Botschafter a.D. Dr. Eckhard Lübkemeier ist Gastwissenschaftler in der SWP-Forschungsgruppe EU / Europa
Seit zehn Jahren verharrt die EU in einer phasenweise existentiellen Dauerkrise. Zwar konnte ein Zerfall abgewendet werden, ausgestanden ist die Krise aber noch nicht. Damit Europa wieder zu einem Projekt wird, das mit Zukunft und Zusammenhalt verbunden wird und für das man sich und andere begeistern kann, müssen nachhaltige Krisenlehren gezogen werden.
Dazu werden in dieser Studie die exogenen und endogenen Krisenquellen mit dem Ziel diskutiert, Aus- und Irrwege aus der Krise aufzuzeigen. Denn Europa wird gebraucht: Frieden und Sicherheit, Freiheit und Demokratie, Wohlstand und soziale Teilhabe, globale Mitgestaltung und Mitbestimmung – in einer im Guten wie Gefahrvollen verflochtenen Welt können Europas Nationalstaaten all dies nur als Werte- und Handlungskollektiv erreichen.
Das macht Europas Banalität des Guten aus. Nicht nur, aber gerade für Deutschland. Wenn Europa scheitert, scheitert auch Deutschland, weil sein Wohlergehen massiv gefährdet wäre. Deutschland kann in Europa kein Hegemon sein, und eine (Europäische) Union von Nationalstaaten kann nur gedeihen, wenn alle nationale Eigenverantwortung übernehmen und europäische Solidarität üben. Geschichte, Geografie und Größe machen Deutschland zu einem Akteur mit besonderer Verantwortung und besonderen Möglichkeiten. Es sollte deshalb massiv in Europa und das deutsch-französische Zusammenwachsen investieren, was unbequeme Entscheidungen auch in der Verteidigungs- und Rüstungspolitik erfordert. Dies zu erklären und zu vertreten ist eine politische Führungsaufgabe in Deutschland.
Inhaltsverzeichnis
1 Problemstellung und Schlussfolgerungen
2 Das Dop pelgesicht der Europäischen Krise
3 Krisenquellen und Krisenauswege
3.1.1 Die Krise des globalisierten Kapitalismus
3.1.2 Die Krise der internationalen Ordnung
3.2.2 Die unausgegorene Währungsunion
3.2.3 Die und emokratische Union
3.2.4 Die un ausgewogene Union
3.2.5 Die undifferenzierte Union
4.1 Die selbstverständliche Union
4.3 Die orientierungslose Union
5 Empfehlungen für die deutsche Europapolitik
5.1 ■ Deutschland sollte massiv in Europa investieren
5.2 ■ Deutschland muss Mitführung übernehmen
5.3 (1) Selektive Mitführung geht nicht
5.4 (2) Mitführung durch Vorbildlichkeit
Problemstellung und Schlussfolgerungen
»Vergeude nie eine schwere Krise« (»You never want a serious crisis go to waste«) – diese von Rahm Emanuel, dem damaligen Stabschef von US-Präsident Obama, 2009 in der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise bemühte Mahnung gilt eigentlich immer. Erst recht, wenn es die letzte Krise sein könnte; und zwar nicht vor einer Erholung, sondern als Vorläuferin eines Zusammenbruchs.
Stand die Europäische Union (EU) in den letzten Jahren vor dem Kollaps? Da er nicht eingetreten ist, fehlt der Beweis. Unstrittig ist, dass sie eine tiefe, wenn nicht die tiefste Krise seit Beginn der europäischen Integration durchlief, in der phasenweise die Existenz der Union auf dem Spiel stand.
So lautet eine der wichtigsten Lehren daraus: Auch Europa (hier verstanden als politisches Gebilde mit Akteursqualität in Form der EU) ist nicht immun gegen »Murphys Gesetz«: Alles, was schiefgehen kann, wird irgendwann auch schiefgehen. Zudem ist die inzwischen zehnjährige Dauerkrise mit ihrem schwelenden Eskalationspotential noch nicht ausgestanden. Und die nächste Krise kommt bestimmt.
Wie kann die Europäische Union diesem Dauerzustand entkommen und krisenresistenter werden? Dafür reicht es nicht, ein ermattetes Europa gegen den Kollaps zu wappnen. Europa muss wieder zu einem Projekt werden, das nicht mit Krise und Streit, sondern mit Zukunft und Zusammengehörigkeit verbunden wird. Ein Projekt, für das man sich und andere begeistern kann.
Diesem Europa haftet eine »Banalität des Guten« an. Dabei ist das Projekt selbst das Gegenteil von banal: Die europäische Einigung in Form der EU ist die kostbarste Errungenschaft des 20. Jahrhunderts. Das gilt jedenfalls für Deutschland und seine europäischen Nachbarn.
Europas Banalität des Guten hat zwei Aspekte: einen willkommenen und einen problematischen. Spezifische historische Umstände und Erfahrungen haben zum europäischen Integrationsprozess geführt. Nur manche davon wirken fort, andere sind entfallen oder haben an Bindekraft eingebüßt. Gleichwohl: Gäbe es die europäische Union nicht bereits, läge es noch heute im elementaren Interesse der darin zusammengefassten Nationalstaaten, sie zu schaffen. Denn Frieden und Sicherheit, Freiheit und Demokratie, Wohlstand und soziale Teilhabe, globale Mitbestimmung und Mitgestaltung gemäß eigenen Werten und Interessen, all dies lässt sich in einer im Guten wie im Gefahrvollen verflochtenen Welt verlässlich nur durch ein geeintes und starkes Europa erreichen. Das macht das europäische Projekt aus nationaler Perspektive zur banal anmutenden Konsequenz eines aufgeklärten Eigeninteresses.
Die Kehrseite dieser Banalität ist ein leichtfertiger Umgang mit einem selbstverständlich gewordenen Europa. Gehen alle davon aus, dass ein Scheitern der EU sich für alle verbietet, kann dies die Bereitschaft beeinträchtigen, das europäische Gemeinwohl durch nationale Solidarität zu fördern. Europas Banalität des Guten wird dann zu einem Problem, wenn seine Krisenresistenz und Stabilität überschätzt werden.
Vor diesem Hintergrund werden in dieser Studie Antworten auf Fragen nach den Ursachen für Europas Dauerkrise und den Auswegen daraus gesucht. Dabei ist der Plural bewusst gewählt. Mag sein, dass es nur einen Ausweg aus der Krise gibt. Wer ihn entdeckt, verdient den Karlspreis gleich zweimal.
Europa ist, auch das eine Krisenlehre, widerstandsfähiger als von seinen Anhängern befürchtet und von seinen Gegnern erhofft. Das allein lässt Skepsis gegenüber monokausalen Krisenerklärungen und vermeintlichen Königswegen aus der Krise angeraten sein, ohne dass diese Zurückhaltung auf Beliebigkeit in der Analyse oder Leidenschaftslosigkeit in der Argumentation hinausliefe. Europas Dauerkrise und sein Beinahe-Kollaps haben Gründe. Nicht alle sind gleich gewichtig, daher wird hier eine zweifache Unterscheidung vorgenommen: zum einen zwischen exogenen und endogenen Krisenquellen, zum anderen zwischen endogenen Krisenursachen und Krisenverstärkern.
Beide Klassifizierungen sind nicht trennscharf, aber dennoch sinnvoll. Exogene und endogene Krisenpotentiale unterscheiden sich nach ihrer Urheberschaft. Endogene Krisen sind selbstinduziert, also solche, die es nur gibt, weil es auch die EU gibt. Im Unterschied dazu sind exogene Ursachen fremdinduziert, also an Umstände und Faktoren gebunden, die nicht auf die Existenz der EU, ihre Verfasstheit und Konstruktion zurückzuführen sind. Solche EU-unspezifischen Faktoren sind die Krise des globalisierten Kapitalismus und jene der internationalen Ordnung, die sich in tektonischen Um- und Abbrüchen im weltweiten Umfeld Europas manifestieren.
Gegen den exogenen Charakter dieser Ursachenkomplexe könnte eingewandt werden, dass die EU als ein Teil beider Komplexe eine (endogene) Mitverantwortung trage. Der europäische Anteil an der Krise des globalisierten Kapitalismus ist jedoch nicht der EU an sich geschuldet. Der Leitdoktrin von Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung hatten sich die Mitgliedstaaten verschrieben. Dieser Umstand spricht Kommission und Gerichtshof von einer ebenfalls neoliberalen Ausrichtung nicht frei und unterschlägt nicht ihre im EU-Gefüge beträchtliche Macht. Die EU ist jedoch nach dem Willen ihrer Mitgliedstaaten und deren Bürgerinnen und Bürger kein Bundesstaat, sondern eine Union von Nationalstaaten – was diese nicht wollen, können die EU und ihre supranationalen Organe (Kommission, Europäischer Gerichtshof) ihnen nicht aufzwingen.
Das zeigt sich auch im Falle der liberalen internationalen Ordnung. An deren Erosion ist Europa insofern mitbeteiligt, als es der Union nur partiell (zum Beispiel beim Klimawandel) gelungen ist, ihr durch Einbringen von Europas kollektiver Macht entgegenzuwirken. Aber nicht die Konstruktion Europas oder sperrige Akteure wie die Kommission oder das Europäische Parlament (EP) standen dem im Wege. Dass Europa durch Uneinigkeit und Krisenhaftigkeit sein Macht- und Einflusspotential nicht ausgeschöpft hat, ist ein Versagen seiner Mitgliedstaaten. Doch selbst wenn dem nicht so gewesen wäre – die Macht der EU wäre auch dann nicht groß genug, um ihr die Hauptverantwortung anlasten zu können. Aus beiden Gründen wird auch die Krise der internationalen Ordnung als exogene, nicht der EU zurechenbare Krisenursache eingestuft.
Davon zu unterscheiden sind Faktoren, die es nur gibt, weil es auch die EU gibt. Zu endogenen Krisenquellen werden sie, wenn sie desintegrierende Effekte produzieren. Zwecks weiterer Verfeinerung wird eine Zweiteilung in endogene Krisenursachen und Krisenverstärker vorgenommen.
Potentielle Ursachen lassen sich auf drei Ebenen finden. Auf der unteren oder Tiefen-Ebene geht es um das Thema der europäischen Identität: Sie gehört zum Fundament der europäischen Integration und ist deshalb entscheidend für ihr Gelingen oder Scheitern. Die mittlere Ebene ist die strukturelle und berührt etwa die Frage, welche Merkmale der EU-Konstruktion als Krisentreiber aufgetreten sind. Auf der dritten, oberen Ebene sind die Akteure angesiedelt. Denn auch wenn fundamentale und strukturelle Faktoren den endogenen Nährboden für europäische Krisen bilden: Ob und in welchem Maße sie (zusammen mit exogenen Ursachen) eine krisenträchtige Wirkung entfalten, ist nicht prädeterminiert. Mitentscheidend sind (Un-)Wille und (Un-)Fähigkeiten der beteiligten Akteure.
Im Unterschied zu Krisenursachen können Krisenverstärker das Entstehen und den Verlauf von Krisen befördern und verschärfen, sie aber nicht eigenständig hervorrufen. Auch wenn eine solche Abgrenzung nicht immer eindeutig zu treffen ist, bleibt sie nützlich: zum einen hinsichtlich der Bedeutung einzelner Faktoren als Krisenquellen, zum anderen mit Blick auf die krisenhemmende oder gar heilende Wirkung, die zu erzielen wäre, wenn eine bestimmte Krisenquelle abgestellt werden könnte.
Mit diesem analytischen Rüstzeug wird die umfassende Literatur zur Krise der EU einer doppelten Plausibilitätsprüfung unterzogen: Wie weit tragen die angebotenen Erklärungen und Rezepte? Denn obgleich das Schlimmste, ein Auseinanderbrechen der EU, abgewendet werden konnte – die Dauerkrise und ihr Eskalationsrisiko sind noch nicht überwunden. Das ist der erste Grund, sich mit ihren Ursachen und Verstärkern sowie möglichen Auswegen zu befassen. Der zweite ist präventiver Art. Zwar gleicht keine Krise einer anderen, weshalb sich aus jeder nur begrenzt etwas zur Verhütung der nächsten lernen lässt. Aber auf den Versuch zu verzichten wäre fahrlässig. Denn solange die Ursachen und Auslöser fortwirken, ist die nächste Krise nicht weit.
Kurz gefasst, sind folgende Krisenursachen und ‑verstärker auszumachen:
Zu den exogenen Ursachen zählen wie erwähnt die Krise des globalisierten Kapitalismus, die als Auslöserin der »Great Recession« im Jahr 2008 den Beginn der EU-Dauerkrise markiert, sowie die Krise der internationalen Ordnung, die die EU vor allem durch den Zustrom von Flüchtlingen und Migranten vor eine Zerreißprobe gestellt hat.
Im endogenen Komplex wird zunächst diskutiert, ob die Krise durch Identitätsüberdehnung mitverursacht worden ist. Ist die europäische Identität durch Integration – horizontal durch die Erweiterung und vertikal durch die Vertiefung – überstrapaziert worden? Schlüssig nachweisen lässt sich das nicht. Der sekundäre, weil nationalen Loyalitäten nachgeordnete Charakter der europäischen Identität gibt jedoch Anlass zur Vorsicht: Eine substantielle Vertiefung der Integration sollte nur mit solider Architektur und belastbarem Rückhalt auf nationaler und europäischer Ebene erfolgen.
Die fehlkonstruierte Währungsunion war und ist als endogener Krisenverursacher zu betrachten, weil sie zu viel Divergenz zugelassen und zu wenig Verschränkung im Sinne einer Fiskal-, Wirtschafts- und Finanzunion erbracht hat.
Das Demokratiedefizit war in seiner oft beschworenen Form eines Legitimationsmangels der EU-Konstruktion kein Mitverursacher. Davon zu unterscheiden sind allerdings zwei Faktoren, die als Krisentreiber wirken: die im Vergleich zum Nationalstaat geringere und schwankungsanfälligere Akzeptanz Europas bei den Bevölkerungen der Mitgliedstaaten sowie das Aufkommen von Populismus und Nationalismus in vielen EU-Ländern. Es berührt die Grundfesten der EU-Demokratieunion, wenn in Mitgliedstaaten rechtsstaatliche Prinzipien infrage gestellt werden.
Die unausgewogene Machtverteilung in der EU ist eine endogene Krisenquelle. Deutschland ist real und vielleicht mehr noch in der Wahrnehmung anderer übergewichtig geworden. In der Eurokrise hing zu viel von Berlin ab.
Differenzierte Integration meint, dass nicht alle auf demselben Stand der Integration sind (siehe Währungs- und Schengenunion). Ein heterogenes Europa der Nationalstaaten kann ohne eine derart abgestufte Integration nicht auskommen, und doch kann sie desintegrierend wirken, wenn sie – sei es in bereits bestehender oder in (vermeintlich) geplanter Form – als Deklassierung (»Zwei-Klassen-Europa«) angesehen wird. Dieser schwer messbare, weil subjektive und zuweilen instrumentalisierte Faktor mag zur EU-Dauerkrise beigetragen haben; ein signifikanter Krisentreiber war er jedoch nicht.
Krisenverstärker waren und sind vor allem drei: die Neigung nationaler Politiker und Medien, »Brüssel« Missstände und Fehler in die Schuhe zu schieben, an denen man selbst als Akteur oder das eigene Land beteiligt war; die mangelnde Bereitschaft vor allem politischer Akteure, sich zu Hause für das gemeinsame Europa in die öffentliche Bresche zu werfen; und schließlich kann sich eine Krise aus sich selbst nähren: Je länger und intensiver sie anhält, desto mehr leiden Vertrauen und Kompromissbereitschaft.
Welche Lehren lassen sich aus der Dauerkrise für die Stärkung und Erneuerung Europas ziehen?
Generell
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Europa kann scheitern: Auch der europäische Krug geht nur so lange zum Brunnen, bis er bricht.
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Europa darf nicht scheitern: Das gilt nur in zweiter Linie wegen der Risiken und Kosten. In erster Linie wird Europa gebraucht: für Frieden und Sicherheit, Wohlstand und Demokratie, nationale Selbst- und globale Mitbestimmung. Ein geeintes und starkes Europa bietet seinen Mitgliedstaaten die beste verfügbare Gewähr dafür, diese Güter und Ansprüche zu erreichen.
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Europa muss nicht scheitern: Die nationalen Interessen sind der rationale, die europäische Identität ist der emotionale Teil dessen, was Europa »im Innersten zusammenhält«.
Prinzipiell
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Europa sind wir alle: Europa muss gewollt sein – von seinen Bürgerinnen und Bürgern wie von seinen politischen, wirtschaftlichen, medialen und intellektuellen Eliten.
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Europa braucht Fürsprecher: Für Europa muss offensiv geworben werden, und zwar ohne seine Zumutungen und Belastungen zu verschweigen.
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Europa muss für alle sein: Europa muss sein »Wohlstands- und Sicherheitsversprechen« (Bundeskanzlerin Merkel) einlösen. Europa und seine Organe (»Brüssel«) können das jedoch nur begrenzt.
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Europa braucht starke und solidarische Mitgliedstaaten: Europa kann nur so einig und stark sein, wie seine Mitgliedstaaten stark, stabil und solidarisch sind – stark durch leistungsfähige Volkswirtschaften, stabil als liberale Demokratien, solidarisch auf nationaler Ebene durch Teilhabe und Schutz der Schwachen, auf europäischer durch Vertrags- und Regeltreue, Kompromissbereitschaft und gegenseitigen Beistand. Was das für Deutschland impliziert, wird im letzten Kapitel skizziert.
Substantiell
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Den globalisierten Kapitalismus reformieren: Es geht darum, ihn ökonomisch krisenfester und ökologisch nachhaltiger, sozial inklusiver und demokratiekompatibler zu machen. Dafür ist die Kollektivmacht von Europas Mitgliedstaaten, seines Binnenmarktes und seiner gemeinsamen Währung erforderlich.
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Die Internationale Ordnung mitgestalten: Das geht nur, wenn Europa ein weltpolitischer Akteur ist, der seine Macht mit oder auch gegen andere einsetzt, um zu einer nachhaltigen Globalisierung und fairen internationalen Ordnung beizutragen.
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Europa strategisch autonom machen: Ein mündiges Europa, das »sein Schicksal selbst in die Hand« nimmt (Bundeskanzlerin Merkel), braucht Macht- und damit Partnerschaftsparität mit anderen globalen Akteuren staatlicher und nichtstaatlicher Art – ökonomisch, technologisch und regulatorisch sowie sicherheitspolitisch durch eine Verteidigungsunion, die für eine symmetrische transatlantische Partnerschaft sorgt.
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Die Währungsunion festigen: durch eine effektive Fiskal-, Wirtschafts- und Finanzunion, durch einen sozialverträglichen Ausbau des Binnenmarktes und mehr Solidarität auch in der Flüchtlings- und Migrationsfrage.
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Die Demokratieunion bewahren: Ihre Aushöhlung durch Kräfte, die rechtsstaatliche Grundsätze infrage stellen, darf nicht zugelassen werden. Als Ultima Ratio sollten finanzielle Sanktionen und die in Artikel 7 EU-Vertrag (EUV) vorgesehene Aussetzung vertraglicher Rechte nicht ausgeschlossen sein.
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Europa ins Machtgleichgewicht bringen: Deutschland ist in der Wirtschafts- und Eurokrise übermächtig geworden, kann sich jedoch nicht kleiner machen, als es ist. Aber es hat ein elementares Interesse daran, dass andere wieder stärker werden. Das gilt vor allem für Frankreich und das deutsch-französische Tandem.
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Grenzen der Vielfalt beachten: Vielfalt zeichnet Europa aus, sie kann aber auch den Zusammenhalt strapazieren. Europa ist derzeit nicht aufnahmefähig. Weitere Beitritte sollten erst erfolgen, wenn es an Stabilität gewonnen hat.
Bertolt Brecht hat über Wissenschaft geschrieben: »Es ist nicht ihr Ziel, der unendlichen Weisheit eine Tür zu öffnen, sondern eine Grenze zu setzen dem unendlichen Irrtum.« (Leben des Galilei, 8. Kap.) Wissenschaft hat das Privileg, nicht entscheiden zu müssen. Politik hat das Privileg, entscheiden zu können, und zuweilen die Bürde, es zu müssen. Wissenschaft kann ihr diese Bürde nicht abnehmen, aber behilflich sein, sie durch informiertes Urteilen frei von politischen Zwängen und Kalkülen zu erleichtern. Das versucht dieser Wegweiser, indem er aus einer kritischen Diskussion von Krisenerklärungen und Krisenauswegen politikanleitende Lehren für die Zukunftsfähigkeit Europas zieht. Wer dafür den Schonraum des vorläufigen, nie über jeden (Eigen-)Zweifel erhabenen Urteilens verlässt, geht das Risiko ein, den »unendlichen Irrtum« zu mehren. Unser kostbares europäisches Projekt ist es wert.
Denn wer es gut meint mit Europa, braucht nicht nur einen kühlen Kopf, er darf auch ein heißes Herz haben. Der Verstand ist notwendig, um zwischen dem Wünschbaren und dem Machbaren unterscheiden zu können, die Leidenschaft kann helfen, den Abstand zwischen ihnen zu verringern. Deshalb ist dieser Wegweiser das Werk eines leidenschaftlichen Vernunfteuropäers.
Sein Kompass ist ein Narrativ für Europa, das inspiriert ist durch Immanuel Kant. Denn Europa und seine Identität sind ohne die Aufklärung nicht denkbar. Kants Definition könnte auf Europa angewendet lauten: Europa ist der Ausgang der europäischen Nationalstaaten aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit zu demokratischem Frieden, kollektiver Wohlfahrt und Souveränität. Selbstverschuldet war diese Unmündigkeit, weil ihre Ursache nicht im Mangel an europäischer Identität und Macht lag, sondern an innereuropäischen Rivalitäten und dem fehlenden Mut, sie durch Integration zu überwinden.
Das Doppelgesicht der Europäischen Krise
»Krise« dürfte das häufigste Wort gewesen sein, mit dem die EU seit fast einem Jahrzehnt medial und von den Bürgerinnen und Bürgern assoziiert worden ist. Laut Duden hat Krise eine zweifache Bedeutung. Im Allgemeinen beschreibt das Wort eine »schwierige Lage«, »eine Zeit der Gefährdung, des Gefährdetseins«. Im Speziellen ist damit ein »kritischer Wendepunkt bei einem Krankheitsverlauf« gemeint.
Für die Krise der EU sind beide Bedeutungen von Belang. Zu behaupten, dass die EU in den letzten Jahren eine »Zeit des Gefährdetseins« erlebt habe, ist eher unter- als übertrieben. Die Eurokrise samt Wirtschafts- und Sozialstaatskrise, die Flüchtlingskrise samt Beschränkung der Schengen-Freizügigkeit durch Wiedereinführung von Grenzkontrollen, der Brexit und damit der erstmalige Austritt eines (zudem schwergewichtigen) Mitgliedstaates, das Aufkommen anti-europäischen Populismus und die Erosion der EU als Demokratie- und Rechtsstaatsgemeinschaft durch die Missachtung einschlägiger Prinzipien – all diese Entwicklungen und Ereignisse haben den EU-Zusammenhalt vor eine Dauerzerrreißprobe gestellt.
Ein Nicht-Ereignis lässt sich nicht beweisen. Ob also die EU existentiell gefährdet war (oder noch immer ist), bleibt eine offene Frage. In Politik und Wissenschaft wurde dies jedoch weithin so gesehen. Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte im Oktober 2010 im Deutschen Bundestag: »Diese Krise [des Euro] war existentiell.«1 Da sie wiederholt ein Scheitern des Euro mit einem Scheitern der EU gleichgesetzt hat, stand in ihren Augen die EU insgesamt auf dem Spiel. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker befand noch im September 2016, die EU sei »– zumindest teilweise – in einer existenziellen Krise«. Als Veteran der europäischen Politik fügte er hinzu: »Nie zuvor habe ich so viel Spaltung und so wenig Gemeinsinn in unserer Union gesehen.«2 In der »European Union Global Strategy« heißt es: »Wir erleben gegenwärtig eine existenzielle Krise, innerhalb und außerhalb der Europäischen Union.«3 Timothy Garton Ash sprach noch im Frühjahr 2018 von einer »existentiellen Krise«, in der Europa und der Westen steckten.4 Craig Parsons und Matthias Matthijs betrachten die Eurokrise als »existentielles Risiko für das Projekt der europäischen Integration« und veranschaulichen dies mit dem Hinweis, dass es in den ersten 30 Monaten der Krise mehr als 20 Gipfeltreffen der EU-Staats- und Regierungschefs gegeben habe.5
Den existentiellen Charakter der Krise unterstreicht der Umstand, dass noch nie so viel auf dem Spiel stand. Dafür hat vor allem der Euro gesorgt. Es ist eine hypothetische, aber erhellende Frage, ob es auch ohne den qualitativen Integrationssprung hin zu einer gemeinsamen Währung zu einem Beinahe-Zerfall der EU gekommen wäre. Jedenfalls war aus dem als Integrationsklammer geplanten Euro in der Krise ein potentieller Sprengsatz geworden, gerade weil ein Auseinanderbrechen der Währungszone unkalkulierbare wirtschaftliche und politische Folgen gehabt hätte. Nur so lässt sich die Verknüpfung verstehen, die Bundeskanzlerin Merkel und andere zwischen dem Schicksal des Euro und der Union als Ganzer hergestellt haben.
Aus Krisen keine integrationspolitische Tugend machen.
Der Euro ist ein zusätzlicher Grund, der auf Jean Monnet zurückgehenden These zu misstrauen, die EU brauche Krisen als Integrationskatalysator.6 Dass eine »Zeit des Gefährdetseins« integrative Schübe auslösen kann, steht nicht in Abrede. Die wohl wirkmächtigsten Geburtshelfer der europäischen Einigung waren die beiden Weltkriege und die Erkenntnis, dass sich kriegsträchtiger Nationalismus zuverlässig nur durch eine institutionell abgesicherte Verschränkung von Souveränität und Interessen ausschalten lässt.7 In der Entwicklung der EU und ihrer Vorläufer hat es nicht nur, aber immer wieder kriseninduzierte Integrationsfortschritte gegeben, zuletzt vor allem zur Stabilisierung der Währungsunion.
Das kann auch künftig so sein. Aus der Not von unvermeidlichen Krisen sollte jedoch keine (integrations-)politische Tugend gemacht werden: Ein Projekt, das Krisen als Triebkraft braucht, schwebt latent in der Gefahr, dass die nächste Krise die letzte vor dem Zerfall sein könnte. Jedenfalls dann, wenn sie eine existentielle ist.
Ein Auseinanderbrechen der EU stellt Anfang 2019 keine akute Gefahr dar. In diesem Sinn des Begriffs Krise hat es einen »kritischen Wendepunkt« gegeben: Europas Beinahe-Kollaps konnte abgewendet werden, es gibt Zeichen der Erholung und Entspannung. Die Wirtschaft der Eurozone wächst bei zurückgehender Arbeitslosigkeit auch in den von der Krise am härtesten getroffenen Ländern;8 alle Krisenländer haben ihre Rettungsprogramme erfolgreich abgeschlossen; verglichen mit 2015 ist die Zahl der in Europa ankommenden Flüchtlinge und Migranten drastisch zurückgegangen; der Brexit hat keine Nachahmer gefunden; bei den Wahlen in Frankreich und den Niederlanden konnten anti-europäische Populisten in Schach gehalten werden, und die Zustimmung zur EU ist in vielen Mitgliedstaaten deutlich gestiegen.
Ausgestanden ist die Krise aber nicht. Der Aufschwung der Eurozone ist fragil, er muss noch immer durch eine expansive Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) gestützt werden; bei wieder steigenden Zinsen könnten nach wie vor stark verschuldete Länder in Turbulenzen geraten; die Arbeitslosigkeit allgemein und die Jugendarbeitslosigkeit im Besonderen sind in einigen Euroländern weiterhin hoch.9 Laut Europäischer Kommission hatte die Krise »deutliche Auswirkungen für viele Europäer, die mit gleichbleibenden oder gar sinkenden Einkommen zu kämpfen hatten. Das real verfügbare Einkommen – das heißt, das Einkommen, das den privaten Haushalten nach Abzug der Steuern zur Verfügung steht – ist zwar in letzter Zeit wieder angestiegen, doch es bewegt sich im Wesentlichen auf dem Niveau von 2008.« Schätzungen zufolge ist nahezu ein Viertel der Bevölkerung in der EU‑27 von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht.10 Es gibt weiterhin wesentliche Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit der Eurostaaten.11 Der Migrationsdruck und die ihn erzeugenden Faktoren in Europas südlicher Nachbarschaft (Krieg und Unterdrückung, Armut und Bevölkerungswachstum) wirken fort.12 Nationalistische Parteien und europakritische Bewegungen haben in vielen Mitgliedstaaten erheblichen Einfluss, Europa als Rechtsstaatsgemeinschaft wird offen infrage gestellt.13
Zur noch nicht überwundenen Krise kommen zwei krisenträchtige Bündel von Entwicklungen und Herausforderungen. Das erste umfasst demographische und sozioökonomische Faktoren. Mit einem Medianalter von 45 Jahren wird Europa 2030 die »älteste« Region der Welt sein, 2060 könnten jedem älteren Menschen nur noch zwei Menschen im erwerbsfähigen Alter statt vier wie im Jahr 2008 gegenüberstehen.14 Die sozialen Sicherungssysteme (Alters-, Kranken- und Gesundheitsversorgung) werden sich unter diesen Umständen nur durch drastische und fair verteilte Produktivitätssteigerungen aufrechterhalten lassen. So gesehen mag die entstehende »neue Arbeitswelt« aus technischem Fortschritt, Globalisierung und Wachstum des Dienstleistungssektors gerade rechtzeitig kommen. Denn Automatisierung, Digitalisierung und Künstliche Intelligenz können erhebliche Produktivitätssprünge bewirken. Eine radikale Entwertung von Qualifikationen, ein rasanter Wandel von Arbeitsformen und ‑inhalten sowie ein großflächiger Wegfall von Arbeitsplätzen bei einem polarisierten Arbeitsmarkt und hoher Ungleichheit könnten aber auch massive soziale Verwerfungen mit sich bringen.15
Das zweite hat mit einem internationalen Umfeld zu tun, in dem sich unauflösliche Interdependenzen und unzureichende Kooperation zu ihrer Steuerung in einem Spannungsverhältnis befinden. Hanns W. Maull spricht von »internationaler Unordnung«, deren Kern er in der fehlenden Bereitschaft der Nationalstaaten sieht, »ihre Souveränität neu zu denken und anders zu praktizieren«.16 Auch wenn man sich vor verklärenden Rückblicken hüten und die heutige mediale Dramatisierung berücksichtigen sollte – die Globalisierung hat krisen- und konfliktträchtige Auswirkungen, deren Einhegung bisher nicht oder nur ungenügend gelungen ist.
Europa kann sich gegen Umbrüche und Unordnung nicht abschotten. Es sollte das auch nicht. Grundsätzlich gilt für den europäischen Binnenmarkt wie auch global: Austausch und Wettbewerb zu fairen Bedingungen steigern Produktivität und Wohlstand. Die Risiken und Kosten einer Auflösung der bestehenden Verflechtung mit globalen Handels- und Investitionspartnern wären enorm. Das ist die pragmatische Sicht. Hinzu kommt eine normative. Die internationale Unordnung wirkt durch Migration und Klimawandel, durch Terrorismus und aggressive Regimes auf Europa ein und zurück. Wer sich wie die EU-Mitgliedstaaten in ihrem Gründungsvertrag der »Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und [der] Wahrung der Menschenrechte« verschreibt, kann die Missachtung dieser Werte außerhalb wie innerhalb Europas nicht ignorieren.
