Konditionalitäten, Marktzugänge und Visarestriktionen.7 De facto wurde die »Kooperation« mit Afrika zu einer Frage der Einhaltung europäisch definierter Zielvorgaben, die über negative oder positive Anreize (EZ-Hilfspakete) sichergestellt werden sollte. Afrikanische Präferenzen wie mehr Möglichkeiten regulärer Mobilität und Migration nach Europa und mehr intraregionale Freizügigkeit in Westafrika (die durch die Unterstützung der EU für die Stärkung grenzpolizeilicher Kontrollen in der Region beschnitten wird), wurden kaum berücksichtigt.
Es ist wenig überraschend, dass diese Politik nur begrenzt und vermutlich nur kurzfristig erfolgreich ist, wurde sie doch mit der Erwartung an die afrikanischen Regierungen verknüpft, eine Politik gegen die Freizügigkeit der eigenen Gesellschaft ins Werk zu setzen und damit ihre eigene Macht zu gefährden. Die EU hat ihre Teilerfolge teuer erkauft. Die Fokussierung auf Migrationsabwehr und die Unterordnung anderer Ziele hat ihre politische Glaubwürdigkeit nicht nur in den betroffenen Politikbereichen, sondern insgesamt geschwächt.8
Bei der Gestaltung der Migrationspolitik wird die Perpetuierung der asymmetrischen Machtbeziehungen deutlich, von denen die EU stets behauptet, sie überwinden zu wollen. Kurz- und mittelfristig wachsen durch das Vorgehen der Union aus Sicht eines zunehmend selbstbewussten Kontinents die Zweifel an der Eignung Europas als Partner. Langfristig unterhöhlt die Migrationspolitik auch den Einfluss der EU, der bislang über dichte politische und gesellschaftliche Netzwerke, über Werte, Normen und Expertise gewonnen und gefestigt wird.
LAK im Kontext der Covid‑19‑Impfstoffpolitik
LAK ist die von der Pandemie am stärksten betroffene Region der Welt. Mit nur rund acht Prozent der Weltbevölkerung entfallen auf sie (Stand: 13. Juli 2021) rund 21 Prozent der Covid-19-Infektionsfälle und 32 Prozent der Todesfälle weltweit9 – und eine Eindämmung des Coronavirus auf dem Subkontinent ist noch nicht in Sicht. In dieser Notlage bemühen sich die LAK-Regierungen um den Zugang zu Impfstoffen aus aller Welt, durch die Beteiligung an COVAX, der Initiative der Weltgesundheitsorganisation (WHO), und durch Verhandlungen mit den Herstellern. Doch auf multilateralem wie bilateralem Wege geht es extrem langsam voran: Nur 15 Prozent der lateinamerikanischen Bevölkerung haben bisher einen vollen Impfschutz erhalten.10 Pharmaunternehmen priorisieren zahlungskräftige Staaten bei Verträgen über große Lieferungen; über den COVAX-Mechanismus gingen an LAK bisher lediglich etwas mehr als die Hälfte der Impfdosen, die bis Ende Juni 2021 in Aussicht gestellt worden waren. Zwar sind die Menschen im Globalen Süden stark auf die chinesischen (Sinovac, Sinopharm, CanSino), russischen (Sputnik V) und indischen (Covishield) »Impfstoffe zweiter Klasse« angewiesen, doch offizielle Stimmen in Deutschland und Europa prangern diese Handelsbeziehung als »Impfstoff-Diplomatie« Chinas und Russlands an.
Die EU-Mitgliedstaaten haben sich auf eine gemeinsame Impfstoffstrategie geeinigt. Auf deren Grundlage hat die EU doppelt so viele Impfdosen bestellt, wie sie für den vollständigen Impfschutz ihrer Bevölkerung benötigt. Deutschland und die EU beteiligen sich zudem am COVAX-Mechanismus, der aufgrund einer anfänglichen Unterfinanzierung und der schwachen Verhandlungsmacht gegenüber den Impfstoffherstellern von einer globalen Umverteilungsinitiative zu einem bescheidenen Hilfsprogramm geschrumpft ist. Die COVAX-Initiative ist mittlerweile auf jene Impfstoffe angewiesen, die sich reiche Staaten vorher für die eigene Bevölkerung oder für gesundheitsdiplomatische Zwecke gesichert hatten und die nun teilweise zur Verfügung stellen. Anstatt die Entwicklung und Produktion von Vakzinen im Globalen Süden zu fördern, liefert COVAX in erster Linie Impfstoffe aus der westlichen Welt (erst im Juni 2021 wurde der erste chinesische Impfstoff genehmigt). Im Februar 2021 listete die WHO zwei Versionen von Oxford-AstraZeneca-Impfstoffen aus der Republik Korea und Indien für den Noteinfalleinsatz und verteilte sie über COVAX. Doch die Impfung mit diesen Covid-19-Vakzinen wird von einigen Mitgliedstaaten der EU, die COVAX finanziell unterstützt, bei der Einreise nicht als Impfschutz anerkannt. Gleiches gilt in der ganzen EU für jene Vakzine, die nicht aus europäischer, britischer oder US-Entwicklung stammen.11 Während einige Gesundheitsfachleute darauf verweisen, dass nur eine freie bzw. Zwangslizenzierung und der Technologietransfer zur Impfstoffherstellung in ärmeren Ländern einen fairen globalen Impfstoffzugang sichern können, lehnt die Bundesregierung – im Einklang mit den Pharmaunternehmen – eine Patentfreigabe ab. Auch dies wird in LAK und Afrika aufmerksam zur Kenntnis genommen.
Politikwandel und Vertrauensbildung
Die Migrations- und die Covid-19-Impfpolitik stehen hier exemplarisch für globale Phänomene, von deren negativen Aspekten Afrika und LAK besonders betroffen sind. Strukturelle Disparitäten im Weltsystem führen dazu, dass die Verwundbarkeit durch internationale Herausforderungen und die nötige Resilienz ungleich über Staaten und Regionen hinweg verteilt sind. Deutschland und die EU verpassen auf diesen Politikfeldern die Chance, nicht nur zu einer nachhaltigen Problembewältigung beizutragen, sondern auch die Rhetorik von der »Partnerschaft auf Augenhöhe« mit Afrika und LAK mit Leben zu füllen.
Abgesehen von ihrer begrenzten Wirksamkeit resultieren aus Europas Migrationspolitik gegenüber Afrika zahlreiche Zielkonflikte. Kurzfristige politische Ziele konterkarieren langfristige europäische Interessen und die Kohärenz in und zwischen Politikfeldern. Im Sinne sowohl der Effektivität der Migrationspolitik als auch der eigenen Glaubwürdigkeit sollte die EU ihren Instrumentenkasten um positive Anreize wie Mobilitätspartnerschaften für Arbeit und Bildung erweitern. Darin könnten afrikanische Regierungen die Bereitschaft zu Kompromissen und Gegenangeboten erkennen, was es ihnen leichter machen würde, gegenüber der eigenen Bevölkerung für die innenpolitisch kontroverse Zusammenarbeit mit Europa zu werben.
Am Beispiel der Migrationspolitik wird auch deutlich, dass die EU immer weniger in der Lage ist, wirtschaftliche Asymmetrien und Geberdominanz in Macht zu übersetzen, denn Druck führt allenfalls partiell zu Kooperation. In Afrika sollte sich Europa nicht der »Sprache der Macht« (Ursula von der Leyen) bedienen, sondern stattdessen versuchen, seine noch existierenden komparativen Vorteile an »Soft Power« zu nutzen, indem es seine Rhetorik der Partnerschaft mit konkreten Angeboten bei Themen untermauert, die für Afrika zentrale Anliegen sind. Dazu zählt die Unterstützung der Afrikanischen Freihandelszone. Auf globaler Ebene gilt es, im Dialog mit afrikanischen Akteuren gemeinsame Interessen bei der Umgestaltung multilateraler Institutionen (unter anderem UN-Sicherheitsrat, internationale Finanzinstitutionen) zu identifizieren. Denn deren Legitimität wird künftig auch davon abhängen, dass Afrika nicht länger nur Objekt, sondern auch Subjekt internationaler Politik ist.
Gegenüber den Staaten des lateinamerikanischen und karibischen Raums setzt partnerschaftliches Verhalten in erster Linie voraus, dass Deutschland und die EU die Widersprüche und Inkonsistenzen anerkennen, die die eigene Politik dort immer weniger attraktiv und glaubwürdig erscheinen lassen – zuletzt im Kontext der Corona-Pandemie. Sie sollten sich bilateral zusammen mit LAK sowie global für den nachhaltigen Abbau der Asymmetrien einsetzen. In der globalen Impfstoffpolitik hieße dies konkret, zunächst die Blockadehaltung gegen eine Patentfreigabe bei Vakzinen aufzugeben. Darüber hinaus sollten Deutschland und die EU den Aufbau von Kapazitäten für die Impfstoffherstellung in der Entwicklungswelt und von überregionalen Produktionsnetzwerken (wie von AstraZeneca unternommen) fördern. Im Hinblick auf die Impfstoffverteilung ist es notwendig, die COVAX-Initiative zu stärken, zum einen finanziell und zum anderen dadurch, dass von bilateralen Verträgen mit den Impfstoffherstellern und gesonderten Lieferungen von Impfdosen an bestimmte Regionen (etwa der EU an den Westbalkan) abgesehen wird. Im Einklang mit dieser Leitlinie sollten keine Auffrischungsdosen gekauft werden, solange weite Teile der Weltbevölkerung noch nicht geimpft sind. Im Sinne der Impfstoffvielfalt empfiehlt es sich, dass sich Deutschland und die EU der Anerkennung von Vakzinen aus dem Globalen Süden öffnen und Menschen mit einem solchen Impfschutz die Einreise erlauben. Schließlich sollte die karitative Rhetorik der »Spende« aufgegeben und das Narrativ von Impfstoffen als »globalen öffentlichen Gütern« durch einen substantiellen Politikwandel flankiert werden.
Identitätsbezogener Wandel
Multilateralismus und Partnerschaft in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik
Hanns W. Maull
Die deutsche Außenpolitik setzt konsequent auf Multilateralismus und bezieht daraus wesentlich ihre Identität. Das ist historisch folgerichtig und für eine Mittelmacht wie Deutschland politisch unumgänglich. Aber es gibt nicht »den« Multilateralismus: Jedes der vielfältigen Formate und jeder der zahlreichen Kontexte multilateraler Diplomatie sind in politische Ordnungszusammenhänge eingebettet, auf deren normativen Grundlagen nationale und internationale politische Ordnungen beruhen. Die Herausforderung für die deutsche Außenpolitik besteht deshalb darin, bestimmte, nämlich liberaldemokratische Formen des Multilateralismus voranzutreiben und autoritär oder gar neototalitär begründete Alternativen einzudämmen. Dies kann nur gelingen, wenn dieser normativ grundierte Multilateralismus der deutschen Außenpolitik international einflussreich bleibt oder wird. Voraussetzung hierfür sind durchschlagskräftige Koalitionen von Staaten, die sich gegenseitig mit tragfähigen Partnerschaften unterstützen und dies stärker als bislang üblich als wichtigen Aspekt ihrer außenpolitischen Identität sehen. Dieser normativ gut verankerte Multilateralismus »aus einem Guss« muss konzentrisch, ganzheitlich und strategisch angelegt und umgesetzt werden. Dazu ist es unerlässlich, ihn innenpolitisch und gesellschaftlich neu zu konzipieren und zu begründen.
Multilateralismus
Nicht nur Deutschland, auch viele andere Staaten erheben den Anspruch, eine multilaterale Außenpolitik zu betreiben, allen voran China. Nachdem Donald Trump als Präsident ins Weiße Haus eingezogen war und begonnen hatte, seine Politik am Prinzip »America first« auszurichten, präsentierte der chinesische Staatspräsident Xi Jinping China als Garanten einer offenen multilateralen Weltordnung. Damit verbindet die chinesische Außenpolitik allerdings andere Vorstellungen als die deutsche. Die Prinzipien und Normen der auf dem Regelwerk der Vereinten Nationen (UN) beruhenden internationalen Ordnung interpretiert die chinesische Führung in ihrem ganz eigenen Sinne. Sie vergrößert, wo sie kann, ihren personellen und inhaltlichen Einfluss in den bestehenden Organisationen und baut daneben neue, eigene multilaterale Strukturen auf, die sowohl bereits existierende Institutionen ergänzen als auch Alternativen dazu bieten. All das illustriert, wie weit die Vorstellungen darüber auseinandergehen, was unter Multilateralismus zu verstehen und wie er zu praktizieren sei. Dies kann nicht überraschen: Multilaterale Diplomatie ist zunächst einmal schlicht ein Instrument, um nationale Ziele und Interessen durchzusetzen. In diesen wiederum spiegeln sich die normativen Grundlagen, auf deren Basis Entscheidungsträger handeln.
Wenn also von Multilateralismus gesprochen wird, muss stets geklärt werden, was damit gemeint ist. Zwei Aspekte sind dabei besonders relevant, nämlich zum einen die unterschiedlichen Prinzipien und Werte, die mit dem Begriff des Multilateralismus verbunden werden, zum anderen die Formate, in denen er sich vollzieht. Während die spezifische Ausgestaltung des Multilateralismus in der Regel historischen und pragmatischen, also sachbezogenen Überlegungen folgt, sind die unterschiedlichen Wertekonstellationen, die in die Praxis multilateraler Außenpolitiken einfließen, von grundsätzlicher Bedeutung. Denn in den Prinzipien und Normen, denen sich Regierungen verpflichtet fühlen, manifestieren sich ihre jeweiligen außenpolitischen Identitäten wie auch (im doppelten Sinne des Begriffs) die innenpolitische Verfassung der Akteure. In ihrem Weißbuch1 bekennt sich die Bundesregierung zu einem »wertebasierten Multilateralismus«. Damit meint sie die liberaldemokratischen Prinzipien und Normen sowie die proeuropäische Orientierung gemäß den Vorgaben des Grundgesetzes.
Die geopolitischen Machtverschiebungen im Verlauf der letzten beiden Jahrzehnte sowie das Aufkommen rechtspopulistischer Kräfte in den westlichen Demokratien haben die Auseinandersetzungen um den Multilateralismus in den vergangenen Jahren befeuert. Deshalb beschränkt sich der Fundus an Gemeinsamkeiten inzwischen weitgehend auf die (wie gezeigt auslegungsfähige) Charta und die Institutionen der Vereinten Nationen. Das ist besser als nichts, aber die fortschreitende Lähmung des Sicherheitsrats durch die Vetomächte zeigt doch, dass diese Gemeinsamkeiten in der internationalen Zusammenarbeit wenig belastbar sind.
Tragfähige Partnerschaft
Auch der Begriff Partnerschaft, den besonders die chinesische Außenpolitik kultiviert, impliziert Kooperation auf der Basis von Gemeinsamkeiten. Insofern verstellt er tendenziell den Blick auf mögliche antagonistische Aspekte in den internationalen Beziehungen. Es stellt sich daher auch in diesem Zusammenhang die Frage nicht nur nach den Interessensdefinitionen der Partner, sondern auch nach den Wertegrundlagen, die diese prägen. Denn die Definition der nationalen Interessen eines Landes wird wesentlich durch die Prinzipien und Werte bestimmt, welche die Entscheidungsträger vertreten. Partnerschaften können ebenfalls höchst unterschiedlich ausgeprägt sein, je nach den Beteiligten und den spezifischen Problemzusammenhängen.
Eine weitere wichtige Frage bei partnerschaftlicher Zusammenarbeit lautet, auf welche Weise sowohl Kosten als auch mögliche Gewinne des Zusammenwirkens zwischen den Partnern aufgeteilt werden sollen. Diese Frage ist insofern heikel, als kollektives Handeln die Chance (für den Einzelnen) wie das Problem (für das Kollektiv) des Trittbrettfahrens impliziert. Anders ausgedrückt: Partnerschaft wie Multilateralismus erfordern, dass die Beteiligten bereit sind, ihre Ressourcen einzubringen und sich selbst so anzupassen oder zu verändern, dass die angestrebten Ziele erreicht werden können. Deutschland benötigt von seinen Partnern diese Bereitschaft, um seine Ziele zu verwirklichen und seine Interessen durchzusetzen. Dasselbe erwarten seine Partner auch von Deutschland.
Deutschlands wichtigste Partner sind gegenwärtig Frankreich und die USA sowie die anderen Mitgliedstaaten der beiden herausragenden multilateralen Kontexte der deutschen Außenpolitik: der Europäischen Union und der Nato. In anderer Weise und auf der Grundlage fundamental unterschiedlicher Prinzipien und Werte sind aber auch Russland und China als bedeutende Partner für Deutschland zu betrachten.2 Effektivität und Legitimität von Partnerschaften und Multilateralismus hängen nicht unwesentlich davon ab, ob und in welchem Maße es gelingt, für die gemeinsamen Anliegen innenpolitische Unterstützung zu finden und durch innere Anpassungen Ressourcen zu mobilisieren. Ein Beispiel dafür wäre die Aufstockung nationaler Verteidigungshaushalte, um die innerhalb der Nato eingegangenen Verpflichtungen zu erfüllen. Dies gilt für Deutschlands Partner, aber auch für Deutschland selbst.
Gewiss wird es bei der partnerschaftlichen Zusammenarbeit im Multilateralismus auch vorkommen, dass manche Ergebnisse relativ leicht zu erreichen sind. Das kann zum einen dann der Fall sein, wenn Resultate sich mit eher geringem Aufwand an Ressourcen und internen Veränderungen erzielen lassen, zum anderen, wenn die Kosten weiteren an der Zusammenarbeit Beteiligten aufgebürdet werden können. Vieles spricht allerdings dafür, dass nicht zuletzt aufgrund ökologischer Grenzen des Wachstums sich die Möglichkeiten zusehends erschöpft haben, nationale Anpassungslasten in das internationale Umfeld und damit in die internationalen Beziehungen zu verlagern. Es scheint eher, dass um der Zukunft willen gewissermaßen eine Schubumkehr erforderlich ist, nämlich von der Externalisierung zur Internalisierung von Anpassungsleistungen.
Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen
Deutschlands Zukunft hängt entscheidend davon ab, wie sich die europäische und die internationale Politik in den kommenden Jahren entwickeln werden. Um die internationale Ordnung im Sinne seiner Prinzipien, Werte und Interessen beeinflussen zu können, braucht Deutschland einen normativ fest verankerten, wirkungsmächtigen Multilateralismus und dazu tragfähige Partnerschaften. Eine Voraussetzung hierfür ist das gesellschaftliche Bewusstsein, dass zwischen Außenpolitik und den eigenen Zukunftsperspektiven ein enger Zusammenhang besteht. Eine andere Bedingung ist die kollektive Bereitschaft, für einen solchen Multilateralismus größere Anstrengungen zu unternehmen und mehr Ressourcen zu investieren.
1. Die internationalen Auseinandersetzungen um die Frage, welche Prinzipien, Werte und Regeln den Multilateralismus in Zukunft leiten sollen, werden sich in den kommenden Jahren weiter intensivieren. Protagonisten dabei sind China und Russland auf der einen Seite, die USA bzw. die EU und ihre Verbündeten auf der anderen. Es geht bei diesem Tauziehen nicht nur um die künftige Gestalt der internationalen Ordnung, sondern auch um die Zukunft der liberalen Demokratie als politisches Ordnungsmodell. Das Tauziehen hat bereits begonnen und wird über die gesamte kommende Legislaturperiode hinweg andauern. Perspektivisch weist es aber weit darüber hinaus.
2. Multilateralismus vollzieht sich in vielen unterschiedlichen Konstellationen. Die Sachfragen, die dabei jeweils zu bearbeiten sind, überschneiden und beeinflussen sich häufig gegenseitig – etwa beim Zusammenhang zwischen Handels- und Klimapolitik. Zudem geht es bei den Entscheidungen in den jeweiligen Kontexten häufig keineswegs nur um Sachfragen, sondern auch um die dahinter stehenden Prinzipien und Werte. Multilaterale Außenpolitik kann deshalb nicht nur »kompartmentalisiert«, also allein auf die jeweiligen Sachfragen orientiert betrieben werden, auch wenn dies bis zu einem gewissen Grad unvermeidlich ist.
3. Die bisherige Praxis des deutschen Multilateralismus begünstigte Tendenzen der »Versäulung«, bei der die Querbezüge zwischen den einzelnen Politikfeldern aus dem Blick geraten. Daher sollte die neue Bundesregierung den Multilateralismus-Strang der deutschen Außenpolitik auf der Grundlage einer strategischen Gesamtkonzeption konzentrisch und ganzheitlich umsetzen.
4. Die außenpolitischen Koordinierungsmechanismen sollten dementsprechend auf exekutiver und parlamentarischer Ebene fortentwickelt werden. Dazu sollten die strategischen Orientierungen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, zum Beispiel in Form eines Weißbuchs, explizit ausformuliert werden und in regelmäßigen Abständen Gegenstand parlamentarischer Diskussionen sein. Zudem sollte der Bundessicherheitsrat in diesem Sinne aufgewertet und ausgebaut werden.
5. Den Kern des konzentrischen Multilateralismus bildet seine normative Grundausrichtung an liberaldemokratischen Prinzipien und Werten. Institutionell repräsentiert werden diese durch die Europäische Union, die transatlantischen Beziehungen und die Beziehungen zu anderen liberalen Demokratien. Auch gehört es in diesen Kernbereich, die genannten Prinzipien und Werte innerhalb der Vereinten Nationen zu wahren und weiterzuentwickeln. Hier ist das oben beobachtete Tauziehen um die zukünftige Ausrichtung der UN bereits in vollem Gange. Der zweite Kreis des konzentrischen Multilateralismus besteht darin, multilaterales Handeln in den unterschiedlichen Formaten systematisch abzugleichen und zu koordinieren. Der dritte betrifft die einzelnen Sachbereiche und ihre jeweiligen multilateralen Kontexte selbst.
6. Multilaterale Außenpolitik ist innenpolitisch voraussetzungsreich und anspruchsvoll. Gefragt ist dabei zum einen politische Unterstützung für eine angemessene materielle Ausstattung der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Zum anderen gilt es, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft hinlänglich gegen Einwirkungsversuche von außen zu schützen und Risikovorsorge zu betreiben. Auch dies erfordert Ressourcen und Investitionen. Zur Orientierung: 1990 floss gut ein Fünftel des Bundeshaushalts (21,5 Prozent) in die Außenbeziehungen, 2021 nur noch knapp ein Achtel (12 Prozent).3
7. Effektive Partnerschaften sind die wichtigste Voraussetzung für eine gestaltungsfähige deutsche Außenpolitik. Erschwert werden sie durch die zunehmende Binnenorientierung der Außenpolitik bei Deutschlands Partnern, aber auch in Deutschland selbst. Andererseits können transnationale gesellschaftliche Akteure als neue Partner wichtige Impulse geben und Handlungsmöglichkeiten eröffnen.
8. Eine erfolgreiche deutsche Außenpolitik braucht nicht nur inhaltliche Impulse, sondern auch innenpolitische und gesellschaftliche Veränderungen. Es geht darum, umzudenken und der Außenpolitik mehr Gewicht zu verleihen. Dieses Umdenken einzuleiten und voranzutreiben gehört zu den wichtigsten politischen Herausforderungen der kommenden Legislaturperiode. Zugleich gilt es, ähnliche Veränderungen auch bei Deutschlands Partnern anzuregen und voranzubringen. Nur so besteht die Chance, die sich weiter öffnende Schere zwischen dem, was Multilateralismus zu leisten hat, und dem, was er derzeit zu leisten vermag, wieder zu schließen. Nur so lässt sich gewährleisten, dass die Werte der liberalen Demokratie in der internationalen Politik wie auch in Europa selbst erhalten bleiben und sich weiter entfalten können.
Ausgangspunkt: Die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie 2021
2020/21 hat die Bundesregierung die »Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie« fortgeschrieben.1 Inspiriert vom Weltnachhaltigkeitsbericht 20192 werden darin sechs Transformationsbereiche identifiziert, bei denen fünf sogenannte »Hebel« angesetzt werden sollen. Einer der Hebel ist »Internationale Verantwortung und Zusammenarbeit«.3 Dies führt den bewährten Ansatz fort, dass die Strategie nicht nur in Deutschland, sondern auch mit und durch Deutschland umgesetzt werden soll. Allerdings sind die Hebel in der Strategie weder sonderlich ausgearbeitet noch vorausschauend strategisch durchdacht. So werden unter dem Titel »Nachhaltigkeitsaußenpolitik« bislang lediglich thematisch passende Aktivitäten aufgelistet. Basis hierfür war der 2020er Ressortbericht des Auswärtigen Amtes (AA) »Diplomatie für Nachhaltigkeit«.4 Darin berichtet das Amt über themenbezogene Aktivitäten wie Nachhaltigkeitsdialoge oder Deutschlands Anstrengungen zu »Klima und Sicherheit« im UN-Sicherheitsrat.
Unter der Überschrift »Nächste Schritte« kündigt die Bundesregierung in der Nachhaltigkeitsstrategie an: »International wird Deutschland seine Aktivitäten ebenfalls weiter konsequent vorantreiben und zeigen, dass Nachhaltigkeit zentrales Merkmal der deutschen Außenpolitik sowie der multilateralen Zusammenarbeit ist«.5 Das AA hatte bereits in seinem Ressortbericht gefragt: »Wie können wir noch mehr Bereiche unseres außenpolitischen Handelns an der Agenda 2030 ausrichten? Wie können wir die langfristigen Ziele der Agenda mit ›klassischer Diplomatie‹ [...] verknüpfen und erreichen?« Antworten auf diese Fragen »sollen durch eine umfassende und kontinuierliche Debatte im Auswärtigen Amt und im Dialog mit der Öffentlichkeit gefunden werden.«6
Wandel
In der Vergangenheit war all dies Rhetorik, die selten jenseits von Eröffnungsreden wirklich ernst genommen wurde. Weitreichende, transformative Maßnahmen lehnten verantwortliche Politiker gerne mit dem Verweis auf mögliche »Gelbwesten-Proteste« auf deutschen Straßen ab. Das überzeugt schon konzeptionell nicht, denn soziale und wirtschaftliche Belange sollen als zwei der drei Dimensionen von Nachhaltigkeit immer mitgedacht werden.
Im April 2021 hat der Bürgerrat »Deutschlands Rolle in der Welt« einen Bericht an den Deutschen Bundestag übergeben.7 Darin heißt es: »Deutschland soll Nachhaltigkeit […] als globale Querschnittsaufgabe […] vorantreiben und ins Zentrum seines politischen Handelns stellen«. Dabei solle Deutschland auch »im Interesse anderer Länder handeln«.8 Ende März hatte das Bundesverfassungsgericht gefordert, dass die Regierung nicht nur ihr nationales Klimaschutzgesetz nachbessern, sondern auch ihr internationales Handeln intensivieren müsse.9 Sich häufende Extremwetterereignisse, wie zuletzt die Starkregenfluten, bestärken zudem den gesellschaftlichen Druck, der zuvor bereits durch »Fridays for Future« aufgebaut wurde. Innenpolitisch ist also durchaus sowohl Handlungsbedarf als auch Legitimationspotential vorhanden. Entsprechend formulierte der Staatssekretärsausschuss Mitte Juni mit Blick auf die kommende Legislaturperiode in einer Erklärung: »Die Verwirklichung der Ziele der Agenda 2030 ist ein Gestaltungsaufgabe von höchster Priorität«.10 Die nächste Bundesregierung solle die Strategie »früh wieder aufgreifen und in einem Grundsatzbeschluss im Jahr 2022 nächste Schritte« vorsehen.11
Auf internationaler Ebene setzt der alte und neue UN-Generalsekretär António Guterres auf einen »integrierten und vernetzten Multilateralismus«, um die Umsetzung der 2030-Agenda voranzubringen und den Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs) näherzukommen – wie er auch in seiner Rede im Deutschen Bundestag im Dezember 2020 erläuterte.12 Auch Deutschland vertritt gemäß »Weißbuch Multilateralismus« einen wertebasierten, inklusiven und effektiven Multilateralismus und hat zusammen mit den anderen UN-Mitgliedstaaten die 2030-Agenda und die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung in der Erklärung zum 75. Geburtstag der Weltorganisation zur »Roadmap« für die nächsten zehn Jahre ausgerufen. Aber um diese Roadmap auch in die Tat umsetzen zu können, müsste Deutschlands Außenpolitik den Hebel »Internationale Verantwortung und Zusammenarbeit« deutlich ernster nehmen und strategischer nutzen.