Europa ist stark, wenn es seine prozedurale Macht nutzt.
Um auf ihr globales Umfeld einzuwirken, brauchen die EU und ihre Mitgliedstaaten Macht – definiert als die Fähigkeit, selbstgesteckte Ziele zu erreichen.17 Solcherlei Macht hat vier Dimensionen und eine situative Komponente.
Bei den Dimensionen oder Arten von Macht handelt es sich um materielle und immaterielle, prozedurale und reputationelle Faktoren. Materielle Macht verleihen demographische, wirtschaftliche, finanzielle, technologische, militärische, administrative und (im Zeitalter von »big data«) informationelle Ressourcen. Im erweiterten Sinne zählen zu den materiellen Faktoren auch politische und institutionelle Macht: Umfang und Stabilität der Macht eines Akteurs innerhalb eines Staates oder einer Institution, also seine Stellung in einem Regelwerk, das zu bindenden Entscheidungen führt.18 Immaterielle Macht meint die kulturelle, ideelle oder zivilisatorische Attraktivität eines Akteurs und seine damit verbundene Ausstrahlung auf andere. Im Falle der EU zählt dazu ihre Anziehungskraft als eine Union von Nationalstaaten, die, »in Vielfalt geeint«, eine Friedens-, Demokratie- und Wohlstandsgemeinschaft bilden.19
Bei der prozeduralen Dimension geht es darum, wie effizient und effektiv Machtmittel eingesetzt werden. Wie Macht und Machtausübung von anderen wahrgenommen werden, begründet reputationelle Macht. Sie hat zwei Facetten. Da ist zum einen der »Ruf« eines Akteurs, der sich danach richtet, ob und wie er von seinen Machtmitteln Gebrauch macht oder machen könnte: Je entschlossener und zuverlässiger er wirkt, desto größer ist seine reputationelle Macht. Das gilt unabhängig davon, ob Macht für positive (Anreize) oder negative Zwecke (Sanktionen) eingesetzt wird, ob es sich um kooperative oder konfrontative Konstellationen handelt. In einem kooperativen Kontext wie der EU kann auch das Vertrauen anderer in das regelgebundene und solidarische Verhalten eines Akteurs eine wesentliche Ressource seiner reputationellen Macht darstellen.20 Zum anderen werden verhaltensbestimmende Erwartungen relevant: Wie zukunftssicher, also wie stabil oder fragil wird die Macht eines Akteurs eingeschätzt?
Die situative Komponente meint die konkrete (kooperative oder konfrontative) Konstellation, in der Macht zur Geltung gebracht wird. Die Frage, inwieweit sich mit Macht selbstgesteckte Ziele erreichen lassen, ist immer an spezifische Umstände gebunden. Macht ist folglich relativ: Wie groß sie ist und wie erfolgreich sie eingesetzt wird, hängt vom zeitlichen, substantiellen und personellen Kontext ab, also davon, wann welche Macht zu welchem Zweck mit oder gegen wen in Anschlag gebracht wird und wie groß in dieser Situation die Macht anderer ist.
Für die Macht der EU, ihr globales Umfeld mitzugestalten, ist die prozedurale Machtdimension entscheidend: Europa ist umso mächtiger, je geschlossener die Mitgliedstaaten und EU-Organe als ein Akteur auftreten. Denn erst das kollektive Gewicht der EU verschafft ihr Augenhöhe mit anderen staatlichen oder nichtstaatlichen Globalakteuren.
Internationale Selbstbehauptung durch kollektive Macht – so lautet eines der Gründungs- und Leitmotive der europäischen Einigung. Daneben ging und geht es um Frieden und Sicherheit, Wohlstand und Demokratie durch Integration in einer Union von Nationalstaaten. Spezifische Antriebe und Umstände haben diese Integration nach dem Zweiten Weltkrieg begünstigt und befördert. Auch wenn manche davon an Bindekraft einbüßten, so sprechen nationale Interessen und globale Herausforderungen, europäische Erfahrungen und Bindungen unverändert und »eigentlich« unwiderstehlich für ein durch Einheit starkes Europa.
Im »eigentlich« liegt das Paradox der europäischen Krise. Wenn Europas Union, gäbe es sie nicht schon, noch heute aus Eigeninteresse der Mitgliedstaaten gegründet werden müsste – warum ist sie dann überhaupt in eine Krise geraten, die ihren Bestand gefährdet hat und zu einer Dauerkrise geworden ist? Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Die andere ist, dass die EU zwar an den Rand des Zerfalls geraten, es aber nicht dazu gekommen ist. Die Fliehkräfte waren – jedenfalls bislang – schwächer als die Bindekräfte.
Dieses Doppelgesicht kennzeichnet die EU-Krise. Zwar liegt der Fokus der folgenden Analyse darauf, die Ursachen und Verstärker der Krise aufzudecken. Die damit verbundene Diskussion der Aus- und Irrwege zu ihrer Überwindung wird jedoch auch verdeutlichen, was Europa zusammengehalten hat, und sie soll aufzeigen, wie dieser Zusammenhalt gestärkt werden kann.
Krisenquellen und Krisenauswege
Das Bemühen, aus einer Krise zu lernen, um die nächste zu verhindern, kann fahrlässig sein, wenn daran die Erwartung geknüpft ist, krisenimmun zu werden. Genauso sicher, wie es eine nächste Krise gibt, ist, dass sie keine bloße Kopie der letzten sein wird. Insofern ist die Aussagekraft von Lehren immer begrenzt. Das schmälert aber nicht ihre Bedeutung: Erkannte Fehler und Fehlentwicklungen nicht abzustellen wäre politisch ebenso verantwortungslos wie der Verzicht darauf, eine Krise als Ansporn für eine dauerhafte Stabilisierung zu nutzen. Erst recht, wenn die Krise existenzbedrohend war.
Was hat die EU in die Krise gestürzt und sie genährt? Wie »lehrreich« sind die mit den Erklärungen verbundenen Vorschläge für Auswege aus der Krise, und welche könnten sich als Irrwege entpuppen, die es zu meiden gilt? Zur Beantwortung dieser Fragen wird hier nach exogenen und endogenen Krisenursachen sowie nach Krisenursachen und Krisenverstärkern unterschieden. Zusammen bilden diese vier Komponenten die Quellen der EU-Krise.
Die Frage nach dem Beginn der Krise führt zur ersten analytischen Differenzierung. Denn ihre Beantwortung hängt davon ab, welchen Ursachen welche Bedeutung zugeschrieben wird. So könnte argumentiert werden, dass die Saat der Krise früh durch eine fehlkonstruierte Währungsunion oder eine überhastete Erweiterung nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 gelegt wurde. Der Beginn der Krise mit dem Aufgehen dieser Saat könnte auf 2004 bzw. 2005 datiert werden. 2004 klagte die Kommission gegen den Rat, weil dieser das Euro-Defizitverfahren gegen Deutschland und Frankreich trotz mehrfacher Verletzung der Kriterien ausgesetzt hatte. Auf Druck beider Länder wurde der Stabilitäts- und Wachstumspakt mit der Folge »flexibilisiert«, dass sie ihre Glaubwürdigkeit einbüßten, wenn sie andere zur Regelbeachtung anhielten. 2005 scheiterte der jahrelang verhandelte »Vertrag über eine Verfassung für Europa« an Volksabstimmungen in den Niederlanden und Frankreich – unter anderem deshalb, weil die Gegner des Vertrages die 2004 vollzogene Osterweiterung erfolgreich für eine Kampagne gegen vermeintlich drohendes »Lohndumping« durch osteuropäische Arbeitskräfte nutzten (den sinnbildlichen »polnischen Klempner«).
Beides wären endogene, auf die EU selbst zurückgehende Krisenquellen. Es ist jedoch zweifelhaft, ob sie allein eine existentielle Krise des europäischen Projekts ausgelöst hätten. Der Verfassungsvertrag trat schließlich in nur leicht modifizierter Form als »Vertrag von Lissabon« doch noch in Kraft, die Krise der Eurozone trat erst 2010 zutage, als Griechenland das erste Rettungsprogramm benötigte.
Das Volumen dieses Programms machte jedoch nur einen Bruchteil dessen aus, was in den zwei Jahren zuvor von Staaten und Steuerzahlern aufgebracht werden musste, um die Erschütterungen einzudämmen, die durch den Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers am 15. September 2008 ausgelöst worden waren. Es ist diese eher verharmlosend als »Great Recession« bezeichnete Finanz- und Wirtschaftskrise des globalisierten Kapitalismus, die die EU-Mitgliedstaaten und das gesamte EU-Projekt in ihren Sog zog. Die Krise der internationalen Ordnung, die im globalen und regionalen Umfeld der EU zu wahrhaft tektonischen Ab- und Umbrüchen führte, ist ein zweiter entscheidender Faktor der europäischen Dauerkrise.
Exogene Ursachen
Die Krise des globalisierten Kapitalismus
Die »Great Recession« war mehr als ein konjunktureller Einbruch von besonderer Intensität und Dauer. Für die Europäische Kommission ist es die »schlimmste Rezession« in der EU-Geschichte, für Mario Draghi, den Präsidenten der Europäischen Zentralbank, »die schlimmste Finanzkrise seit der Großen Depression«.21 Sie war Ergebnis und ist Ausdruck einer Krise, die den globalisierten Kapitalismus erfasst hat. Dabei hat das Adjektiv eine zweifache Bedeutung: Nach dem Ende des Kommunismus sowjetischer und chinesischer Prägung ist die kapitalistische Wirtschaftsform zur global bestimmenden geworden.22 Parallel dazu gab es einen Globalisierungsschub durch »Intensivierung internationaler Arbeitsteilung, Expansion des Welthandels und der Auslandsproduktion, Ausdehnung der Kapitalinvestitionen und der Finanzmärkte, Grenzöffnungen und Migrationsbewegungen […] in einer zuvor ungekannten Dynamik«.23
Dieser globalisierte Kapitalismus hat einen enormen Wohlstandszuwachs und Armutsrückgang bewirkt: Von Anfang der 1980er Jahre bis 2012 ist die Zahl der absolut Armen (nach Weltbank-Definition Personen mit weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag) um mehr als eine Milliarde gefallen, das Weltbruttosozialprodukt ist zwischen 1960 und 2015 um mehr als das Zweieinhalbfache, die globale Lebenserwartung zwischen 1960 und 2010 um mehr als zwei Jahrzehnte gestiegen.24
Auch Europa und seine Bevölkerungen profitierten von der kapitalistischen Globalisierung: durch mehr Wachstum und Handel, billigere Einfuhren und ausländische Direktinvestitionen, durch mehr Austausch von Menschen und Kultur.25
Aber diese gewaltigen Fortschritte hatten auch eine Kehrseite. Denn der Krisencharakter der »Great Recession« ist systemisch.26 Sogar der Economist, nach eigenem Selbstverständnis ein Bannerträger der kapitalistischen Marktwirtschaft und des Freihandels, befasste sich unter dem Titel »Die Labour-Führung hat recht – die heutigen Politiker können von Karl Marx viel lernen« mit den von Marx prognostizierten Deformationen des Kapitalismus (»rent seeking«, Unternehmenskonzentration, Dominanz des Finanzkapitals, Lohndruck).27
Auch andere Vertreter des Establishments äußern sich (selbst-)kritisch. Wie Andreas Wirsching festhält, war die Globalisierung der 1980er und 1990er Jahre kein »ungesteuerter Prozeß, der die westliche Politik gleichsam wie ein Naturereignis überkam. Vielmehr trugen Staaten und Regierungen aktiv dazu bei […], weil sie glaubten, damit die Wirtschaftskrise und die Arbeitslosigkeit am wirksamsten zu bekämpfen.«28 Die Leitprinzipien des globalisierten Kapitalismus lauteten Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung. Vorangetrieben wurden sie in einer Radikalität und Ubiquität, die, so der Governor der Bank of England, einem »Marktfundamentalismus« gleichkam, der sich zu einer systemischen Gefahr entwickelt29 und unmittelbar zur 2008 ausgebrochenen Finanzkrise beigetragen habe.30
Fünf Fehlentwicklungen nähren die Krise des globalisierten Kapitalismus.
Zu dieser Krise führten und in ihr manifestierten sich systemische Deformationen mit einer Wucht und Persistenz, die den Economist im Dezember 2017, also fast zehn Jahre nach ihrem Ausbruch, zu dem Urteil veranlasste, dass die westlichen Regierungen zwar eine Wiederholung der Großen Depression – der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre – verhindert hätten, die »grundlegenden Merkmale des Systems, die die Krise verursacht haben«, aber fortbestünden.31
Gemeint sind damit im Wesentlichen die folgenden fünf:
(1) Finanzialisierung
Die »Great Recession« wurde nicht in der Realwirtschaft, sondern durch einen Finanzsektor ausgelöst, der im Englischen bezeichnenderweise »financial industry« genannt wird. Er war zu einer sich scheinbar selbst reproduzierenden, mit der Realwirtschaft nur noch bedingt verbundenen Sphäre geworden, die hohe Gewinne abwarf und dabei eine (Über-)Größe annahm, die, als die spekulativen Kartenhäuser einstürzten, Staaten und Steuerzahler dazu zwang, die Kosten und Verluste zu tragen. Die Aufblähung des Finanzsektors korrespondiert mit einem starken Anstieg der Verschuldung nicht nur der öffentlichen Hand, sondern auch von Verbrauchern und Unternehmen in entwickelten Ländern.32 Kreditfinanzierte Expansion aber ist, wie sich 2008 erneut zeigte, krisenträchtig, sobald die Kreditgeber das Vertrauen in die Zahlungsfähigkeit ihrer Schuldner verlieren. In der Folge verhinderten die Zentralbanken zwar durch riesige Ankaufprogramme einen Kollaps, erkauft jedoch mit durch billiges Zentralbankgeld befeuerten Vermögenspreissteigerungen (Aktien, Anleihen, Immobilien). Ob und wie die westlichen Volkswirtschaften, darunter die Eurozone, unter diesen Umständen auf den Tropf der Zentralbanken verzichten können, ohne den Aufschwung zu gefährden, ist ungewiss.
Die Risiken, die ein ins Übermaß gesteigerter Finanzsektor mit sich bringt, liegen nicht nur in seinem inhärenten Destabilisierungs- und damit Krisenpotential. Kommt es zum Einbruch, sind der Fall tiefer und die Erholung langwieriger als bei realwirtschaftlichen Abschwüngen.33
(2) Liberalisierung
Kern der neoliberalen Politik war die Freisetzung privater Marktkräfte durch den Abbau staatlicher Eingriffe sowohl im zwischenstaatlichen Verkehr als auch auf den innerstaatlichen Produkt- und Arbeitsmärkten. Ohne die beachtlichen Wohlstands- und Entwicklungssteigerungen vor Ausbruch der Krise 2008 wäre diese Ausrichtung nie dominant geworden. Allerdings hatten die Fortschritte den Blick darauf verstellt, welche krisenträchtigen Folgen eine unkontrollierte Liberalisierung nach sich zieht.34
Daher findet gerade in Institutionen, die lange Zeit der Liberalisierung das Wort geredet haben, mittlerweile ein Umdenken statt. In einem Papier mit dem bezeichnenden Titel »Making Trade an Engine of Growth for All« streichen der Internationale Währungsfonds (IWF), die Weltbank und die Welthandelsorganisation zunächst die wachstumsfördernden Wirkungen des Welthandels heraus, um dann einzuräumen, dass diese Handelsausweitung zu viele Menschen, auch in den entwickelten Ländern, zurückgelassen habe.35
Ähnliches gilt für grenzüberschreitende Kapitalströme. Zwischen 1990 und 2007 schwollen sie um fast das Zehnfache an, mit Ausbruch der Krise brachen sie dramatisch ein.36 Die problematischen Auswirkungen volatiler Kapitalzu- und -abflüsse veranlassten auch den IWF zu einer Neubewertung: »Es war, als hätte der Vatikan der Geburtenkontrolle seinen Segen gegeben. Der Internationale Währungsfonds, lange Zeit der ideologische Wächter von offenen Grenzen für das Kapital, erklärte im letzten November, dass Kontrollen unter bestimmten Bedingungen eine gute Sache sein könnten.«37
(3) Machtverschiebung
Im Zuge der Globalisierung des Kapitalismus hat sich das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit verändert. »Arbeit verliert«, betitelten IWF-Mitarbeiter eine Grafik, die den Abwärtstrend der Anteile aus unselbständiger Arbeit am Volkseinkommen von entwickelten Ländern zwischen 1980 und 2015 aufzeigt.38 Parallel dazu ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad in Ländern wie Deutschland, Frankreich, Großbritannien und den USA stark zurückgegangen,39 und innerhalb der Arbeitnehmerschaft hat sich der Einkommensabstand zwischen Hoch- und Geringqualifizierten vergrößert, während der Anteil von Arbeitnehmern mit mittlerem Qualifikationsniveau am Volkseinkommen besonders stark abgenommen hat.40
Die Hauptgründe für diese Machtverschiebung sind technologischer und politischer Art. Automatisierung und Digitalisierung aufgrund rasanter Fortschritte in der Informations- und Kommunikationstechnologie ermöglichen die breitflächige Substitution von Arbeit durch Kapital. Die Flexibilisierung von Binnenarbeitsmärkten und die Globalisierung haben einerseits die Mobilität des Kapitals begünstigt und andererseits durch globale Wertschöpfungsketten einen globalen Arbeitsmarkt für handelbare Güter geschaffen. Beides hat die Arbeitnehmer gegenüber der Kapitalseite geschwächt.41
Auch innerhalb des Kapitalsektors haben sich die Gewichte verschoben. Die nach Marktkapitalisierung größten Unternehmen sind nicht mehr die klassischen Energie-, Banken- und Industriekonzerne, sondern Technologie- und Digitalriesen wie Apple, Amazon, Facebook und Google. Sie und einige andere Großunternehmen haben eine Marktmacht erlangt, die den Wettbewerb, die Steuerbasis von Staaten und die öffentliche Akzeptanz des Wirtschaftssystems gefährdet.42
(4) Ungleichheit
Gleichzeitig driftet die Verteilung von Einkommen und Vermögen immer weiter auseinander. Das geschieht nicht überall und nicht für alle mit negativen Folgen. Weltweit zählen zur Hochphase der Globalisierung zwischen 1988 und 2008 vor allem zwei Gruppen zu den großen Gewinnern: zum einen die von Branco Milanovic als »neue globale Mittelklasse« (»emerging global middle class«) bezeichnete Großgruppe in den Schwellenländern (vor allem China), deren Realeinkommen zwischen 40 und mehr als 70 Prozent zunahmen, zum anderen die reichsten ein Prozent in den entwickelten und Schwellenländern. Relative Verlierer waren in erster Linie die ärmsten fünf Prozent der Weltbevölkerung und die untere Mittelschicht der entwickelten Länder (»lower middle class of the rich world«), deren Realeinkommen stagnierten.43 Gravierender noch als die Einkommen klaffen die Vermögen auseinander. Hier hat die Ungleichheit laut IWF in den letzten Jahrzehnten »erheblich zugenommen«.44 Das betrifft vor allem die USA, China, Indien und Russland, während in Europa die Einkommensungleichheit durch Besteuerung und Umverteilung eingedämmt wurde.45 Insgesamt stellt die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) einen seit Jahrzehnten andauernden Anstieg der Ungleichheit fest.46
Ungleichheit ist in einer Marktwirtschaft unvermeidlich und kann Wachstum und Produktivität fördern, wenn sie leistungsgerecht ist und als solche wahrgenommen wird. Öffnet sich die Schere aber zu weit, kann dies kontraproduktive Auswirkungen haben: »Übermäßige Ungleichheit kann den sozialen Zusammenhalt aushöhlen, zu politischer Polarisierung führen und letztlich auch das wirtschaftliche Wachstum schwächen.«47 Melissa S. Kearney sieht zunehmend Belege dafür, dass in den USA die Ungleichheit generationenübergreifende Armutsfallen produziere, die soziale Mobilität stark einschränke und ganze Bevölkerungsteile marginalisiere.48
(5) Raubbau
Laut Duden ist Raubbau eine »extreme wirtschaftliche Nutzung, die den Bestand von etwas gefährdet«. Dieses »Etwas« sind die natürlichen Lebens- und Produktionsgrundlagen wie Land und Boden, Wasser und Meere, Luft und Atmosphäre. Die enormen wirtschaftlichen und sozialen Fortschritte, die der globalisierte Kapitalismus mit sich gebracht hat, sind vielerorts mit enormen Umweltschäden erkauft worden. Mit dem weltweit größten Krisenpotential verbunden ist das Risiko einer ungebremsten Klimaerwärmung infolge einer »Übernutzung« der Erdatmosphäre durch CO2-Emissionen.
Diese fünf Elemente bilden den systemischen Hintergrund, vor dem 2008 in den USA eine Finanz- und Wirtschaftskrise ausbrach, die dann auch Europa erfasste und aufgrund ihrer Schwere und (An-)Dauer massive wirtschaftliche, soziale und politische Verwerfungen nach sich zog. Sie sind ein wesentlicher Grund für den Beinahe-Kollaps der EU und mithin das Bindeglied zwischen der Krise des globalisierten Kapitalismus und der existentiellen Krise der Europäischen Union.
Gleichwohl kommt Stephen D. King in seiner kritischen Bestandsaufnahme der Globalisierung zu Recht zu dem Schluss, dass sie trotz aller Schwächen für einen immer größeren Teil der Weltbevölkerung einen nachhaltigen Anstieg des Lebensstandards bewirkt habe.49 Aber gerade weil eine systemische Alternative nicht in Sicht ist, brauchen wir Reformen, die an den beschriebenen Deformationen ansetzen und den globalisierten Kapitalismus ökonomisch krisenfester und ökologisch nachhaltiger, sozial inklusiver und demokratiekompatibler machen. Letzteres mag nicht für ein autoritär regiertes China gelten, wohl aber für die westlichen Demokratien. Denn obgleich das Aufkommen populistischer Strömungen nicht nur den Negativseiten des globalisierten Kapitalismus geschuldet ist, zählen diese Seiten doch zu ihren Wurzeln.50
Eine solche Reformagenda kann hier nicht im Einzelnen entfaltet werden. Ein Kommentator der Financial Times listet einige Kernelemente auf: Der Finanzsektor sollte gezügelt, Wettbewerb sichergestellt werden; die Steuersysteme sollten gerechter, der Einfluss des Geldes auf die Politik eingedämmt werden.51 Der IWF sieht in entwickelten Volkswirtschaften Spielräume für eine progressivere Besteuerung von Einkommen und Vermögen.52 In Beiträgen für die Kolumne »Free Lunch« der Financial Times hat Martin Sandbu Optionen entwickelt, wie die »Dominanz der Internet-Konzerne« gebrochen werden könnte,53 als Teil einer Strategie, den liberal-demokratischen Kapitalismus durch Reformen zu erhalten, die »viel radikaler sein müssten als das, was wir seit Jahrzehnten gesehen haben«.54
Denn das ist die Lehre aus der europäischen Dauerkrise und ihrem Fast-Zerfall infolge der »Great Recession«: Damit die EU krisenfester wird, muss auch der globalisierte Kapitalismus durch substantielle Korrekturen krisenfester werden.
Die Krise der internationalen Ordnung
Zu den externen Mitverursachern der EU-Krise zählt neben den Kehrseiten des globalisierten Kapitalismus ein globales und regionales Umfeld im krisenhaften Wandel. Zur Zerreißprobe für den Zusammenhalt der EU kam es durch den Zustrom von Flüchtlingen und Migranten vor allem im Sommer und Herbst 2015. Zwar ist er seitdem erheblich zurückgegangen, aber Europa wird weiterhin unter einem Migrationsdruck stehen, der vor allem durch »Bevölkerungsentwicklung, wirtschaftliche Ungleichheit, gewalthaltige Konflikte und Klimawandel« erzeugt wird.55 Laut Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) ist die Anzahl der zwangsweise vertriebenen Menschen (»forcibly displaced people«) zwischen 1997 und 2016 von 33,9 auf 65,6 Millionen gestiegen.56 Ende 2017 waren es 68,5 Millionen, darunter 40 Millionen in ihren Ländern Vertriebene, die übrigen 28,5 Millionen Flüchtlinge und Asylbewerber, die ihre Heimatländer verlassen haben.57
Dafür sind Missstände und Rivalitäten in und zwischen Staaten hauptverantwortlich. Zugleich offenbart sich die Unfähigkeit der »internationalen Gemeinschaft«, solche Konflikte zu beenden oder zu verhindern. Die »liberale internationale Ordnung«,58 die nach der Implosion des Sowjetkommunismus entstehen konnte, erodiert. Dieser Prozess nahm schon vor Präsident Trump seinen Anfang, insbesondere durch den rasanten Aufstieg Chinas zur Weltmacht, eines Global Players, der nicht nur wirtschaftlich, sondern auch polit-systemisch eine Herausforderung darstellt, weil China als Gegenmodell zum Westen demonstrieren will, dass kapitalistische Dynamik und politischer Autoritarismus Hand in Hand gehen können.
Die Erosion ist zudem eng mit der Krise des globalisierten Kapitalismus verknüpft: »Das ursprünglich wichtige Prinzip der sozialen Fairness innerhalb der westlichen Staaten verschwand nach 1990 unter dem Einfluss der neoliberalen Wirtschaftslehre stillschweigend aus dem Wertekanon der LIO [liberalen internationalen Ordnung; E. L.] 2.0.«59 Diese Entwicklung untergrub den Rückhalt für diese Ordnung innerhalb der westlichen Staaten und ihre Attraktivität in den Augen Dritter ebenso wie die vom Finanzkapitalismus 2008 ausgelöste »Great Recession«.
Die selbstverursachte De-Legitimierung verschärfte sich noch durch das Fiasko der amerikanischen Irak-Invasion 2003, die als Katalysator für den islamistischen Terrorismus wirkte – und zudem die EU in Befürworter und Gegner der militärischen Intervention spaltete. Dieser Vorgang offenbart exemplarisch zwei für Europa krisenträchtige Asymmetrien. Die erste besteht im transatlantischen Verhältnis. Ist es durch Binnenmarkt und Euro in den Bereichen Wirtschaft und Handel relativ ausgeglichen, sind die Gewichte sicherheitspolitisch ungleich verteilt. Denn auch nach dem Ende des Kalten Krieges ist die EU stärker auf die USA angewiesen als umgekehrt und in ihrer Handlungsfähigkeit durch Uneinigkeit beeinträchtigt. Die zweite Asymmetrie liegt in der Abhängigkeit Europas von einer internationalen Ordnung, die positive Interdependenzen fördert und negative eindämmt. Gelingt dies nicht, verfügt die Union mangels Einigkeit und Macht nur über begrenzte Fähigkeiten, auf diese Ordnung in einer Weise Einfluss zu nehmen, dass sie den europäischen Werten und Interessen dient.
Die erste Asymmetrie verschärft die zweite, wenn, wie bereits unter Obama geschehen, die USA ihr weltpolitisches Engagement zurückfahren. Das setzt Europa verstärkt unter Druck: Als Ersatz für die USA ist kein gleichermaßen mächtiger wie vertrauenswürdiger Akteur in Sicht, während Europa selbst bisher nicht der Lage ist, in die Bresche zu springen.
Dabei täte es not. Ob der Flüchtlingsstrom nach Europa durch ein entschlossenes Verhalten der Obama-Administration im Syrien-Konflikt hätte begrenzt werden können, bleibt als hypothetische Frage ebenso offen wie jene, ob es eine realistische Alternative gab, das Aufkommen des »Islamischen (Terror-)Staates« zu verhindern oder zumindest einzudämmen. Europa wurde von beiden Entwicklungen unter krisenhaften Stress gesetzt, vermochte aber nicht, ihnen entgegenzuwirken.
Kein »Zurück in die Zukunft« durch wiederbelebte transatlantische Harmonie.
Wenn überhaupt, hätte nur eine kollektive Bündelung ihrer Kräfte die europäischen Einzelstaaten dazu befähigt. Gleiches gilt für den globalisierten Kapitalismus: Um seine Dynamik zu nutzen und seine Kehrseiten einzuhegen, bedarf es institutioneller und normativer Regelwerke sowie kollektiver Macht. Nur geschlossen können Europas Nationalstaaten anderen staatlichen und nichtstaatlichen Globalakteuren auf Augenhöhe begegnen. Und damit ist nur ein wenn auch entscheidender Teil der umfassenderen Herausforderung angesprochen, die im Umbruch befindliche internationale Ordnung mitzugestalten. Ein »Zurück in die Zukunft« durch eine Wiederbelebung der früheren transatlantischen Gemeinschaft wird nicht möglich sein: Ob der »Westen« wirklich am Ende ist,60 ist noch nicht ausgemacht; das transatlantische Verhältnis wird sich jedoch über Trumps Amtszeit hinaus schon deshalb grundlegend wandeln, weil die USA sich wandeln.61 Ein Grund, warum sie das tun, ist China. Nicht ob, sondern wann, wie und mit welchen Folgen es die USA als Weltmacht mindestens einholt, ist die Frage, die für alle internationalen Akteure von Belang ist.62 Eine internationale »Ordnung«, die diese Bezeichnung auch nur halbwegs verdient, wird es nur mit den USA und China geben. Und nur im Kollektiv werden Europas Nationalstaaten sie in ihrem Sinne mitgestalten können.
Diese Erkenntnis führt zu einem Paradox: Exogene Entwicklungen, die »eigentlich« den europäischen Zusammenhalt hätten befördern sollen, haben die EU in eine existentielle Krise gestürzt. Dafür muss es Gründe geben, die in der EU selbst liegen. Den endogenen Bruch- und Krisenpotentialen ist daher das folgende Hauptkapitel gewidmet.
Endogene Ursachen
Neben der Wall Street war die Londoner City das Epizentrum der globalen Finanz-, Fiskal- und Wirtschaftskrise, die im September 2008 mit dem Bankrott der Investmentbank Lehman Brothers ihren spektakulären Anfang nahm. Im November des Jahres besuchte die britische Königin die London School of Economics und stellte der Professorenschaft die Frage, warum niemand das Unheil habe kommen sehen. Einige Monate später erhielt sie eine Antwort, die mit dem Satz beginnt: »Viele haben die Krise vorhergesehen. Aber niemand hat vorhergesehen, welche genaue Form sie annehmen, wann sie einsetzen und wie heftig sie ausfallen würde.«63
Auch der Beinahe-Zerfall der EU war in seiner konkreten Ausprägung, seinem zeitlichen Auftreten und seinen spezifischen Auslösern unvorhersehbar. Aber wie im Falle des Finanzmarktbebens war vor Bruchstellen der europäischen Konstruktion gewarnt worden, die im Folgenden als Krisenursachen diskutiert werden.
Diese Ursachen lassen sich auf drei Ebenen finden. Auf der unteren oder Tiefenebene geht es um das Thema der europäischen Identität: Sie gehört zum Fundament der europäischen Integration und ist deshalb entscheidend für ihr Gelingen oder Scheitern. Die mittlere Ebene ist die strukturelle und berührt etwa die Frage, welche Merkmale der EU-Konstruktion zu ihrem Fast-Zusammenbruch beigetragen haben. Auf der dritten, oberen Ebene sind die Akteure angesiedelt. Denn auch wenn fundamentale und strukturelle Faktoren den endogenen Nährboden für europäische Krisen bilden: In welchem Maße sie (zusammen mit exogenen Ursachen) eine krisenträchtige Wirkung entfalten, ist nicht prädeterminiert. Mitentscheidend dafür sind politischer (Un-) Wille und (Un-)Fähigkeit der beteiligten Akteure.