Empfehlungen
Die neue Bundesregierung und insbesondere das AA sollten das Thema Nachhaltigkeit politischer und auch geopolitischer verorten und strategischer angehen.13 Das Bestreben sollte darauf gerichtet sein, die zu beobachtenden Veränderungen der internationalen Ordnung positiv mitzugestalten, auch da, wo das AA inhaltlich nicht federführend ist. Über Ressortzuständigkeiten hinweg könnte das AA vor allem sein Wissen um die »politics« sowohl in den Ländern und Regionen als auch in den verschiedenen multilateralen Kontexten und Verhandlungen stärker geltend machen. Dies sind – je nach theoretischem Blickwinkel – geopolitische Großwetterlagen und Verschiebungen darin, Machtspiele und Souveränitätsvorbehalte, Interessen und Interdependenzen, Werte und Narrative, hegemoniale Blöcke, gebildet von Eliten in Politik, Wirtschaft, Militär, Gesellschaft. Hingegen fehlt dieses Wissen oft den rein sektoral oder technisch denkenden Spezialistinnen und Spezialisten. Dabei ist es in multilateralen, aber auch in pluri- und bilateralen Kontexten für zielgerichtete Verhandlungsstrategien überaus relevant.
Die konsensuale Verabschiedung der 2030-Agenda und der SDGs durch die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen wird vom »Weißbuch Multilateralismus« zu Recht als Beleg gesehen, dass sich »die Staatengemeinschaft trotz unterschiedlicher Interessen global auf gemeinsame Ziele verständigen kann«.14 Das böte die Möglichkeit, internationale Kooperation strategisch mit Blick auf diese gemeinsamen Ziele zu gestalten. 2016 hatte das Auswärtige Amt eine »Kartierung« durchgeführt, um über die Auslandsvertretungen zu erfahren, wie Regierungen anderer Staaten die SDGs umsetzen wollen. Im Weißbuch kommt diese Verknüpfung mit den klassischen Arenen der Diplomatie zu kurz. Die nächste Bundesregierung könnte einen erneuten proaktiven »Outreach« anstoßen, um Einblicke zu sammeln, wo Deutschland als Ideengeber und Kooperationspartner gefragt ist – gerade auch im Kontext von Bemühungen um »better and greener recovery« nach der Covid-19-Pandemie. So könnte die 2030-Agenda konzeptionell und institutionell tatsächlich zentraler im AA platziert werden und dann auch in den auswärtigen Beziehungen in prominenterer Form handlungsleitend sein.
Die Ergebnisse eines solchen Prozesses könnten dann auch die weiteren Aktivitäten der Allianz für den Multilateralismus inspirieren. Deren Mitglieder könnten auf dieser Basis Ideen für multilaterale Transformationspartnerschaften entwickeln – die Allianz also als »Partnerschaftsinkubator« nutzen. Außerdem sollte auch über eine Schnittstelle bei den UN nachgedacht werden, mit deren Hilfe diese Initiativen keine Parallel-Veranstaltungen blieben, sondern zeitnah an relevante multilaterale Prozesse angedockt würden. Multilaterale Partnerschaften wie Covid-19 Vaccines Global Access (COVAX) sind ein wichtiger Test für den inklusiven und vernetzten Multilateralismus. Nicht an den Vereinten Nationen vorbei, sondern gemeinsam oder zumindest in enger Abstimmung mit ihnen sollten weitere derartige Initiativen erarbeitet werden. Wie das Beispiel COVAX zeigt,15 wäre eine Einheit sinnvoll, die begleitend überprüft, transparent macht und an politisch relevanter Stelle thematisiert, ob die Partner ihre eingegangenen Verpflichtungen einhalten und wo sich die Zusammenarbeit verbessern ließe. Auch bilateral arbeiten das AA und andere Ministerien bereits gemeinsam an Klima- und Energiepartnerschaften. Hieran könnte die neue Bundesregierung anknüpfen und sich dabei für breiter ausgestaltete Transformationsanstrengungen engagieren.
Im »Weißbuch Multilateralismus« heißt es, dass sich Deutschland nicht nur Versuchen entgegenstellen will, die 2030-Agenda aufzuweichen, sondern sich auch für ihre integrierte Umsetzung einsetzt.16 Dieser Ansatz wird im Weißbuch selbst allerdings noch nicht hinreichend deutlich. Wie der Weltnachhaltigkeitsbericht (GSDR) aufzeigt, ließen sich durch eine integrierte Behandlung wichtige Synergien und damit schnellere Fortschritte bei der Erreichung mehrerer Ziele gleichzeitig realisieren. Grundlage einer kohärenten Nachhaltigkeitsaußenpolitik muss daher auch eine konsequentere ressortübergreifende Zusammenarbeit sein. Das Sustainable Development Solutions Network (SDSN) Germany hat den Vorschlag aufgegriffen, analog zum Klimakabinett (in dem das AA nicht vertreten ist) ein Transformationskabinett für internationale nachhaltige Entwicklung zu schaffen.17 Gelänge es hier, innen- wie außenpolitische Leitplanken im Sinne der drei Dimensionen von Nachhaltigkeit zu setzen, wäre das für die Politikkohärenz positiv. Dafür wäre es auch wichtig, die Klimapolitik – aktuell mit Rückenwind: international durch die Biden-Administration, europäisch durch den Green Deal, national durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts – besser mit der 2030-Agenda und den SDGs zu verbinden. Das wäre in beiderseitigem Interesse, denn gemeinsam mit weiteren Schlüsseltransformationen wie der Verkehrs-, der Bau- oder der Agrar- und Ernährungswende würde es auf diese Weise gelingen, hinreichend schnell und effektiv beim Schutz globaler Güter voranzukommen. Die UN und viele Mitgliedstaaten sind auf der Suche nach derartigen bewährten Politiken.18
Ein Beispiel: Die G7-Länder einigten sich im Mai 2021 nach jahrelangen, der Bewältigung des Klimawandels geltenden Verhandlungen auf ein Ende der Subventionen für Kohlekraftwerke.19 Dieses Instrument galt als »tiefhängende Frucht«, also eine politische Maßnahme, die leicht durchzuführen ist und schnellen Erfolg verspricht. Jedoch verhinderten soziale und wirtschaftliche Bedenken lange Zeit eine Einigung. Besser wäre es daher, Subventionen im Sinne eines integrierten Ansatzes umwelt-, wirtschafts- und sozialverträglich so auszugestalten, dass sie eine »just and fair transition« fördern.20 Derartige Modelle oder Anreize könnten es für Schwellen- und Entwicklungsländer deutlich attraktiver machen, Transformationspfade zu beschreiten.
Wird der Problemdruck größer, könnten nicht nur innovative Technologien, sondern auch Transformationspartnerschaften und integrierte Politikansätze »made in Germany« ein außenpolitischer Schlager werden. Das wird aber nur gelingen, wenn die nächste Bundesregierung rasch beginnt, ihre Botschaften in der Nachhaltigkeitsaußenpolitik engagierter auszuformulieren und glaubwürdiger zu vermitteln, insbesondere durch eigene Vorleistungen.
Diplomatie für das 21. Jahrhundert. Sechs praktische Vorschläge
Volker Stanzel
Veränderungen im außenpolitischen Umfeld erfordern nicht nur inhaltliche, sondern auch strukturelle und institutionelle Anpassung. Ihre Umsetzung in praktische Diplomatie hinkt aber hinter den Bedürfnissen der nationalen und internationalen Öffentlichkeiten her, die von neuen Befindlichkeiten geprägt sind. Damit wird staatliche Steuerungsfähigkeit zum Schaden repräsentativer Demokratien immer mehr in Frage gestellt. Sechs Maßnahmen erscheinen deshalb ratsam:
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nationale Dialogplattformen zu aktuellen außenpolitischen Fragen,
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europäische Frühwarn-Netzwerke,
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ein im Bundestag verankerter Nationaler Sicherheitsrat,
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feste Konsultationsmechanismen im Rahmen der Allianz für den Multilateralismus,
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eine internationale Revisionskonferenz für die Wiener Übereinkommen über diplomatische und konsularische Beziehungen,
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institutionalisierte EU-Kompetenzbildung zu Asien entlang der Leitlinien zum Indo-Pazifik.
1. Nationale außenpolitische Dialogplattformen
Außenpolitik interessiert Bürger dann, wenn sie direkt betroffen sind. Das ist nicht ungewöhnlich. Neu hingegen ist, wie schnell außenpolitische Themen eine schwer kontrollierbare Wirkung entfalten, wenn Bürger sich in ihrer Existenz bedroht und bei der Suche nach Problemlösungen – da Wahlen meist noch fern sind – unzureichend informiert fühlen. Schwindendes Vertrauen kann die innenpolitische Landschaft sogar kurzfristig einschneidend verändern und damit das Funktionieren demokratischer Mechanismen erheblich beeinträchtigen. Beispiele sind die Weltfinanzkrise, die Flüchtlingskrise und die Corona-Pandemie, die samt und sonders populistische Bewegungen hervorbrachten. Der Brexit, die Gelbwestenbewegung in Frankreich, Regierungsbeteiligungen populistischer Parteien und die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten zeigen indes, dass solche außenpolitischen, aber in die Innenpolitik hineinreichenden Krisen bislang in Deutschland weniger lauten Widerhall fanden als anderswo.
Wenn eine Bundesregierung auch für die Zukunft einen ausreichenden öffentlichen Konsens über ihr außenpolitisches Regierungshandeln sicherstellen möchte, dann müssen Wege gefunden werden, dem Wunsch nach Beteiligung stärker zu entsprechen. Dafür gibt es bereits Experimente in Gestalt verschiedener Bürgerplattformen. Die bisherigen Formate sind allerdings noch nicht populär, weil ihre Wirkung auf das Regierungshandeln nicht durchschaubar ist, so dass dieses weder transparenter noch vertrauenswürdiger erscheint. Hier bedarf es also eines weiteren Schritts. Er muss zum einen den naheliegenden »Feigenblatt«-Verdacht vermeiden, zum andern verlässliche Rechenschaftslegung über die neuen Wege der Außenpolitik leisten. Andere Formen der Partizipation wie etwa der vom Deutschen Bundestag erwogene Bürgerrat oder der Bürgerdialog des französischen Präsidenten Macron können, gefestigt und ausgeweitet, der institutionalisierten Verstetigung nationaler Dialogplattformen zu außenpolitischen Themen dienen. Ihre Legitimität werden derartige Plattformen selbst schaffen müssen. Sie wird davon abhängen, wie erfolgreich diese bei Bewahrung oder Befestigung demokratischen Staatsverständnisses sind.
2. Europäische Frühwarn-Netzwerke
Die Corona-Pandemie war nicht nur ein Warnsignal dafür, wie rasch Bürgerinnen und Bürger sich zu wenig an der Politik beteiligt fühlen können. Vor Augen geführt hat sie auch die diplomatische Dysfunktionalität angesichts der Fragmentierung internationaler Öffentlichkeiten selbst in Partnerländern, die mit Deutschland eng verbunden sind. Beispiele dafür sind die spontane Schließung von Grenzen auch innerhalb des Schengenraums, Streit über die Verteilung der Impfstoffe sowie Erfolge populistischer Gruppierungen und Persönlichkeiten.
Offenkundig genügt es nicht mehr, auf traditionelle Weise die Öffentlichkeiten anderer Staaten zu beobachten, um krisenhafte Stimmungslagen in der Tiefe zu erfassen und gemeinsam mit Partnerregierungen politisch zu bearbeiten. Das ist besonders dort wichtig, wo eigene Maßnahmen mit den Partnern koordiniert werden müssen. Auch dafür liefern die oben genannten Krisen Beispiele. Zudem werden Maßnahmen eher dann akzeptiert, wenn die handelnden Regierungen glaubhaft machen können, dass sie sich in ihrer Vertretung nationaler Interessen gegenseitig respektieren. Innerhalb der EU könnten Plattformen für intensive grenzüberschreitende Diskussion dafür sorgen, dass politisch relevante Bewegungen in den Öffentlichkeiten rechtzeitig wahrgenommen werden. Ein Beispiel für geeignete Strukturen ist etwa das Global Diplomacy Lab, das derzeit bereits vom Auswärtigen Amt in kleinem Umfang als Experiment gefördert wird. Solche Plattformen könnten europäisch verklammert und als Frühwarn-Netzwerke Indikator für politisch relevante Stimmungsströmungen sein. Sie werden ebenso wichtig sein wie die nationalen Dialogplattformen, denn sie werden einen Einblick in national unterschiedliche Meinungs- und Empfindungsströmungen ermöglichen, welche die Politik der Regierungen mitbestimmen können und außenpolitisch berücksichtigt werden müssen.
3. Nationaler Sicherheitsrat im Deutschen Bundestag
Nicht nur außenpolitische, sondern auch innen-, wirtschafts- und gesellschaftspolitisch vernetzte Sicherheitsfragen betreffen heute mehr als die drei traditionell zuständigen Ressorts Auswärtiges Amt, Bundesministerium der Verteidigung und Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Aspekte etwa wirtschaftlicher oder finanzpolitischer Sanktionen – das heißt neuer Instrumente zwischenstaatlicher Auseinandersetzung – oder Probleme wie die des Cyberhacking, der Klima- oder der Migrationspolitik offenbaren, wie breit das Spektrum außen- und sicherheitspolitischer Fragen ist, mit dem sich demokratisches Regierungshandeln heute befassen muss.
Deswegen ergibt es Sinn, diese Themen in ihrer Konsequenz für Regierungsentscheidungen gebündelt zu behandeln. Hierfür gibt es in den USA den Nationalen Sicherheitsrat, der im Weißen Haus angesiedelt ist. Auch in Deutschland wurde dieses Modell immer wieder diskutiert. Es hat sich niemals verwirklichen lassen, weil es bedeuten würde, dass sich die Zuständigkeiten im Kanzleramt ballen. Damit wären aber entscheidende Kompetenzen nolens volens auch solchen Ressorts entglitten, die von Angehörigen anderer Koalitionsparteien geführt werden. Diesen Machtverlust, auch wenn er nur relativ ist, können Koalitionspartner nicht hinnehmen. Die Lösung wäre, einen deutschen Nationalen Sicherheitsrat ohne exekutive Befugnisse im Deutschen Bundestag zu verankern. Gerade bei Entwicklungen, die auf eine Beteiligung der Bundeswehr an Auslandseinsätzen außerhalb des Nato-Gebietes hinauslaufen, oder bei Maßnahmen, die deutsche Wirtschaftsinteressen empfindlich schädigen könnten (wie bei Sanktionen oft der Fall), würde das Parlament jedenfalls konsultativ mitwirken, anders als der Bundessicherheitsrat, der ein Ausschuss des Bundeskabinetts ist. Ein Nationaler Sicherheitsrat im Deutschen Bundestag würde gewährleisten, dass sowohl alle relevanten Ressorts beteiligt werden als auch das Parlament rechtzeitig hinzugezogen wird. Das brächte mehr Effektivität gerade bei Sachverhalten, die oft unter Zeitdruck zwischen Exekutive und Legislative abgestimmt werden müssen, etwa Entscheidungen über Militäreinsätze. Der formale Status des Nationalen Sicherheitsrats müsste dem von Parlamentsausschüssen entsprechen, denn das wäre vor allem mit Blick auf die erheblichen Vertraulichkeits- und Sicherheitserfordernisse wichtig.
4. Institutioneller Rahmen der Allianz für Multilateralismus
Die Allianz für den Multilateralismus, von der Bundesregierung 2019 ins Leben gerufen und derzeit von rund 70 Staaten unterstützt, ist eine Reaktion auf die Erkenntnis, dass die internationale Ordnung in Gefahr ist. Institutionelle Gestalt bekam der liberale Internationalismus mit den Vereinten Nationen und der Gesamtheit des seit 1945 etablierten regelbasierten Systems. Freilich war der Grundgedanke, dass alle souveränen Staaten ihre Probleme durch Verhandlungen unter Verzicht auf Gewaltmittel lösen, immer prekär. Dennoch war er für den Umgang der Staaten miteinander weitgehend anerkannt. Dieses einigermaßen funktionierende System ist besonders aus zwei Richtungen gefährdet:
Zum einen entstehen seit Ende des Kalten Krieges immer mehr Räume, in denen Staaten versucht sind, sich aus dem Rahmen von Rechten und Pflichten des internationalen Systems zu lösen. Damit erschüttern sie dessen Zusammenhalt und die Voraussetzungen für vernetzte internationale Kooperation. Beispiele sind das Verhalten Russlands oder der Türkei und unter Donald Trump teilweise auch der USA.
Zum andern hat in Gestalt der Volksrepublik China ein Akteur die internationale Bühne betreten, der sich explizit für ein anderes internationales Ordnungssystem einsetzt. So äußern sich chinesische Führer, die offen andere Formen der internationalen Beziehungen als die bestehenden fordern; so strebt es China mit internationalen Aktivitäten an, etwa der Neuen Seidenstraße oder der Asiatischen Infrastrukturinvestmentbank (Asian Infrastructure Investment Bank, AIIB). Je größer Chinas internationaler Einfluss wird, desto mehr ist zu befürchten, dass das bestehende internationale Ordnungssystem in seiner Wirksamkeit geschwächt und am Ende womöglich in seiner Existenz bedroht wird.
Nun sind große Mächte wie die USA oder China weniger abhängig von der regelbasierten liberalen internationalen Ordnung. Mittelmächte wie die EU-Mitgliedstaaten dagegen sind auf ein funktionierendes internationales System angewiesen, wollen sie ihren Wohlstand und ihre Sicherheit bewahren. Insofern war es dringend geboten, für solche Staaten eine Plattform wie die Allianz für den Multilateralismus einzurichten. Sie dient jedoch bisher kaum mehr als dem Gedankenaustausch von Außenministern der Allianz am Rande internationaler Konferenzen. Das sollte geändert werden. Um dem Prozess der Diffusion der globalen Ordnung zu begegnen, bedarf es eines effektiven institutionellen Rahmens, etwa in Form eines Sekretariats für die Allianz für den Multilateralismus, vernünftigerweise bei der EU angesiedelt. Deutschland hat die Allianz initiiert und ist deshalb der richtige Akteur, um nun auch die Verbesserung ihrer Handlungsfähigkeit anzustoßen.
5. Revisionskonferenz für die Wiener Übereinkommen über diplomatische und konsularische Beziehungen
Globalisierung und Digitalisierung, die ökonomische und die technologische Revolution, sind nicht nur weitere Kräfte, die zur Fragmentierung der globalen Ordnung beitragen. Sie lösen selbst traditionelle Grundprinzipien der Diplomatie auf, wie den Austausch sachlich fundierter Informationen als Grundlage außenpolitischer Kommunikation und Verhandlung. Der Wettlauf mit dem Infotainment der sozialen Medien auf der Basis »alternativer Fakten« beeinflusst den zwischenstaatlichen Umgang, wie etwa die Russland-Diskussion in der EU zeigt. Neue diplomatische Akteure wie internationale Organisationen, nichtstaatliche Organisationen oder transnationale Unternehmen sind Teil eines politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und oft gewaltgeprägten Netzwerks. Es gleicht sozusagen einem Meta-Universum der internationalen Gemeinschaft, das sich unkontrolliert ausbreitet, ohne dass seine Finalität zu erkennen wäre. Unübersehbar ist jedoch, dass bisherige Regeln diplomatischer zwischenstaatlicher Interaktion bei der Lösung von Problemen nicht mehr so weit führen wie gewöhnlich angenommen. Versuche struktureller Anpassung unterschiedlicher Art in verschiedenen Nationen reichen schon deshalb nicht weit genug, weil sie jeweils auf einen Staat beschränkt sind, aber die Problematik, welche die neuen Akteure schaffen, ein globales Phänomen ist.
Als Antwort auf die globalen Fragmentierungsprozesse wird oft über die Reform, sprich Erweiterung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen diskutiert. Seit den ersten derartigen Vorschlägen vor einem Vierteljahrhundert mehren sich allerdings die Zweifel, dass ein erweitertes Gremium leichter Einigkeit unter den Beteiligten erzielen könnte als das bestehende. Aussichtsreicher dürfte es deshalb sein, den eigentlichen Werkzeugkasten der internationalen Interaktion und Kommunikation eingehend zu überprüfen. Er besteht im Wesentlichen aus den Regelungen für den diplomatischen bzw. konsularischen Verkehr zwischen Staaten, den Aufgaben staatlicher Vertreter und den Prinzipien friedlicher Streitbeilegung, wie sie in den beiden Wiener Abkommen zu diplomatischen und konsularischen Beziehungen von 1961 und 1963 festgehalten sind. Eine Revisionskonferenz für die Wiener Übereinkommen über diplomatische und konsularische Beziehungen sollte damit beauftragt werden, Bestimmungen für die regelbasierte Integration internationaler Organisationen, nichtstaatlicher Organisationen und transnationaler Unternehmen in den zwischenstaatlichen Verkehr zu entwickeln und die bestehenden Regeln anzupassen.
6. Institutionalisierte EU-Kompetenzbildung zu Asien
Die Leitlinien zum Indo-Pazifik, welche die Bundesregierung im September 2020 beschlossen hat, sollen dazu dienen, Deutschlands Beziehungen in die Region geographisch und thematisch zu diversifizieren. Dabei sollen sie helfen, den normativen und institutionellen Austausch voranzubringen, und zwar im Lichte wirtschaftlicher, aber auch sicherheitspolitischer Belange. Sie folgen einem vergleichbaren französischen Strategiepapier aus dem Jahr 2018, in dem allerdings Frankreich als »Nation des Indo-Pazifik« erscheint. Ende 2020 brachten auch die Niederlande ein eigenes Leitlinien-Papier heraus. Mit ihren Dokumenten wollen die drei Staaten Bestrebungen der Europäischen Kommission unterstützen, eine kohärente Strategie der EU für den Indo-Pazifik zu entwickeln.
Die zunehmende magnetfeldartige Ausstrahlung der neuen Macht Chinas führt tendenziell dazu, dass die europäischen Interessen in anderen Teilen der Region vernachlässigt werden. Das hat zur Folge, dass Peking indirekt weiter gestärkt wird. Dies gilt es auszutarieren. Die genannten Strategieentwürfe sind Ausdruck des Bestrebens, Länder in Asien stärker in den Blick zu nehmen, die dank ihres eigenen Charakters und ihrer Politik wichtige Partner für Deutschland sind und bleiben sollten. Um erfolgversprechend zu sein, sollte laut den Leitlinien daher nicht nur die europäische Perspektive erweitert, sondern auch die Zusammenarbeit mit den Staaten der Region sinnvoll intensiviert werden. Dies wiederum setzt umfassende Kompetenzbildung in einem Maße voraus, das der großen und weiter wachsenden Bedeutung der indo-pazifischen Region auf der Ebene gesellschaftlicher, politischer, wirtschaftlicher und persönlicher Kontakte entspricht. Vorbild könnte die frühere europäische Kompetenzentwicklung in transatlantischen Angelegenheiten und in den Beziehungen zu Russland sein. Wie in diesen beiden Fällen sollte auch der Aufbau europäischen Wissens über den Indo-Pazifik vielfältig konzipiert sein. Das heißt, er sollte in eigenen Forschungsinstituten wie etwa dem Mercator Institute for China Studies (Merics), an Universitäten und in zivilgesellschaftlichen Einrichtungen wie beispielsweise der Atlantik-Brücke stattfinden. Dazu bedarf es einer von der EU ausgehenden Kompetenzinitiative zum Indo-Pazifik, die von der neuen Bundesregierung anzustoßen wäre.
Die globale Sicherheitslage ist zunehmend von sogenannten hybriden Bedrohungen gekennzeichnet, die darauf abzielen, die öffentliche Ordnung eines anderen Staates zu stören. Die Akteure, von denen sie ausgehen, sind nicht primär staatliche, sondern (meist) solche, die nur indirekt oder verdeckt unterstützt werden durch eine staatliche Beteiligung (vgl. Matrix, S. 71).1 Hierzu gehören beispielsweise Hacker- oder Trollgruppen, die seitens staatlicher Stellen ermutigt oder auch nur geduldet werden und die kritische Infrastrukturen stören oder nationale Wahlprozesse zu manipulieren versuchen.
Vor einigen Jahren waren hybride Bedrohungen geprägt durch die Gleichzeitigkeit von bewaffneten Konflikten und der Anwendung nichtgewaltsamer, verdeckter Instrumente zur Einflussnahme.2 Heute hingegen steht die Vielfalt der beteiligten Akteure im Vordergrund ebenso wie der verschränkte Einsatz mehrerer ziviler, aber illegitimer Ansätze zur Destabilisierung,3 etwa die gezielte Übernahme von Wirtschaftssektoren, die systematische Manipulation von Medien oder von Diasporagruppen.4 Insbesondere mit Blick auf Russland und China wird von europäischer Seite davon ausgegangen, dass alle zur Verfügung stehenden Mittel miteinander gekoppelt werden – unterhalb der Schwelle zum bewaffneten Konflikt. Der »Werkzeugkasten« für hybride Bedrohungen ist entsprechend immer mannigfaltiger und umfassender geworden, selbst wenn er einen vorwiegend nichtmilitärischen Charakter hat. Klassische Sicherheitspolitik, verstanden als die Sicherung von Grenzen bzw. Territorialverteidigung, greift hier systematisch zu kurz. Denn hybride Bedrohungen gefährden den inneren Zusammenhalt demokratischer Gesellschaften und damit den Kern der europäischen Idee.
Resilienz und Sicherheitsunion
Eine zeitgemäße sicherheitspolitische Antwort muss spiegelbildlich zur Vielfältigkeit hybrider Bedrohungen eine große Anzahl von Sektoren und Akteuren einbinden. Da die meisten Versuche zur Störung der öffentlichen Ordnung verdeckt ansetzen, muss zuvorderst die Widerstandsfähigkeit der demokratischen Gesellschaft auf breiter Front gestärkt werden.5
Die Europäische Union (EU) verschreibt sich bereits seit Jahren dem Ansatz der Resilienz und versucht dabei, immer mehr Bereiche der modernen, grenzüberschreitenden Risikogesellschaft zu erfassen. So bildet die Umsetzung zahlreicher Rechtsakte zum Investitionsschutz, zur Energiewirtschaft, zu transnationalen Verkehrsnetzen, Kommunikations- und Infrastrukturen oder zum integrierten (digitalen) Binnenmarkt einen Beitrag zum gemeinschaftlichen Resilienzaufbau. Im Vergleich zu Staaten in der Nachbarschaft hat somit die europäische Integration in ihrer rechtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Dimension die Widerstandsfähigkeit der EU gegen illegitime Einflussnahme von außen steigern können.