Dieses analytische Instrumentarium wird auf die Literatur zur europäischen Krise angewendet. Da ihr Umfang immens ist, kann nicht allen und allem Rechnung getragen werden. Gleichwohl lautet der Anspruch hier, die wichtigsten Erklärungen für die Krise und die daraus abgeleiteten Auswege aus dieser Krise auf ihre Plausibilität und Aussagekraft hin zu hinterfragen. Dabei wird die Akteursebene nicht gesondert, sondern auf der fundamentalen und strukturellen Ebene mitbehandelt: retrospektiv hinsichtlich der Frage nach politischen Fehlern mit krisenhaften Folgen, prospektiv mit Blick auf die vorgeschlagenen Auswege aus der Krise.64
Die überdehnte Union
Mit »Europa« ist in dieser Studie die Europäische Union als politisches Handlungskollektiv gemeint. Konstitutiv für seine Funktionsfähigkeit ist die Bereitschaft der beteiligten Akteure (neben den Mitgliedstaaten die supranationalen Akteure Kommission, Parlament, Europäischer Gerichtshof, Europäische Zentralbank) zu Kompromiss, Solidarität und Eigenverantwortung. Ausmaß und Stabilität dieser Bereitschaft werden maßgeblich bestimmt durch den Grad der jeweiligen Identifikation mit dem Kollektiv: Je ausgeprägter diese »soziale Identität«, desto größer ist die Bereitwilligkeit, Eigeninteressen mit den funktionalen Erfordernissen des Kollektivs in Einklang zu bringen.65
Das legt die These nahe, dass die europäische Identität der EU-Mitglieder zu schwach war, um den Beinahe-Kollaps der Union zu verhindern. Allerdings haftet dieser Erklärung etwas Tautologisches an: Gerät die EU in eine Krise, kann dies immer damit begründet werden, dass der Zusammenhalt der beteiligten Akteure nicht ausreichte, sie abzuwenden. Denn wäre die ihnen gemeinsame europäische Identität stark genug, würde es entweder gar nicht erst zur Krise kommen oder diese zumindest milder ausfallen.
Eine solche Krisenerklärung ist aus zwei Gründen unbefriedigend. Analytisch kommt sie retrospektiv nicht über die Feststellung hinaus, dass die von den EU-Mitgliedern geteilte europäische Identität zwar brüchig genug war, eine existentielle Krise zuzulassen, aber noch kräftig genug, um ein Auseinanderfallen Europas zu verhindern. Eine solche Erklärung lässt sich schlüssig weder belegen noch widerlegen.
Zudem ist ihr prospektiver Gehalt ungenügend. Welcher Stand oder gar Ausbau der europäischen Integration noch mit europäischem Wir-Bewusstsein und Wir-Gefühl vereinbar sind und wie krisenfest diese europäische Identität tatsächlich ist, lässt sich prospektiv nicht eindeutig bestimmen. Es bleibt nur die Probe aufs Exempel.
Europäische Identität hat Integration ermöglicht.
Das galt schon immer. Dass der europäische Integrationsprozess überhaupt begonnen wurde und gelingen konnte, ist das untrüglichste Indiz für das Vorhandensein europäischer Identität. Begünstigende Umstände und Einigungsdruck haben das Ihre beigetragen: die traumatische Erfahrung der selbstzerstörerischen Wirkung nationalistischer Rivalitäten, die zwei Weltkriege ausgelöst hatten; die Notwendigkeit westlicher Geschlossenheit zur Zeit der Ost-West-Konfrontation; die »Aufhebung« des zunächst westdeutschen (Teil-)Staates und später des wiedervereinigten Deutschland in einem integrierten Europa, das nationale Souveränität beschränkt; die Rolle der USA als Beschützer und Förderer der europäischen Einigung; ein Macht- und Einflusszuwachs, den die maximal mittelgroßen Nationalstaaten nur durch kollektive (europäische) Souveränität erlangen.
So gewichtig diese Motive und Antriebskräfte waren und zum Teil weiterhin sind, so fraglich ist, ob sie allein ausgereicht hätten. Von Beginn an brauchte es mehr als sie und auch mehr als die mutigen Visionen der Gründergeneration. Das galt insbesondere für die deutsch-französische »Erbfeindschaft«. Ohne deren Überwindung durch eine vertrauensbildende Aussöhnung hätte es die europäische Einigung nicht gegeben. Dass dies angesichts der noch frischen Erinnerungen an diese Feindschaft so rasch und nachhaltig gelingen konnte, zeugt davon, dass das integrierte Europa tiefere Wurzeln hat als eine reine Zweck- und Notgemeinschaft.
Dafür spricht auch, dass die heutige EU von Anfang an mehr war als eine internationale Organisation. Schon bei ihrer Gründung haben sich ihre Mitgliedstaaten auf eine Begrenzung nationaler Souveränität eingelassen, die weit über das bei internationalen Organisationen übliche Maß hinausgeht. Sie haben sich damit in eine Abhängigkeit voneinander begeben, die im Zuge des Integrationsprozesses bis zu einer gemeinsamen Währung führte und in dieser Form und Substanz weltweit und historisch einzigartig ist.66 Ohne ein gemeinsames Fundament, auf das sich die Integration stützen konnte, ergo: ohne eine europäische Identität wäre das kaum möglich gewesen.
Was macht diese Identität aus? Da die EU als politisches Gemeinwesen sui generis zwar ohne Parallele ist, dabei jedoch eine Union von Nationalstaaten blieb, bietet sich als Referenzgröße der Begriff der Nation an. Denn obgleich die europäischen Nationalstaaten erheblich älter sind als die europäische Integration – es hat sie nicht schon immer gegeben, sondern sie sind in ihrer staatsrechtlichen Form wie auch in dem sie tragenden Nationalbewusstsein Produkte der europäischen Geschichte.
Für die Definition der »Nation« hat Ernest Renan in seiner berühmten Sorbonne-Rede 1882 Maßstäbe gesetzt. In beeindruckender Manier demontiert er Versuche, eine Nation durch Rasse, Sprache oder Religion zu begründen und sie damit von anderen abzugrenzen. Gemeinsame Interessen allein aber reichen auch nicht aus: »Ein ›Zollverein‹ ist kein Vaterland.« Zieht man seine heute pathetisch anmutende Wortwahl ab, die Nation sei »eine Seele, ein geistiges Prinzip«, bleibt seine gültige Bestimmung, dass zwei Elemente konstitutiv für eine Nation seien: »Eines davon gehört der Vergangenheit an, das andere der Gegenwart. Das eine ist der gemeinsame Besitz eines reichen Erbes an Erinnerungen, das andere ist das gegenwärtige Einvernehmen, der Wunsch zusammenzuleben, der Wille, das Erbe hochzuhalten, welches man ungeteilt empfangen hat.«67
Auch die europäische Identität lebt von Vergangenheit und Gegenwart. Von der »langen« Vergangenheit des »kulturellen, religiösen und humanistischen Erbes« (Präambel zum EUV), die in einen Wertekanon mündet, den der EU-Vertrag wie folgt definiert: »Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.« (Art. 1a). Dieses Erbe ist das Ergebnis eines jahrhundertelangen Prozesses, in dem sich auf dem kleinsten aller Kontinente »ein Zugehörigkeitsbewusstsein zu Europa« entwickelt hat – nie exklusiv, sondern »immer in Zwiesprache und Konkurrenz mit anderen Identifikationen« auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene sowie in der »Konfrontation mit Nichteuropäern«.68 Vergangenheit allein kann jedoch ein Wir-Bewusstsein auf Dauer nicht nähren. Dafür bedarf es der Erneuerung durch die Gegenwart einer »Solidargemeinschaft« (so schon Renan), in der sich die Erinnerung mit der Erfahrung von Zusammenwirken und Zusammenleben zum allseitigen Vorteil verbindet.69
Die in der Vergangenheit angelegte und durch die Gegenwart zu erneuernde europäische Identität war nie und wird nie konfliktfrei sein. Erst die europäischen »Binnenkriege« der Nationalstaaten und ihrer dynastischen Vorläufer führten nach dem Zweiten Weltkrieg zur europäischen Einigung. Gleichwohl kommt das EU-Motto »In Vielfalt geeint« nicht von ungefähr. Einerseits beschreibt es die Mischung aus Gemeinsamkeiten und Verschiedenheiten der Kulturen und Völker, die Europa ausmacht und groß gemacht hat.70 Andererseits erinnert es daran, dass diese Verschiedenheit auch eine unversiegbare Quelle des Konflikts und damit der Uneinigkeit ist.
Nationale Identitäten sind vorrangig.
Damit ist auch der Unterschied zwischen nationaler und europäischer Identität markiert. In den EU‑Verträgen ist an keiner Stelle von »einem« europäischen Volk, sondern immer nur von den »Völkern Europas« die Rede. Diese Völker sind politisch organisiert in den Mitgliedstaaten der Union, die sich als Nationalstaaten verstehen. Wenn sie sich in der Präambel des EU-Vertrages »entschlossen« geben, »die Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas […] weiterzuführen«, ist damit eine Union gemeint, in der die Mitgliedstaaten nicht aufgehen, sondern ihre nationalstaatliche »Vielfalt« bewahren wollen.71
Das bedeutet: Die unterschiedlichen nationalen Identitäten in Europa sind wirkmächtiger als die gemeinsame europäische Identität. Es gibt (nationale) Völker, aber kein europäisches Volk, jedenfalls nicht im Selbstverständnis der EU-Mitgliedstaaten. Das steht multiplen Identitäten nicht im Wege. Wie Thomas Risse zeigt, sind »duale Identitäten« (jemand fühlt sich als Angehöriger der eigenen Nation und als Europäer) weit verbreitet. Die Hierarchie bleibt jedoch eindeutig: So identifizieren sich circa 40 Prozent der Befragten ausschließlich mit dem eigenen Nationalstaat (»exklusive Nationalisten«), und bei denjenigen mit dualer Identität definieren sich ebenfalls rund 40 Prozent zuerst durch ihre Nation und an zweiter Stelle als Europäerinnen und Europäer (»inklusive Nationalisten«).72
Aber auch wenn die europäische Identität nur sekundär ist – es gibt sie. Allerdings reichte ihre Bindekraft nicht aus, um die EU davon abzuhalten, an den Rand des Zerfalls zu geraten. Dies mag einer Kluft geschuldet sein, die sich zwischen europäischer Integration und europäischer Identität aufgetan hat. Ist die Integration, gemessen an der Tragfähigkeit des europäischen Wir-Gefühls, zu rasch zu weit gegangen? Ist es mithin zu einer »Identitäts-Überdehnung« (»identity overstretch«) gekommen?73
Diese These einer überzogenen Integration hat zwei Dimensionen und einen gemeinsamen Nenner. Bei den Dimensionen geht es horizontal um die Erweiterung durch Aufnahme zu vieler Staaten, vertikal um eine zu weitgehende Vertiefung der Integration insbesondere durch die Währungsunion. Beide Sichtweisen stützen sich auf die Auffassung, dass die EU in den Präferenzen und Prägungen ihrer Mitgliedstaaten zu heterogen und deshalb brüchig geworden sei. Der gemeinsame Nenner ist die These, die europäische Integration sei horizontal wie vertikal von Eliten überzogen worden, denen die Übereinstimmung mit den Bevölkerungen abhandengekommen sei.
Herfried Münkler sieht den »Sündenfall« bereits in der ersten Erweiterung über die Gründerstaaten hinaus: »Ohne Frage würde es das Identitätsproblem und die Selbstbegrenzungsnotwendigkeit der Europäischen Union nicht geben, wenn man bei dem ›Europa der Sechs‹ aus den Anfangsjahren der EWG geblieben wäre.«74 Die Nord-, Süd- und schließlich auch Osterweiterungen über den »historischen Identitätsspender des Karolingerreichs hinaus« seien zwar aus guten Gründen erfolgt, sie hätten jedoch »die Festlegung auf einen identitären Kernbereich durchkreuzt«.75
Besonders problematisiert wird die 2004 und 2007 erfolgte »Osterweiterung« um die (mit Ausnahme Zyperns) postkommunistischen Transformationsstaaten mit ihren Entwicklungsrückständen, ihren spezifischen Erfahrungen und Ansprüchen an nationalstaatliche Souveränität. Dadurch sei die EU erheblich heterogener geworden, was ihren Zusammenhalt und ihre Identität strapaziert habe.76 Andere drücken es vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise des Jahres 2015 drastischer aus. Für Thomas Schmid hat sich eine »Kluft« aufgetan »zwischen den ›alten‹ EU-Staaten und denen Ost- und Mitteleuropas«,77 Ivan Krastev sieht einen »Graben zwischen denen, die den Zusammenbruch des Kommunismus und den Zerfall des einstmals mächtigen kommunistischen Blocks am eigenen Leibe erfahren haben, und jenen, die von solchen traumatischen Ereignissen verschont blieben«. Die Flüchtlingskrise habe »deutlich gemacht, dass Osteuropa gerade jene kosmopolitischen Werte als Bedrohung empfindet, auf denen die Europäische Union basiert, während für viele in Westeuropa ebendiese kosmopolitischen Werte den Kern der neuen europäischen Identität ausmachen«.78
Als Indiz für eine überzogene vertikale Integration gilt vor allem die Krise der Währungsunion. Inwieweit sie durch vermeidbare Defizite ihrer Konstruktion oder der Politik im Umgang mit der Krise erzeugt oder verschärft wurde, wird im nächsten Abschnitt diskutiert. An dieser Stelle geht es um die grundsätzliche Frage, ob etwas zusammengebracht wurde, was nicht zusammenpassen kann: eine gemeinsame Währung mit nicht nur divergenten Wirtschaftszuständen, sondern – viel entscheidender – Wirtschaftskulturen. In ihrer akzentuierten, politisch wirkmächtigen Form postuliert diese These einen Mentalitätsgraben zwischen einem disziplinierten Norden und Eurostaaten im Süden, »die auf Verschuldung und deren Begleichung durch Inflation« setzen.79 Auch für Markus Brunnermeier und andere hat die Eurokrise besonders im Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich grundlegende Unterschiede in den »Wirtschaftsphilosophien« offengelegt: ein Deutschland, das wie andere Nordeuropäer auf Regelbindung und Solidität poche, stehe einem Frankreich und Südeuropäern gegenüber, die Ermessensfreiheit und Solidarität betonten.80
Die Erklärung der EU-Krise durch horizontale und/oder vertikale Identitäts-Überdehnung hat ihren gemeinsamen Nenner in der Kritik, europhile Eliten hätten sie herbeigeführt. Die von ihnen vorangetriebene Integration habe so lange gut gehen können, wie sie sich auf eine »wohlwollende Hinnahme« (»permissive consensus«) der Bevölkerungen stützen konnte. Als die Krise aufbrach, habe sich gezeigt, dass die Erosion dieser »Duldung« unterschätzt worden sei.81
Diese Elitenkritik gibt es in zwei Varianten. Während Integrationsskeptiker den Eliten vorhalten, die Integration zu weit getrieben zu haben, rügt die Gegengruppe, dass die von ihr befürwortete Ausdehnung der Integration von den Eliten in ihren nationalen Öffentlichkeiten nicht oder nur halbherzig vertreten worden sei. Das Ergebnis bleibt gleich: eine Kluft zwischen Eliten und Bevölkerungen.
Zwei Entwicklungen sorgten laut Liesbet Hooghe und Gary Marks dafür, dass sich diese latent krisenträchtige Kluft verbreiterte und der »permissive consensus« durch einen »constraining dissensus« abgelöst wurde, der den pro-europäischen Spielraum der Eliten einschnürte: die horizontale und vertikale Ausweitung der Integration, die die Autonomie der Mitgliedstaaten zunehmend einschränkte, und die Politisierung dieser Einschränkung durch populistische Kräfte, denen es bei einem politisch relevanten Teil der Bevölkerungen gelang, die europäische Integration als bedrohlich für ihre nationale Identität darzustellen.82 Tanja Börzel und Thomas Risse teilen die These von der Erosion des »permissive consensus« durch die Politisierung europäischer Politik in den EU-Mitgliedstaaten.83 Das habe sich explizit in der »politischen Lähmung« der EU in der Flüchtlingskrise erwiesen, weil jene anders als die Eurokrise eine Identitätsdimension habe (»wer gehört zu uns«), die von rechtspopulistischen Parteien genutzt wurde, um gegen ein »multikulturelles, offenes und kosmopolitisches Europa« zu mobilisieren.84
Was bleibt von einer Erklärung des EU-Beinahe-Zerfalls durch Identitäts-Überdehnung? Vor allem vier Erkenntnisse:
1. Es gibt eine europäische Identität …
Ohne sie wäre es zu der in der europäischen Geschichte und weltweit präzedenzlosen Ein- und Verschränkung nationaler Souveränität durch die europäische Integration nicht gekommen, ohne sie hätte diese Integration weder vertikal noch horizontal so weit gehen können wie geschehen, und ohne sie hätte aus dem Fast-Zerfall ein wirklicher werden können. Unzweifelhaft nachweisen lässt sich das nicht, weil Geschichte in der Regel multikausal ist und sich Kontrafaktisches einer Beweisführung entzieht. Aber die genannten Indizien und Befunde sprechen für die Existenz eines übernationalen Identitätsbandes.
2. … aber kein europäisches Volk.
Europäische Identität ist sekundär, da der Identifikation mit dem eigenen Volk (sei es national oder subnational) nachgeordnet.85 Das setzt der Integration und der Bereitschaft zur europäischen Binnensolidarität deutlich engere Grenzen als ähnlichen Erfordernissen innerhalb der EU-Mitgliedstaaten. So kommen Alberto Alesina und andere in ihrer Untersuchung von 15 europäischen Ländern zu der Schlussfolgerung, dass die von deren Bevölkerungen vertretenen Werte und Einstellungen nicht heterogener seien als die von Amerikanern. Der entscheidende Unterschied sei, dass es eine nationale amerikanische Identität gebe, während in Europa ausgeprägte nationale Identitäten einer politischen Union im Wege stünden.86
3. Europas Integration hat Identitäts-Grenzen …
Zur Schaffung eines Bundesstaates analog zu den USA oder der Bundesrepublik Deutschland reicht die europäische Identität bei weitem (noch) nicht. Sie hat aber einen in seiner Tiefe und Breite einzigartigen Integrationsverbund von Nationalstaaten ermöglicht. Die EU ist und wird deshalb geprägt (und geplagt) bleiben von einem Spannungsverhältnis zwischen nationalstaatlichen Autonomieansprüchen einerseits und deren Eingrenzung durch die Verpflichtungen und Erfordernisse eines überstaatlichen Integrationsverbundes andererseits.
Ob und inwieweit die existentielle Krise der EU angesichts dieses Spannungsverhältnisses auf eine Identitätsüberdehnung durch eine zu weit getriebene Integration zurückgeht, lässt sich schwer bestimmen. So könnte der Vorläufer der Krise, das 2005 an den Referenden in den Niederlanden und Frankreich gescheiterte Verfassungsprojekt, als Beleg für einen zu ambitionierten Integrationssprung gewertet werden. Der Ausbruch und die Eskalation der Euro- und Flüchtlingskrisen, die einen anti-europäischen Populismus beförderten, lassen sich ebenfalls in diesem Licht sehen – und werden es wie dargelegt auch.
Aber: Zum einen sind Krisen multikausal, und die Frage, ob es nicht im Einklang mit der Reichweite europäischer Identität alternative Handlungsoptionen vor und im Umgang mit der Krise gegeben hätte, die sie hätten abwenden oder zumindest abmildern können, ist offen. Darauf wird in den beiden nächsten Abschnitten eingegangen. Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass auch eine Nicht-Integration ihren Preis hat. Dass Europa mit einem Verzicht auf eine gemeinsame Währung besser gefahren wäre, ist keineswegs ausgemacht.87 Gleiches gilt für eine Nicht-Vertiefung der vertikalen Integration durch eine restriktivere Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen, die mit einer geringeren Handlungsfähigkeit erkauft worden wäre. Hätte man nach dem Fall der Mauer die beitrittswilligen Transformationsländer nicht zugelassen oder ihnen nur eine Teilmitgliedschaft in Aussicht gestellt, wäre die EU weniger heterogen und damit möglicherweise weniger krisenanfällig. Allerdings waren die (Voll-)Beitrittsperspektive und sind die finanziellen, wirtschaftlichen und politischen Vorteile der Integration ein entscheidender Faktor für das Gelingen der Transformation und die Befriedung einer Region, deren Nachbarschaft die Mitglieder der alten (West-)Europäischen Union nicht entrinnen können.
Gleichwohl: Da in einer Ex-ante-Entscheidungssituation die Auswirkungen von mehr Integration nicht eindeutig vorhersehbar sind, ist Identitätsüberdehnung mit desintegrativen Folgen möglich. Sie kann sich manifestieren, wenn es zu einer Krise kommt, die durch andere Faktoren ausgelöst wird, in der die europäische Identität und Solidarität jedoch nicht ausreichen, um eine Eskalation zu verhindern. Auch das ist eine Lehre aus dem Beinahe-Zerfall der Europäischen Union.
4. … aber keine unverrückbaren.
Renan hat in seiner 1882er-Rede gesagt: »Die Nationen sind nichts Ewiges. Sie haben einmal angefangen, sie werden enden. Die europäische Konföderation wird sie wahrscheinlich ablösen.« Vielleicht wird es irgendwann so kommen. Einstweilen jedoch sollte man auch seinen unmittelbar folgenden Satz beachten: »Aber das ist nicht das Gesetz des Jahrhunderts, in dem wir leben.«88 Gemeint war damit sein 19. Jahrhundert. Mehr als hundert Jahre und zwei Weltkriege später ist jedoch ein baldiges Absterben der Nationen und ihrer politischen Organisation in Nationalstaaten ebenso wenig in Sicht.
Dieser Befund schließt indes eine Kräftigung europäischer Identität nicht aus. Menschen können mehrere Identitäten haben, ohne dass eine auf Kosten einer anderen geht. Nationale Identitäten formen sich durch geteilte Erinnerungen und Erfahrungen. Das gilt auch für die europäische Ebene, allerdings mit dem Unterschied, dass die Erinnerungskomponente schwächer ist als im nationalen Rahmen. »Ein Volk – erst recht eine Nation, und ebenso der Zusammenhalt eines Staatsvolks über die gemeinsame Staatsangehörigkeit hinaus – wird weit weniger durch biologisch-naturale Gegebenheiten als durch ein vorrational geprägtes, in Generationen sich forttragendes kollektives Gedächtnis und Bewusstsein geprägt.« Die darin aufgehobenen »gemeinsamen Erinnerungen und Hoffnungen« mögen real auf »gemeinsam erfahrenem Leid« und »gemeinsame[m] Stolz« oder auch nur »einem gemeinsamen Mythos« beruhen – für nationale Identitätsbildung sind sie gleichwohl wesentlich. In diesem Sinne, so führt Ernst-Wolfgang Böckenförde weiter aus, gibt es »weder ein europäisches Volk noch eine Nation der Europäer. Beides kann sich freilich bilden, als gemeinsames Bewusstsein einer kulturellen und politischen Identität der Europäer, welche die Besonderheiten und Identitäten der vorhandenen Völker nicht ersetzt, sondern übergreift.«89
Für europäische Identitätsprägung ist deshalb die zweite Komponente, die Erfahrung einer Lebens-, Handlungs- und Solidargemeinschaft, von größerer Bedeutung. Das muss nicht nachteilig sein. Denn Quellen nationaler Identitätsmythen sind häufig Feindschaften und Krieg, was insofern für die EU gilt, als zu ihrem »negativen Identitätsfundament eine jahrtausendealte europäische Kriegsgeschichte gehört«.90 Aber durch ihren Erfolg als Friedensprojekt hat die EU diesen Teil ihres Identitätsfundaments (zum Glück) selbst unterhöhlt, und sie kann und sollte sich nicht über Feindschaft oder gar Kriege gegen Externe definieren.
Auch auf die identitätsstiftende Kraft von Krisen sollte man nicht setzen. Zwar haben sie in der Vergangenheit durchaus als Katalysatoren eines engeren Zusammenschlusses gewirkt; doch der Fast-Zerfall der EU lehrt, dass man sich darauf nicht verlassen kann und die kontraproduktiven Folgen einer Integration bedenken muss, die unter dem Druck vermeintlicher Sachzwänge statt genuiner Überzeugung vorangetrieben wird. Dies gilt insbesondere dann, wenn diese Integration mit einschneidenden Beschränkungen nationalstaatlicher Autonomie und damit dem Risiko von Identitätsüberdehnung einhergeht.
Risiko von Identitätsüberdehnung beachten.
Im Kern besteht dieses Risiko darin, dass die EU von einer europäischen Identität lebt, die sekundär ist, also nationalen Identitäten nachgeordnet. Integrationspolitisch folgt daraus, dass sich die Reichweite europäischer Identität in einer EU, die durch vertikale Integration und horizontale Erweiterung erheblich heterogener geworden ist, schon deshalb schwer antizipieren lässt, weil die Bindekraft dieser Identität nicht statisch, sondern in beide Richtungen dynamisch wirkt: Sie kann zu- oder auch abnehmen, wenn sie mit nationalen Präferenzen und Prioritäten in Konflikt gerät. So hat das europäische Zugehörigkeitsbewusstsein zwar einen Zerfall der EU unter einem präzedenzlosen Krisendruck abgewendet, aber nicht ausgereicht, um eine Dauerkrise mit existentieller Gefährdung zu verhüten. Deshalb hält diese Krise, die sich EU-intern vor allem aus der Euro- und Flüchtlingskrise gespeist hat, dazu an, im Auge zu behalten, dass »[d]as Praktizieren europäischer Solidarität, zum Beispiel die Vergemeinschaftung andernorts gemachter Schulden oder die Aufnahme andernorts gestrandeter Flüchtlinge, ein Maß an politischer Begründung [erfordert], welches über den (gedachten) nationalen Kontext hinausgeht«.91
Diese Warnung integrationspolitisch, also in dem Bestreben zu beachten, Europa in Vielfalt zu einen, gebietet der sekundäre Charakter europäischer Identität. Hat sich in der Krise und der damit einhergehenden Entsolidarisierung erwiesen, dass dieses Gebot bei der Konstruktion der EU und im Umgang mit potentiellen Bruchstellen missachtet wurde? Solche strukturellen Krisenverursacher werden als Nächstes beleuchtet.
Die unausgegorene Währungsunion
Europäische Integration geht einher mit der Einschränkung nationalstaatlicher Autonomie durch supranationale und intergouvernementale Interdependenz. Neben der Konstituierung der europäischen Einigung selbst ist die Währungsunion der größte integrative Quantensprung. Mit ihrem Verzicht auf eine eigene Währung und Geldpolitik haben sich die Mitglieder der Eurozone auf eine Abhängigkeit voneinander eingelassen, deren Auflösung hohe wirtschaftliche Kosten und politische Risiken mit sich bringen könnte. Es ist deshalb eine zwar unbeweisbare, gleichwohl plausible Annahme, dass es die existentielle Krise der EU ohne die Krise der Eurozone nicht gegeben hätte.
Die Eurokrise kam nicht aus heiterem Himmel.
Für nicht wenige war es eine Krise mit Ansage. Denn vor kaum einem Projekt ist so sehr gewarnt worden wie vor der Währungsunion. Besonders in Deutschland, das seine D-Mark einbringen musste, die nicht nur eine harte Währung war, sondern auch die identitätsstiftende Funktion hatte, ein unverfängliches, weil durch die Nazi-Zeit nicht diskreditiertes Symbol nationalen Stolzes zu sein.
Dabei waren die prinzipiellen Vorteile einer gemeinsamen Währung, vor allem in Ergänzung zum gemeinsamen Markt, durchaus unstrittig, sind sie doch größtenteils dieselben, die auch innerhalb eines Staates gegen einen monetären Flickenteppich sprechen: Preistransparenz sowie der Wegfall von Wechselkursrisiken und Transaktionskosten erleichtern grenzüberschreitendes Reisen und Arbeiten, Handeln und Investieren, was Wachstum und Zusammenhalt stärkt; eine Währung für alle fördert nationale Wettbewerbsfähigkeit und damit kollektive Produktivität, weil wirtschaftliche Schwächen nicht mehr durch Währungsabwertungen ausgeglichen werden können; der Euro verringert die Verwundbarkeit durch spekulative Kapitalflüsse und die Abhängigkeit vom Dollar; als ein alltäglich eingesetztes Symbol der Verbundenheit fördert er europäische Identität.92
Datiert man den Ausbruch der Eurokrise auf das erste Rettungspaket für Griechenland im Mai 2010, also mehr als elf Jahre nach Einführung der Währung als Buchgeld und mehr als acht Jahre nach ihrer Einführung als Bargeld, verweist das auf eine der Ursachen der Krise. Wie zur Finanzkrise von 2008 hat zur Eurokrise der Umstand beigetragen, dass die vorangegangene Entwicklung alle Unkenrufe zu widerlegen schien: Auf den Finanzmärkten wurden über Jahre hinweg enorme Renditen erwirtschaftet, in der Eurozone gab es Wachstum, niedrige Zinsen und eine stabile Währung.93 Und als die Finanzmärkte 2008 einbrachen, wurde dies unmittelbar nicht als Anlass betrachtet, den Euro infrage zu stellen, zeigte sich doch, dass selbst eine nach den Lehrbüchern (beinahe) optimale Währungszone wie der US-Dollarraum keinen Schutz gegen solche Verwerfungen bot.
Rasch erwies sich jedoch, dass auch der Euro solchen Schutz nicht bot. Das hätte er, in welcher Konstruktion auch immer, gar nicht können, denn die vom Finanzsektor ausgelöste »Great Recession« war mehr als ein konjunktureller Abschwung. Sie ist, unabhängig von spezifischen Währungsregimen, ein Produkt der Krise des globalisierten Kapitalismus. Viele Volkswirtschaften der Eurozone sowie die gemeinsame Währung selbst gerieten im Sog der globalen Krise ins Trudeln. Auf dem Spiel stand damit ein Integrationsprojekt, dessen Zentralität Bundeskanzlerin Merkel mit dem Diktum beschrieb: »Scheitert der Euro, scheitert Europa.«
Die enorme Bedeutung der gemeinsamen Währung spiegelt sich auch in der Fülle der wissenschaftlichen und publizistischen Beiträge zum Thema. Keinem anderen Element des EU-Beinahe-Zerfalls ist so viel Aufmerksamkeit gewidmet worden wie diesem. Das gilt ebenso für die Zeit und Ressourcen, die die politischen Akteure in die Aufarbeitung der Krise und ihrer Konsequenzen investiert haben.
Der Einordnung und Bewertung dieser Beiträge und Bemühungen dienen zwei Leitfragen: Wie wird die Eurokrise erklärt, und welche Auswege zur dauerhaften Stabilisierung der Gemeinschaftswährung werden favorisiert? Dafür wird hier mit Blick auf die Funktionsfähigkeit der Euro-Union ein analytisches Doppelpaar aus nationaler Autonomie und Verantwortung einerseits sowie europäischer Souveränität und Solidarität andererseits in Anschlag gebracht. Die beiden Komponenten dieses Paares stehen zueinander in spiegelbildlicher Beziehung: je mehr nationale Autonomie, desto mehr Eigenverantwortlichkeit, je mehr europäische Solidarität, desto höher das Maß an europäisch geteilter und damit national eingeschränkter Souveränität.
Dabei ist zwischen dem Ausbruch der Krise und der politischen Reaktion darauf zu unterscheiden. Die für beide Fälle entscheidenden Variablen sind Fehlkonstruktion und Fehlverhalten. Wer eine existentielle Krise der Gemeinschaftswährung für programmiert hielt, begründet dies in der Regel mit einer fehlkonstruierten Eurozone. Eine alternative Erklärung fokussiert auf politisches Fehlverhalten vor und in der Krise – sei es als Verstärker architektonischer Mängel oder als ein davon unabhängiger Krisenverursacher.
Die unfertige Währungsunion
Schwachstellen in der Konstruktion sind eine verbreitete Erklärung für die Krise der Eurozone. Sie ist auch die politisch einflussreichste, weil die Eurozonen-Akteure seit dem Auftreten der Krise ihren Fokus – neben akuten Maßnahmen (Rettungsprogrammen, EZB-Niedrigzinspolitik und ‑Liquiditätsschüben) – auf die »Vollendung« der Wirtschafts- und Währungsunion richten.
Implizit kommt es dem Eingeständnis eines Politikversagens gleich, wenn unter anderen EZB-Präsident Draghi von der Währungsunion als einem fragilen, weil nur »halbfertigen Haus« spricht.94 Denn die eingangs angeführten Warnungen hatte es bereits zur Zeit des in den Maastricht-Vertrag aufgenommenen Gründungsbeschlusses gegeben. Auch von höchster deutscher Stelle: »Man kann dies nicht oft genug sagen. Die Politische Union ist das unerlässliche Gegenstück zur Wirtschafts- und Währungsunion. Die jüngere Geschichte, und zwar nicht nur die Deutschlands, lehrt uns, dass die Vorstellung, man könne eine Wirtschafts- und Währungsunion ohne Politische Union auf Dauer erhalten, abwegig ist.«95
Für Bundeskanzler Helmut Kohl hatte es gute Gründe gegeben, das Risiko einer Währungsunion ohne eine politische Komplementärunion einzugehen. Zu der Zeit ging es darum, das wiedervereinigte, nicht mehr durch die Teilung des Kalten Krieges eingezwängte Deutschland für seine Nachbarn erträglich zu machen. Und nach dem Start des Euro schien eine positive Wirtschaftsentwicklung die Warnungen zu widerlegen und Erwartungen zu erfüllen, dass ein Konvergenzprozess der nationalen Volkswirtschaften eingesetzt und so die Eurozone stabilisiert habe.
Ein solcher Prozess hat mehrere Dimensionen: nominale Konvergenz durch Angleichung von Kennziffern wie Inflation, Zinssätzen und dem Stand der öffentlichen Verschuldung; reale Konvergenz durch eine Verringerung der Abstände bei den nationalen Pro-Kopf-Einkommen und der Wettbewerbsfähigkeit; zyklische Konvergenz durch eine stärkere Synchronisierung von Konjunktur- und Finanzmarktschwankungen.96 In keiner dieser Dimensionen wurde eine Selbststabilisierung der Eurozone durch einen nachhaltigen Konvergenzprozess erreicht.97 Stattdessen war es, wie die Europäische Kommission feststellt, zumindest »teilweise« zu einer »Scheinkonvergenz« gekommen: Mit Ausbruch der Krise zeigte sich, dass manche Konvergenztrends (Wachstum und Zinssätze) fragil waren und in ihr Gegenteil umschlugen. Sie hatten zudem verdeckt, dass sich stattdessen gegenläufige Divergenzen aufgebaut hatten, insbesondere zwischen Deutschland und anderen »nördlichen« Euro-Staaten (den Niederlanden, Österreich, Finnland) auf der einen und Griechenland, Irland, Italien, Spanien sowie Zypern auf der anderen Seite. Mit Anbruch der Krise wurde offenbar, dass der Aufschwung der zweitgenannten Gruppe wegen mangelnder Wettbewerbsfähigkeit, unproduktiven Investitionen und Überschuldung auf tönernen Füßen gestanden hatte.
Dies allein dem Euro anzulasten wäre abwegig. Denn der Ausgangspunkt der Krise ist die des globalisierten Kapitalismus, die durch seine Finanzialisierung und die damit verbundene Politik des billigen Geldes vorangetrieben wurde, welche von den USA ausgingen. Diese Entwicklung hat, darin ist Sandbu zuzustimmen, auch die Angleichung der Zinsen in der Eurozone und damit unsolide Verschuldung befördert.98 Aber für die Stabilität der Eurozone war dies ein gravierendes Problem, weil sie sich in drei Kardinalpunkten von den USA unterscheidet. Erstens ist sie kein mit den USA vergleichbarer »optimaler Währungsraum« mit Ausgleichsmechanismen wie Fiskaltransfers, hoher Arbeitskräftemobilität und integrierten Kredit- und Kapitalmärkten. Zweitens wird sie nicht von einer nationalen Identität getragen, sondern von einer Mischung aus sekundärer europäischer und primärer nationaler Identität. Drittens und damit zusammenhängend ist sie in ihren wirtschaftlichen Traditionen und Kulturen heterogener.99 Das macht es schwieriger, Divergenzen abzubauen oder einen Umgang damit zu finden, der die Eurozone stabilisiert und zugleich für alle Beteiligten politisch tragbar ist.
In der Eurokrise ist dieses Spannungspotential im Verhältnis zwischen kreditgarantierenden und kreditnehmenden, also zwischen Gläubiger- und Schuldnerländern, aufgebrochen. In der Konfrontation beider Seiten lief der Euro – gedacht als ein Meilenstein auf dem Weg zu »einer »immer engeren Union der Völker Europas« – Gefahr, zu deren Sprengsatz zu werden.
Denn neben der Konvergenz hatte eine zweite Hoffnung getrogen. Zur Absicherung der Gemeinschaftswährung hielt einer ihrer Mitbegründer, Bundeskanzler Kohl, eine Politische Union wie erwähnt für notwendig. Im sogenannten »Werner-Bericht« von 1970 an Rat und Kommission über die stufenweise Verwirklichung einer Wirtschafts- und Währungsunion war diese noch als »ein Ferment für die Entwicklung der politischen Union, ohne die sie auf Dauer nicht bestehen kann«, angesehen worden.100 Doch in dieser Hinsicht hat die Euro-Einführung nicht als Katalysator gewirkt.
Eine Politische Union hätte von ihren Mitgliedern die Bereitschaft gefordert, drastische Einbußen ihrer nationalen Autonomie zugunsten supranationaler Instanzen (Kommission, Europäisches Parlament), Verfahren (Mehrheitsentscheidungen), Kompetenzen (zum Beispiel Besteuerung) und Instrumente (zum Beispiel gemeinsamer Haushalt) hinzunehmen. Das hätte ein Problem wenn nicht lösen, so doch erheblich abmildern können, das sich durch das Ende des Kalten Krieges und die Wiedervereinigung Deutschlands verschärft hatte: die Furcht vor einem als deutsch dominiert empfundenen Europäischen Währungssystem. Dessen Überwindung erhoffte sich vor allem Frankreich von der Europäisierung der Geldpolitik.101 Doch das Kalkül ging nicht auf: Die Währungsunion wurde weitgehend nach deutschen Vorstellungen gestaltet, während Frankreich die für eine Politische Union notwendige Einschränkung seiner nationalen Autonomie nicht akzeptieren wollte. Noch schwerer wog jedoch, dass Deutschland, nachdem es seine Schwächephase in der ersten Hälfte des letzten Jahrzehnts hinter sich gelassen hatte, zur mit Abstand stärksten Volkswirtschaft und in der Krise auch zum politisch einflussreichsten Akteur aufstieg.
Eine voll entwickelte Politische Union käme einer weitreichenden Verlagerung von Sach- und Entscheidungskompetenzen von der nationalen auf die europäische Ebene gleich. Zu einer solch einschneidenden Vertiefung der horizontalen und vertikalen Integration auf Kosten nationalstaatlicher Autonomie waren die Euro-Mitglieder bei Gründung der Währungsunion nicht bereit. Da sie das auch weiterhin nicht sind, wird sich die Frage, ob eine Währungsunion ohne eine Politische Union auf Dauer überlebensfähig ist, so lange nicht verlässlich beantworten lassen, bis das Gegenteil eingetreten ist.
Ohne Politische Union und ausreichende Konvergenz kam es umso mehr auf das auch im Primärrecht verankerte Regelwerk an, das gemäß deutschen Vorstellungen aus drei Hauptelementen gebildet wurde: der Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank und ihrer Ausrichtung auf Geldwertstabilität sowie dem Verbot der monetären Staatsfinanzierung; der Nicht-Beistandsklausel (keine Haftung der Union oder eines Mitgliedstaates für die Verbindlichkeiten eines anderen) sowie dem Stabilitäts- und Wachstumspakt, der vor allem darauf zielte, eine übermäßige öffentliche Verschuldung zu verhindern (maximal 3 Prozent Neu- und 60 Prozent Gesamtverschuldung).
Doch auch diese Absicherung funktionierte aus drei Gründen nicht. Zum einen waren die Mitgliedstaaten nicht geneigt, ihren selbstgesetzten Vorgaben hinreichend nachzukommen. Bei der Zulassung zur Währungsunion wurden die Konvergenzkriterien großzügig ausgelegt und im Falle Griechenlands fahrlässig gehandhabt, die Schuldenobergrenzen wurden missachtet und der Pakt auf Druck Deutschlands und Frankreichs schon früh aufgeweicht. Zweitens sorgte die Nicht-Beistandsklausel nicht für Marktdisziplin, da sich die Zinssätze dem deutschen Niedrigniveau annäherten und in einigen Euroländern eine Blasenwirtschaft schürten. Drittens geriet durch den Fokus auf öffentliche Schuldenstände die enorme Zunahme der Privatverschuldung (Unternehmen, Banken, Konsumenten) ebenso aus dem Blick wie die verhängnisvolle Verflechtung zwischen Banken und Staaten. Banken halten Staatsanleihen als sichere Anlagen ohne Eigenkapitalvorsorge, Staaten können sich auf diese Weise billig finanzieren – eine Beziehung zum beiderseitigen Vorteil, die zu einem Teufelskreis (»diabolic loop«) wird, wenn Staatsanleihen nicht mehr als sicher gelten, dadurch Banken ins Straucheln geraten und Staaten sich gerade dann nicht mehr oder nur zu prohibitiv hohen Kosten finanzieren können, wenn sie es dringend benötigen.102
Ausbleibende Konvergenz und Integration legen Bruchstellen bloß.
Das Beispiel unterstreicht: Die Währungsunion hatte architektonische Schwachstellen, deren Krisenpotential sich verstärkte, weil der erhoffte wirtschaftliche Konvergenz- und der politische Integrationsschub ausblieben. Wie für EZB-Präsident Draghi war deshalb auch für Bundeskanzlerin Merkel die Währungsunion ein »unvollendetes Bauwerk«: »Wir haben eine gemeinsame Währung, aber wir haben keine gemeinsame politische und wirtschaftliche Union.« »Wir müssen«, so ihre Schlussfolgerung, »diese Krise zum Anlass nehmen, Versäumtes nachzuholen« und Europa »stärker wirtschaftlich und finanzpolitisch verzahnen«.103
In den seither vergangenen acht Jahren sind dazu zahlreiche Instrumente und Mechanismen mit dem Doppelziel der kurzfristigen Rettung und längerfristigen Stabilisierung der Währungsunion geschaffen worden. In der akuten Phase ging es vorrangig darum, durch finanzielle Nothilfe für angeschlagene Euro-Mitgliedstaaten (Griechenland, Irland, Portugal, Spanien, Zypern) einen Dominoeffekt zu verhindern, der die Währungsunion insgesamt in Gefahr gebracht hätte. Dafür wurden Rettungsprogramme (offiziell: »Anpassungsprogramme«) aufgelegt, die die Empfänger zu haushaltspolitischer Konsolidierung und wirtschaftlicher Restrukturierung verpflichteten.
Diese Auflagen weisen über ihren akuten Anlass hinaus auf das zweite Ziel: das »halbfertige Haus« Währungsunion durch Anbau auf solide Füße zu stellen. Den Ansporn dazu lieferte nicht nur die Einsicht, dass ihre Konstruktionsmängel zum Entstehen der Krise und zu ihrer Verschärfung beigetragen hatten; in der Krise war auch deutlich geworden, wie zentral die Europäische Zentralbank für das Überleben des Euro geworden war. In dieser Hinsicht entscheidend ist weniger ihre Niedrigzinspolitik als die Erklärung ihres Präsidenten Draghi in London im Juli 2012, die EZB werde alles tun (»whatever it takes«), um die Gemeinschaftswährung zu erhalten. Dass diese Ankündigung den Euro stabilisierte, war der Glaubwürdigkeit zu verdanken, die sich die EZB zuvor und danach durch ihr beherztes und unkonventionelles Eingreifen erworben hatte. Dazu gehörten die Bereitstellung unbegrenzter Liquidität für Banken und vor allem der 2015 begonnene massive Ankauf von Wertpapieren einschließlich Staatsanleihen (»quantitative easing«).
Eine Dauerlösung ist das jedoch nicht. Die EZB kann, wie sich gezeigt hat, eine Menge tun, aber sie kann nicht alles tun, was notwendig ist, um die Euro-Union zu bewahren. Draghi hat wiederholt betont, dass die EZB den Mitgliedstaaten »nur« Zeit erkaufen könne, damit sie ihre nationalen Haushalte und Volkswirtschaften eurokompatibel und das »halbfertige (Euro-)Haus« krisenfest machen.104 Zudem handelt die EZB nicht im politikfreien Raum. Draghis Londoner Ankündigung konnte nur deshalb wirken, weil die deutsche Regierung hinter ihm stand und bereit war, einen öffentlichen Konflikt mit der Bundesbank in Kauf zu nehmen. Die anhaltende Kritik an »monetärer Staatsfinanzierung« der EZB und an den Kehrseiten ihrer inzwischen jahrelangen Niedrigzinspolitik für Sparer und Anleger beeinträchtigt die Akzeptanz der EZB und damit auch des Euro.
Auch die EZB kann also den politisch Verantwortlichen nicht die Aufgabe abnehmen, die Eurozone dauerhaft zu festigen. Sie soll das auch gar nicht können, denn dazu benötigte sie ein demokratisches Mandat, das mit ihrer Unabhängigkeit unvereinbar wäre.
Über die EZB-Interventionen und die ersten Notoperationen hinaus ist von nationalen und europäischen Akteuren denn auch seit 2010 an der architektonischen Stabilisierung der Eurozone gearbeitet worden. Ziel ist es, die Währungsunion durch eine Fiskal-, Wirtschafts- und Finanzunion abzusichern. Im Rahmen der Fiskalunion wurde einerseits ein Nothilfeinstrument (Europäischer Stabilitätsmechanismus – ESM) mit einer Kreditvergabekapazität von 500 Milliarden Euro eingerichtet, andererseits sollen verschärfte Regeln und Verfahren für eine solide Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten sorgen. In der Säule der Wirtschaftsunion geht es um Maßnahmen zur besseren Koordinierung von Wirtschafts- und Haushaltspolitik (»Europäisches Semester«), zur Stärkung von Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit sowie um die Früherkennung und den Abbau makroökonomischer Ungleichgewichte (zum Beispiel exzessive Leistungsbilanzdefizite oder ‑überschüsse). Durch die Finanzunion sollen Banken wirksamer überwacht und notfalls zu minimalen Kosten für den Steuerzahler abgewickelt werden können, durch nationale Fonds werden Bankeinlagen bis zu 100 000 Euro garantiert.105
Im Verbund mit der EZB und begünstigt durch einen konjunkturellen Aufschwung haben diese Maßnahmen und das politische Signal, am Euro festzuhalten, tatsächlich zur Stabilisierung der Eurozone beigetragen. Damit ist es jedoch nicht getan. Zwar mag die Gemeinschaftswährung nicht mehr akut gefährdet sein;106 die wirtschaftlichen und sozialen Einbrüche durch die »Great Recession« sind jedoch bis hin zu populistischen Wahlerfolgen in mehreren Euroländern nach wie vor spürbar: »Das Pro-Kopf-BIP [Bruttoinlandsprodukt; E. L.] des Euroraums erreicht erst jetzt wieder das Vorkrisenniveau«; das Gefälle zwischen den Mitgliedstaaten bei Einkommen und Arbeitslosigkeit ist nach wie vor beträchtlich; Investitionen und Innovationsfähigkeit sind zu gering; die öffentliche Verschuldung ist weiterhin hoch und vor allem in Italien zu stark mit dem Bankensektor verknüpft (»diabolic loop«); der Anteil notleidender Bankenkredite ist erst auf das Vorkrisenniveau zurückgegangen; die Finanzmärkte sind noch fragmentiert; die gemeinsame Risikoteilung ist unterentwickelt; die wirtschaftspolitische Steuerung der Eurozone ist unzureichend und ihr Regelwerk zu komplex.107
Vor diesem Hintergrund und im Ausblick auf die nächste Krise sind sich deshalb die Euro-Akteure (Mitgliedstaaten, Kommission, EZB) und große Teile der Fachwelt (zum Beispiel Wissenschaft, Internationaler Währungsfonds) darin einig, dass die Konstruktion der Währungsunion noch zu fragil ist. Was für eine architektonische »Vollendung« erforderlich wäre, ist jedoch strittig. Die Fülle der (Bau-)Pläne zu bewerten würde die Kompetenz dieses Autors und den Rahmen dieser Studie überschreiten, ein hinreichendes Urteil dürfte ohnehin erst die nächste Krisenerfahrung erlauben.108 Deshalb geht es zunächst nur um die Vorhaben und Vorschläge. Leitlinien für eine Stabilisierung der Eurozone folgen auf die Diskussion weiterer Ursachenkomplexe der Eurokrise.
Vollendung braucht nationale Eigenverantwortung und europäische Solidarität.
Der Einordnung der Vorhaben und Vorschläge dient das analytische Doppelpaar aus nationaler Autonomie/Verantwortung und europäischer Souveränität/Solidarität. Dabei stehen diese beiden Komponenten nicht in einem Entweder-oder-Verhältnis. Eine gemeinsame Währung impliziert per definitionem eine Einschränkung nationaler Autonomie und die Übertragung von Kompetenzen an eine übergeordnete Ebene (»europäische Souveränität«). Sie erfordert jedoch ebenso die Wahrnehmung nationaler Eigenverantwortung und die Akzeptanz europäischer Solidarität.
Das verdeutlicht eine Metapher. Stellt man sich die Währungsunion als »Haus« mit einer von den Mitgliedstaaten als Wohnungseigentümern gebildeten Hausgemeinschaft vor, so kann diese nur funktionieren, wenn jeder seine Wohnung in Ordnung hält und die gemeinsam beschlossene Hausordnung befolgt. Für die Währungsunion heißt dies: Die Euro-Mitglieder kommen ihrer Eigenverantwortung für die gemeinsame Währung nach, indem sie zu Hause für wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und politische Stabilität sorgen und die von ihnen gebilligten Regeln (»Hausordnung«) einhalten. Das ist jedoch nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist, dass eine Hausgemeinschaft ohne nachbarschaftliche Solidarität auch nicht funktionieren kann. Denn die eigene Wohnung zu nutzen und sich in ihr wohlzufühlen vermag man nur, wenn das gemeinsame Haus und die Hausgemeinschaft intakt sind. Für die Währungsunion bedeutet das: Ihr Regelwerk muss verbindlich und weitreichend sein, sollte jedoch zugleich nicht diskriminieren und nationalen Besonderheiten Rechnung tragen; und sie sollte durch kollektive Vorkehrungen so gestaltet sein, dass das Risiko nationaler Schieflagen gemindert wird und gegenseitiger Beistand gewährleistet ist.
Diese theoretisch stringenten Anforderungen auf einen politisch akzeptablen und zweckerfüllenden Nenner zu bringen mag als Quadratur des Kreises erscheinen. Gleichwohl muss im Spannungsfeld von nationaler Autonomie/Verantwortung und europäischer Souveränität/Solidarität ein Ausgleich gesucht werden. Wie autonomieschonend kann eine Währungsunion sein, ohne dass sie durch mangelnde Solidarität und unzureichende Kollektivsouveränität gefährdet ist? Und wie viel europäische Souveränität und Solidarität vertragen sich mit einer Europäischen Union von Nationalstaaten, die zwar weit mehr als ein Staatenbund, aber auch deutlich weniger als ein Bundesstaat nach amerikanischem oder deutschem Muster ist? Wie lässt sich sicherstellen, dass kollektive Solidarität mit nationaler Eigenverantwortung in beiden Richtungen Hand in Hand geht, Solidarität also nicht ohne Gegenleistung bleibt und umgekehrt auf Solidarität zählen kann, wer seine Mitverantwortung wahrnimmt (»moral hazard«)? Wie weit kann und muss die Währungsunion durch eine Fiskal-, Wirtschafts- und Finanzunion zu einer umfassenderen Union ausgebaut werden? Welche demokratische Legitimation und Kontrolle benötigt sie?
Betrachtet man die »Vollendung« des »halbfertigen Hauses« anhand dieser Leitfragen, wird deutlich, warum und worüber gerungen und gestritten wird. Dafür ist zunächst klarzustellen, worum es nicht gehen kann. Eine Währungsunion als Teilmenge einer Politischen Union wird es absehbar nicht geben. Einer europäischen Souveränität mit Organen und Kompetenzen vergleichbar einem Bundesstaat steht der Umstand im Wege, dass es kein europäisches Volk mit einem entsprechenden Wir-Bewusstsein gibt, hinter das nationale Identitäten zurückträten. Das muss nicht so bleiben, aber die Stabilisierung der Eurozone kann auf eine solche Politische Union nicht warten.
Obgleich nicht in gleichem Maße, gilt Ähnliches für die Konvergenz der nationalen Wirtschaftsleistungen und Entwicklungsniveaus. Auch in Nationalstaaten gibt es regional erhebliche Unterschiede. In Deutschland zum Beispiel sind sie durch den Länderfinanzausgleich abgemildert, aber nicht eingeebnet worden, weder zwischen dem westdeutschen und dem Territorium der ehemaligen DDR noch zwischen den westdeutschen Ländern.109 Wenn dies national der Fall ist, dürfte eine Angleichung auf der europäischen Ebene ungleich schwerer zu erreichen sein: zum einen, weil Wirtschaftsstrukturen und ‑kulturen zwischenstaatlich in der Regel heterogener ausfallen als innerstaatlich, zum anderen, weil die Solidaritätsbereitschaft national größer ist. Mehr Konvergenz im Euroraum herbeizuführen bleibt dennoch ein sinnvolles und notwendiges Anliegen, eine Angleichung aller auf gleichem Niveau anzustreben ist jedoch illusorisch.
Die Währungsunion wird folglich bis auf Weiteres ohne Politische Union und eine vollständige Konvergenz auskommen müssen. Es bleiben damit vier Bereiche für ihre Stabilisierung: Fiskal- und Wirtschaftspolitik, der Finanzsektor und ihre demokratische Absicherung. In jeder dieser Dimensionen geht es um nationale Eigenverantwortung einerseits und europäische Solidarität andererseits. Klar ist, dass dies ein Sowohl-als-auch ist. Woran sich die politischen und Experten-Geister scheiden, ist das Mischungsverhältnis: Wer Mithaftung und Mitfinanzierung minimieren will, betont die Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten; für mehr Solidarität tritt ein, wer nationalstaatliche Verantwortlichkeit zwar nicht ersetzen, aber durch kollektiven Beistand ergänzen und erleichtern möchte.
Dahinter stecken individuelle Einschätzungen und Kalküle. Sie drehen sich – wie bei jedem Kollektivgut – um zwei Schlüsselfragen. Die erste betrifft Macht- und Verteilungsaspekte: Wie kann, positiv gewendet, die Bereitschaft aller Euro-Mitglieder, das national Nötige für das gemeinsame Ganze zu erbringen, gefördert werden, und wie kann, negativ gewendet, verhindert werden, dass Einzelne das Interesse anderer an der Bereitstellung des Kollektivgutes durch Minderleistung ausnutzen? Die zweite Schlüsselfrage dreht sich um den Wert eines Kollektivgutes: Je höher er eingeschätzt wird, desto größer ist die Bereitschaft, Kosten und Risiken für seine Bereitstellung einzugehen, desto größer ist aber auch die Möglichkeit, dass Dritte dies ausnutzen (Trittbrettfahrerei).
Diese beiden Schlüsselfragen bilden den Hintergrund und die Erklärung für die Kontroversen um die Rettung der Gemeinschaftswährung und ihre dauerhafte Stabilisierung. Wer den Euro nicht nur als hohes wirtschaftliches, sondern auch als hohes politisches Gut ansieht, wird auch bereit sein, ein hohes Maß an Solidarität in seine Bewahrung zu investieren. Wer Zweifel an der Verlässlichkeit anderer hegt und Fehlanreize minimieren möchte, wird strenge Regelkontrollen sowie Vorkehrungen favorisieren, die Mithaftung und Mitfinanzierung in engen Grenzen halten.110 Wer daran weniger zweifelt oder darauf setzt, nationale Eigenleistungen durch Anreize zu fördern, wird einen Ausbau der Beistandsmechanismen befürworten.
In der Fiskal- und Wirtschaftspolitik steht im Zentrum der Debatte die Frage, ob und in welchem Ausmaß zusätzliche Finanzmittel zu welchen Zwecken und Bedingungen wie finanziert und kontrolliert sowie durch wen geschaffen werden sollten. Bedarf es zur Prävention selbstinduzierter Krisen und zur Förderung der Konvergenz einer Fiskalkapazität für die Eurozone? Sollte sie sich aus Beiträgen oder Steuern speisen, die auf europäischer Ebene erhoben würden? Sollte zur Intervention im Krisenfall der Europäische Stabilitätsmechanismus zu einem Europäischen Währungsfonds (EWF) ausgebaut werden und, wenn ja, mit welchen Kompetenzen und Mitteln wäre er auszustatten? Sollten nationale automatische Stabilisatoren wie Arbeitslosengeld durch eine europäische Komponente ergänzt werden?111 Braucht die Eurozone einen europäischen Finanzminister – wenn ja, mit welchen Kompetenzen –, um Instrumente wirksam ein- und Regeln durchzusetzen? Könnten von mehreren Eurostaaten garantierte Wertpapiere den Nexus zwischen nationalen Banken und Haushalten (»diabolic loop«) aufbrechen?112
Im Finanzsektor steht im Vordergrund die Komplettierung der Bankenunion. Sollen dafür der ESM oder ein EWF zu einer finanziellen Letztabsicherung (»backstop«) für den Fall werden, dass der von Banken selbst zu füllende Abwicklungsfonds nicht ausreicht? Und soll es neben oder anstelle der nationalen eine gemeinsame europäische Einlagensicherung geben?
Die Reformdebatte dreht sich um das Verhältnis von Risikovermeidung zu Risikoteilung.
Antworten auf diese Fragen werden am Ende dieses Abschnitts gegeben. Hier bleibt festzuhalten:
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Die »unfertige« Währungsunion ist ein Mitverursacher der EU-Dauerkrise und des Beinahe-Kollapses der Union. Die Schwachstellen ihrer Konstruktion zu beseitigen oder zumindest einzuhegen erfordert grundlegende Reformen.
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Dass diese inzwischen jahrelangen Bestrebungen noch nicht abgeschlossen sind, ist Konflikten in und zwischen den Euro-Mitgliedstaaten über die Frage geschuldet, wer welche Kosten und Risiken für die Bereitstellung des Kollektivgutes »Euro« übernimmt.
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Solche Macht- und Verteilungskonflikte treten in der Euro-Währungsunion in verschärfter Form auf, weil diese im Unterschied zu nationalen Währungsunionen »nur« von einer sekundären Identität lebt und deshalb nicht auf einem Loyalitäts- und Solidaritätsfundament ruht, das Nationalstaaten vergleichbar ist.
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Im Kern geht es bei diesen Konflikten um die Frage des Mischungsverhältnisses zwischen nationaler Eigenverantwortung und Risikovermeidung einerseits sowie europäischer Solidarität und Risikoteilung andererseits.
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Die Herausforderung ist, ein Mischungsverhältnis zu erreichen, das im zweifachen Sinne ein Optimum darstellt: in und zwischen den Eurostaaten muss es politisch tragfähig und für die Stabilität des Euro ausreichend sein.
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Für dieses Optimum gibt es keinen »objektiven« Maßstab. Was politisch machbar ist, entscheiden vor allem Machtverhältnisse und Machtkalküle. Was notwendig ist, um eine historisch präzedenzlose Währungsunion zu erhalten, lässt sich nicht lehrbuchmäßig ableiten, sondern bleibt eine Einschätzungsfrage.
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Ob ein bestimmter Mix beiden Anforderungen gerecht wird, muss sich und kann sich nur in der Praxis zeigen – das heißt in seiner Qualität der Krisenprävention und seiner Fähigkeit zu wirksamem Krisenmanagement.
Allerdings kann keine Architektur politische Fehlerlosigkeit garantieren. Das führt zu einer Erklärung für die Krise der Währungsunion, die Fehlverhalten statt Fehlkonstruktion in den Mittelpunkt rückt.
Die fehlgesteuerte Währungsunion
»Vermeidbare politische Irrtümer und nicht etwa ihre Struktur haben dafür gesorgt, dass die Eurozone in einem selbst geschaufelten Loch steckt.«113 Für Sandbu gilt dieser Befund sowohl für die Auslösung der Krise als auch für den Umgang damit.
Als Krisenverursacher habe der Euro »höchstens eine geringe Rolle« gespielt. Die ihm zugeschriebenen Strukturdefekte (ein Zinsniveau für alle, fehlende Anpassungsoption durch Auf- und Abwertung, Zulassen übermäßiger Leistungsbilanzdefizite, Verlust der nationalen Geldschöpfungsfähigkeit) seien entweder weniger relevant als angenommen oder Probleme, die auch ohne den Euro aufgetreten wären.114
Dafür spricht einiges, etwa seine Feststellung, dass die vor allem von der amerikanischen Zentralbank forcierte Politik des billigen Geldes innerhalb und außerhalb der Eurozone zu leichtfertiger Kreditvergabe verführt habe. Richtig ist auch, dass es keine strukturellen Zwänge der Währungsunion, sondern nationale Versäumnisse waren, die dazu führten, dass das reichlich vorhandene Kapital nicht für produktive Investitionen, sondern zum Aufpumpen von Blasenwirtschaften eingesetzt worden ist.115
Fehlverhalten ist keine überzeugende Erklärung für die Eurokrise.
Gleichwohl bleibt seine Argumentation löchrig. Ein erster, wenn auch kein gravierender Einwand lautet, dass er seine These selbst abschwächt: Der Euro sei »ein geringeres Problem als häufig behauptet« (S. 29) oder trage »geringere Schuld als allgemein angenommen« (S. 42). »Geringer« heißt im Umkehrschluss: in gewissem Maße eben doch.
Sein Versuch, die These zu entkräften, das einheitliche Zinsniveau der Eurozone habe eine »Scheinkonvergenz« durch nicht nachhaltiges Wachstum begünstigt, überzeugt nicht. Zwar stimmt es, dass eine Angleichung der Renditen für Staatsanleihen auf dem niedrigen deutschen Niveau nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb der Eurozone stattgefunden hatte. Seine Referenzländer dafür sind Großbritannien, Schweden und Dänemark. Großbritannien ist ein mit diesen Ländern schwer vergleichbarer Sonderfall, und die Wirtschaft in den beiden letztgenannten Staaten ist solider aufgestellt als in jenen Ländern der Eurozone, die in eine tiefe Krise stürzten. Ob diese sich ohne Euro-Mitgliedschaft ebenso kostengünstig hätten verschulden können, ist folglich nicht ausgemacht.
Vor allem jedoch unterliegt Sandbu einem Trugschluss. Selbst wenn diese Krise einer fehlerhaften Politik und nicht einer fehlerhaften Konstruktion geschuldet wäre, muss das für die nächste nicht auch gelten. Jedenfalls wäre es fahrlässig, auf das Gegenteil zu vertrauen: erstens, weil die nächste Krise anders geartet sein könnte; zweitens, weil die Eurozone weniger resilient ist als eine nationale Währungsunion. Dem sollte durch robuste strukturelle Vorkehrungen Rechnung getragen werden.