Dennoch gilt – mehr noch als jemals zuvor seit ihrer Gründung mit dem Vertrag von Maastricht 1993 – der Satz, dass der einzelne Mitgliedstaat zu klein ist, um sich behaupten zu können in der Konkurrenz zwischen China, den USA und Russland sowie gegenüber der Vielzahl neuer hybrider Bedrohungen. Seit dem Ukrainekonflikt thematisiert nicht nur die Nato, sondern auch die EU solche Bedrohungen in etlichen strategischen Dokumenten, Arbeitsgruppen und einem gemeinsamen Exzellenzzentrum.6 Vor allem der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) ist bestrebt, Desinformationskampagnen aufzudecken und zu kontern.7 Allgemein sollen der Ausbau einer Sicherheits- wie einer Verteidigungsunion8 dazu beitragen, einem breit gefächerten Spektrum hybrider Bedrohungen zu begegnen – im Sinne einer passiven bzw. zivilen Verteidigung durch höhere Sicherheitsstandards und verbesserte EU-Koordinationsmechanismen.9
Die Schwachstellen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik
Die zentrale Schwachstelle der EU bleibt die mangelnde fokussierte Erfassung, gemeinsame Bewertung und proaktive, vorausschauende außenpolitische Antwort auf hybride Bedrohungen. Bisher wurde und wird immer noch, weitestgehend erfolglos, versucht, zu einer effizienteren Entscheidungsfindung in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) zu gelangen, indem qualifizierte Mehrheitsverfahren im Rat ausgeweitet werden. Der vielleicht wichtigste Grund für dieses Scheitern liegt darin, dass die mitgliedstaatlichen Bedrohungsanalysen und sicherheitspolitischen Lagebilder stark divergieren; oftmals lassen sie keine gemeinsame Deutung der Situation zu und damit auch keine einheitliche Formulierung sicherheitspolitischer Maßnahmen. Zwischen Italien und Schweden oder zwischen Portugal und Estland klaffen existieren verständlicherweise große Unterschiede in der Wahrnehmung sicherheitspolitischer Bedrohungen. Wenn jeder EU-Staat die Bedrohungslage nur vor seinem jeweiligen nationalen Hintergrund versteht, kann sich die Gesamtheit der Mitgliedstaaten lediglich auf eine minimalistische GASP einigen und kein koordiniertes Vorgehen in Großmachtkonflikten entwickeln. Diese Grundproblematik ist nicht neu, stellt sich heute aber in einem radikal verschärften Ausmaß.
Mit dem »Strategischen Kompass« haben die Verteidigungspolitiker und ‑politikerinnen unter der deutschen Ratspräsidentschaft 2020 einen neuerlichen Versuch unternommen, die bestehenden Unterschiede in den Bedrohungsanalysen der EU-Mitglieder zu verringern.10 Gleichwohl weist der Strategische Kompass zwei wesentliche Defizite auf: Erstens organisiert er den sicherheitspolitischen Meinungsbildungsprozess im Hinblick auf eine gemeinsame europäische Lagebildformulierung lediglich in einzelnen, ausgewählten Feldern und findet keinen systematischen Niederschlag. Er stellt eine Ad-hoc-Maßnahme dar, ohne den strukturellen Wandel von Sicherheitsbedrohungen in eine entsprechende institutionelle Reaktion zu überführen, die über ein Weißbuch zur Verteidigung hinausginge. Sein zweites Defizit ist fast noch gravierender: Der gesamte Prozess ist von den Verteidigungsministerien der EU-Länder geprägt und damit tendenziell fachlich zu schmal angelegt, um dem Charakter hybrider Bedrohungen angemessen Rechnung zu tragen. Sicherheitspolitik als territoriale Verteidigungspolitik ist ein Luxus, den Europa sich heute nicht mehr leisten kann.
Um der Komplexität hybrider Bedrohungslagen gerecht zu werden, muss europäische Sicherheitspolitik überdies die Integrität des demokratischen Prozesses (zum Beispiel Wahlen) schützen, digitale Kompetenzen der Bevölkerung weiter ausbilden, Überlegungen zur strategischen Ver- und Entflechtung anstellen und umsetzen, Lieferketten (zum Beispiel für wichtige Medikamente und Rohstoffe) auf ihr Gefährdungspotential hin analysieren und vieles mehr. Das aber greift weit über eine territoriale Verteidigungspolitik hinaus. Es ist eine umfassend zu denkende Politik, die an einem Ort anzusiedeln ist, der hierfür entsprechend ausgerüstet ist.
Die notwendige Neuaufstellung des EAD als strategische Intelligence Unit
Die beiden Defizite des Strategischen Kompasses lassen sich korrigieren. Hierzu bräuchte es eine systematische europäische Institutionalisierung mit dem Ziel, eine umfassende und permanente Lagebewertung zu erhalten, und zwar in den Händen des EAD.11 Letzterer sollte mit der langfristig verankerten Kompetenz ausgestattet werden, einen kontinuierlichen und europaweiten Prozess der Lagebildentwicklung und ‑fortentwicklung anzustoßen, Expertisen aus den Mitgliedstaaten und EU-Delegationen wie auch aus den Kommissionsdiensten anzufordern und das sicherheitspolitische Wissen Europas über die neue Welt der hybriden Bedrohungen zu organisieren. Es reicht bei weitem nicht aus, dass die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten eine zur Abwehr hybrider Bedrohungen eingesetzte Ratsarbeitsgruppe12 nur punktuell informieren müssen. Insbesondere gilt es, das EU Intelligence Analysis Centre (EU INTCEN) und seine militärische Partnereinrichtung im EU-Militärstab (EUMS INT) als zentrale Zulieferer des EAD für die Ratsarbeit aufzuwerten. EU INTCEN und EUMS INT sind zwar organisatorisch vom EAD getrennt, kooperieren aber seit langem über den zivil-militärischen Verbund der Single Intelligence Analysis Capacity (SIAC) des EAD.13
2016 wurde innerhalb des EU INTCEN die Hybrid Fusion Cell (HFC) ins Leben gerufen, die als Analysestab das Modell für eine institutionell und methodisch breit angelegte Analyse hybrider Bedrohungen darstellt.14 Die HFC ist bis dato nicht zu einem strategischen Analysestab weiterentwickelt worden, der das umfängliche Wissen der Mitgliedstaaten (finished intelligence), die Expertise der Kommission wie der verschiedenen internationalen Exzellenzzentren auf diesem Gebiet mit Informationen aus Open-Source-Quellen verbindet. Notwendig wäre, dass die nationalen Behörden initiativ Analysen zur SIAC weiterleiten (Push-Prinzip) und das EU INTCEN nicht nur auf Nachfrage (Request for Information) angewiesen ist (Pull-Prinzip). Eine derartige Aufwertung der HFC sollte im Ergebnis dazu führen, dass regelmäßig eine vereinbarte Anzahl von Analysen vorgelegt wird, die als valide Entscheidungsgrundlagen für die GASP bzw. die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) fungieren können. Die Zuständigkeit des EAD wäre dabei nicht auf die militärische Dimension der Sicherheitspolitik zu beschränken – wie bisher im Strategischen Kompass vorgesehen –, sondern sollte als Querschnittsaufgabe alle relevanten Bereiche der öffentlichen Ordnung im Sinne des Anspruchs der Sicherheitsunion thematisieren.
Deutschlands Beitrag zum Umbau des EAD
Deutschland sollte eine politische Initiative zur Stärkung des EAD lancieren mit dem Ziel, dass regelmäßig gemeinschaftliche nachrichtendienstliche Lagebeurteilungen erstellt werden. Hierbei geht es weder darum, einen europäischen Geheimdienst zu schaffen, noch darum, nationale Verfassungsprinzipien auszuhebeln. Es geht schlicht um die Grundlage, auf der jeder gemeinsame Standpunkt im Rat basieren muss: um eine gemeinsame Vorstellung von den drängendsten Risiken und Bedrohungen. Erst sie ermöglicht, über angemessene Gegenmaßnahmen zu entscheiden.
Heute sind nicht nur die (physischen) Grenzen Europas herausgefordert, sondern auch seine innere Verfasstheit. So dürften selbst Länder wie Frankreich, die den Herausforderungen durch hybride Bedrohungen an der Ostflanke der EU skeptisch gegenüberstehen, den europäischen Mehrwert erkennen. Eine Vergemeinschaftung der Bedrohungsanalyse kann auch großen Staaten wie Deutschland und Frankreich neue Einsichten bieten, etwa wenn Muster und Risiken in mehreren EU-Staaten gleichzeitig auftreten. Welche thematischen Schwerpunkte bei der Berichterstattung gesetzt werden, sollte fortlaufend nach den oben beschriebenen Lagen anhand der Matrix (siehe S. 71) entschieden werden. Eine solche Matrix würde es zugleich allen Staaten erlauben, ihre jeweiligen Ressourcen stärker komplementär nach Regionen und Themen aufzuteilen.
Abnehmer einer Lagebewertung zu hybriden Bedrohungen sind nicht nur die Führungspersonen der EU-Institutionen, das Politische und Sicherheitspolitische Komitee (PSK) und der Militärausschuss der Europäischen Union (EUMC), sondern ebenso ausgewählte Ausschüsse des Europäischen Parlaments sowie die Hauptstädte auf Regierungs- und Dienstebene. Nicht zuletzt könnte ein fest institutionalisierter Analyseaustausch auf EU-Ebene eine grundlegende Reform des Bundessicherheitsrats befördern.
Autoritäre Regime sind in vielen Teilen der Welt zur Norm geworden. Nach der dritten Welle der Transition zur Demokratie1 (1974–1990) sprechen wir seit 1995 von der dritten Welle des Autoritarismus.2 Viele Länder, die sich auf dem Weg zur Demokratie befanden, sind in einer »Grauzone« zwischen unvollständiger Demokratisierung und autokratischen Neigungen stecken geblieben, aus der der Weg oft eher zurück in die Vergangenheit führt. Die Vorzeichen eines demokratischen Aufbruchs haben getrogen, nicht nur mit Blick auf die Staaten des postsozialistischen Raumes; auch etablierte Demokratien sind in den Strudel einer zunehmenden autoritären Durchsetzung von Politikstilen und ‑methoden geraten.
Vieles vollzieht sich hinter einer legalen Fassade, meist gesteuert von »gewählten Autokraten«, die demokratische Institutionen und Verfahren sowie die rechtsstaatliche Ordnung im Namen einer »neuen Demokratie« aushöhlen und unterlaufen.3 Ihr Vorgehen gegen die liberale Demokratie folgt einem Muster: Sie schüren Ressentiments und vertiefen die gesellschaftliche Spaltung; die Legitimation für diese Politik verschaffen sie sich durch und in Wahlen, die mit Hilfe »populärer« Maßnahmen wie der Abwehr von Zuwanderung oder wirtschaftlichem Erfolg gewonnen werden. Als entscheidende Faktoren für den Verfall der Demokratien werden die politische Polarisierung und der Zusammenbruch der Parteiensysteme angesehen. Autonome Institutionen, freie Medien und eine unabhängige Justiz werden zu Zielobjekten illiberaler Praktiken, in Europa ebenso wie in anderen Regionen der Welt.
Mittlerweile hat sich erwiesen, dass diesem Trend mit Ad-hoc-Politik nicht beizukommen ist. Auch über rein reaktives Handeln in Gestalt von Warnungen, Klagen oder auch Sanktionen lässt sich dieser Verfall demokratischen Regierens nicht aufhalten. Deutschland als demokratieorientiertes Gemeinwesen hat in seiner Außenpolitik immer neu zu entscheiden, in welchen Fällen des Abgleitens in autoritäre Formen ein Engagement notwendig oder sogar lohnend ist oder sein könnte. Wenn Deutschland in den Bemühungen um die Verhinderung eines weiteren »backsliding« bei Demokratie und Menschenrechten eine profiliertere Rolle spielen will, muss es sich zunächst der Frage stellen, wie eine entsprechende Außenpolitik jenseits symbolischer Aktionen und angesichts der eingeschränkten Wirksamkeit von Reisediplomatie leistungsfähiger werden kann. Es gilt konkret zu klären, ob unser Land eine echte Möglichkeit zur Einflussnahme besitzt oder auch bereit wäre, dauerhaft die Kosten für die Beilegung einer Krise oder die Bewältigung der sie auslösenden Probleme zu übernehmen.
Eine streitbare Demokratie auch nach außen?
Es gehört zur DNA der Bundesrepublik Deutschland, sich im Inneren als streitbare, wehrhafte Demokratie zu begreifen. Artikel 1 und 20 schreiben diesen Status in Verbindung mit Artikel 79,3 des Grundgesetzes fest. Die Verteidigung von Demokratie und Menschenrechten ist damit die Grundlage des Handelns aller Verfassungsorgane geworden und Teil der außenpolitischen Identität Deutschlands. Sollte sich dieses demokratiepolitische Mandat im außenpolitischen Handeln nur auf Fragen der internationalen Politik beziehen oder auch auf Angelegenheiten der Innenpolitik anderer Staaten? Dabei gilt es zu unterscheiden: Erstens reicht die Geltungskraft unseres Demokratieverständnisses in solchen Fällen in außenpolitische Belange hinein, in denen die rechtliche Ordnung in Deutschland aus der internationalen Umgebung heraus gefährdet oder in Frage gestellt wird, zum Beispiel durch Angriffe terroristischer Organisationen oder durch Cyberattacken auf essentielle Institutionen der demokratischen Infrastruktur, etwa solche, die der Durchführung von Wahlen dienen. Zweitens ist die Achtung der Demokratie ein Gut, das nicht im gerne bemühten Gebot der unzulässigen »Einmischung in innere Angelegenheiten« seine Beschränkung finden kann.