Keine Vorsorge kann lückenlos sein und politisches Fehlverhalten zuverlässig verhindern. Geht es um die Frage, wer welche Fehler vor und in der Krise begangen hat, steht vor allem Deutschland am Pranger der Kritiker – nicht als Alleinschuldiger, denn in der Regel werden die hausgemachten Probleme in Euro-Mitgliedstaaten und ihre Mitverantwortlichkeit für das Kollektivgut Euro nicht verschwiegen; aber doch als Hauptschuldiger.
Deutschland hat nach dem Ende des Kalten Krieges und seiner Teilung eine EU-interne Bedeutung erreicht, die in der und durch die Eurokrise weiter gewachsen ist. Ob und inwieweit dieses deutsche Übergewicht ein endogener Krisenfaktor ist, wird im Abschnitt »Die unausgewogene Union« (S. 64ff) diskutiert. Hier ist die Vorhaltung zu bewerten, eine von Deutschland als dem Anführer einer Euro-Teilgruppe verfolgte Politik sei maßgeblicher Mitverursacher der Euro- und damit auch der EU-Krise insgesamt.
Dieser Vorwurf hat zwei Facetten: Deutschland habe zum einen die Krise mit herbeigeführt und zum anderen nach ihrem Ausbruch noch Öl in das von ihm mit angefachte Krisenfeuer gegossen. In vehementer und – begünstigt durch die Ubiquität der englischen Sprache – besonders einflussreicher Form ist diese Kritik von angelsächsischen Kommentatoren vorgebracht worden.
Für die Phase vor der Krise gipfelt der Vorwurf darin, Deutschlands wirtschaftliche Erholung und sein Aufstieg zur stärksten Wirtschaftsmacht in Europa seien auf Kosten seiner europäischen Nachbarn und globalen Handelspartner gegangen (»beggar-thy-neighbour policy«). Festgemacht wird dies vor allem an seinen Handels- und Leistungsbilanzüberschüssen. Zwar wird durchaus anerkannt, dass sie einer hochgradig wettbewerbsfähigen Exportwirtschaft zu verdanken sind; sie gelten jedoch auf zweifache Weise als schädlich. Deutschland habe seine Wettbewerbsfähigkeit nicht zuletzt niedrigen Lohnkosten zu verdanken, die andere ebenfalls zu einem die Nachfrage und damit die Konjunktur dämpfenden Lohndruck zwinge. Dadurch habe sich die Notwendigkeit verschärft, die Defizite im Handel mit Deutschland durch Verschuldung zu finanzieren. Im Ergebnis habe Deutschland auf diese Weise seine Europartner geschwächt und die krisenträchtige Divergenz der Eurozone verstärkt.116
Nach ihrem Ausbruch habe Deutschland die von ihm mitverschuldete Eurokrise durch kapitale Fehler verschärft. Für Sandbu ist die Eurokrise im Kern das »Ergebnis eines ideologischen Widerstands gegen das Abschreiben von Schulden – ob von Banken oder von Staaten«.117 Deutschland sei zwar anfänglich sogar für Schuldenschnitte eingetreten und habe im Falle Griechenlands und Zyperns schließlich doch noch eine Beteiligung privater Gläubiger durchgesetzt. Darauf aber nicht erst so spät, sondern trotz französischen Drucks nicht von Beginn an zu bestehen, sei der größte Fehler im Verlauf der gesamten Eurokrise gewesen.118
Als zweiter Kardinalfehler der deutschen Krisenmanagementpolitik gilt eine »teutonische Besessenheit von Austerität«.119 Deutschlands Beharren auf Strukturreformen und Eigenverantwortung in den Eurokrisenländern sei zwar richtig, aber das Hauptproblem der Eurozone bestehe in einer chronischen Nachfragelücke.120 Anstelle der von Deutschland vorgeschriebenen Haushaltskonsolidierung und Schuldenreduzierung sei es deshalb geboten, den Krisenländern mehr fiskalischen Spielraum zu geben sowie in Deutschland die öffentlichen Ausgaben zu erhöhen und die Steuern zu senken.121
Deutschland steht nicht von ungefähr im Fokus der Kritik. Es ist im Zuge der Krise zum wirtschaftlich stärksten und politisch mächtigsten Akteur in Europa aufgestiegen. Der Umgang mit der Krise ist neben der EZB in Frankfurt maßgeblich von der Bundesregierung in Berlin mitbestimmt worden.
Deutschland steht zu Unrecht am Pranger.
Am wenigsten überzeugt die Kritik, Deutschlands Aufschwung und Wachstum seien durch unfairen Wettbewerb auf Kosten seiner Euro-Nachbarn gegangen. Zutreffend ist: Die deutschen Überschüsse haben zur Divergenz in der Eurozone beigetragen, und die deutsche Exportwirtschaft profitierte davon, dass sich andere Euroländer für den Import ihrer Produkte und Dienstleistungen verschuldeten. Deutsche Vorhaltungen, diese Länder hätten über ihre Verhältnisse gelebt und müssten dafür nun geradestehen, klingen deshalb wohlfeil.
Zum Import deutscher Güter ist jedoch niemand gezwungen worden, und die globale Wettbewerbs- und Exportkraft Deutschlands beruht in erster Linie auf einer hochproduktiven und innovativen Wirtschaft, die besser und schneller als andere Euroländer die Chancen der EU-Osterweiterung (Aufbau integrierter Produktionsketten) und des chinesischen Marktes genutzt hat. Es stimmt, dass die deutsche Wettbewerbsfähigkeit auch durch eine Absenkung der Lohnstückkosten gesteigert worden ist. Das war jedoch kein gezieltes Lohndumping auf Kosten Dritter. Vielmehr reflektierten die Lohnzurückhaltung wie auch die sozialen Einschnitte (»Agenda 2010« von März 2003) aktuell eine schwere Krise mit hoher Arbeitslosigkeit und strukturell die oben analysierte Machtverschiebung zwischen Kapital und Arbeit im globalisierten Kapitalismus.122 Die Empfehlung der Financial Times, die Wettbewerbslücke zwischen Deutschland und der Eurozonen-»Peripherie« durch Lohnsteigerungen abzubauen,123 geht deshalb doppelt fehl: Zum einen ignoriert sie politökonomische Realitäten, zum anderen würde es Deutschland und der Eurozone wenig helfen, ginge die Schmälerung der Wettbewerbslücke innerhalb der Eurozone mit einer Einbuße an globaler deutscher Wettbewerbsfähigkeit einher. Eine fragile Eurozone braucht keine Schwächung Deutschlands, sondern eine Erstarkung anderer, allen voran der größeren Mitglieder Frankreich und Italien.124
Im Hinblick darauf ist Deutschland allerdings als stärkstes Euro-Mitglied in besonderem Maße gefordert – nicht als Ersatz für, sondern in Ergänzung zu nationaler Eigenverantwortung, die die Kehrseite einer Währungsunion mit hoher nationaler Autonomie in der Haushalts-, Steuer- und Sozialpolitik ist. Die damit für die deutsche Europolitik verknüpfte Herausforderung verweist auf die im vorstehenden Abschnitt diskutierte Frage, mit welchem Mix aus nationaler Eigenverantwortung und europäischer Solidarität die »unfertige Währungsunion« krisenfester um- und ausgebaut werden könnte.
Hat Deutschland, sei es aus Sorge vor Fehlanreizen und Trittbrettfahrerei (»moral hazard«), sei es aus Scheu vor innenpolitisch unpopulärer Risikoteilung, zu wenig Solidarität gezeigt? Hat es durch verfehlte Leitbilder (»ordo-liberaler Dogmatismus«, »Deutschland als Blaupause«) und wirtschaftspolitische Irrtümer (»Austeritätspolitik«, Verweigerung von Schuldenerlassen und Schuldenvergemeinschaftung) die Krise ver- statt entschärft?
Kritiker Deutschlands machen es sich zu leicht, wenn sie auf das Vorbild der USA verweisen. Was dort an zentralstaatlichem Ein- und Durchgreifen (etwa durch drastische Bankenrekapitalisierung, schnelle und massive Zentralbank-Intervention zur Kredit- und Nachfragestützung) und begünstigt durch das »Dollar-Privileg« als Weltleitwährung möglich war, lässt sich auf die Eurozone nicht oder nicht so einschneidend übertragen. Die Euro-Währungsunion entspricht weitaus weniger als die amerikanische einem optimalen Wahrungsraum und sie wird nicht wie jene von einer primären (nationalen), sondern »nur« von einer sekundären (europäischen) Identität unterfüttert.
Deshalb stellt sich im Eurogebiet die Frage nach dem Mischungsverhältnis von individueller Verantwortung und Haftung einerseits sowie kollektiver Solidarität und Mithaftung andererseits in verschärfter Form. »Was das uns Deutsche wieder kostet!« – davon, das mahnt Jürgen Habermas mit Fug und Recht an, darf sich Deutschlands Europapolitik im Allgemeinen und seine Eurozonenpolitik im Speziellen nicht (fehl-)leiten lassen.125 Das ist in dem von ihm kritisierten Ausmaß auch nicht geschehen, berücksichtigt man die von Deutschland mitgarantierten Hilfsprogramme und mitfinanzierten Hilfsfonds, die mit deutscher Rückendeckung erfolgten »unorthodoxen« Interventionen der EZB und das Signal an die Märkte, man werde ein Auseinanderbrechen der Eurozone nicht hinnehmen.
Kritiker wie Habermas verhehlen nicht, dass die Währungsunion nationale Verantwortlichkeit und Bereitschaft zur Souveränitätsteilung erfordert. Und sie erwarten zu Recht, dass Deutschlands politische Elite ihre europäische Mitführungsverantwortung auch und gerade dann wahrnimmt, wenn es unpopulär ist. Sie unterschätzen jedoch die strategische Herausforderung, beiden Anforderungen gerecht zu werden: die Parallelität von europäischer Solidarität und nationalen Reformen sicherzustellen und dafür die politische Rückendeckung nicht nur im eigenen Land, sondern auch unter Euro-Partnern zu bekommen.126
So hält Sandbu der Bundesregierung vor, auf Drängen Frankreichs und anderer Eurostaaten nicht auf einem radikalen Schuldenschnitt für Griechenland und einer Restrukturierung insolventer irischer Banken unter Beteiligung privater Gläubiger (»bail-in«) bestanden zu haben.127 Zunächst ist fraglich, ob sie überhaupt die Macht gehabt hätte, sich durchzusetzen, und zwar nicht nur gegen andere Staaten, sondern auch gegen die EZB und deren Präsidenten Jean-Claude Trichet. In jedem Fall hätte sie sich mit Partnern anlegen müssen, auf deren Kooperation sie angewiesen war.
Hinzu kommt die Frage, ob die von Sandbu unterstellte Wirkung überhaupt eingetreten wäre. Jedenfalls reicht es nicht, die Scheu vor Schuldenschnitten mit einer verbohrten Haltung zu Schulden zu erklären und daraus die Ursünde einer verfehlten Eurokrisenpolitik zu konstruieren.128 Dass Schuldenerlasse überhaupt in Erwägung gezogen werden, zeugt von einer übermäßigen Verschuldung öffentlicher oder privater Akteure. Schuldenstände werden untragbar, wenn Gläubiger das Vertrauen in ihre Schuldner verlieren, (rück-)zahlungsfähig zu bleiben. Dieses Vertrauen lässt sich nur durch Maßnahmen wiederherstellen, die eine nachhaltige Stabilisierung und Gesundung von Schuldnern herbeiführen. Schuldenerlasse können das bestenfalls erleichtern, aber nicht ersetzen.
Sie können das ebenso wenig wie eine einseitig auf Nachfragestimulierung setzende Politik. Die Kritik, Deutschland sei austeritätsfixiert, trägt dem durchaus Rechnung, wenn von Krisenländern Strukturreformen in Staat und Wirtschaft erwartet werden. Bedenkenswert ist ferner das Argument, Ausgabenkürzungen oder Steuererhöhungen in der Krise seien kontraproduktiv für die Abfederung der sozialen Härten solcher Reformen und die wirtschaftliche Belebung. Aber wie kann unter solchen Umständen sichergestellt werden, dass europäische Solidarität und nationale Reformen Hand in Hand gehen? Mehr als jeder andere Akteur muss Deutschland als das wirtschaftlich stärkste Land der Eurozone darauf eine Antwort geben, die es weder finanziell noch politisch überfordert und zugleich seinem Interesse am Erhalt der Währungsunion entspricht.129 Dem ist es weitgehend gerecht geworden.
Allerdings ist dies nur ein Zwischenbefund. Vor einem abschließenden Urteil ist zum einen eine Radikalkritik zu prüfen, die in der Währungsunion unter den obwaltenden System- und Machtverhältnissen einen desintegrierenden Sprengsatz sieht, der, wenn überhaupt, nur durch radikale Maßnahmen entschärft werden könne. Zum anderen werden in einem gesonderten Abschnitt zu den endogenen Krisenursachen die Folgen und Implikationen des deutschen Übergewichts in Europa untersucht.
Die unmögliche Währungsunion
»Rettet Europa vor dem Euro!« Hinter diesem Appell steht eine Interpretation der Eurokrise, die eine Unvereinbarkeit von europäischer Integration und Währungsunion postuliert.130 Nicht kategorisch, aber unter den real vorherrschenden Bedingungen.
Zu diesen Bedingungen zählen einige, die auch von Vertretern der These des »unfertigen Hauses« angeführt werden, wie zum Beispiel strukturell und konjunkturell divergierende Volkswirtschaften, die in das Prokrustesbett einer einheitlichen Geldpolitik bei Verlust von Wechselkursanpassungen gezwängt werden. Parallelitäten gibt es außerdem zu Deutungen, die auf einen – vor allem von Deutschland betriebenen – verfehlten Umgang mit der Krise abstellen. So sei »fälschlicherweise die unverantwortliche Finanzpolitik der Defizitländer als eigentliche Ursache der Krise« angesehen worden, und die von dieser Fehldiagnose angeleiteten Sparauflagen hätten diese Länder »immer tiefer in die Krise« getrieben.131
These: Die Eurokrise ist systemisch, weil sie bedingt ist durch die neoliberale Schlagseite der EU.
Im Unterschied zu eher konventionellen Erklärungen halten Exponenten der Unvereinbarkeitsthese diese Defizite jedoch für macht- und systembedingt und damit im Rahmen der bestehenden Verhältnisse für nicht korrigierbar. Deshalb setzt diese Radikalkritik auch nicht erst bei der Währungsunion an. Wenn Fritz W. Scharpf konstatiert, der Währungsunion liege eine »monetaristisch-neoliberale Doktrin zugrunde«, hebt er damit auf eine nach Auffassung dieser Denkschule endogene Krisenträchtigkeit der europäischen Konstruktion schlechthin ab.
In dieser Lesart ist die EU »zur Liberalisierungsmaschine des europäischen Kapitalismus [geworden], mit deren Hilfe Regierungen marktkonforme Reformen der verschiedensten Art gegen den Widerstand ihrer Bürger durchsetzen konnten, wenn sie nicht gar von den europäischen Behörden zu ihnen gezwungen wurden«.132 Liberalisierung meint hier »negative Integration« durch Abbau nationaler Regelungen, die der Freizügigkeit von Waren, Dienstleistungen, Arbeit und Kapital im EU-Binnenmarkt und ungehindertem Wettbewerb im Wege standen.133 Ihre Hauptakteure seien die Europäische Kommission und vor allem der Europäische Gerichtshof (»integration through law«) gewesen. Dem durch »positive Integration« Einhalt zu gebieten, hätte einen legislativen Akt unter Mitwirkung der Kommission, des Europäischen Parlaments und einer qualifizierten Mehrheit der Mitgliedstaaten erfordert – ein Unterfangen, das durch Kooperationsverweigerung leicht zu blockieren gewesen und durch eine immer heterogener gewordene Mitgliedschaft zunehmend schwierig geworden sei.134 Im Ergebnis habe sich die EU selbst destabilisiert: durch eine Selbstermächtigung europäischer Instanzen, die die demokratische Substanz der EU ausgehöhlt und deren Liberalisierungskurs das europäische Sozialmodell ebenso beschädigt hätten wie nationale Regierungen, die ihre neoliberalen Agenden zu Hause mit einem Spiel über die Brüsseler Bande durchsetzten.
Für Wolfgang Streeck bildet deshalb die Währungsunion »den vorläufigen Höhepunkt der langjährigen Entwicklung der sich herausbildenden europäischen Föderation zu einem Mechanismus der Freisetzung der kapitalistischen Ökonomie von demokratischer Marktverzerrung«.135 Diese Freisetzung sei auf Kosten der Länder mit weniger wettbewerbsfähigen Volkswirtschaften gegangen. Für sie habe sich in der Krise die Währungsunion als fatale Falle erwiesen: Ohne die Option der Abwertung einer eigenen Währung und einer von Deutschland oktroyierten Austeritätspolitik ausgesetzt, sei ihnen nur der Versuch geblieben, sich »nach deutschem Vorbild durch Lohnsenkung und steigende Exporte« aus der Krise zu befreien. Dafür jedoch fehlte ihnen eine exportorientierte Wirtschaftsstruktur, während zugleich die Lohn- und Ausgabenkürzungen die Binnennachfrage schwächten und die sozialen Probleme verschärften.136 Unter den vorherrschenden politökonomischen Verhältnissen erfordere, so Scharpf und Streeck fast wortgleich, die Währungsunion eine »zwangsweise Homogenisierung der strukturell nach wie vor extrem heterogenen Mitglieds-Ökonomien«. Eine solche »Wirtschaftsrevolution von oben« müsste jedoch »alle Hoffnungen auf die Entwicklung einer immer engeren und demokratisch legitimierten Union der Völker Europas vereiteln«.137 Beide Autoren plädieren folgerichtig für eine Auflösung der Währungsunion in ihrer derzeitigen Form: Streeck durch eine »Rückkehr zu einem geordneten System flexibler Wechselkurse in Europa«, Scharpf durch eine Aufspaltung in einen »zweistufigen Währungsverbund« aus Ländern um Deutschland und jenen, die sich dem strukturell homogenen und stärker koordinierten Kern um Deutschland nicht anschließen wollten. Dadurch würden Abwertungen wieder möglich und könne der Heterogenität der Euroländer Rechnung getragen werden.138
Scharpf und Streeck verweisen auf wunde Punkte der Eurozonen-Konstruktion, darunter insbesondere das Spannungsverhältnis zwischen einer einheitlichen Geldpolitik einerseits sowie uneinheitlichen Wirtschaftsstrukturen und ‑kulturen der Mitgliedstaaten andererseits. Gleiches gilt für ihre Kritik am Neoliberalismus und seinen desintegrierenden Folgen für das europäische Projekt. In zwei entscheidenden Punkten überzeugt indes weder ihre Krisendiagnose noch ihre Krisentherapie.
Die EU-Konstruktion ist keine verselbständigte »Liberalisierungsmaschine«.
Beide lasten der EU an, durch »negative (Binnenmarkt-)Integration« als undemokratische und unsoziale »Liberalisierungsmaschine« gewirkt zu haben. Als Betreiber dieser Maschine gelten ihnen in erster Linie die Europäische Kommission und der Europäische Gerichtshof (EuGH). In der Währungsunion setze sich dies fort: »Die europäischen Institutionen, seien es bestehende oder neu für diesen Zweck einzurichtende, erhalten immer umfangreichere Rechte, die Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik der Mitgliedstaaten zu überwachen und zu begutachten, zunehmend auch schon im Vorfeld anstehender Entscheidungen, einschließlich der nationalen Parlamente.«139 Scharpf bescheinigt der Kommission »fast unbegrenzte Weisungsrechte« im Verfahren zur »Verhinderung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte«.140 Das ist aus zwei Gründen zu hinterfragen.
Zum einen empirisch. Christoph Möllers kommt nach einer Analyse des Einflusses von Europäischer Kommission, Europäischem Gerichtshof und Europäischer Zentralbank zu der Schlussfolgerung: »Die Krisen der Europäischen Union kennen keinen einheitlichen Verursacher. Aber das weit verbreitete Narrativ einer Verselbständigung supranationaler Akteure gegenüber dem politischen Willen der Mitgliedstaaten lässt sich nicht halten.«141 Seine Einschätzung, stattdessen habe eher eine Bedeutungszunahme von Intergouvernementalität, also die Rolle der Mitgliedstaaten, an Bedeutung gewonnen, hat sich im Zuge der Eurokrise bestätigt.142
Zum anderen kausal. Gerade bei Politökonomen wie Scharpf und Streeck überrascht die Verselbständigungsthese. Denn es waren nicht allein die Kommission oder der Europäische Gerichtshof, die einem neoliberalen Zeitgeist folgten. Möglich war ihnen das nur, weil auch die Mitgliedstaaten auf Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung setzten.
Eine fehlkonstruierte Währungszone war ebenso wenig ein Machwerk der Kommission wie ein fehlerhaftes Eurokrisenmanagement. Das allerdings spricht nicht gegen Streecks und Scharpfs Vorschläge zur Abschaffung bzw. Aufspaltung der Währungsunion. So wie sie gestaltet und (fehl-)gesteuert wurde, ist die Währungsunion ein endogener Mitverursacher der EU-Krise. Auch radikale Änderungen wie die im Folgenden diskutierten könnten deshalb angezeigt sein.
Am weitesten gehen jene, die für eine Abschaffung des Euro und die Wiedereinführung nationaler Währungen eintreten.143 Andere empfehlen wie Scharpf eine Aufspaltung in zwei Blöcke oder eine Abspaltung eines Teils der Eurozone, entweder von Deutschland allein, einer Gruppe Gleichgesinnter um Deutschland144 oder von wettbewerbsschwächeren Euroländern. Solche Abspaltungen könnten durchaus temporär sein: Hans Werner Sinn hat eine »atmende Währungsunion« angeregt, »die geregelte Ein- und Austritte erlaubt. Länder, die ihre Wettbewerbsfähigkeit verloren haben, können den Euro verlassen, um sie durch eine Abwertung wiederzuerlangen. Beim Austritt erhalten sie Übergangshilfen für den Kauf sensibler Importprodukte, die sie sich nicht mehr leisten können. Zu einem späteren Zeitpunkt können sie, wenn sich ein stabiler Wechselkurs ihrer neuen Währung herausgebildet hat, zu den üblichen Bedingungen, wie sie auch für neu eintretende Länder gelten, wieder in den Euroverbund zurückkehren.«145
All diesen Vorschlägen ist gemein, dass sie in der Wiederherstellung von Wechselkursanpassungen die einzig realistische Möglichkeit sehen, mit der Heterogenität von nationalen Wirtschaftsstrukturen und ‑kulturen umzugehen. Ein solcher Ausweg ist jedoch nur ein vermeintlicher, mithin ein Irrweg.
Abwertungen haben eine Kehrseite. Sie verteuern Importe und können Kapitalabflüsse sowie Spekulationen auslösen, vor denen ein Währungsverbund größeren Schutz bieten kann. Eine Währung, die als schwankungsanfällig gilt, würde die Teilhabe an transnationalen Produktions- und Logistikketten erschweren.146 Mit Abwertungen lässt sich bestenfalls Zeit erkaufen; von der Notwendigkeit, zugrundeliegende Standort- und Wettbewerbsschwächen auszugleichen, entheben sie nicht.
Allein diese Erwägungen berechtigen zur Skepsis gegenüber einer Problemlösung, die den Austritt Deutschlands nahelegt. Konvergenz in Form von Wettbewerbsparität lässt sich auf Dauer nicht durch Auf- oder Abwertungen, sondern nur über Produktivität, Innovationsfähigkeit und Standortattraktivität gewährleisten. Die Erfahrung vor Einführung des Euro lehrt, dass Deutschland trotz starker D-Mark konkurrenzfähig war. Seine europäischen Partner betrachteten gerade diesen Umstand als ein Motiv für die Währungsunion.147 Es gibt keinen Grund, warum Deutschland das nicht wiederholen könnte.
Eine »atmende Währungsunion« mit Aus- und (Wieder-)Eintrittsoption hätte ebenfalls gravierende Nachteile. Sie würde die Verbindlichkeit des eigenen Regelwerks ebenso schwächen wie die Bereitschaft zur Solidarität, und sie würde »aus Sicht der Finanzmärkte zu einem festen Wechselkurssystem mutieren, gegen das zu spekulieren sich lohnen würde«.148
Die geschilderten Einwände lassen zudem unberücksichtigt, dass die Währungsunion nicht nur ein ökonomisches Projekt ist. Sie war von Beginn an – und bleibt es – ein Mittel zum politischen Zweck, die europäische Integration nach innen zu festigen und Europa nach außen zu behaupten.
Die Währungsunion braucht mehr Union auf breiter, auch politischer Front.
Aber gerade weil sie kein Selbstzweck ist, sollte sie nicht, wie geschehen, desintegrierend wirken, sondern den Zusammenhalt und die Handlungsfähigkeit der EU stärken – etwa anhand der folgenden Leitlinien.
■ Gedeiht der Euro, gedeiht Europa
Bundeskanzlerin Merkel hat in der Eurokrise wiederholt betont: »Scheitert der Euro, scheitert Europa.« Ob dem so wäre, bleibt hoffentlich unbewiesen. Gleichwohl war ihre Mahnung richtig und notwendig: richtig, weil es so kommen könnte und es deshalb fahrlässig wäre, eine solche Möglichkeit auszuschließen; notwendig, weil der Hinweis darauf, was auf dem Spiel steht, die Bereitschaft zum unbequemen Kompromiss und zu unpopulären Maßnahmen gefördert hat.149
Auf Dauer darf der Euro jedoch nicht als ein Projekt erscheinen, das nicht rückgängig gemacht werden kann, weil die Kosten und Risiken eines Scheiterns höher wären als eine dauerkriselnde Währungsunion. Einem Euro, der als Zwangsjacke empfunden wird, droht der Verlust demokratischer Legitimation und der Bereitwilligkeit, das zu seinem Erhalt national und kollektiv Notwendige aufzubringen.
Wie die EU insgesamt braucht auch die Währungsunion ein positives Narrativ. Das gibt es glaubwürdig nur, wenn ihr Nutzen für alle spürbar ist.
■ Ein starkes Europa gibt es nur mit einem starken Euro
Obwohl der Euroraum keine optimale Währungszone ist und es auf absehbare Zeit auch nicht werden wird: Eine Währungsunion hat enorme wirtschaftliche Vorteile komplementär zum Binnenmarkt und eine identitätsfördernde Bindekraft nach innen. Beides zusammen kann Europas Einfluss auf die Gestaltung der Globalisierung maßgeblich erhöhen.
Das gilt aber nur, wenn die Währungsunion sowohl optimal gestaltet als auch gesteuert wird. Grundvoraussetzung dafür ist:
■ Ein starker Euro braucht starke und solidarische Mitgliedstaaten
Die EU- und Eurokrise lehrt, dass die Mitgliedstaaten nicht bereit sind, die EU als einen Integrationsverbund von Nationalstaaten aufzugeben. Für die Währungsunion ist das mit dem Anspruch auf nationale Autonomie in wesentlichen fiskal- und wirtschaftspolitischen Fragen verbunden. Die Kehrseite davon ist eine hohe nationale Eigenverantwortung für die gemeinsame Währung. Sie impliziert dreierlei: dass die Mitgliedstaaten sich an gemeinsam beschlossene Regeln der Währungsunion halten; dass sie in ihrem nationalen Hoheitsbereich für starke Volkswirtschaften sorgen und dass sie die Auswirkungen ihrer nationalen Fiskal- und Wirtschaftspolitiken auf die Eurozone als Ganzes berücksichtigen.
Dem Prinzip Eigenverantwortung entspricht das Solidaritätsgebot. Das gegenseitige Vertrauen auf Beistand ist Teil des Fundaments der europäischen Integration und der Währungsunion. Seine Erosion, auch das lehrt die Krise, kann die EU in eine existenzbedrohende Schieflage bringen. Solidarität ist deshalb kein altruistischer Akt, sondern wohlerwogenes Eigeninteresse.
■ Die Währungsunion wird nie vollendet sein
Eigenverantwortung und Solidarität sind zwei Seiten einer Medaille. Die Debatte über die »Vollendung der Währungsunion« dreht sich im Kern um die Frage nach dem Mischungsverhältnis zwischen beidem. Wer sich um Trittbrettfahrerei sorgt, betont die Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten und die Konditionalität von Beistand. Wer das größere Risiko darin sieht, dass wirtschaftliche und soziale Divergenz die Eurozone auseinandertreibt, während Instrumente wie ein Eurozonenhaushalt oder gemeinsame Anleihen sie stabilisieren könnten, tendiert zum Ausbau von Solidarität.
Wie auch immer das Mischungsverhältnis architektonisch ausgestaltet wird: Ausreichende Krisenprävention oder Krisenbewältigung wäre damit aus zwei Gründen noch nicht gewährleistet. Die nächste und erst recht die übernächste Krise könnten andere Ursachen haben und andere Anforderungen stellen als jene, gegen die als Lehre aus der letzten Krise Vorkehrungen getroffen wurden. Aber selbst wenn architektonisch ausreichend vorgesorgt worden wäre: Ob und wie die Instrumente genutzt würden, bleibt konfliktiven Interessen und situativen Kalkülen ausgesetzt. Politisches Handeln bzw. Nicht-Handeln kann, bewusst oder ungewollt, fehlerhaft sein. Deshalb ist die Erwartung einer krisenfesten »Vollendung« der Währungsunion trügerisch.
■ Die Währungsunion ist unfertig
Regeln und Institutionen sind das eine, aber ohne die von ihnen geförderte Verlässlichkeit in partnerschaftliche Reziprozität gibt es keine stabile Währungsunion. Als die Eurokrise die Konstruktionsdefizite der Währungsunion offenlegte, mussten Ad-hoc-Instrumente und Verfahren geschaffen werden, die zu ihrer Eindämmung beigetragen haben.
Aber dass es damit nicht getan ist, zeigt sich schon daran, dass die EZB Anfang 2019 noch immer keine zinspolitische Kehrtwende wagt und ihre Anleihekäufe zwar zurückfährt, aber nicht gänzlich aufgibt. Vor allem zur Krisenprävention braucht die Eurozone einen architektonischen Um- und Anbau in der Fiskal- und Wirtschaftspolitik sowie im Finanzsektor.
■ Die Währungsunion braucht
mehr Union – 1 –
Architektonisch heißt dies, dass sie durch eine Fiskal-, Wirtschafts- und Finanzunion ergänzt werden muss. Gemeint sind damit eurozonenweite Kompetenzen und Kapazitäten, die vor allem zwei Zielen dienen: die krisenpräventive Konvergenz der Eurozone zu fördern und ihr Krisenmanagement zu verbessern. So wie Eigenverantwortung und Solidarität sind Kapazitäten und Kompetenzen zwei Seiten derselben Medaille: Mehr gemeinsame Kapazitäten wie ein Eurozonenhaushalt, eine europäische Abstützung der nationalen Arbeitslosenversicherungen, eine gemeinsame Einlagensicherung oder von mehreren Staaten garantierte Wertpapiere bedingen im Gegenzug mehr kollektive Souveränität, also eine Einschränkung nationaler Autonomie durch kollektive Entscheidungen und Kontrolle über die Nutzung dieser Kapazitäten.
■ Die Währungsunion braucht
mehr Union – 2 –
Die Währungsunion ist nicht nur (integrations-)politisch, sondern auch wirtschaftlich kein Selbstzweck. Es gibt sie nur, weil es auch den Binnenmarkt gibt. Umgekehrt gilt aber auch: Ein Binnenmarkt, der Wohlstand, Wachstum und Beschäftigung fördert, erleichtert die Konvergenz der Eurozone und macht sie dadurch krisenresilienter.
Dabei geht es nicht allein um mehr (markt-)wirtschaftliche Effizienz durch Abbau nichttarifärer Handelshemmnisse etwa im Dienstleistungssektor. Offene Märkte werden in demokratischen Gesellschaften nur dann auf Dauer vor protektionistischem Populismus geschützt bleiben, wenn der durch sie ermöglichte Wettbewerb als fair gilt und seine Ergebnisse allen zugutekommen. Mehr Union mit dem Ziel, die Währungsunion zu flankieren, heißt deshalb, den Ausbau des Binnenmarkts voranzutreiben, auch durch »eine gerechte Besteuerung großer Konzerne« und »das Prinzip des gleichen Lohns für gleiche Arbeit am gleichen Ort in der EU«.150
■ Die Währungsunion braucht
mehr Union – 3 –
Im Gefolge der durch die Krise des globalisierten Kapitalismus ausgelösten »Great Recession« ist die Währungsunion zu einem endogenen Mitverursacher der existentiellen EU-Krise geworden. Das lag auch an Konstruktionsmängeln und möglicherweise fehlerhaftem Krisenmanagement.151 Aber jede noch so abgesicherte Konstruktion oder jedes noch so makellose Krisenmanagement stößt an Grenzen, wenn es den Mitgliedstaaten an gegenseitigem Vertrauen und der Bereitschaft fehlt, ihre nationalen Interessen mit europäischem Gemeinwohl in Einklang zu bringen. Eine dauerkriselnde Währungsunion kann solchen »Unionsgeist« auszehren; doch selbst eine erfolgreiche Währungsunion vermag ihn nicht allein herzustellen, da sie nur ein Teil des europäischen Integrationsverbundes ist.
Das hat drei Implikationen. Solange nicht alle EU-Mitgliedstaaten der Währungsunion angehören, muss erstens darauf geachtet werden, dass es zu keiner Kluft kommt zwischen denen, die teilnehmen, und jenen, die das nicht tun. Zweitens belastet eine Zerrissenheit der EU in anderen Bereichen die Funktionsfähigkeit der Währungsunion. Inzwischen sind es Konflikte in der Migrations- und Flüchtlingsfrage, die den Unionsgeist erschüttern. Sie nähren, wie auch im Eurogründungsmitglied Italien geschehen, anti-europäischen Populismus. Eine nachhaltige Stabilisierung der Währungsunion erfordert deshalb auch mehr Union zur solidarischen Bewältigung der Migration, die, so Bundeskanzlerin Merkel, »zu einer Schicksalsfrage für die Europäische Union werden« könnte.152 Drittens: Eine Stabilisierung der Währungsunion, eine Konsolidierung des Binnenmarktes und die Kontrolle der Migration werden eher gelingen, wenn die EU und ihre Mitgliedstaaten darüber hinaus europäischen Mehrwert schaffen können. Dabei geht es um Herausforderungen, die sich aus der Krise des globalisierten Kapitalismus und der internationalen Ordnung ergeben: die Verbindung von innovativem Wachstum durch Digitalisierung und Automatisierung mit gerechter Teilhabe; die Harmonisierung von Ressourcen- und Klimaschutz und wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit; die Verbesserung von Europas Fähigkeit, sich eigenständig zu schützen und zu verteidigen; die Linderung des Migrationsdrucks unter anderem durch mehr Kooperation und Solidarität vor allem mit Afrika.
Um diese Aufgaben und Herausforderungen zu meistern, wird mehr Union durch mehr Zusammenwirken, aber auch durch mehr Finanzmittel erforderlich sein. Für deren Aufbringung und Verteilung gilt es, in der Währungsunion wie in der Gesamt-EU nationale Eigenverantwortung und europäische Solidarität in der Balance zu halten. Dabei sind die europäischen Transferspielräume enger gezogen als in den Nationalstaaten, weil die europäische Identität und damit verbunden die Solidaritätsbereitschaft schwächer ausgeprägt sind; aber ohne mehr Union durch zusätzliche europäische Transfers wird es nicht gehen.153
Die undemokratische Union
In seiner Abhandlung über »Europas Einigung« kommt Wilfried Loth 2014 zu dem Fazit, dass »das sogenannte Demokratiedefizit unterdessen zum drängendsten Problem der Europäischen Union geworden ist«.154 Demnach ist dieses »Problem« zwar besonders akut geworden, besteht aber schon seit längerem. Loth steht mit dieser Auffassung nicht allein.
»Demokratiedefizit« gilt als eine Hauptkrisenquelle.
Es gibt vier wesentliche Varianten dieser These:
■ Elitenprojekt
Die europäische Integration sei von Beginn an ein Projekt gewesen, das in erster Linie von Eliten in Politik, Wirtschaft und Medien gewollt und betrieben worden sei. Sie hätten sich dabei lange Zeit auf die »wohlwollende Hinnahme« (»permissive consensus«) der Bevölkerungen verlassen können. »Dieser technokratische Umweg nach Europa, von Jean Monnet 1950 initiiert und über lange Jahre erfolgreich, zuletzt noch einmal bei der Lancierung des Programms von Maastricht, ist an sein Ende gelangt.«155 Als strukturelle Gründe dafür gelten vor allem die Einschränkung nationalstaatlicher Autonomie durch vertiefte Integration (insbesondere die Währungsunion) und die gewachsene Heterogenität durch mehr Mitgliedstaaten. Das Konfliktpotential dieser beiden Entwicklungen habe sich verschärft durch eine schwindende Fähigkeit der EU, in für die Bevölkerungen entscheidenden Bereichen (Wohlstand, innere Sicherheit) ihren Mehrwert (»Output-Legitimation«) nachzuweisen. Auf diese Weise sei aus dem latenten Demokratiedefizit ein endogener Krisenverursacher geworden.156
Ob von den politischen Führungen gewollt oder nur zugelassen – der von ihnen zu verantwortende europäische Integrationsprozess habe eine »Unitarisierung des Staatenverbundes« bewirkt. Diese (Über-) Zentralisierung habe »eine die Balance zwischen Einheit und Vielfalt wahrende Kompetenzordnung« in eine Schieflage gebracht und »die demokratisch prekäre Distanz zwischen den europäischen Institutionen und den Bürgern vergrößert«.157
Manche Autoren akzentuieren dieses Distanz zu einer »Entmündigung des Publikums« durch »eine timide und willfährige Presse«, der von »unserer politischen Klasse seit Jahren« beigesprungen werde, »um die breite Öffentlichkeit mit dem Thema Europa nur ja nicht zu belästigen«.158 Habermas hat damit die Hauptschuldigen identifiziert: »Stattdessen beobachten wir aufseiten der Regierungen ein hinhaltendes Taktieren und aufseiten der Bevölkerungen eine populistisch geschürte Ablehnung des europäischen Projekts im Ganzen. Dieses selbstdestruktive Verhalten erklärt sich unmittelbar aus der Tatsache, dass die politischen Eliten und die Medien zögern, die Bevölkerung für eine gemeinsame europäische Zukunft zu gewinnen.«159 Für Ulrike Guérot ist es »die Scheinheiligkeit der nationalen politischen Eliten, die den Preis für Europa aus jeweils parteipolitischem Kalkül nicht zu zahlen bereit sind, unter der Europa heute am meisten leidet«.160
■ Ungenügende Legitimation
»In der Standardkritik«, konstatierte Edgar Grande 1996, »besteht das europäische Demokratiedefizit vor allem aus zwei Komponenten: Zum einen aus der Übertragung von Hoheitsrechten von den Mitgliedstaaten auf die Europäische Union, wodurch politische Entscheidungen dem Kompetenzbereich der nationalen Parlamente entzogen werden; und zum anderen in der Ausübung dieser Hoheitsrechte durch Organe, denen die demokratische Legitimation entweder völlig fehlt (wie im Fall der europäischen Kommission) oder die sie nur mittelbar besitzen (wie im Falle des Europäischen Rates), während das Europäische Parlament, das als einziges Organ der Europäischen Union über eine eigene demokratische Legitimation verfügt, noch immer über ganz geringe Kompetenzen gebietet.«161
Dieses Defizit war aus Grandes Sicht (und der von Ulrich Beck) auch 2005 noch virulent: »Der Europäischen Kommission fehlt die demokratische Legitimation nach wie vor völlig, und auch der Europäische Rat ist lediglich indirekt demokratisch legitimiert.«162 Zwar seien die Kompetenzen des Europäischen Parlaments erheblich erweitert worden; aber seine demokratische Qualität bleibe eingeschränkt durch: weiterhin fehlende Kompetenzen wie ein legislatives Initiativrecht; fehlende Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen (ein Abgeordneter eines kleineren Mitgliedstaates vertritt erheblich weniger Unionsbürger als der eines großen Mitgliedstaates); nicht allein politisch-programmatische, sondern mit nationalen Interessen durchsetzte Kalküle und Abstimmungen; eine seit 1979 stetig gesunkene Wahlbeteiligung auf nur 43,1 Prozent im Jahr 2014.163 Im Ergebnis monieren Henrik Scheller und Annegret Eppler eine »Dominanz von Rat und Kommission«, die sich »als ›Institutionalisierung des Misstrauens‹ gegenüber dem Souverän« bezeichnen lasse.164
■ Verselbständigung
»Hier liegt die wesentliche Wurzel des europäischen Demokratieproblems. Die exekutiven und judikativen Institutionen der EU, Kommission und EuGH, haben sich von den demokratischen Prozessen sowohl in den Mitgliedstaaten als auch in der EU selbst abgekoppelt und verselbständigt.«165 Bemerkenswert an dieser These ist, dass ihre Vertreter im gesamten politischen Spektrum zu finden sind. So ist der hier zitierte Grimm ein ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung schließt sich der These ebenso an wie die Politikwissenschaftler Peter Graf Kielmansegg sowie Klaus Weber und Henning Ottmann.166 Auf der politischen Gegenseite sind es neben den bereits zitierten Scharpf und Streeck auch Habermas, Claus Offe und Hauke Brunkhorst.167
Neben Kommission und EuGH zählen einige Autoren die EZB zu den europäischen Organen ohne ausreichende demokratische Rückkoppelung. Für Grimm ist es jedoch vor allem der EuGH, der durch seine extensive Interpretation der Verträge einen »schleichenden Kompetenzverlust« der Mitgliedstaaten herbeigeführt habe. Die von Scharpf beschriebene Asymmetrie zwischen negativer Integration (durch Beseitigung nationaler Regelungen) und positiver Integration (durch europäische Regulierung) sei ursächlich für eine Rechtsprechung, »die den sozialstaatlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten zuwiderläuft.«168
Undemokratische Herrschaft übt für Offe auch der Europäische Rat (ER) aus. Die in ihm vertretenen Spitzenakteure der mitgliedstaatlichen Exekutiven wirkten an Entscheidungen mit, die für alle EU-Bürger Geltung hätten, also für »eine territoriale Domäne, die wesentlich größer ist als die der Auftraggeber seiner national gewählten Mitglieder – eine Diskrepanz, an der auch das förmliche Einstimmigkeitsprinzip nichts ändert«.169 Mit Bezug auf die Eurokrise spricht er von einer »politischen Fremdherrschaft«, der sich »die Verlierer der Banken- und Schuldenkrise an der südlichen Peripherie« hätten unterwerfen müssen, was »die von der Krise verursachte tiefe Spaltung zwischen Kreditgebern und Gläubigern noch weiter zugespitzt« habe.170 Thomas Piketty und andere wollen gar ein »Schwarzes Loch der Demokratie« entdeckt haben, in dem eine »Regierung« aus den Finanzministern der Eurozone, ihren Staats- und Regierungschefs, der EZB und der Kommission agiere.171
■ Kein Demos
»Und jenseits der Grenzen der Nationalstaaten fehlt parlamentarischen Einrichtungen schlicht der Demos, der sie trägt. Es gibt kein europäisches Parlament, das diesen Namen verdient.«172 Selbst wenn man Ralf Dahrendorfs Diktum nicht als Unvereinbarkeit von europäischer Integration und Demokratie auslegt – dass es kein europäisches Volk gibt, das sich als eigenständiges politisches Subjekt begreift, wird mit Blick auf die demokratische Reife der EU als unüberwindbare Beschränkung angesehen. Für eine »lebendige Demokratie«, so Kielmansegg, »mangele es darüber hinaus »im europäischen Kontext an bestimmten Bedingungen der Möglichkeit demokratischer Legitimierung von Politik«. Er zählt dazu einen »lebendigen Parteienwettbewerb« und einen »öffentlichen Raum, in dem die politische Agenda sich bildet und zur Diskussion steht« und den »nur eine Kommunikationsgemeinschaft schaffen« kann.173
Abhilfe
Wie soll das der EU an-diagnostizierte »Demokratiedefizit« behoben oder zumindest gemildert werden? Die beiden grundsätzlichen Ansatzpunkte dafür sind die nationale Ebene der Mitgliedstaaten und die europäische Ebene in ihren zwei Ausprägungsformen: der politisch-institutionellen – konkret: Rolle und Kompetenzen der an Willens- und Entscheidungsbildung beteiligten Instanzen – sowie der gesellschaftspolitischen, also dem Rückhalt für die EU durch die Bevölkerungen, der Förderung europäischer Identität und der öffentlichen Kommunikation. Viele Vertreter der Defizit-These setzen auf beiden Ebenen an. Es gibt jedoch eine Trennlinie, was die Schwerpunktsetzung angeht. Die einen betonen die nationale, die anderen die europäische Ebene.
Mit Ausnahme der ersten Variante der Defizit-These, die das Elitenprojekt in den Vordergrund stellt. Deren Vertreter sehen vorrangig die nationalen Eliten gefordert. Für »Integrationisten« wie Habermas ist es an ihnen, »die Ärmel hochzukrempeln, um offensiv auf den Marktplätzen für die europäische Einigung zu werben«. Die »politischen Eliten in Deutschland« müssten mit Bezug auf die Eurokrisenpolitik den Bürgern »reinen Wein einschenken« und dürften über die negativen Umverteilungseffekte zulasten der Geberländer nicht länger schweigen. Für ihn ist der »fällige Schritt zu einer politisch handlungsfähigen Euro-Union die Fortsetzung eines ähnlichen Lernprozesses, der mit der Herausbildung des Nationalbewusstseins im 19. Jahrhundert schon einmal stattgefunden hat«. Wie damals sei es Sache der »tonangebenden Eliten«, einen solchen Lernprozess voranzubringen.174
Demgegenüber haben für die Gruppe der Skeptiker, die sich um eine bereits eingetretene oder drohende Überdehnung der Integration sorgen, die nationalen Eliten die Aufgabe, sich gegen eine solche, der Demokratie abträgliche Entwicklung zu stemmen. Folgerichtig legen sie den Schwerpunkt ihrer Reformvorschläge auf die nationale Seite der beschriebenen Trennlinie.
Am weitesten gehen jene, die den Nationalstaat als wahren Hort der Demokratie betrachten. Sie plädieren für einen drastischen Kompetenzverlust europäischer Institutionen und einen entsprechenden Kompetenzgewinn der Nationalstaaten. Ein solcher institutioneller Rück- und Umbau der EU erfordert nach Weber und Ottmann:
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die Aufwertung des Europäischen Rates mit einer Stimmengewichtung, die sich wie die Ministerräte an der Einwohnerzahl jedes Mitgliedslandes orientiert;
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die Abwertung der Europäischen Kommission zu einer dem Europäischen Rat nachgeordneten administrativen Institution, die nicht mehr das alleinige legislative Initiativrecht hat;
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die Einrichtung eines dem EuGH übergeordneten Appellationsgerichts (»Court of Appeal«) und die Abschaffung der Vorrangigkeit von europäischem vor nationalem Recht;
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eine Kammer aus nationalen Parlamentariern (»Chamber of National Parliamentarians«), die nach der nationalen Bevölkerungszahl gewichtet ist und im europäischen Gesetzgebungsprozess eine zentrale Rolle einnimmt;
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die Abwertung des Europäischen Parlaments, das mit der Kammer aus nationalen Abgeordneten zusammenarbeitet;
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die Aufwertung mitgliedstaatlicher Parlamente, die den auf europäischer Ebene beschlossenen Gesetzen zustimmen müssen.175
Parallel dazu sollte die Substanz der EU-Politiken nach der Richtschnur einer »begrenzten Supranationalität« auf vier Zwecke begrenzt werden: Frieden sichern, Wohlstand fördern, kollektive Macht gegenüber Dritten ausüben und die Beachtung der Prinzipien der westlichen Zivilisation sicherstellen.176
Einhegung der EU-Ebene durch Subsidiarität.
Weniger radikal, aber mit ähnlicher Stoßrichtung befürworten auch andere eine Einhegung der europäischen Ebene bei Stärkung der nationalen. Gemein ist ihnen in der Regel das Eintreten für eine »strenge Auslegung und konsequente Anwendung des Subsidiaritätsprinzips«, nach dem auf europäischer Ebene nur dann geregelt und gehandelt werden sollte, wenn anders ein Mehrwert oder eine Problemlösung nicht erzielt werden können. »Im Gegensatz dazu gibt es Politikbereiche, die sich aufgrund sehr heterogener Präferenzen der Bevölkerung durch bessere Lösungen auf nationaler Ebene auszeichnen und in erster Linie im Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten verbleiben sollten.«177
Die Wirksamkeit des Subsidiaritätsprinzips wird allerdings als gering eingestuft. Um es zu stärken, befürwortet zum Beispiel der Sachverständigenrat »die Etablierung eines Subsidiaritätsgerichts, das auf rotierender Basis mit Richtern der höchsten Gerichte der Mitgliedstaaten besetzt ist«.178 Für Christian Hillgruber hingegen hat es als »Modus der Kompetenzausübung (Art. 5 Abs. 3 EUV) bei geteilten Zuständigkeiten (Art. 4 AEUV)« schlicht »versagt«. Um dem »Unitarisierungstrend« Einhalt zu gebieten und »die nationalstaatliche Rückbindung der europäischen Organverwalter« zu stärken, schlägt er deshalb eine »Begrenzung der Kompetenzen der EU« unter anderem durch folgende Änderungen vor: legislative Initiativberechtigung nicht allein für die Kommission, sondern auch für Rat, EP und nationale Parlamente; Verkoppelung von europäischem und nationalem Parlamentsmandat; EuGH-Richter sollten nur solche sein, »die in ihrem Staat das Amt eines obersten (Verfassungs-)Richters versehen«.179
Grimm fokussiert seine Reformvorschläge vor allem auf zwei Ansatzpunkte. Gemäß seiner Auffassung, »die gesellschaftlichen Voraussetzungen einer regen Demokratie« seien in Europa schwach oder gar nicht entwickelt, bleibt die EU »bis auf weiteres auf die Legitimationszufuhr von den Mitgliedstaaten angewiesen«. Das spricht aus seiner Sicht zwar nicht gegen eine weitere Stärkung des EP, jedoch nicht in erster Linie durch Kompetenzausweitung, sondern durch eine Stärkung seiner Repräsentativität: »Entscheidend hierfür ist eine Europäisierung der Europawahlen und die Gründung echter europäischer Parteien …«180 Noch wichtiger sei es allerdings, die Verselbständigung von Kommission und EuGH zu stoppen. Zu diesem Zweck rät er, die Verträge auf den verfassungsmäßigen Teil zu beschränken und die umfangreichen Bestimmungen über die Politiken der EU auf die Ebene des einfachen Rechts herabzustufen, »damit in der EU möglich ist, was in jedem demokratischen Staat möglich ist: dass der Kurs der Rechtsprechung für die Zukunft politisch durch Gesetz geändert werden kann«.181
Die Nationalstaaten sind noch lange nicht am Ende.
Auf der anderen Seite der Trennlinie stehen jene, die dem Demokratiedefizit primär auf europäischer Ebene und durch partizipative Elemente begegnen wollen. Unter ihnen am weitesten gehen jene, die überzeugt sind, dass Europa seine Krise »nur mit einem mutigen Sprung« überwinden könne: »Konkret braucht die Europäische Union ein vollwertiges Parlament, das eigene Einnahmen erheben kann und das sich aus eigener Legitimation souverän daranmacht, die EU in einen föderalen Bundesstaat umzubauen.« Anders lasse sich dem Demokratiedefizit nicht beikommen und die EU nicht ausreichend handlungsfähig machen.182 Guérot reicht das nicht. Sie sieht das Grundübel in den Nationalstaaten, die den Weg zu einer transnationalen europäischen Demokratie verstellten. Deshalb plädiert sie für die Ablösung der Nationalstaaten durch eine »Europäische Republik«, deren Unterbau aus 50 Regionen mit jeweils rund zehn Millionen Einwohnern bestehen solle. Durch eine solche postnationale Demokratie könne »die dominante (und blockierende!) Stellung vor allem der drei großen europäischen Nationalstaaten Frankreich, Großbritannien und Deutschland – im deutschen Fall sogar die derzeit hegemoniale Stellung in Europa – überwunden« werden.183
Unterhalb dieser Schwelle eines Neubaus der EU als Bundesstaat oder gar einer »Europäischen Republik« setzen Vorschläge zur Demokratisierung der EU vor allem an vier Stellen an:
■ Europäisches Parlament
Es ist das einzige direkt gewählte und unmittelbar legitimierte EU-Organ. Das Bemühen, das »EP [zu] stärken, um Europa demokratischer zu machen«, hat deshalb dazu geführt, dass dessen Befugnisse und Einflussmöglichkeiten in den letzten Jahrzehnten beständig und erheblich gewachsen sind (zum Beispiel im Gesetzgebungsverfahren und bei der Wahl und Kontrolle der Kommission). Dementsprechend heißt es erneut auch im Koalitionsvertrag der deutschen Regierungsparteien: »Wir wollen ein Europa der Demokratie mit einem gestärkten Europäischen Parlament«.184 Präzisiert wird dies nicht. Gängige Forderungen zu dem Zweck, die Repräsentativität des EP auszubauen und die Europawahlen aus ihren nationalen Kontexten zu lösen, sind jedoch ein einheitliches europäisches Wahlrecht, europäische Parteien oder zumindest transnationale Parteilisten mit Kandidaten aus mehreren EU-Ländern, denen ein Teil der EP-Sitze vorbehalten wäre.
■ Nationale Parlamente
Als eine Union von Nationalstaaten, getragen von einer europäischen Identität, die der nationalen nachgeordnet ist, braucht die EU »integrationsfreudige« nationale Parlamente. Entsprechende Vorschläge zielen auf deren Verschränkung mit dem EP185 oder ein Brüsseler »Sekretariat« der nationalen Parlamente, das die Abstimmung und Kommunikation untereinander verbessern soll.186 Wolfgang Schmale geht einen Schritt weiter und fordert ein Wahlrecht für EU-Bürgerinnen und ‑Bürger auf allen Ebenen (also auch bei nationalen Wahlen) in ihrem EU-Wohnsitzland.187
■ Direkte Demokratie
»Das europäische Demokratiedefizit lässt sich nur beseitigen, wenn den Bürgern Möglichkeiten der direkten Intervention in den europäischen Politikprozess eingeräumt werden«, postulieren Beck und Grande. Das wichtigste Mittel hierzu seien europaweite Referenden, die zu jedem Thema abgehalten werden könnten, das von einer qualifizierten Anzahl europäischer Bürger aus mehreren Mitgliedstaaten vorgeschlagen wird.188 Vorgeschlagen wird auch eine Direktwahl des Präsidenten der Kommission189 oder eines einzigen Präsidenten von Kommission und Europäischem Rat.190
David Van Reybrouck favorisiert einen anderen Weg. »Der eigentliche Grund, warum die EU auseinanderfällt, liegt darin, dass die Bürger zu viel von Brüssel trennt [...] Alle fünf Jahre einen Zettel in die Wahlurne werfen, das reicht nicht.« Nach dem Vorbild der irischen Bürgerversammlungen sollten daher per Los ausgewählte EU-Bürger darüber beraten, wie die EU bis 2020 demokratischer werden kann, und dazu die 25 wichtigsten Punkte einer zukünftigen Politik bestimmen.191
■ Partizipative Demokratie
Das Ziel lautet, den Rückhalt der EU in den Bevölkerungen durch deren Mobilisierung für die EU zu stärken. Dem dienen die von Präsident Emmanuel Macron angestoßenen nationalen »Bürgerkonferenzen« ebenso wie die seit Jahren von der Kommission EU-weit veranstalteten »Bürgerdialoge« und ein von ihr einberufenes »Bürgerforum«. 80 Unionsbürgerinnen und -bürger aus 27 EU-Staaten nahmen im Mai 2018 daran teil und arbeiteten Fragen einer für alle EU-Bürgerinnen und ‑Bürger offenen Online-Konsultation über die Zukunft Europas aus. Über die Europäische Bürgerinitiative können mindestens eine Million Unionsbürgerinnen und ‑bürger aus mehreren Mitgliedstaaten die Kommission auffordern, zu konkreten Themen Gesetzesinitiativen zu ergreifen.
»Demokratiedefizit« ist keine Krisenquelle.
Die These, die EU kranke an einem Demokratiedefizit, hat gravierende Mängel. Das gilt im Grundsätzlichen wie im Speziellen, wenn man die einzelnen Varianten unter die Lupe nimmt:
■ Überzogener Maßstab
Ob explizit oder unausgesprochen, viele Vertreter der Defizitthese kommen zu dieser Einschätzung, weil sie sich an nationalen Formen der Organisation und Begründung politischer Herrschaft orientieren. Erstaunlich ist das nicht, schließlich wird die EU von demokratisch verfassten Nationalstaaten gebildet und getragen. Wer diese jedoch zum Maßstab erhebt, erliegt einem Trugschluss. Die EU ist, auch und gerade nach Auffassung von Kritikern ihrer Demokratiequalität, ein »Gebilde sui generis«, »kein Staat, sondern eine politische Einheit irgendwo zwischen einer supranationalen Organisation und einem Bundesstaat, für die es noch immer an einem überzeugenden Begriff fehlt.«192 Dann kann sie auch nicht an der politischen Verfasstheit von Nationalstaaten gemessen werden. So hat es auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Lissabon-Vertrag festgehalten: »Die Europäische Union entspricht demokratischen Grundsätzen, weil sie bei qualitativer Betrachtung ihrer Aufgaben- und Herrschaftsorganisation gerade nicht staatsanalog aufgebaut ist. […] Es ist deshalb beim gegenwärtigen Integrationsstand nicht geboten, das europäische Institutionensystem in einer staatsanalogen Weise auszugestalten.«193
Gleiches gilt für vermeintliche Defizite wie das Fehlen eines europäischen Demos als Loyalitäts- und Solidargemeinschaft, einer europäischen politischen Öffentlichkeit einschließlich einer gemeinsamen Sprache oder genuin europäischer Parteien. Richtig daran ist, dass diese Unterschiede zum Nationalstaat den sekundären Charakter der europäischen Identität reflektieren und der Demokratie auf europäischer Ebene Grenzen setzen. Falsch daran ist, der EU deshalb ein Demokratiedefizit zuzuschreiben, weil nationalstaatsanaloge Anforderungen einen Maßstab postulieren, der überzogen ist.
■ Unterschätzte Legitimation
Ein staatsanaloger und deshalb überzogener Anspruch liegt auch der These zugrunde, die EU sei demokratisch ungenügend legitimiert. Dem hat das Bundesverfassungsgericht entgegengehalten: »Auf der europäischen Ebene ist der Rat anders als im Bundesstaat keine zweite Kammer, sondern das Vertretungsorgan der Herren der Verträge und dementsprechend nicht proportional repräsentativ, sondern nach dem Bild der Staatengleichheit verfasst.« Auch das EP »muss in seiner Zusammensetzung nicht den Anforderungen entsprechen, die sich auf der staatlichen Ebene aus dem gleichen politischen Wahlrecht aller Bürger ergeben«. Für die Kommission gelte, dass sie »ebenfalls nicht umfänglich den Bedingungen einer entweder dem Parlament oder der Mehrheitsentscheidung der Wähler voll verantwortlichen Regierung genügen« müsse.194 Die Komposition der EU-Organe und ihre Kompetenzen sind von den dazu demokratisch legitimierten Mitgliedstaaten festgelegt worden. Europa ist eine Union von Nationalstaaten– so wollen es die Mitgliedstaaten in demokratischer Selbstbestimmung. Und zwar nicht nur ihre Regierungen, sondern auch ihre Parlamente (bzw. Bevölkerungen, sofern Referenden abgehalten wurden), die den EU-Verträgen zugestimmt haben. In den Verträgen sind unter anderem die Regeln festgelegt, nach denen europäische Beschlüsse gefasst werden. Wo nach diesen Regeln Mehrheitsbeschlüsse möglich sind, kann folglich auch demokratisch legitimiert gegen Mitgliedstaaten entschieden werden.
■ Keine Verselbständigung
Von undemokratischer Selbstermächtigung könnte gesprochen werden, träfe die Behauptung zu, EU-Organe wie Kommission, EZB und EuGH würden an den Mitgliedstaaten vorbei oder gar gegen sie agieren. Erstens ist die Evidenz dafür nicht ausreichend;195 EuGH und Kommission haben eine neoliberale Agenda nur verfolgen können, weil sie sich im Einklang mit den Mitgliedstaaten befanden. Zweitens sind die Unabhängigkeit und Spielräume, die diese supranationalen EU-Instanzen haben, vertraglich geregelt und somit von den Mitgliedstaaten legitimiert.
■ Keine Fremdherrschaft
Weder der Europäische Rat im Allgemeinen noch eine verdeckte »Regierung« oder die in der Eurokrise eingesetzte »Troika« aus Kommission, EZB und IWF üben oder übten illegitime Herrschaft aus. Dass der Europäische Rat Entscheidungen mit Reichweite für alle Unionsbürger trifft, obwohl er keine von allen Unionsbürgern gewählte »Regierung«, sondern ein Organ aus national gewählten Mitgliedern ist, de-legitimiert ihn nicht. Die Mitgliedstaaten haben es so gewollt. Dass die Troika als eine Agentur der Kredite gebenden und verbürgenden Länder auftritt und diese Länder über die Bedingungen der Hilfsprogramme bestimmten, verstößt nicht gegen demokratische Prinzipien oder europäische Regeln. Auch die Eurozone ist nach dem Willen ihrer Mitglieder kein Gebilde mit staatsanalogen Strukturen und Beistandsmechanismen. Dieser Umstand entzieht sachlicher Kritik an der Troika-Politik oder an der deutschen Eurokrisenpolitik nicht ihre Berechtigung, aber von Fremdherrschaft zu reden trifft es nicht.196
■ Kein undemokratisches Elitenprojekt
Pro-europäische Eliten nahmen und nehmen maßgeblichen Einfluss auf die Aufnahme des Integrationsprozesses, seinen Fortgang und sein inzwischen erreichtes Ausmaß. Das muss nicht bezweifeln, wer gleichwohl anzweifelt, dass dieser Prozess »hinter dem Rücken« der Bevölkerungen oder gar gegen ihren Willen abgelaufen ist. So verstrickt sich ein Anhänger dieser These in einen eklatanten Widerspruch, wenn er behauptet, die EU und ihre Vorläufer »seien keine Volksschöpfung. Ja nicht einmal Konstrukte, hinter denen ein wirklich starker Wille der Völker gestanden hätte.« Damit unvereinbar ist, wenn er andererseits feststellt: »Mit den Völkern war also von Anfang an zu rechnen. Manche von ihnen stimmten einst einigermaßen emphatisch der europäischen Einigung zu.«197
Die europäischen Verträge sind auf den national vorgesehenen Wegen ratifiziert worden, in der Regel durch die Parlamente, in einigen Fällen durch Referenden. Nationale Regierungen werden auch mit der Maßgabe gewählt, ihr Land in den EU-Gremien zu vertreten. Trotz schwacher Wahlbeteiligung tragen Europawahlen und das Europäische Parlament zur europäischen Öffentlichkeit bei. Europas Dauerkrise und Fast-Zerfall haben das öffentliche Bewusstsein und die mediale Aufmerksamkeit für europäische Themen geschärft – mit für die europäische Integration nicht nur positiven Folgen, aber auch die Auseinandersetzung mit anti-europäischem Populismus bringt das Thema auf die öffentliche politische Bühne. Selbst wenn Habermas recht hätte, dass eine politische und mediale Elite in Deutschland auf die »Entmündigung des Publikums« hingewirkt habe – gelungen ist dies angesichts der heftigen Debatten um die Eurozonen- und die Flüchtlingspolitik nicht. Er übt scharfe Kritik an der deutschen Eurozonenpolitik, die jedoch in der letzten Bundestagswahl im Wesentlichen bestätigt wurde. Das kann man bedauern, einer »Entmündigung« kommt es aber nicht gleich.