Varianten von Autoritarismus und Autokratien in den Blick nehmen
Die Welt autoritär regierter Staaten ist nicht homogen. Ein einheitlicher Maßstab für außenpolitisches Handeln ihnen gegenüber wird daher kaum anzulegen sein. Hinzu kommt, dass gerade ihr internationaler Auftritt und die damit oft verbundene Anerkennung für viele autokratische Staatslenker ein willkommenes Instrument zur Machtkonsolidierung darstellt, das ihnen auch innenpolitische Legitimität verschafft. Deutsche Außenpolitik steht damit vor einem schwierigen Problem: Sie kann ihr Urteil nicht allein auf die Bewertung der »Qualitäten« des jeweiligen Regimes und dessen innere Dynamiken stützen, sondern muss auch das regionale und globale Umfeld mitberücksichtigen.
Das Spektrum möglicher Ausprägungen autoritärer Herrschaftspraktiken ist sehr groß,4 von repressiven Autokratien, wie in Nordkorea und Syrien, über liberale Autokratien, die Medien und Zivilgesellschaften noch Entfaltungsmöglichkeiten belassen, wie Jordanien oder Marokko, bis hin zu Modernisierungsautokratien, die repressive Elemente mit der Gewährung bestimmter bürgerlicher Freiheiten kombinieren, wie dies am Fall Saudi-Arabiens sichtbar wird. Eine besondere Stellung nehmen »autoritäre Gravitationszentren« wie Russland, Saudi-Arabien oder Venezuela ein, die nicht nur im engeren regionalen Rahmen ein autokratisches Rollenmodell vorleben und verbreiten, sondern sogar entsprechende Herrschaftstechniken durch kollektive Lernprozesse ausfeilen und über gemeinsame Diffusionsinstrumente weltweit propagieren.5 Enge Partner Deutschlands wie das Nato-Mitglied Türkei gilt es in besonderem Maße in den Blick zu nehmen, weil an sie ein höherer Anspruch an die Durchsetzung demokratischer Regeln zu stellen ist, als dies von weniger nahestehenden Regimen gefordert werden kann. Zudem muss eingeschätzt werden, ob die jeweiligen autoritären Regime revisionistische oder gar expansionistische Tendenzen aufweisen, also eine den internationalen Status quo verändernde Strategie verfolgen. Entsprechend abgestuft muss die deutsche Außenpolitik auf die Verstöße dieser Staaten gegen grundlegende Normen und Regeln von Demokratie reagieren. Demokratieförderung, sei es im Rahmen staatlicher Kooperation oder durch zivilgesellschaftliche Akteure wie die politischen Stiftungen, trifft auch zunehmend auf Widerstand in den Gastländern, die das Engagement im Dienste der Menschenrechte und politischer Teilhabe einschränken, erschweren oder gar unmöglich machen.
Von der externen Demokratieförderung zu einer internationalen Politik demokratischer Resilienz
In der Vergangenheit stützte sich Demokratieförderung auf zwei Ansätze, einen antagonistischen und einen fördernden: Mit spezifischen, etwa gegen bestimmte Personen gerichteten Strafmaßnahmen (wie gegenwärtig in den Fällen Belarus, Nicaragua und Venezuela) oder umfassenderen Sanktionsregimen (wie im Beispiel Kuba) wurde versucht, einen Regimewandel zu befördern, nicht zuletzt indem man Oppositionelle unterstützte oder deren Diaspora-Organisationen subventionierte. Dem stand die fördernde Herangehensweise gegenüber, bei der Maßnahmen zum Demokratieaufbau im Vordergrund standen mit dem Ziel, vorhandene Partizipationsräume zu erweitern und der Vielfalt der Stimmen im Sinne einer pluralistischen Gesellschaft zum Ausdruck zu verhelfen. Man wollte Impulse geben und verband damit die Hoffnung, Parlamente, Parteien, Medien und zivilgesellschaftliche Gruppen in den Adressatenländern via Nachahmung und Überzeugung, aber auch über das Setzen von Konditionalitäten (wie etwa im EU-Beitrittsverfahren) zur Entwicklung und Ausweitung demokratischer Normen zu bewegen.6 Zentral ist dabei, Vertrauen in die Instanzen und Verfahren der Demokratie zu schaffen, um zu verhindern, dass durch den demokratischen Wettbewerb innergesellschaftliche Konfliktlinien aktiviert werden, die von (noch) schwachen Institutionen meist nicht bearbeitet werden können. Diesem Ziel dienen in erster Linie die klassischen Instrumente der Parteienförderung und der Erweiterung von Partizipationsräumen zivilgesellschaftlicher Akteure. Im Mittelpunkt eines entsprechenden Engagements stehen bislang meist die politischen Eliten, an deren Machterhaltungsinteressen sich dieser etablierte Ansatz der Demokratieförderung oftmals bricht, da es nicht gelingt, sie in demokratischen Verfahren zu sozialisieren.
Heute muss sich ein neues Verständnis von Demokratieförderung konstituieren, bei dem nicht nur das Anstoßen und Dynamisieren, sondern auch das Verteidigen demokratischer Standards in den Blick genommen wird. Dies verlagert die Perspektive hin zu der Frage, welche Instrumente, Verfahren und Organisationen geeignet sind, die Widerstandsfähigkeit von Demokratien zu stärken. Es geht darum, eine Politik der demokratischen Resilienz zu formulieren,7 die sich auf jene institutionellen Beziehungen fokussiert, die für das Funktionieren demokratischer Herrschaft essentiell sind und antidemokratisches Verhalten abwehren können: also robuste Institutionen wie transparente und faire Wahlverfahren, effektive Gewaltenteilung, freie Medien. Dabei ist zudem die transnationale Dimension der Demokratieanfechtung in Rechnung zu stellen, die sich in Gestalt gezielter externer Angriffe auf demokratische Verfahren (wie Wahlen) mittels hybrider Interventionen anderer Staaten herausgebildet hat.8
Doch auch ein solch anspruchsvolles Programm zur Stärkung der demokratischen Widerstandskraft bedarf der Prioritätensetzung, und zwar nicht nur in Bezug auf die Auswahl der Länder, sondern auch auf die eigenen Möglichkeiten. Angesichts begrenzter Handlungsressourcen muss sich eine Politik demokratischer Resilienz auf die frühe Phase von Autokratisierungsprozessen konzentrieren,9 in der bestehende Freiräume noch genutzt und die Widerstandsfähigkeit, insbesondere der Justiz, gegebenenfalls noch gestärkt werden können. Sind erst einmal die institutionellen Beziehungen massiv geschwächt, kann eine solche Politik nur noch reagieren, mit einem stark reduzierten Arsenal an Optionen. Eine Politik der demokratischen Resilienz ist eine Politik »ohne rote Linien«, die agil und eng vor Ort agieren muss, auch wenn die betreffenden Partner und Institutionen demokratisch nicht »lupenrein« sind. Mit der Kritik der Anwendung »doppelter Standards« wird man dabei weiterhin leben müssen.
Empfehlenswert ist daher eine präventive Ausrichtung, die nicht statischen Formaten folgt, sondern auch strategische Anpassungen zulässt, um die Leistungsfähigkeit demokratischer Verfahren zu steigern und zu erweitern. Daraus folgt, Länder wie etwa El Salvador, Indonesien und die Philippinen in den Blick zu nehmen, in denen Maßnahmen aktiver Ent-Polarisierung oder transformativer Re-Polarisierung noch erfolgreich sein können.10 Dies bedeutet nicht, völlig auf reziproke Strategien der Oppositionskräfte gegenüber staatlichen Maßnahmen zu verzichten, sondern mit anderen Themen und Formaten zu arbeiten, die bestehende Polarisierungsmuster weder be- noch verstärken. Eine solche Strategie verlangt von den handelnden Akteuren umfassende lokale Kenntnisse und die schnelle Verfügbarkeit von Ressourcen. Letztere könnten durch einen »Resilienzfonds« bereitgestellt werden, auf den unbürokratisch zugegriffen werden darf.
Prioritäten festlegen: Eine Politik der demokratischen Resilienz muss sich primär auf jene Institutionen in Staaten konzentrieren, in denen Gefährdungen sichtbar werden oder eine Abschwächung autoritärer Herrschaftspraktiken (wie gegenwärtig im Sudan) zu erkennen ist. Robuste Institutionen müssen in den entsprechenden Staaten mit »leichten« Apparaten, also geringem bürokratischen Aufwand, flexibel und zeitnah gestützt werden. Damit fallen etwa autoritäre Gravitationszentren aus einem solchen Raster heraus, da sie nur schwer mit proaktivem Handeln zu beeinflussen sind.
Politisierung von Kooperationsformaten: Eine Politik der demokratischen Resilienz zu betreiben bedeutet, »klare Kante« zu zeigen und Fehlentwicklungen öffentlich auch in anderen Ländern als solche anzusprechen. Wer gegen Demokratieabbau angehen will, muss klare Positionen formulieren. Mögliche negative Konsequenzen sollten durch Formate der Risiko- und Verantwortungsteilung abgefedert werden – im nationalen Kontext durch den Aufbau von Netzwerkstrukturen, digitalen Formaten und Multiakteursallianzen; international durch gemeinsames Handeln verschiedener Geber und ihrer Durchführungsorganisationen.
Lagerbildung entgegenwirken: Es gilt zu vermeiden, Regierungen mit autoritären Tendenzen in eine gemeinsame Front zu treiben, in der Fehlannahme, mit der Bildung eines demokratischen Blocks ließen sich demokratische Werte und Prinzipien besser durchsetzen. Denn mit einem solchen Vorgehen könnten auch entgegengesetzte Wirkungen auftreten: Wenn die Welt erneut in Lager aufgespalten wird und neue Gräben aufgerissen werden, dürfte gemeinsames Handeln erschwert oder sogar unmöglich werden. Wirtschaftliche Interdependenz und soziale Verflechtungen bilden nach wie vor wichtige Voraussetzungen für das Einwirken auf den autoritären Charakter eines Regimes.
Build Back Better global denken: Strategien aus dem Globalen Süden stärken
Christina Saulich / Svenja Schöneich
»Build Back Better« (BBB) ist eine Strategie für den sozioökonomischen Wiederaufbau nach der Corona-Pandemie. Ziel ist es, Schwachstellen im weltweiten Wirtschaftssystem zu korrigieren. Die Bundesregierung hat sich in ihrem Aufbau- und Resilienzplan und im Rahmen des Europäischen Aufbauplans dazu verpflichtet, den Wiederaufbau nach der Gesundheitskrise an den Prämissen sozialer Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit auszurichten. Während der Fokus bisher auf der Bekämpfung der Pandemie und ihrer Folgen in Deutschland und Europa lag, muss die kommende Regierungskoalition BBB nun stärker in globaler Dimension denken. Als Folge der internationalen Vernetzung bei der Produktion von Gütern, beim Handel und bei Investitionen entlang globaler Lieferketten hängen die Erholung und künftige Resilienz der deutschen und europäischen Wirtschaft auch von der Bewältigung der wirtschaftlichen Krisen und von der politischen Stabilität in den Ländern des Globalen Südens ab. Mögliche negative Auswirkungen der deutschen bzw. europäischen BBB-Strategie auf andere (Sub-)Kontinente oder Regionen müssen daher eingehender berücksichtigt werden. Andernfalls drohen sie die wirtschaftlichen und entwicklungspolitischen Ziele Deutschlands und Europas zu konterkarieren. Um dies zu vermeiden, sollte sich die neu gewählte Bundesregierung für einen globalen »Dialog der Strategien« einsetzen.
Regionale Wiederaufbaustrategien verstehen
Die Schwerpunkte der Wiederaufbaustrategien in den Regionen des Globalen Südens und des Globalen Nordens unterscheiden sich je nach den sozioökonomischen Herausforderungen, die vor Ort als besonders drängend angesehen werden. Wo sie sich überschneiden, zum Beispiel bei der Stärkung regionaler Wertschöpfungsketten, variiert die Umsetzung aber aufgrund der unterschiedlichen räumlichen Kontexte stark. Im Vergleich zu den meisten asiatischen Ländern, die über wettbewerbsfähige verarbeitende Industrien und hohe Produktionskapazitäten verfügen, stellt die Konsolidierung regionaler Wertschöpfungsketten für Lateinamerika und Afrika aufgrund des (mit einigen Ausnahmen) niedrigen Industrialisierungsgrads eine große Herausforderung dar. Beide Regionen fungieren in globalen Lieferketten oft als Lieferanten kritischer Rohstoffe für den Globalen Norden und stehen daher im Fokus dieses Beitrags. Weil Produktion und Handel international verzahnt sind, wirken sich Eingriffe an einer Stelle automatisch auf die gesamte Lieferkette aus. Um den Wiederaufbau in Lateinamerika und Afrika zu unterstützen und Auswirkungen der deutschen und europäischen BBB-Strategie auf beide Kontinente abschätzen zu können, ist es wichtig, regionale Strategien besser zu verstehen.
Europäische Prioritäten
Die Europäische Union setzt in ihrem Aufbauplan »NextGenerationEU« und dem 2021 beschlossenen Siebenjahreshaushalt auf Klimaschutz und Digitalisierung. Da Deutschland den Haushalt maßgeblich mitgeplant hat, decken sich die Schwerpunkte des Deutschen Aufbau- und Resilienzplans (DARP) weitestgehend mit denen der EU. Ein Drittel der Investitionen auf EU-Ebene fließt in die Umsetzung des »Grünen Deals«, der die EU bis 2050 klimaneutral machen soll. Mit Hilfe des »Fonds für einen gerechten Übergang« sollen die sozioökonomischen Kosten der grünen Transition abgefedert werden. Zentrale Elemente in der Debatte über BBB sind die Konzepte Reshoring und Nearshoring. Zur Steigerung der strategischen Autonomie der EU und der Versorgungssicherheit, die insbesondere die Versorgung mit den für die grüne Transition notwendigen Rohstoffen betrifft, sollen ausgewählte Produktionsstätten in EU-Mitgliedstaaten oder Nachbarländer verlegt werden. Im Juni 2021 schloss sich Deutschland im Zuge des G7-Gipfels darüber hinaus der Initiative Build Back Better World (B3W)1 an. B3W zielt darauf ab, umfangreiche Investitionen in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen in den Bereichen Klima, Gesundheit, Digitalisierung und Geschlechtergerechtigkeit zu fördern.