■ Begrenzte Relevanz
Das »Demokratiedefizit« steht seit langem im Fokus von Wissenschaft und Politik. Demgegenüber scheint es für die Unionsbürgerinnen und ‑bürger von geringerer Bedeutung zu sein. In einer 2016/17 durchgeführten Umfrage in zehn EU-Ländern hielten zwar 25 Prozent der Bürgerinnen und Bürger und 13 Prozent der Elitenangehörigen die EU für undemokratisch, aber die große Mehrheit in beiden Gruppen zeigte sich mit dem demokratischen Zustand der EU zufrieden.198 Die schwache Beteiligung an Wahlen zum Europäischen Parlament ist unter anderem darin begründet, dass seine inzwischen erreichte Bedeutung zu wenig bekannt ist und nationale Themen im Vordergrund stehen. Wäre jedoch das »Demokratiedefizit« ein brennendes Anliegen der europäischen Bevölkerungen, hätten es die Parteien leichter gehabt, für eine stärkere Wahlbeteiligung zu mobilisieren.
Renationalisierung und Europäische Republik sind Irrwege.
Eine defizitäre Diagnose legt Irrwege bei den Lösungsvorschlägen nahe. Das gilt vor allem für die beiden Extreme Rückbau und Neubau, also Renationalisierung durch eine massive Beschneidung der Kompetenzen von supranationalen EU-Instanzen und Entnationalisierung durch den Übergang zu einem Bundesstaat oder einer »Europäischen Republik«. Beides sind Lösungen auf der Suche nach einem Problem. Denn das »Demokratiedefizit«, das sie zu beseitigen vorgeben, gibt es weder in der unterstellten Form noch in dem angenommenen Ausmaß. Auch den plausiblen Nachweis, dass eine einschneidende Aufwertung der Nationalstaaten die EU handlungsfähiger machen und dadurch ihre Output-Legitimation steigern könnte, bleiben die Anhänger einer Renationalisierung schuldig.
Nationale Interessen und Eigentümlichkeiten auf einen europäischen Nenner zu bringen, der für alle akzeptabel und profitabel ist – das könnte ein Bundesstaat theoretisch möglicherweise besser leisten als der Status quo einer Union von Nationalstaaten. Die dafür notwendige europäische Identität ist allerdings (noch) bei weitem nicht ausgeprägt genug, und ebenso wenig ist erkennbar, dass die Mitgliedstaaten zu einem derart qualitativen Sprung bereit wären. Das gilt a fortiori für Guérots »Utopie« einer Europäischen Republik. Warum ein »Europa der 50 Regionen« mit dann 50 Identitäten und 50 Eliten a priori friedlicher, demokratischer und kooperativer sein soll als ein Europa aus (nach Brexit) 27 Nationalstaaten, erschließt sich nicht.199 Sie räumt immerhin ein, auf die »berechtigte Frage«, wie man zur Europäischen Republik komme, »derzeit keine plausible Antwort« zu haben.200 Das gilt auch weiterhin. Vollends dystopisch und politisch verantwortungslos wird es, wenn sie fordert, »in einem Akt kreativer Zerstörung à la Schumpeter die EU kaputtzumachen, um damit ein neues Europa entstehen zu lassen«.201
Europa braucht mehr Rückhalt durch und in seinen Mitgliedstaaten.
Zwischen diesen Polen der Re- bzw. Entnationalisierung liegen erwägenswerte Ideen und Vorschläge. Denn auch wenn es nicht vorrangig darum geht, ein Demokratiedefizit zu beheben, dessen Plausibilität und krisentreibende Evidenz dürftig ist, bleibt ein Mangel an Unionsgeist problematisch, weil Europas Rückhalt bei seinen Bürgerinnen und Bürgern brüchig ist und unter den Mitgliedstaaten die Bereitschaft zu Kompromiss und Solidarität schwindet. Dieser Unionsgeist lebt davon, dass sich nationale und europäische Identitäten ergänzen, dass der Mehrwert der europäischen Integration erfahr- und vermittelbar ist und dass Europa engagierte Fürsprecher hat.
Deshalb lohnt es, die Empfehlungen, die diesseits von Re- und Entnationalisierung zur Behebung des »Demokratiedefizits« gemacht worden sind, daraufhin zu prüfen, ob und inwieweit sie geeignet sind, die Akzeptanz der EU zu fördern.
■ Europäisches Parlament
Seit der ersten Direktwahl 1979 sind Kompetenzen und Macht des EP parallel zur vertikalen und horizontalen Ausdehnung der Integration erheblich gewachsen. Das hat den demokratischen Charakter der EU gestärkt. Das Europäische Parlament an der Rolle nationaler Parlamente zu messen hieße jedoch, einen überzogenen Maßstab anzulegen. Deshalb ist es auch nicht »undemokratisch«, dass seine Sitzverteilung nicht dem Gleichheitsprinzip (»one person, one vote«) folgt, es keine Regierung wählt und kein Initiativrecht hat. Gleichwohl ist es eine zentrale supranationale Institution, die die europäische Zusammengehörigkeit reflektiert und zusammen mit den anderen EU-Organen operationalisiert. Das spricht dagegen, das Europäische Parlament den nationalen Parlamenten nachzuordnen oder mit ihnen durch Doppelmitgliedschaft zu koppeln. Reformen wie das Spitzenkandidatenverfahren, ein einheitliches europäisches Wahlrecht mit einem einzigen Wahltermin, ein Kontingent für transnationale Sitze und ein einziger Sitz des Parlaments in Brüssel sind dagegen sinnvoll. Und wenn die Kommission von der Europäischen Bürgerinitiative oder nationalen Parlamenten zu Gesetzesinitiativen aufgefordert werden kann, dann sollte dem Europäischen Parlament das formale Recht zu solchen Initiativen erst recht zugestanden werden. Zudem ließen sich sein Einfluss und Ansehen steigern, wenn nationale Parteien dafür sorgen würden, dass sich eine EP-Mitgliedschaft karrierefördernd auswirkt.
■ Nationale Parlamente
Parlamentarisch verkörpert das Europäische Parlament den supranationalen Teil der EU, während die nationalen Parlamente für ihren intergouvernementalen Teil stehen. Wie sich vor allem in der Eurokrise gezeigt hat, ist die europäische Rolle der Letzteren mit fortschreitender Integration wichtiger geworden. Das bezieht sich nicht nur auf ihr Mitwirken an der nationalen Vorbereitung, Billigung und Umsetzung europäischer Entscheidungen. Ebenso bedeutsam ist, dass nationale Abgeordnete sich ihrer europäischen Verantwortung bewusst sind und in ihren Wahlkreisen als Fürsprecher Europas auftreten: weil sie ihrer Basis näher sind, als es EP-Abgeordnete sein können, und weil sie die europäische Politik der Mitgliedstaaten mitbestimmen.
Abgeordnete mit europäischem und nationalem Doppelmandat sollte es deswegen nicht geben. Der »Europäisierung« nationaler Parlamente könnte es hingegen dienen, wenn Unionsbürgerinnen und ‑bürger in ihrem Wohnsitzland auch auf nationaler Ebene wählen dürften.202 Gesine Schwan hat angeregt, nationale Parlamentarier an EP-Plenumssitzungen teilnehmen zu lassen.203 Sinnvoller als solche Stippvisiten sind indes die regelmäßigen Tagungen der Europa-Ausschüsse nationaler Parlamente mit EP-Angehörigen im Rahmen der COSAC (Conférence des Organes Parlementaires Spécialisés dans les Affaires de l’Union des Parlements de l’Union Européenne). In Dänemark und Österreich reichen die europapolitischen Beteiligungsrechte der nationalen Parlamente bis zur Mandatierung der Regierungsvertreter. Würde dieses Vorgehen Schule machen und zu engen Vorgaben für die nationalen Verhandlungsführer führen, könnte es die europäische Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit gravierend beschneiden. Unterhalb dieser Blockadeschwelle könnte eine stärkere Einbeziehung nationaler Parlamente jedoch dem Unionsgeist durchaus förderlich sein. Ob dies gelingt, liegt nicht zuletzt an den nationalen Parlamentariern und Parteien selbst. Es ist an ihnen, vorhandene Instrumente (»begründete Stellungnahme« und »gelbe Karte« im Subsidiaritätsverfahren) zu nutzen und sich für die Ausweitung solcher Einflussmöglichkeiten einzusetzen (zum Beispiel durch die rechtliche Verankerung eines Rechts auf eine »grüne Karte«, um der Kommission Vorschläge für Gesetzesinitiativen zu machen). Auch mehr und karrierebegünstigende Wechsel zwischen nationalen Parlamenten und dem EP liegen in nationaler Hand.
■ Direkte Demokratie
Die größte Reichweite würden europaweite Referenden erzielen. Doch deren Begründung mit einem »Demokratiedefizit«, dessen Plausibilität und Relevanz sich umgekehrt proportional zur Radikalität der Einführung von Referenden verhalten, überzeugt am wenigsten. Ein pragmatischer Einwand lautet, dass Referenden in vielen EU-Ländern gar nicht oder nur in wenigen Fällen vorgesehen sind. Was national nicht für notwendig gehalten wird, dürfte schon deshalb nicht für Europa geschaffen werden, weil es dann schwerfiele, dieses Instrument auf nationaler Ebene zu verweigern. Zudem scheinen sich Verfechter wie Beck und Grande selbst nicht über den von ihnen propagierten Referenden-Weg zu trauen: Über der »Aktivierung« der europäischen Bürgerinnen und Bürger durch Referenden dürfe nicht vergessen werden, dass sie »höchst ambivalent ist. Wie die Erfahrungen mit nationalen Referenden gezeigt haben, können diese beides sein: Quelle politischer Innovation und konservatives, konservierendes Moment.«204 In der EU könnten sie, mehr noch als in homogeneren und solidarischeren Nationalstaaten, zur Quelle tiefer Zerstrittenheit und Lähmung werden. Das alles spricht nicht grundsätzlich und endgültig gegen Referenden, auf absehbare Zeit aber schon.
Reybroucks Variante einer »Demokratisierung« durch per Los bestimmte Bürgerversammlungen ist hingegen kategorisch abzulehnen. Einen Grund liefert er selbst, wenn er durch das Losverfahren zu »einem zentralen Prinzip der athenischen Demokratie« zurückkehren möchte, ohne zu erwähnen, dass sie keine Volksdemokratie war. Um Volksdemokratie geht es ihm aber auch gar nicht: Ein per Los ausgewählter »Teil der Bevölkerung«, der sich informiere und dann eine sinnvolle Entscheidung fälle, »agiert vernünftiger als eine ganze Gesellschaft, die nicht informiert ist«.205 Wer so über das Volk und seine Fähigkeit zum Vernunftgebrauch denkt, findet in modernen Demokratien zu Recht kein Gehör.
Claus Leggewie möchte einen »Europäischen Zukunftsrat« bilden, der als Anlaufstelle für die Ergebnisse von Bürgerberatungen fungieren soll – »gewissermaßen als ›Sprachrohr der Bürger‹ Europas. Er hätte keine Entscheidungsbefugnisse, aber die politischen und wirtschaftlichen Eliten würden sein Votum kaum ignorieren können.«206 Wie ein solcher Rat berufen und zusammengesetzt wäre, sagt er nicht. Offenkundig geht es ihm darum, die Macht der »Eliten« einzuschränken. Ihr politischer Teil ist jedoch demokratisch legitimiert. Ob es sein »Zukunftsrat« auch wäre, lässt er offen. Das disqualifiziert seinen Vorschlag.
Auch eine Direktwahl des Kommissionspräsidenten oder eines mit dem Amt des ER-Präsidenten zusammengelegten »EU-Präsidenten« würde das unterstellte Demokratieproblem nicht lösen. Bliebe es bei der derzeitigen Kompetenzordnung der EU, hätte ein solcher Präsident weiterhin nur begrenzte Macht. Entsprechend gering wäre die Motivation, an der Wahl teilzunehmen. Würde sie/er, ausgestattet mit einem populären Mandat, versuchen, ihre/seine De-facto-Macht auszuweiten, könnte dies zu heftigen Konflikten mit den Mitgliedstaaten führen, die die Handlungsfähigkeit und das Ansehen der EU schwer beschädigen könnten. Folglich hätte eine solche Direktwahl nur Sinn, wenn die Kompetenzverteilung substantiell zugunsten der supranationalen Ebene geändert würde. Es gibt keine Anzeichen, dass die Mitgliedstaaten dazu bereit sind.
■ Partizipative Demokratie
Sie kann eine ergiebige Quelle zur Kräftigung des Unionsgeistes sein. Dafür haben europäische und nationale Instanzen eine Bringschuld: Es ist an ihnen, die Bürgerinnen und Bürger durch Information und Konsultation (zum Beispiel durch die oben genannten Bürgerdialoge) sowie ein beherztes pro-europäisches Auftreten für Europa einzunehmen und zu mobilisieren. Ein vorrangiges Doppelziel ist, die Beteiligung an den EP-Wahlen im Mai 2019 merklich zu erhöhen und einen Erfolg anti-europäischer Kräfte zu verhindern. Zudem sollten die Europäische Bürgerinitiative bürgerfreundlicher gestaltet werden und die Kommission sich dafür aufgeschlossener zeigen.207
Partizipative Demokratie muss und kann auch eigenständig »von unten« durch pro-europäische Bewegungen und Initiativen wie »Pulse of Europe« entstehen. Leggewie hat eine Vielzahl solcher von ihm so genannten »Agenten des Wandels« identifiziert. Ihre bisher bescheidene politische Wirkung rechtfertigt es zwar bei weitem nicht, in ihnen die Vorboten einer »zivilen levée en masse« zu sehen, aber als gelebte partizipative Demokratie fördern sie europäischen Unionsgeist.208
Partizipative Demokratie lebt von europäischer Identität: Je mehr sich jemand neben seiner nationalen Zugehörigkeit auch als Europäer fühlt, desto eher wird sie/er bereit sein, sich für Europa zu engagieren. Was europäische Identität voranbringt, stärkt deshalb auch das Engagement für Europa (und sei es nur mit der Wahlstimme). Zumal Identität mit ihrer emotionalen Komponente eine besondere Rolle einnimmt: »Die Legitimität der Union kann weder auf der bloßen Anerkennung der Union durch ihre Bürgerinnen und Bürger noch auf deren Akzeptanz der Union aufbauen. Sie muss auch auf einem gewissen Grad der emotionalen Identifikation der Europäerinnen und Europäer mit der Union beruhen.«209
Eine Zielgruppe identitätsstiftender Maßnahmen sind junge Menschen, die in einem Europa des Friedens und der Demokratie, der Reise- und Arbeitsfreiheit aufgewachsen sind. Damit solche Errungenschaften nicht als Selbstverständlichkeiten erodieren, sind Wissen über Europa, Identifikation mit und Engagement für Europa vonnöten. Es gibt eine Fülle entsprechender Programme und Ideen, von denen hier nur eine Auswahl präsentiert wird:
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Das inzwischen mehr als 30 Jahre laufende »Erasmus+«-Programm hat über neun Millionen Studierenden, Auszubildenden, Praktikanten und Lehrkräften einen Studien- und Arbeitsaufenthalt in einem anderen EU-Land ermöglicht. »Bis 2025 könnte sich die Zahl der Erasmus+-Teilnehmer verdoppeln – auf mindestens 7,5 Prozent aller Europäer.«210
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Die Kommission hat 2018 erstmalig 15 000 kostenlose Interrail-Tickets an 18-Jährige verteilt. Die Aktion geht auf eine Anregung von zwei jungen Berlinern zurück, allen Bürgerinnen und Bürgern der Union zu ihrem 18. Geburtstag ein solches Ticket zu schenken. Auch wenn das an den Kosten gescheitert ist, sollte die Aktion erheblich ausgeweitet werden.
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Dem Thema »Geschichte, Errungenschaften und Probleme der europäischen Integration« sollte in Schulcurricula gebührender Raum gegeben werden. National und von der EU sollten Schulpartnerschaften und Schüleraustauschprogramme sowie ein Besuch europäischer Einrichtungen verstärkt gefördert werden.
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Universitäten sind europäische Institutionen par excellence – in Europa entstanden als Orte transnationaler Bildung und Orientierung. Manuel Hartung und Matthias Krupa haben als Leuchtturmprojekt eine »Europäische Universität« mit Zehntausenden Studenten an mehreren Standorten vorgeschlagen, die »die Spitze des wissenschaftlichen Fortschritts markieren müsste« und Maßstäbe für etablierte Universitäten setzen solle.211 Nationale und universitäre Egoismen stehen dem im Wege. Realistischer ist es deshalb, Bestehendes sowohl auszubauen als auch für neue Formen der Europäisierung zu nutzen.212
■ Subsidiarität
Nach dem Subsidiaritätsprinzip soll die Union in Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig werden, »sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können« (Art. 5, Abs. 3 EUV). Dass dieses Prinzip an herausgehobener Stelle im Primärrecht verankert ist, unterstreicht die Bedeutung, die ihm zur Wahrung der EU als Union von Nationalstaaten beigemessen wird. Das gilt auch für die Subsidiaritätskontrolle durch die nationalen Parlamente, die den EU-Verträgen im Protokoll Nr. 2 beigefügt wurde.
Das Subsidiaritätsprinzip wird vor allem von jenen beschworen, die »integrationistische Eliten« und »verselbständigte EU-Organe« dafür verantwortlich machen, dass eine das europäische Projekt de-legitimierende Überzentralisierung um sich greife. Auch wenn, wie aufgezeigt, eine solche Kritik gravierende Defizite aufweist – der sekundäre, der nationalen Identität nachgeordnete Charakter der europäischen Identität gebietet es, das Risiko einer Überdehnung ernst zu nehmen. Das gilt insbesondere mit Blick auf europäische Organe wie die Kommission, das Europäische Parlament und den EuGH, die qua Rolle im EU-Institutionengefüge und durch die alltägliche Sozialisation ihrer Angehörigen zu einer supranationalen Ausrichtung tendieren.
Allerdings: Die Beurteilung, wo vorteilhafte Integration aufhört und krisenträchtige Überzentralisierung einsetzt, unterliegt wandelbaren Einschätzungen und Präferenzen. »Weniger Europa« durch Rückverlagerung von Kompetenzen auf die nationale Ebene, durch Zurückhaltung bei der Festlegung neuer EU-Zuständigkeiten oder durch Agieren in Teilgruppen statt mit allen muss deshalb nicht Desintegration bedeuten, sondern kann im Gegenteil die Akzeptanz und Handlungsfähigkeit der Union stärken. Entscheidend ist, dass die Abgrenzung, was europäisch gemeinsam und was national autonom erfolgt, von den dazu demokratisch legitimierten Instanzen der Mitgliedstaaten und der europäischen Ebene getroffen wird. Auf diese Weise ist das Subsidiaritätsprinzip in seiner jeweils situativen Ausprägung demokratisch eingebunden.
Das wahre Demokratiedefizit
Die Krise der EU ist keine Krise einer undemokratischen Konstruktion. »Staatsrechtlich« ist die EU ein präzedenz- und bisher begriffsloser Hybrid, basierend auf intergouvernementalen und supranationalen Säulen, die direkt oder indirekt demokratisch legitimiert sind. Das gilt auch, wenn der EU undurchsichtige Brüsseler Prozesse und distanziertes »Eurokratentum«, Überregulierung und Übergriffe vorgehalten werden. Solche Kritik, auch wenn sie im konkreten Fall berechtigt ist, macht die EU noch nicht undemokratisch, und zwar aus zwei Gründen.
Der erste Grund ist prinzipieller Natur. Nach dem Willen seiner Bürgerinnen und Bürger ist Europa eine Union von Nationalstaaten – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Wo »nicht mehr« in Form europäisch geteilter Souveränität endet und »nicht weniger« in Form von nationalstaatlicher Prärogative einsetzt und wer darüber befindet (also auch die supranationalen Organe Kommission und EuGH), haben die dazu demokratisch legitimierten Mitgliedstaaten bestimmt. Mit dem Ergebnis mögen sie nicht einverstanden sein (»Brüsseler Überregulierung und Übergriffe«), aber nach den von ihnen gebilligten Regeln ist es nicht undemokratisch.
Der zweite Grund ist ein pragmatischer. Auch demokratisch verankerte Institutionen und Prozesse sind nicht fehlerfrei. Wie für die Währungsunion gilt auch für Europas Demokratieunion: Sie wird nie vollendet im Sinne von krisenimmun sein, schon weil sie politischen Kalkülen und menschlichen Irrtümern ausgesetzt ist. Das macht sie latent fragil, aber nicht undemokratisch.
Jedenfalls so lange nicht, wie sie ihre selbstgesetzten demokratischen Werte und Prinzipien achtet. Die EU ist eben nicht eine Union von beliebigen, sondern von demokratischen Nationalstaaten. So ist es im Vertrag (Präambel, Art. 2 EUV) und in den Kopenhagener Kriterien für den Beitritt zur EU festgeschrieben. Bei der europäischen Demokratieunion geht es also nicht nur um die demokratische Qualität der EU-Organe und ihres Verhältnisses zu den Mitgliedstaaten; es geht zugleich um die Demokratie in den Mitgliedstaaten selbst. Im Fokus der klassischen These eines europäischen Demokratiedefizits stand der erste Aspekt. Wie aufgezeigt ist die Plausibilität und Relevanz dieser These zu schwach, um als endogene Krisenursache infrage zu kommen.
Scheitert die Demokratie in den Mitgliedstaaten, scheitert Europa.
Anders verhält es sich mit innerstaatlicher Demokratie. Gerät sie ins Wanken, rührt das an die Grundfesten der EU. Nicht allein, weil eine Abwendung von der Demokratie dem Selbstverständnis der EU und ihrer Mitglieder widerspricht. Die EU ist eine Friedensgemeinschaft, auch weil sie eine Demokratieunion ist. Ihre Funktion als Solidargemeinschaft, die kollektive Entscheidungen für alle auch mit Mehrheit trifft, wird auf Dauer nur in einer Demokratieunion Bestand haben können.213 Für ihre Werte und Prinzipien kann die EU zudem gegenüber Dritten nur glaubwürdig eintreten, wenn sie sie selbst achtet. Was Bundeskanzlerin Merkel über den Euro gesagt hat, gilt auch hier: »Scheitert die Demokratie, scheitert Europa.«
Von einem Scheitern aus diesem Grund ist Europa deutlich weiter entfernt, als es beim Euro der Fall war. Die »unfertige Währungsunion« war ein endogener Mitauslöser der existentiellen EU-Krise, eine angeschlagene Demokratieunion war es nicht. Inzwischen hat die EU jedoch ein manifestes Demokratieproblem, das ihre Dauerkrise nährt und sich zu einer Bruchstelle ausweiten könnte.
Es besteht aus einem virulenten National-Populismus in vielen EU-Ländern. Auch wenn seine Triebfedern und Ausprägungen teilidentisch sind, sollte er wegen spezifischer Erscheinungsformen und Ursachen nicht über einen Kamm geschoren werden. Alle Varianten wirken jedoch in dieselbe, die EU desintegrierende Richtung. Nicht von ungefähr: »Populisten behaupten stets, sie und nur sie verträten das Volk (oder das, was Populisten häufig als ›das wahre Volk‹ oder ›die schweigende Mehrheit‹ bezeichnen). […] Politik ist eine Charakterfrage, und das von ihnen bekämpfte ›Establishment‹ besteht nur aus korrupten Charakteren.«214 Der Alleinvertretungsanspruch verträgt sich nicht mit einer pluralen und inklusiven Demokratie, die Mehrheiten an den rechtsstaatlichen Schutz von Minderheiten bindet und von Toleranz lebt – einer Demokratie, wie sie in den EU-Verträgen festgeschrieben ist und wie es in dem EU-Motto »In Vielfalt geeint« zum Ausdruck kommt.
Auch der zweite im Zitat genannte Aspekt wirkt zersetzend. Wer das »Establishment« bekämpfen will, kommt um »Brüssel« kaum herum. Dafür sind zu viele nationalstaatliche Kompetenzen auf die europäische Ebene übertragen worden, und dafür ist es zu verführerisch, sich nicht als unerschrockener Verteidiger nationaler Eigenheiten und Interessen gegen ein übergriffiges »Brüssel« oder übermächtige Mitgliedstaaten wie Deutschland zu stilisieren.215
Populismus ist, wie die Wahl Donald Trumps zeigt, ein Phänomen, das viele westliche Demokratien erfasst hat. Es hat eine intensive Debatte über die Zukunftsfähigkeit der »liberalen« (= westlichen) Demokratie ausgelöst. Eher pessimistische Stimmen wie die von Yascha Mounk und Roberto Stefan Foa sehen die Ära, in der die liberalen Demokratien des Westens wirtschaftlich und kulturell führend waren, durch den Erfolg von Autokratien wie insbesondere China an ihr Ende gekommen.216 Der Anteil »unfreier« Staaten am globalen Einkommen werde in den nächsten fünf Jahren den der westlichen Demokratien überholen. Diese büßten ihre Attraktion zunehmend ein, wenn sie nicht mehr mit Reichtum und Macht verbunden würden und es versäumten, ihre Probleme zu lösen.217
Daran ist richtig, dass vor allem der phänomenale Aufstieg Chinas die Überzeugung infrage stellt, dass kapitalistischer Wohlstand und liberale Demokratie zwei Seiten einer Erfolgsmedaille seien. Dass »Wohlstand durch (oder zumindest mit) Autokratie« zur neuen Erfolgsformel wird, ist jedoch nicht ausgemacht. Auch nicht in China, dessen Regimestabilität sich auf hohes Wachstum und nationalistisches Auftreten stützt. Selbst wenn die damit verbundenen Probleme (zum Beispiel Verschuldung und Umweltbelastung, außenpolitische Konflikte und Gegenmachtbildung) beherrschbar bleiben – die große offene Frage ist, ob sich politische Entmündigung mit dem Übergang zu einer Wissensökonomie verträgt, der über Chinas langfristigen Erfolg und Attraktion als kapitalistisch-autoritäres Gegenmodell zum kapitalistisch-demokratischen Westen entscheiden wird.218
Aber selbst wenn China der Spagat gelänge – könnten Wohlstand und Autokratie auch im Westen Hand in Hand gehen? Dagegen sprechen sozio-kulturelle Unterschiede und geschichtliche Erfahrungen: In China wäre es eine Prolongation des autoritären Ist-Zustandes, im Westen hingegen eine autoritäre Regression hinter einen demokratischen Ist-Zustand, die von heftigen Konflikten mit massiven wirtschaftlichen Kollateralschäden begleitet sein könnte.
Das ist keine Garantie gegen eine solche Regression. »Demokratie fördert Wohlstand« gilt auch umgekehrt: Wohlstand sorgt für demokratische Stabilität. Mounk und Foa verweisen auf eine Studie, wonach nur Demokratien mit einem Pro-Kopf-Einkommen über 14 000 US-Dollar ausreichend gefestigt (»reliably secure«) seien.219 Bis zum Beweis des Gegenteils ist das unwiderlegbar. Aber dann kann es zu spät sein. Deshalb ist das Auftreten eines Populismus mit antidemokratischen Zügen (»illiberale Demokratie«) ernst zu nehmen.
National-Populismus stellt Demokratie in Frage.
Das gilt auch und gerade mit Blick auf die europäische Demokratieunion. Denn Populismus in Europa richtet sich fast unweigerlich auch gegen »Brüssel« als Metapher für ein Establishment, das zu bekämpfen sei. Dem wird durch nationale Eliten Vorschub geleistet, wenn sie »Brüssel« als Blitzableiter für nationale Missstände instrumentalisieren, ihre Mitverantwortung für europäisches Versagen ignorieren oder durch Kompromisslosigkeit europäische Handlungsfähigkeit blockieren.
Das lässt sich am Aufkommen des Populismus illustrieren. Er hat zwei Hauptquellen: eine ökonomische und eine sozio-kulturelle. Die 2008 ausgebrochene »Great Recession« gehört zur ersten Quelle. Populismus hatte es schon vorher gegeben, bezeichnenderweise auch im Gefolge von Finanzkrisen. Aber der Einbruch des Jahres 2008, der ebenfalls vom Finanzsektor ausgelöst wurde, zog die tiefste Wirtschaftskrise seit den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts und mit ihr ein deutliches Anwachsen des Populismus nach sich.220 Dabei spielten nicht nur die Auswirkungen der akuten Krise (Arbeitslosigkeit, Einkommensrückgänge, exorbitante Steuergelder für die Bankenrettung) eine katalytische Rolle. In der »Great Recession« brach sich eine systemische Krise des globalisierten Kapitalismus Bahn. Die Begleiterscheinungen dieser exogenen Ursache der EU-Krise waren zunehmende Ungleichheit bei Einkommen und vor allem Vermögen, Machtverschiebungen von Arbeit zu Kapital, prekäre Arbeitsverhältnisse, Lohnstagnation und soziale Marginalisierung. Zu diesen Erfahrungen kommen Befürchtungen, dass Globalisierung und Freihandel, Digitalisierung und Künstliche Intelligenz diese Entwicklungen weiter beschleunigen werden. All dies zusammen bietet Populismus reichhaltigen Nährboden.221
Der EU schadet diese Entwicklung, obwohl sie für die kapitalistische Systemkrise nicht verantwortlich ist. Das trifft weitgehend auch auf die Währungsunion zu. Erstens ist sie niemandem aufgezwungen worden. Dass sie unfertig und einem neoliberalen Credo unterworfen blieb, war nicht der Selbstermächtigung supranationaler Akteure wie Kommission, EuGH oder EZB geschuldet, sondern von den Mitgliedstaaten gewollt oder zumindest in Kauf genommen. Dass ihre Vorteile und Chancen (einschließlich niedriger Zinsen) nicht zum Abbau krisenträchtiger Divergenz und zu wenig zu produktiven Investitionen genutzt wurden, ging nicht auf Konstruktionsfehler, sondern auf nationales Unvermögen zurück.222 Dass Deutschland zum mächtigsten Akteur wurde, der die Bedingungen der Europolitik maßgeblich bestimmen konnte, lag nicht an architektonischen Defekten zu seinen Gunsten, sondern an seiner globalen Wettbewerbsstärke und den Schwächen anderer.
Das alles ändert nichts daran, dass die »unfertige Währungsunion« zu einem Mitverursacher der EU-Krise wurde und Wasser auf populistische Mühlen geleitet hat. Wäre es anders, gäbe es keinen Bedarf an grundlegenden Reformen mit dem Ziel, das »unfertige Haus« krisenresistenter zu machen. Es heißt erst recht nicht, dass der Umgang mit der Eurokrise fehlerfrei war. Es bedeutet jedoch, dass die Währungsunion nur funktionieren kann, wenn die Mitgliedstaaten sowohl ihre Eigenverantwortung als auch ihre Solidaritätsverpflichtungen ernst nehmen und davon absehen, die gemeinsame Währung zum Sündenbock für nationale Versäumnisse zu erklären. Dass Populisten genau das versuchen, wird ihnen leichter gemacht, wenn die Mitgliedstaaten ihren Aufgaben nicht nachkommen.