Build Back Better in Afrika
Die afrikanischen Staaten setzen bei der Bekämpfung der Pandemie auf regionale Kooperation im Rahmen der Afrikanischen Union (AU) und der afrikanischen Regionalorganisationen sowie auf die Unterstützung durch internationale Akteure wie die WHO, die Weltbank, die International Finance Corporation (IFC), aber auch von Seiten Chinas. Die von der AU entwickelte Regionalstrategie priorisiert den Aufbau von Ressourcen zur Bekämpfung des Coronavirus, unter anderem durch die Africa Centres for Disease Control and Prevention. Im Februar 2021 forderte die AU, das TRIPS-Abkommen, das auch die Rechte des geistigen Eigentums an Produkten und Technologien schützt, die der Bekämpfung des Virus dienen, für die Dauer der Pandemie auszusetzen. Die Forderung scheiterte bisher unter anderem am Widerstand der EU.
Die Mobilisierung finanzieller Ressourcen ist ein weiterer wichtiger Baustein der afrikanischen BBB-Strategie. Stimulus-Pakete der Afrikanischen Entwicklungsbank und internationaler Organisationen und die von den G20-Finanzministern beschlossene Aussetzung von Zinszahlungen für öffentliche Schulden und Staatsanleihen für einkommensschwache Länder konnten die regionale Liquiditätskrise jedoch nur bedingt abfedern. Für den wirtschaftlichen Wiederaufbau setzt die AU auf eine schnelle und effektive Operationalisierung der im Januar 2021 gestarteten Afrikanischen Freihandelszone (AfCFTA). Durch die Beseitigung von Schranken für den intraregionalen Handel sollen innerafrikanische Wertschöpfungsketten gestärkt und ausländische Direktinvestitionen angezogen werden.2 Die AfCFTA hat das Potential, langfristig die wirtschaftliche Resilienz afrikanischer Staaten zu erhöhen, und kann mittelfristig eine wichtige Rolle beim Wiederaufbau spielen. Für eine erfolgreiche Umsetzung des Freihandelsabkommens bedarf es jedoch – neben politischem Willen – umfangreicher ökonomischer Reformen in den AU-Mitgliedstaaten, Investitionen und unterstützender Maßnahmen zur Stärkung des Privatsektors.
Lateinamerikanische Strategie(n)
Die Staaten Lateinamerikas haben sehr unterschiedlich auf die Pandemie reagiert. Inzwischen bündeln jedoch viele ihre Bestrebungen und formulieren gemeinsame Ziele für den Wiederaufbau. Regionale Organisationen wie die Economic Commission for Latin America and the Caribbean (ECLAC) und die Community of Latin American and Caribbean States (CELAC) ermitteln die Herausforderungen für die Region und erarbeiten Strategien für den Wiederaufbau. Dabei rücken sie besonders das Problem der sozialen Ungleichheit in den Mittelpunkt, das in den meisten Staaten Lateinamerikas mit einem großen Misstrauen der Bürger in staatliche Institutionen einhergeht. Die teils intransparenten oder gar widersprüchlichen Maßnahmen im Umgang mit der Pandemie haben diese Distanz zum Staat in vielen Fällen noch verstärkt. Die Wiederaufbaustrategien der lateinamerikanischen Regierungen richten sich daher auf die Stärkung von effektiver Governance unter den Vorgaben sozialer Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit, wozu unter anderem die Digitalisierung genutzt werden soll.
Für viele lateinamerikanische Staaten ist der Rohstoffabbau und -export der Hauptpfeiler ihrer Wirtschaft. Diese Branche hat aber massiv unter der Krise gelitten. Ziel der BBB-Strategie ist es daher, den Ressourcenexport zu fördern und den gesamten Rohstoffsektor gerechter und nachhaltiger zu restrukturieren, zum Beispiel durch vermehrte Investitionen in neue Technologien und den Ausbau erneuerbarer Energien. Einige Länder haben bereits Conditional-Cash-Transfer-Programme eingeführt, die Anreize zum Umwelt- und Gesundheitsschutz und zur nachhaltigen Produktionsweise enthalten, und Fiskalpakte beschlossen, mit einem Schwerpunkt auf nachhaltige Investitionen.3
Die Notwendigkeit kompatibler Regionalstrategien
Die europäische Wirtschaft ist eng mit den Produktions- und Verarbeitungsstandorten in Lateinamerika und Afrika vernetzt. Insofern hängt der Wiederaufbau in Europa und Deutschland auch unmittelbar von einer erfolgreichen Bekämpfung der Pandemie und der wirtschaftlichen Erholung in diesen Regionen ab. Regionale BBB-Strategien müssen daher miteinander kompatibel sein. In Anlehnung an die deutschen und europäischen Prioritäten für den Wiederaufbau ergeben sich für die künftige Bundesregierung drei zentrale Aktionsfelder, durch die sich die BBB-Strategien in Lateinamerika und Afrika stärken lassen und Deutschland in einen globalen »Dialog der Strategien« eintreten kann.
B3W als attraktives Kooperationsangebot etablieren: deutsche G7-Präsidentschaft nutzen
Die G7-Staaten stellen ihr Infrastrukturprojekt Build Back Better World (B3W) als wertebasierte und transparente Alternative zur chinesischen Belt and Road Initiative (BRI) dar. Im Rahmen von B3W sollen Partnerschaften auf Augenhöhe mit Ländern des Globalen Südens etabliert werden. Die bisherige Verteilung des Corona-Impfstoffs und die Entscheidung, den Patentschutz auf die Impfstoffentwicklung nicht auszusetzen, haben jedoch bestehende globale Machtungleichwichte erneut manifestiert und die Glaubwürdigkeit der B3W-Initiative in Frage gestellt. Dagegen haben viele Länder des Globalen Südens Chinas Masken- und Impfdiplomatie positiv bewertet. Gleichzeitig sehen einige Regierungen in den Zielregionen das Vorgehen Pekings im Kontext der BRI aber auch durchaus kritisch.
B3W bietet eine Gelegenheit für Deutschland, sich im Verbund mit der G7 als attraktiver Partner für Staaten mit mittlerem und niedrigem Einkommen zu positionieren. Die Initiative sollte dabei jedoch vor dem Hintergrund der schwelenden Rivalität zwischen China und den USA nicht als Gegenpol zur BRI ausgestaltet werden, sondern die adressierten Länder durch attraktive Kooperationsangebote überzeugen. Dafür müssen sich Investitionen an den Wiederaufbaustrategien der Partnerregionen orientieren. Die neu gewählte Bundesregierung sollte die Chance der anstehenden G7-Präsidentschaft ergreifen, die Kriterien für die Umsetzung von B3W maßgeblich mitzugestalten. Mit Blick auf das deutsche und das geplante europäische Sorgfaltspflichtengesetz sollte der Einhaltung hoher Nachhaltigkeits- und Transparenzstandards Vorrang eingeräumt werden. Diese und die Mechanismen zu deren Überprüfung sollten gemeinsam mit den Partnerländern festgelegt werden.
Nearshoring fair gestalten: lokale Lieferketten durch die EU‑Handelspolitik stärken
Versorgungsengpässe während der Pandemie haben deutlich gemacht, dass die Organisation von Lieferketten dringend überdacht werden muss. In der EU und in Ländern des Globalen Südens sollen mittels Nearshoring, Reshoring und Decoupling einzelner Wirtschaftssektoren regionale Lieferketten gestärkt werden. In ressourcenreichen Ländern in Lateinamerika und Afrika, die über wenig weiterverarbeitende Industrie verfügen, ist dies nicht ohne einen zusätzlichen Industrialisierungsschub zu realisieren. Sollte die EU Teile der Verarbeitung in geographischer Nähe zu Europa ansiedeln, würde dies dem Bestreben zuwiderlaufen, in den genannten Regionen die Bildung und Konsolidierung robuster lokaler Wertschöpfungsketten zu unterstützen. Die zukünftige Bundesregierung sollte daher ihre starke Stimme in der EU nutzen, um sich im Rahmen der europäischen Handelspolitik für den Auf- und Ausbau wirtschaftlich, sozial und ökologisch nachhaltiger und transparenter Verarbeitungsindustrien in Ländern des Globalen Südens einzusetzen. Ziel sollte es dabei sein, die Krisenfestigkeit internationaler Lieferketten zu stärken und die eigene Versorgungssicherheit zu erhöhen.
Mit Blick auf Afrika sollte sich die neue Bundesregierung beim nächsten EU-AU-Gipfel für eine umfassendere Unterstützung der AfCFTA einsetzen. Die bestehenden Maßnahmen könnten durch Hilfen beim Aufbau von Produktionskapazitäten und bei der Einrichtung eines Mechanismus ergänzt werden, der Ungleichheiten innerhalb der AfCFTA abmildert. Die EU sollte dabei nicht auf wirtschaftliche Partnerschaftsabkommen mit einzelnen afrikanischen Regionalorganisationen hinwirken. Dies könnte sich negativ auf die Umsetzung der AfCFTA und den Aufbau von verarbeitenden Industrien in der Freihandelszone auswirken. Darüber hinaus sollten europäische und internationale Investitionsprogramme wie der EU External Investment Plan für Afrika, der Compact with Africa der G20 und B3W stärker auf die AfCFTA ausgerichtet werden. Mit Blick auf Lateinamerika sollte sich Deutschland dafür einsetzen, dass im Rahmen der Verhandlungen über bilaterale Freihandelsabkommen, wie jenes zwischen Chile und der EU, neben handelspolitischen Erwägungen auch der Ausbau nachhaltiger, lokaler Verarbeitungsindustrien berücksichtigt wird.
Energiewende global denken: Maßnahmen für einen gerechten Übergang umsetzen
Der Fokus der deutschen und europäischen BBB-Strategie liegt auf der grünen Transition. Mögliche negative Effekte der in anderen Regionen angestrebten Dekarbonisierung werden bisher jedoch wenig berücksichtigt. Das große Interesse an der Sicherheit der Versorgung mit kritischen Mineralien, die für die Entwicklung grüner Technologien unabdingbar sind, darf aber nicht dazu führen, dass soziale und ökologische Auswirkungen in den Abbau- und Verarbeitungsländern ausgeklammert werden und das Ziel, die lokale Wertschöpfung zu fördern, aus dem Blick gerät. Geplante Policy-Instrumente zur Umsetzung des »Grünen Deals« wie der CO2-Grenzausgleichsmechanismus für Importe stellen kohleabhängige Länder im Globalen Süden vor wirtschaftliche Herausforderungen. Es fehlt ihnen am Zugang zu Technologien und an finanziellen Spielräumen, die nötig sind, um die Energiewende voranzutreiben und deren soziale Kosten abzufedern. Die negativen gesellschaftlichen und ökologischen Begleiterscheinungen des Abbaus und der Verarbeitung von Rohstoffen im Globalen Süden zu vermindern ist eine wichtige Voraussetzung, wenn es darum gehen soll, die Nachhaltigkeit von in Deutschland produzierten Endprodukten zu steigern. Um dies zu erreichen, sollte die neue Bundesregierung im Rahmen bilateraler Partnerschaften einen Schwerpunkt auf Technologie- und Wissenstransfer legen. Darüber hinaus sollte sie sich im Zuge des G20-Gipfels im Oktober und ihrer anstehenden G7-Präsidentschaft für die Schaffung eines globalen Fonds einsetzen, der die sozioökonomischen Kosten der Energiewende in Ländern des Globalen Südens mindert.
Bei Betrachtung der beschriebenen drei Aktionsfelder wird deutlich, dass mangelnde Kompatibilität zwischen regionalen BBB-Strategien das Bemühen um einen gerechten und nachhaltigen globalen Wiederaufbau konterkarieren kann. Um dies zu verhindern, ist ein internationaler »Dialog der Strategien« notwendig, bei dem regionale Prioritäten und deren Auswirkungen diskutiert und abgestimmt werden.
Gestaltungswandel
Klimaziele und Energiepolitik außenpolitisch stärker gestalten
Susanne Dröge / Kirsten Westphal
Die Klima- und die Energieaußenpolitik Deutschlands hatten in der Vergangenheit viele Schnittstellen, folgten aber ihren jeweiligen Pfadabhängigkeiten und wurden weitgehend getrennt bearbeitet.1 Der Energiesektor verursacht jedoch zwei Drittel der klimaschädlichen Emissionen weltweit und steht damit im Zentrum der Klimaagenda. Um zügig mehr klimafreundlichen Strom sowie grünen Wasserstoff (H2) zu erzeugen, müssen neben einer Verbesserung der Energieeffizienz die erneuerbaren Energien massiv ausgebaut werden. Ein Umbau der langlebigen Infrastrukturen in der Industrie, im Gebäudebestand und bei den Verkehrsnetzen muss dies begleiten. Mit dem Green Deal hat die EU ihre Klimapolitik auch für die Industrie, den Verkehr und die Landwirtschaft erneut konkretisiert und erweitert. Klimaschutz-, Energie-, Technologie- und Industriepolitik verschränken sich also immer mehr. International sind sie allerdings Austragungsfeld geoökonomischer Rivalitäten. Entsprechend braucht die Diplomatie sowohl eine neue Taktrate als auch eine mittelfristige strategische Orientierung.
Klimaschutz-Ambitionen und Veränderungen im Energiebereich
2021 hat sich die Bundesregierung nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 24. März 2021 den Zielen verpflichtet,2 Klimaneutralität bis 2045 zu erreichen und bis 2030 die Treibhausgasemissionen um 65 Prozent im Vergleich zu 1990 zu senken. Dies verstärkt noch einmal das Primat des Klimaschutzes. Gleichzeitig veranschaulicht der deutsche Energieverbrauchsmix, dass fossile Energiequellen dominieren; Anteile von 33,7 Prozent bei Erdöl, 26,6 Prozent bei Erdgas, 15,8 Prozent bei Kohle sowie 6,0 Prozent bei Kernkraft und 16,6 Prozent bei erneuerbaren Energien verdeutlichen die Dimension des Transformationsbedarfs.3
Auch auf EU-Ebene wurde beschlossen, klimaneutral zu werden, und zwar bis 2050; EU-weit sollen die Emissionen bis 2030 um 55 Prozent gegenüber 1990 sinken. Im Zuge des »Fit for 55«-Pakets hat die Europäische Kommission im Juli 2021 ein erstes Maßnahmenbündel vorgeschlagen, und mit dem Europäischen Aufbauplan »NextGenerationEU« sollen klimafreundliche Investitionen gefördert werden.4
Da ein europäischer Alleingang schwer umsetzbar und teuer ist und zudem an den Außengrenzen und in den Nachbarschaftsbeziehungen zu Verwerfungen führen kann, geht kein Weg daran vorbei, die tiefgreifende und schnelle Dekarbonisierung über engere Kooperation anzustoßen.5 Grundlegende Aufgabe für die deutsche und europäische Klimadiplomatie ist es daher, den klimapolitischen Konsens, wie er 2015 mit dem Pariser Abkommen geschaffen wurde, zu erhalten und zu vertiefen. Die Energiediplomatie muss sowohl für den »Phase-out« bei den fossilen Energiequellen als auch für den »Phase-in« von erneuerbaren Elektronen und Molekülen intensiviert werden.
Ein Kohleausstieg gilt als dominante globale Klimalösung
Der weltweite Ausstieg aus der Kohle ist klimapolitisches Ziel vieler Mitgliedstaaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Die globale Nachfrage nach diesem Energieträger ist ungebrochen – trotz der Pandemie – und wird von China angetrieben, das rund 56 Prozent des globalen Kohleangebots verbrennt.6 Für die deutsche Kohleverstromung steht 2038 als spätestes Ausstiegsdatum fest, was mit einer sozialverträglichen Transformation (»just transition«) einhergehen soll. Langfristig wird es mit Blick auf die Klimaziele notwendig sein, ebenfalls auf Erdgas zu verzichten.
Wie stark und schnell der Erdölverbrauch in Deutschland und der EU zurückgehen wird, hängt davon ab, wie umfassend alternative Energiequellen für Transport und Mobilität genutzt werden. Eine zügige Reduktion des Ölverbrauchs wird weitreichende geopolitische Folgen haben; die EU steht für zwölf Prozent des globalen Verbrauchs.7 Die Abkehr der EU vom Öl wird Länder in ihrer Nachbarschaft wie Algerien, Nigeria, Angola und Aserbaidschan empfindlich treffen. Was die Ölförderung angeht, könnte der Anteil der arabischen Golfstaaten und Russlands weiter steigen, während sich aufgrund der Kehrtwende in der US-Klimapolitik unter Präsident Biden die Anzeichen mehren, dass in den USA einer verlängerten und ausgeweiteten Öl- (und auch Gas-)Förderung regulatorisch ein Riegel vorgeschoben wird.8
Ausbau der erneuerbaren Energien und die Bedeutung Europas
Zwar erleben die erneuerbaren Energien weltweit einen rasanten Aufstieg, aber weder reicht das Tempo noch die Kapazität, um dem Bedarf gerecht zu werden, geschweige denn, um die Erderwärmung nachhaltig zu verlangsamen. Selbst wenn Europa noch großes Ausbaupotential hat, werden Deutschland und die EU grünen Strom ebenso wie klimaneutrales H2 importieren müssen, um ihren Bedarf zu decken. Dafür müssen Leitungen und Netze entsprechend gesamteuropäisch ausgebaut werden. Zudem ist die europäische Energiewende abhängig von neuen technologischen Lösungen wie Offshore-Windparks, effizienteren Batterien und Elektrolyseuren. Metalle und seltene Erden, aber auch die komplexen Lieferketten für diese Rohstoffe und für Technologiekomponenten ergänzen die Liste der neuen außenpolitischen Herausforderungen. Klimaneutrale Rohstoffe und Energieträger müssen zeitnah, verlässlich und kostengünstig verfügbar sein, wenn europäischen Industrien keine Standortnachteile entstehen sollen.
Klima- und Energieaußenbeziehungen: Schnittstellen, Divergenzen und Partner
Um ein Sinken der Importe fossiler Brennstoffe und den Ausbau klimafreundlicher Alternativen außenpolitisch zu flankieren, brauchen Klima- und Energieaußenbeziehungen Leitplanken. Deutschland und die EU sollten die notwendigen Normen, Standards und Regeln zunächst in der EU sowie im gesamten Europäischen Wirtschaftsraum, in der Energiegemeinschaft und dem Vereinigten Königreich weiterentwickeln.9 Insbesondere Wasserstoff muss in die EU-Energieunion integriert werden. Sodann gilt es, diese Leitplanken auch global zu verhandeln und letztlich umzusetzen.
Mit den USA, China und Japan und weiteren G20-Staaten müssen handelspolitische Rahmenbedingungen, eine koordinierte Bepreisung von Kohlendioxid (CO2) sowie konkrete klima- bzw. energiebezogene Standards für relevante Sektoren und Güter ausgehandelt und verankert werden.
Angesichts begrenzter Ressourcen ist es geboten, sich geographisch auf Ankerpartnerländer der afro-euro-asiatischen Ellipse zu konzentrieren.10 Damit sind jene Länder der Nachbarschaft im Mittelmeer-, Schwarzmeer- und Kaspischen Raum gemeint, mit denen sowohl klimapolitische Ziele als auch alte und neue Themen der Energieaußenpolitik bearbeitet werden müssen. Dort werden Standorte der Erzeugung liegen und überdies wichtige Leitungen für den Bezug grüner Elektronen und Moleküle verlaufen.
Der Umgang mit Russland bleibt wohl die größte geopolitische und wirtschaftliche Aufgabe aufgrund seiner herausragenden Stellung als Öl-, Gas- und Rohstofflieferant. Das Eskalationspotential ist groß; prominentestes Beispiel ist die Pipeline Nord Stream 2. Des Weiteren ist die geplante Abkopplung des Baltikums, der Ukraine und der Republik Moldau vom postsowjetischen Stromnetz brisant. Die Integration der Ukraine in den europäischen Energiemarkt ist bereits eine politische Priorität. Eine Zusammenarbeit mit Russland beim Thema Wasserstoff könnte helfen, zu einer Positivagenda zu gelangen und eine Balance zwischen Kooperation, Konfrontation und Wettbewerb herzustellen.
Schließlich sind der Maghreb, Ägypten und die Türkei energiepolitische Schlüsselländer und außerdem Brückenköpfe nach Afrika, in den Nahen Osten und nach Asien, wo sich eine Interkonnektivitätsdynamik entfaltet. Die dort entstehenden Wirtschafts- und Logistikkorridore sollten als Teil der EU-Afrika-Partnerschaft im Rahmen des Green Deal ausgestaltet werden.
Ob die genannten Partnerländer sich stärker für klimafreundliche Energien engagieren werden, wird nicht zuletzt davon abhängen, wie sie politisch mit den Erfahrungen der sich mehrenden klimabedingten Extremwetterereignisse umgehen.
Optionen für eine aktive Gestaltung
Die deutsche Klima- und Energiediplomatie braucht eine neue Gangart. Es muss gelingen, den Flickenteppich der deutschen Klima- und Energiepartnerschaften anhand von Prioritäten in eine kohärentere Landschaft zu überführen. Die Priorisierung sollte geographische und inhaltliche Ziele abbilden. Die neue Bundesregierung sollte erstens eine Bestandsaufnahme ihrer energie- und klimapolitischen Interessen mit Blick auf die jeweiligen ausländischen Partner vornehmen, zweitens eine Strategie ausarbeiten, die diese widerspiegelt.
Zu den Prioritäten gehört der Umgang mit Lieferanten fossiler Brennstoffe, der sich aktuell im Spannungsfeld zwischen Versorgungssicherheit und Klimaschutz vollzieht. Eine ressortspezifische Priorisierung, die sich an umwelt-, entwicklungs- oder außenwirtschaftspolitischen Überlegungen orientiert, hätte weiterhin ihre Bedeutung. Sie würde aber Teil eines Abstimmungsprozesses zwischen den Ressorts sein, der letztlich auf ein strategisches Zusammenspiel deutscher Diplomatie abzielt und widersprüchliche Signale in den Außenbeziehungen minimiert. Eine besondere Herausforderung wird die Dekarbonisierung der Gaswertschöpfungskette darstellen.
Geographisch kann Energiepolitik entlang konzentrischer Kreise entwickelt werden. Diese müssen in klimapolitischer Hinsicht ergänzt und konkretisiert werden. Für die zügige und tiefgreifende Transformation hin zur Klimaneutralität sind zum einen vorhandene ebenso wie neue Infrastrukturen entscheidend, zum anderen ein gemeinsamer Rechts- und Normenbereich. Das bringt eine Refokussierung auf die EU und weitere europäische Partner mit sich, erweitert um die Nachbarregionen der Nord- und Ostsee, des Schwarzmeer- und des Mittelmeerraums. Geeignete Foren für die »Stromnachbarn« und die »Wasserstoffnachbarn« sollten entlang von Industriezentren, Trassen und Netzen ausgebaut werden. Darüber hinaus muss Deutschland diese neuen Dimensionen der Außenbeziehungen in die europäische Handelspolitik hineintragen. Mittels geltender und künftiger Abkommen können Normen gesetzt und Transaktionskosten verringert werden – bestenfalls auch auf Ebene der Welthandelsorganisation.
Die handelspolitische Debatte über den Klimaschutz wird konkreter werden angesichts des Vorschlags der Kommission, ab 2026 an der EU-Grenze eine Abgabe für bestimmte energieintensive Güter einzuführen, die sich nach dem CO2-Gehalt der Produktionsprozesse richtet (CO2-Grenzausgleichsmechanismus/Carbon Border Adjustment Mechanism, CBAM).11 Einige Länder in der EU-Nachbarschaft reagierten darauf bereits mit steigendem Interesse an einer CO2-Bepreisung, auch OECD-Partner möchten mit der EU in dieser Frage kooperieren – während unter anderem China und Russland mit handelspolitischen Konsequenzen drohen, sollte es zur Umsetzung kommen. Die Bundesregierung sollte sich von solcher Droh-Rhetorik nicht beeindrucken lassen und stattdessen das Gelegenheitsfenster nutzen, 2022 über die G7, die G20 und weitere Foren die Klimaschutzpolitik auf eine gemeinsame Umsetzungsbasis zu stellen, nämlich den CO2-Preis und Emissionsstandards.
Instrumente und ihre nationale Umsetzung bleiben in den nächsten Jahren wichtige Verhandlungsthemen auf der Ebene der Vereinten Nationen, in den G‑Formaten und in existierenden multilateralen Institutionen. Für die effektive regionale und globale Zusammenarbeit bei neuen Technologien, Energieträgern, Interkonnektivität, Standards und Normen fehlt es aber noch an multilateralen Institutionen. Eine Bündelung der wachsenden Zahl paralleler Foren sollte zudem zügig vorangebracht werden. Dies wäre eine Aufgabe für die deutsche G7-Präsidentschaft 2022, mit der die neue Bundesregierung ihr Profil schärfen könnte.
Die Prominenz, die die Folgen des Klimawandels und der Druck in Richtung mehr Klimaschutz in Politik und Öffentlichkeit erlangt haben, hat in Europa und den USA die Dekarbonisierung zu einem Teil des Wettstreits um globale Führungsansprüche werden lassen. Dieser Wettstreit findet seinen Niederschlag in den globalen Klimaverhandlungen. Er wird jedoch auch wirtschaftlich ausgetragen. Deutschland kann nur zusammen mit seinen europäischen Partnern die kritische Größe erlangen und die außenpolitischen Hebel entwickeln, um in diesem Wettstreit zu bestehen. Technologieführerschaft, Standard- und Normensetzung, Regelraum und Marktgröße sollten Leitlinien der neuen Strategie sein und den gängigen diplomatischen Instrumentenkasten erweitern, um mehr Gewicht in die Waagschale werfen zu können.
Deutsche und europäische Asyl- und Migrationspolitik: Vom Krisenmodus zur vorausschauenden Gestaltung
Steffen Angenendt / Nadine Biehler / Nadine Knapp / Anne Koch / Amrei Meier
In den vergangenen Jahren waren die deutsche und die europäische Asyl- und Migrationspolitik stark krisengetrieben, insbesondere während und nach den umfangreichen Zuwanderungen von 2015/2016. Dabei haben die Regierungen vor allem versucht, mit kurzfristigen nationalen Maßnahmen die Zahl der Flüchtlinge und irregulären Migrantinnen und Migranten zu begrenzen.
Die Kosten eines bloß reaktiven Handlungsmodus sind aber gerade in diesem Politikfeld hoch. Das Ad-hoc-Vorgehen der Vergangenheit hatte problematische Folgen – so wurden die libysche Küstenwache und ihre menschenrechtsverletzenden Praktiken gefördert, die zunehmend autokratische Regierung der Türkei politisch gestärkt und die unwürdigen Zustände für Geflüchtete auf den griechischen Inseln verstetigt. Dies hat der Bundesregierung und der EU-Kommission Kritik eingebracht. Das Europäische Parlament ebenso wie UN- und Menschenrechtsorganisationen sehen das Europa- und Völkerrecht verletzt, insbesondere die Genfer Flüchtlingskonvention.1 Eine solche Politik nährt zudem Zweifel an der Fähigkeit der Regierenden, die komplexen Herausforderungen in dem Bereich zu bewältigen. Davon profitieren vor allem populistische Parteien und Bewegungen, die vermeintlich einfache Lösungen anbieten. Eine vorwiegend reaktive Politik vergibt letztlich Chancen, Migration so zu gestalten, dass sie zur nachhaltigen Zukunftssicherung in Gesellschaft und Wirtschaft beitragen kann.