Die zweite Hauptquelle nationalistischen Populismus sind sozio-kulturelle Faktoren wie Verunsicherung und Entfremdung. Zu deren Triebkräften zählen die Schattenseiten des globalisierten Kapitalismus, die beschriebenen materiellen wie auch die damit verbundenen immateriellen: die Erosion der »Würde der Arbeit« durch Deindustrialisierung und Automatisierung;223 Zukunftsängste wegen Altersarmut durch geringe Arbeitseinkünfte und wegen prekärer Perspektiven für die nachfolgenden Generationen.
Der Wandel der Arbeit wurde von einem gesellschaftlichen Wandel begleitet. Säkularisierung, Liberalisierung und Globalisierung haben traditionelle Autoritäten, Werte und Rollenzuweisungen untergraben. David Goodhart formulierte zugespitzt, es gebe eine neue Trennlinie (»The Great Divide«) zwischen einer eher mobilen, individualistischen und gut ausgebildeten Minderheit mit erworbenen (»achieved«) Identitäten (den »Anywheres«) und einer numerisch über-, politisch aber untergewichtigen Mehrheit mit zugeschriebenen (»ascribed«) Identitäten, die eher immobil, weniger gebildet sowie Tradition, Familie und Heimat verhaftet ist (den »Somewheres«).224 Diese vor dem Hintergrund der Brexit-Entscheidung entwickelte und vielfach aufgegriffene These überhöht britische Besonderheiten, überzeichnet Unterschiede und kann zu politischen Irrwegen verleiten.225 Gleichwohl stellt sie zu Recht heraus, dass Populismus sich nicht allein ökonomisch erklären und bewältigen lässt.
Das zeigt sich exemplarisch am britischen Referendum über die EU-Mitgliedschaft. Ökonomische Marginalisierung hat seinen Ausgang maßgeblich mitbestimmt. Aber allein die davon motivierten Wähler hätten die Pro-Brexit-Entscheidung nicht bewirken können. Mindestens so mobilisierend waren eine als übermäßig empfundene Einwanderung und die Verbitterung darüber, von der politischen Elite überhört worden zu sein.
Beide letztgenannten Faktoren haben auch das Anwachsen des kontinentaleuropäischen Populismus beflügelt. Der unkontrollierte Zustrom von Migranten und Flüchtlingen ist zwar nach seinem Höhepunkt 2015 stark zurückgegangen; trotzdem herrscht nach wie vor Verunsicherung über eine als bedrohlich wahrgenommene Zuwanderung und schwindet das Vertrauen in etablierte Parteien. Darin hallt nicht nur retrospektive Enttäuschung nach. Die Fragen, wie die bereits eingereisten Flüchtlinge und Migranten zu behandeln sind und wie angesichts eines anhaltenden Migrationsdrucks eine zugleich humane und kontrollierte Zuwanderung erreicht werden kann, sind bisher national und europäisch ohne überzeugende Antwort geblieben. Das sorgt nicht nur immer wieder für Erfolge populistischer Parteien wie im Frühjahr 2018 in Italien; es führt auch dazu, dass herkömmliche Parteien in Versuchung geraten, sich populistisch zu geben und kompromisslos zu agieren.
In Teilen der mittelosteuropäischen EU sind populistische Parteien besonders erfolgreich. Ivan Krastev führt dies auf die Auswanderung der »Jungen und Talentierten« und eine Furcht vor Zuwanderung vor allem im Gefolge der Flüchtlingskrise in den Jahren 2015/16 zurück.226 Auch wenn er in seiner Diagnose nicht konsistent ist227 – er hat recht, dass die Erfolge der von Populisten und Nationalisten an- oder mitgeführten Regierungen auch deshalb beunruhigend sind, weil sie ein in Wahlen errungenes Mandat haben und dieses nutzen, um demokratische Rechte einzuschränken und rechtsstaatliche Institutionen zu schwächen. Wie Krastev allerdings zu der Schlussfolgerung gelangen kann, dass dies nicht in erster Linie die Demokratie dieser Länder, sondern den Zusammenhalt der EU gefährde, bleibt unerfindlich.228 Eine europäische Demokratieunion lässt sich nur bewahren, wenn ihre Mitgliedstaaten demokratisch verfasst sind und die Prinzipien achten, zu denen sie sich in den europäischen Verträgen bekannt haben.
Das zu gewährleisten kann für die Union jedoch schwierig sein, besonders nach einem Beitritt zur EU. Vor einem Beitritt hat jeder Mitgliedstaat eine Veto-Position bei der Entscheidung, ob der Kandidat den demokratie- und rechtsstaatlichen Teil der Aufnahmekriterien erfüllt. Ist der Beitritt vollzogen, kehrt sich die Sache um: Gegen Mitgliedstaaten kann nur mit großen Mehrheiten oder gar Einstimmigkeit vorgegangen werden.
Als Ultima Ratio finanzielle Sanktionen nicht scheuen.
Aber damit beginnt das Problem. Einerseits kann es sich Europa nicht leisten, dass Regelverletzer Nachahmer finden, andererseits bergen sanktionierende Eingriffe in nationalstaatliche Autonomie großes Konfliktpotential und müssen hohe Verfahrenshürden überwinden. Wie schwierig Auswege aus diesem Dilemma zu finden sind, zeigen die Beispiele Polen und Ungarn.229 In beiden Ländern sind die Unabhängigkeit der Justiz und die Meinungsfreiheit unter staatlichen Druck geraten. Gegen Ungarn hat die Kommission mehrere Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet und im Dezember 2017 zum ersten Mal ein Verfahren nach Artikel 7 EUV ausgelöst, weil sie in Polen infolge von Justizreformen »die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Rechtsstaatlichkeit« für gegeben sieht.230 Im September 2018 leitete das Europäische Parlament ein Artikel-7-Verfahren auch gegen Ungarn ein. Es hatte zusammen mit der Slowakei beim EuGH beantragt, einen 2015 per Mehrheit erfolgten Ratsbeschluss zur EU-weiten Umsiedlung von 120 000 Flüchtlingen für nichtig zu erklären. Obwohl der EuGH ihre Klage in vollem Umfang zurückwies, sind sie nicht bereit, dem Urteil Folge zu leisten.231
Um derartiger Regelignoranz Herr zu werden, hat Jan-Werner Müller eine »Kopenhagen-Kommission« vorgeschlagen (in Anlehnung an die Kopenhagener Kriterien für einen Beitritt zur EU). Sie solle routinemäßig »Berichte über den Zustand des Rechtsstaats und der Demokratie in allen Mitgliedsländern erstellen«, »offiziell warnen können, wenn in einem Mitgliedsland Rechtsstaat und Demokratie in Gefahr sind«, und notfalls die »Europäische Kommission veranlassen können, Fördergelder einzufrieren«.232 Die Aussichten, dass die Mitgliedstaaten sich auf eine solche supranationale Instanz einlassen, sind gering, gerade in Zeiten, in denen rechtsstaatliche Verfahren anhängig sind und bestimmte Mitgliedstaaten damit rechnen müssten, als Erste an den Pranger gestellt zu werden. Grundsätzlich ist zudem nicht erkennbar, warum eine solche Kommission mehr respektiert oder »gefürchtet« werden sollte als unter bestehenden Verfahren die Kommission und die Mitgliedstaaten. Ernst genommen würde sie weniger aufgrund von Integrität und Neutralität als von Möglichkeiten, spürbare Sanktionen verhängen zu können. Doch dieses Instrument werden sich die Mitgliedstaaten nicht aus der Hand nehmen lassen. Sie sollten es auch nicht, weil sich weder die Feststellung, wann Rechtsstaat und Demokratie in Gefahr geraten, noch die daraus zu ziehenden Konsequenzen entpolitisieren lassen.
Der damit verbundene Streit muss ausgehalten werden. Dass dabei vielfältige Aspekte und Interessen ins Spiel kommen, ist unvermeidlich. Die Europäische Volkspartei hat im März 2019 nicht nur deshalb gezögert, die Fidesz-Partei des ungarischen Ministerpräsidenten Orbán endgültig auszuschließen, weil ihre EP-Fraktion dadurch kleiner wird, sondern weil er wegen seiner robusten Migrationspolitik viele Sympathien genießt und seinen Teil der Balkan-Route frühzeitig abgeriegelt hat. Etwaige Sanktionen sollten so weit wie möglich jene schonen, die regelverletzende Populisten nicht gewählt haben, und sie sollten es ihnen erschweren, die nationalistische Karte »Wir gegen Brüssel« (oder Berlin) zu spielen.
Die Aushöhlung der europäischen Demokratieunion durch »illiberale Demokraten« nicht zuzulassen, ohne dabei deren heimischen Gegnern zu schaden und deren selektive Kooperation zu gefährden und ohne den Vorwurf doppelter Standards und von Machtmissbrauch (»Groß gegen Klein«) auf sich zu ziehen – das kann einer Quadratur des Kreises gleichkommen. Es deshalb zu lassen ist jedoch keine Option. Europa kann nur als Demokratieunion überleben.
Der Maßstab dafür, ob und durch wen sie gefährdet ist, liegt auf der Hand: Es sind die Kopenhagener Kriterien und die Frage, ob ein Land in seiner derzeitigen demokratischen Verfasstheit nochmals aufgenommen würde. Fällt die Antwort negativ aus, liegt ein Demokratiedefizit vor. Was daraus folgt, muss politisch entschieden werden. Das schließt den Respekt vor nationalspezifischen Ausprägungen und Präferenzen ein, schließlich achtet die Union »die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen und ihre jeweilige nationale Identität, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt« (Art. 4, Abs. 2 EUV). Es erfordert jedoch auch, dass eine Verletzung demokratischer Grundnormen nicht tatenlos hingenommen werden kann. Denn wie es um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedstaat steht, geht in einer Demokratieunion alle an.
Das Mindeste ist deshalb, dass nicht nur die Kommission, sondern auch die Mitgliedstaaten gegenüber dem entsprechenden Partner keinen Hehl aus ihren Besorgnissen machen und die Kommission in ihren Schritten nachdrücklich unterstützen. Das muss nicht unisono mit derselben öffentlichen Deutlichkeit geschehen, aber intern sollte es unmissverständlich sein. Bei anderen sollte darum geworben werden, in Abstimmung mit der Kommission Geschlossenheit zu demonstrieren. Zugleich muss beharrlich versucht werden, eine Lösung nicht gegen, sondern mit dem kritisierten Partner zu finden. Bleibt der Partner jedoch kompromisslos, sind Sanktionen zu erwägen. Ob und in welcher Schärfe, wäre in jedem Konfliktstadium neu zu entscheiden. Als Ultima Ratio sollten finanzielle Sanktionen233 und die in Artikel 7 EUV vorgesehene Aussetzung vertraglicher Rechte bis hin zum Stimmrechtsentzug nicht ausgeschlossen sein.
Die beschriebene »Quadratur des Kreises« wird auch damit nicht gelingen. Konfliktive Ziele müssen abgewogen, Kosten und Risiken in Kauf genommen werden. Wie effektiv dies gelingt, hängt maßgeblich auch von der eigenen Glaubwürdigkeit ab: Wer von anderen einfordert, für alle verbindliche Regeln und Normen einzuhalten, sollte ihnen keine oder zumindest wenig Blöße bieten. Das gilt allgemein, also zum Beispiel für jegliche Art von Vertragsverletzungsverfahren, die die Kommission gegen Mitgliedstaaten wegen säumiger Umsetzung von EU-Rechtsakten einleitet. Wenn es um die Integrität der europäischen Demokratieunion geht, gilt dies jedoch insbesondere für die Stabilität und Qualität der Demokratie im eigenen Land.
Damit kommt der sich ausbreitende Populismus ins Spiel. Auch wenn Alarmismus fehl am Platz ist – sein ökonomischer und sozio-kultureller Nährboden besteht fort, und die EU vermittelt nicht den Eindruck, ihn bald und wirksam austrocknen zu können. Sollte sich ein wirtschaftlicher Abschwung abzeichnen, könnte dies für einen weiteren nationalistisch-populistischen Schub sorgen. Die dadurch verschobenen Kräfteverhältnisse in den Mitgliedstaaten und im Europäischen Parlament würden die Fliehkräfte in der EU verstärken und jene schwächen, die sich mit Macht und Glaubwürdigkeit für die Integrität der europäischen Demokratieunion einsetzen können. Das wahre Demokratiedefizit könnte dann eine krisenträchtige Dimension annehmen, die das in der Vergangenheit viel beschriebene und beschworene nie hatte.
Die unausgewogene Union
Die EU ist weit mehr als eine inter-nationale Organisation, aber weit weniger als ein politisches Gebilde analog zu Bundes- oder gar Zentralstaaten. Ihre Supranationalität beschränkt die Autonomie ihrer Mitgliedstaaten, aber entmachtet sie nicht: Die EU hat weder eine Kompetenz-Kompetenz noch ein ziviles und militärisches Gewaltmonopol; ihr Haushalt ist schmal (ein Prozent des EU-BIP) und sie kann keine Kredite aufnehmen; die »politische Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse« (Bundesverfassungsgerichtsentscheidung [BVerfGE])234 verbleibt im Wesentlichen bei den Mitgliedstaaten; es gibt kein europäisches Volk neben oder gar über den nationalen Völkern. Das Bundesverfassungsgericht bezeichnete sie deshalb lediglich als »Vertragsunion souveräner Staaten«. Die Formulierung mag dem Bemühen des Gerichts geschuldet sein, die Grenzen der grundgesetzlich möglichen Übertragung von Hoheitsrechten zu markieren. Gleichwohl wird sie den Grenzen nicht gerecht, die diesen »souveränen« Staaten de facto durch die Supranationalität ihrer »Vertragsunion« durchaus gesetzt werden.
In einer »Union von Nationalstaaten« fallen Machtunterschiede ins Gewicht.
Trotzdem bleibt die EU eine »Union von Nationalstaaten«: Macht und demokratische Legitimität liegen primär bei den Mitgliedstaaten und ihren Bevölkerungen, die sich in der Regel zuerst als National- und erst an zweiter Stelle als Unionsbürgerinnen und -bürger verstehen.235 Machtunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten fallen deshalb in der EU weit stärker ins Gewicht als zwischen Einheiten eines Bundesstaates wie Deutschland.
Ohne die teil-supranationalisierte EU würden sie indes noch viel mehr ins Gewicht fallen. Wie nicht nur konflikt-, sondern kriegsträchtig ein ungezügelter Nationalismus sein kann, das hat Europa in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts erlebt. Aus dieser Implosion des »Westfälischen Systems« drängten sich zwei zentrale Erkenntnisse auf: zum einen, dass auf Kriegsverhinderung durch Machtgleichgewicht zwischen souveränen Nationalstaaten kein Verlass ist. Zum anderen hat das zweimalige militärische Eingreifen der USA den europäischen Nationalstaaten nicht nur vor Augen geführt, dass sie ihre Rivalitäten nicht allein einhegen konnten; es hatte ihnen auch demonstriert, dass die USA zur Weltmacht aufgestiegen und sie selbst keine Weltmächte mehr waren.
Beide Erkenntnisse mündeten in den europäischen Integrationsprozess und trieben ihn voran. Sie lassen sich auf die Kurzformel »durch Integration zu Frieden, Wohlstand und Souveränität« bringen: Frieden, indem Konflikte regelgebunden und aus Vertrauen durch Erfahrung so ausgetragen werden, dass Krieg undenkbar ist;236 Wohlstand auf der Grundlage eines Binnenmarktes und einer gemeinsamen Währung, die grenzüberschreitend Austausch, Mobilität und Produktivität fördern; Souveränität, die Europas Nationalstaaten als Handlungskollektiv anderen Globalakteuren gegenüber zur Geltung bringen können.
Diese Motive waren, wie Loth zu Recht betont, »nicht immer gleich stark, und sie wirkten nicht immer in die gleiche Richtung«.237 Gleichwohl sind sie nach wie vor wesentliche Triebkräfte der Integration. Sie werden jedoch auf absehbare Zeit nicht zu einer weitgehenden Einebnung nationaler Machtunterschiede führen, denn dazu wäre eine supranationale Vertiefung der Integration erforderlich, die mit dem Sui-generis-Charakter der EU und der primär nationalstaatlichen Identität ihrer Unionsbürgerinnen und -bürger unvereinbar ist.
Daher können Machtungleichgewichte zwischen den Mitgliedstaaten der EU zu einem Problem werden – in der EU-Friedensgemeinschaft zwar nicht mehr zu einem kriegsträchtigen, wohl aber zu einem krisenträchtigen. Nationalstaaten verfolgen nationale Interessen, und es gibt keine Gewähr und auch in der EU keine Autorität, die sie dazu anhalten könnte, das verlässlich im »europäischen Interesse« zu tun. Denn ein solches Interesse gibt es weder abstrakt noch objektiv; niemand hat ein Monopol auf seine Definition. Was im europäischen Interesse ist, bestimmen autoritativ die dazu legitimierten Akteure, zu denen in der EU neben den supranationalen auch die nationalen gehören.238
Zu diesem Zweck bringen die Mitgliedstaaten ihre partikularen Interessen und ihre Macht ins Spiel. Sie müssen und sie sollen das, weil sie von ihren Bürgerinnen und Bürgern dazu beauftragt worden sind. Deshalb lautet die Frage nicht, ob sie es tun, sondern ob sie es so tun, dass ein gemeinsamer europäischer Nenner gefunden werden kann. Da die supranationalen Organe und Verfahren (zum Beispiel Abstimmungen per Mehrheit, degressive Proportionalität im EP, doppelte Mehrheit im Rat) dies allein nicht gewährleisten können, braucht die EU ein ausgewogenes Machtverhältnis zwischen ihren Mitgliedstaaten. Denn werden ein Land oder eine Gruppe von Ländern übergewichtig, kann diese Übermacht zur Durchsetzung eigennütziger Interessen eingesetzt werden. Sie muss es nicht, aber die Versuchung, sich auf Kosten Dritter zu behaupten, ist gegeben und durch Erwartungen der nationalen Öffentlichkeit und Wählerschaft möglicherweise gar vorgegeben. Aber selbst wenn stattdessen europäische Solidarität geübt wird – Übermacht kann Vertrauensbildung erschweren, und eine in der Selbstwahrnehmung pro-europäische Ausübung von Macht kann von anderen als rücksichtslos empfunden werden.
Deutschland ist übergewichtig geworden, kann aber kein Hegemon sein.
Das ist in der Eurokrise geschehen. Deutschland ist durch sie übergewichtig geworden, was die europäische Krise zwar nicht ausgelöst, aber verschärft hat. Das wäre grundsätzlich auch dann der Fall gewesen, hätte ein anderer Mitgliedstaat im Zentrum einer unausgewogenen Machtverteilung gestanden. So aber waren die Folgen drastischer.
Denn das Gründungsmotiv »Frieden durch Integration« zielte auch auf die Einbindung Deutschlands. Es ging um die endgültige Lösung der »deutschen Frage« – nur diesmal nicht gegen, sondern mit Deutschland. Henry Kissinger hatte sie mit Blick auf den 1871 entstandenen deutschen Nationalstaat auf die inzwischen geflügelte Formel gebracht: »zu groß für Europa, zu klein für die Welt«. Nach dem Ersten Weltkrieg war versucht worden, das besiegte Deutschland durch die harten Bedingungen des Versailler Friedensvertrages (Alleinschuld, Gebietsabtretungen, Reparationen, militärische Beschränkungen) dauerhaft zu schwächen. Als »Diktatfrieden« geschmäht, erschwerte er eine Stabilisierung der demokratischen Weimarer Republik und erleichterte den Aufstieg der Faschisten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war Deutschland nicht nur territorial geschrumpft, Restdeutschland war zudem geteilt, seine industrielle Basis schwer beschädigt und die Kriegsschuldfrage eindeutig. Gleichwohl wurde eine kooperative statt konfrontative Lösung der »deutschen Frage« gesucht. Das wurde maßgeblich begünstigt durch den aufziehenden Ost-West-Gegensatz, der die USA in Europa hielt: als Schutzmacht gegen die Sowjetunion und als Beschützer vor einem (West-)Deutschland, das als stabiler, prosperierender und wiederaufgerüsteter »Schutzschild« gegen den Kommunismus gebraucht wurde.
Von den USA bereitgestellte Sicherheit vor Deutschland war jedoch nicht ausreichend. Die USA waren eine zwar in Europa präsente, aber »auswärtige« Macht, während Deutschland Nachbar ist – und zwar einer, dessen Wiedererstarken wegen der Ost-West-Konfrontation notwendig und dessen Wiedervereinigung zwar unabsehbar, aber nicht auszuschließen war. Sicherheit vor Deutschland bot als Ausweg Sicherheit mit Deutschland im europäischen Integrationsprozess.239 Es gab sie deshalb nur um den Preis, auch die eigene Souveränität erheblich zu kollektivieren und zuzulassen, dass Deutschland in diesem Prozess an Macht und Souveränität gewann.
Letzteres gelang in einem solchen Maße, dass die Abschaffung der D-Mark durch die Währungsunion schon vor dem Fall der Mauer, aber dann erst recht zu einem Ziel vor allem französischer Politik wurde. Doch auch diese »Einhegung« Deutschlands war nur begrenzt erfolgreich. Als 2008 die »Great Recession« ausbrach, erfasste sie zunächst das vereinte Deutschland ebenfalls. Zwei Jahre später, nach Ausbruch der Eurokrise, war es anders: Der IWF erklärte Deutschland 2013 zu »einem Anker der Stabilität in Europa«,240 und von den großen europäischen Volkswirtschaften erhielt nur Deutschland weiterhin die Rating-Bestnote. Die wirtschaftlichen Divergenzen zwischen Deutschland und größeren EU-Ländern wie vor allem Frankreich nahmen zu. Im Ergebnis wurde Deutschland zum nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch stärksten Akteur.
Damit kam die »deutsche Frage« wieder auf den Tisch: »Die deutsche Frage stirbt nie aus; stattdessen mutiert sie wie ein Grippevirus.«241 Diesmal, so Hans Kundnani, stelle sie sich in »geo-ökonomische[r] Form«, weil Deutschland keine Militär-, aber eine in Europa überlegene Wirtschaftsmacht sei und davon rücksichtslos Gebrauch mache, indem es der Eurozone Austerität verschreibe und sich einer Schuldenvergemeinschaftung verweigere.242 Anknüpfend an eine Definition, mit der Ludwig Dehio die Stellung des 1871 gegründeten Kaiserreichs beschrieben hatte, sieht er wie andere Deutschland als »Halb-Hegemon«: »zu schwach, um den Kontinent zu dominieren, aber zu stark, um sich in das europäische Machtgefüge einzufügen«.243 Christoph Schönberger und William E. Paterson sprechen von einem »Hegemon wider Willen« bzw. »reluctant hegemon«244 – ein Begriff, mit dem auch der Economist im Juni 2013 seinen »Special Report on Germany« betitelte.245
Beide Thesen, die eines halb- oder gar »voll«-hegemonialen Deutschlands, überzeugen nicht. Bei Paterson auch deshalb nicht, weil seine Begriffswahl inkonsistent ist. So charakterisiert er Deutschland einerseits als »reluctant hegemon«, andererseits halten er und Simon Bulmer eine deutsche Hegemonie in der Eurokrise für schwach belegt und allenfalls für zu erwarten, wenn aus einer zusammengebrochenen Eurozone eine kleinere Gruppe nordeuropäischer Staaten hervorgehe.246 Schönberger wie Bulmer/Paterson führen selbst eine Reihe von Umständen an, die einer Hegemonie Deutschlands entgegenwirken. Schönberger sieht das Land mental (»Selbstprovinzialisierung«) und institutionell (Erosion von Autorität der Bundesregierung und Einengung ihres Handlungsspielraums durch Bundestag, Bundesrat und Bundesverfassungsgericht) »schlecht gerüstet« für eine »europäische Hegemonie«.247 Bulmer und Paterson verweisen ebenfalls auf das Bundesverfassungsgericht sowie darauf, dass Deutschlands Beharren auf Austerität und nationalen Prioritäten einer Orientierung am europäischen Gesamtinteresse zuwiderliefen.248
Solche akteursspezifischen Barrieren sind indes an Bedingungen und Mentalitäten geknüpft, die sich unter dem Einfluss innerer und äußerer Faktoren ändern können. Sie böten deshalb keinen verlässlichen Schutz gegen die Versuchungen und den Missbrauch einer deutschen Hegemonialstellung. Besonders dann nicht, wenn man wie Schönberger überzeugt ist, dass nur die Bundesrepublik für eine Hegemonie infrage kommt und ihre »Bürde« tragen muss, »auch wenn sie diese schmerzhafter auf ihren Schultern spürt«.249
Das wäre jedoch ein Phantomschmerz. Deutschland kann selbst »wider Willen« kein Hegemon sein, weil ihm dazu die Macht fehlt. Diese hat, wie expliziert, vier Dimensionen und eine situative Komponente.250 Zwar nicht global, aber in der EU hat Deutschland in allen Dimensionen große, in manchen überlegene Macht (Letzteres zum Beispiel bei materiellen Ressourcen wie Demographie, Wirtschaft, Technologie251 und finanziellen Mitteln252). Und angesichts der vielerorts heftigen Kritik an der deutschen Europolitik sind Befürchtungen, der deutsche Einfluss sei zu groß, nicht erstaunlich – auch wenn dieselbe Umfrage unter neun deutschen EU-Partnern ein überwiegend positives Bild von Deutschland in der Bevölkerung und mehr noch bei Eliten ergab.253
All das bringt Deutschland aber aus drei Gründen nicht in eine hegemoniale Lage. Erstens ist der Machtabstand zu anderen nicht groß genug. So hatte Deutschland 2017 einen Anteil am Bruttoinlandsprodukt der Eurozone von 29,22 und an dem der EU insgesamt von 21,29 Prozent. Selbst ohne Großbritannien liegen zwischen Deutschland und Frankreich (20,48 bzw. 14,93 Prozent) nur wenige Prozentpunkte.254 Zweitens ist Deutschland bei militärischen Fähigkeiten, einer Schlüsselressource materieller Macht, allenfalls punktuell gleichrangig mit Frankreich und Großbritannien. Das gilt ohnehin nur für konventionelle Streitkräfte. Die auffälligste Asymmetrie besteht militärisch im nuklearen Bereich. In der Vergangenheit mag sie nicht ins Gewicht gefallen sein; bei zunehmender transatlantischer Entfremdung und Lastenneuverteilung könnte sich das im Rahmen einer europäischen Verteidigungsunion ändern. Wie viel ein ständiger Sitz mit Vetorecht im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen machtpolitisch wert ist, lässt sich schwer bestimmen. Nimmt man zum Maßstab, wie sehr sich Deutschland (erfolgreich) bemüht hat, 2019/20 wieder als nichtständiges Mitglied vertreten zu sein, hat Deutschland auch hier ein Machtdefizit – zumal der Sicherheitsrat autoritativ für alle Mitgliedsländer entscheidet.
Der dritte Grund ist die situative Komponente. Hegemon kann nur sein, wessen Überlegenheit schwer erschütterbar ist. Das meint nicht nur »objektiv«, sondern vor allem subjektiv, also in der Perzeption Dritter, die ihr Verhalten unter anderem danach ausrichten, wie fest ein Hegemon im Sattel sitzt. Hegemonie erfordert deshalb eine relative Immunität gegen situative Machtschwankungen.
Die besitzt Deutschland nicht. Zum einen erwächst Deutschlands Macht aus der Schwäche anderer, vor allem derjenigen Frankreichs. Eine Wahl allein, nämlich die von Emmanuel Macron zum Präsidenten, kann das nicht entscheidend ändern, macht aber bereits einen Unterschied: Macron hat es in kurzer Zeit vermocht, durch reformerische Tatkraft im Inneren und pro-europäisches Reden und Engagement Frankreichs reputationelle Macht bedeutsam zu steigern. Gelingt es ihm, Frankreich wirtschaftlich zu dynamisieren und politisch zu stabilisieren, wird das auch den materiellen und immateriellen Machtabstand zu Deutschland spürbar verringern. Zweitens haben die Bundestagswahlen im September 2017 (schwindender Anteil der »Volksparteien« CDU/CSU und SPD, Einzug der AfD, Sieben-Parteien-Parlament), die fast ein halbes Jahr dauernde Regierungsbildung und eine »Große Koalition« mit schmaler Mehrheit im Bundestag und fehlender Mehrheit im Bundesrat die Macht Deutschlands in Europa geschmälert. Hinzu trat im Sommer 2018 eine Selbstschwächung des Landes, als der erbitterte Streit zwischen CDU und CSU über eine Kleingruppe von Asylbewerbern die Bundesregierung europapolitisch in eine Bredouille und gegenüber Frankreich in eine Demandeur-Lage brachte.
Auch zum »Halb-Hegemon« eignet sich Deutschland nicht. Dominik Geppert definiert dessen »halbhegemoniale Stellung in Europa« wie folgt: »zu stark, um sich in die europäischen Institutionen einzufügen (daher der verständliche Ruf nach einer stärkeren Gewichtung der deutschen Stimme im EZB-Rat), aber – das wird zunehmend deutlich – gleichzeitig auch viel zu schwach, um im Rest Europas die deutsche Politik durchzusetzen (daher das absehbare Scheitern, anderen Ländern eine nachhaltige Haushaltspolitik aufzuzwingen)«.255 Kann jemand auch nur ein »halber« Hegemon sein, wenn er so schwach ist? Und wenn er so schwach ist – warum sollte er sich dann aus Einsicht in die eigenen Machtgrenzen oder aus aufgeklärtem Eigeninteresse (oder beidem) nicht europäisch einordnen können? Die Dehio-Formel ist überholt. Sie wurde für ein Europa entwickelt, in dem nationalstaatliche Rivalitäten zwei Weltkriege ausgelöst haben, die zu einer Triebfeder der europäischen Integration wurden. Diese führte nicht zum Ableben der Nationalstaaten, sondern zur gewaltfreien und kooperativen Regelung ihrer Konflikte. Das war und bleibt im eminenten deutschen Interesse – auch und gerade weil Deutschland erheblich an Macht gewonnen hat, seitdem es nicht mehr geteilt ist und an der Nahtstelle der Ost-West-Konfrontation liegt. Diesem Interesse zu folgen heißt, sich in Europa einzufügen. Es bedeutet nicht, dass dies reibungslos verläuft. Aber täte Deutschland dies nicht, würde es nicht nur geschichtsvergessen handeln; es würde sich schwächen statt stärken, weil es allein »zu klein für die Welt« ist. Groß genug für eine Welt aus staatlichen und nichtstaatlichen Globalakteuren kann es nur im europäischen Kollektiv sein. Die Analogie zum Kaiserreich ist deshalb nicht nur ahistorisch, sie führt auch auf einen politischen Irrweg.
Deutschland überfordert mit Übergewicht.
Deutschland kann zwar kein Ganz- und noch nicht einmal Halb-Hegemon sein, aber in der EU-Machthierarchie hat es eine Spitzenposition inne. Seine strukturelle Macht qua Ressourcenausstattung und sein relativer Machtzuwachs durch die Schwäche anderer sorgten in der Eurokrise dafür, dass Deutschland zum mächtigsten Akteur wurde. Das ist weder gut für Deutschland noch für die EU.
Deutschland war damit überfordert. Nicht, weil es ein »tiefentraumatisiertes Land« mit einer »fundamentalen Ich-Schwäche« wäre, »das vor allem in Ruhe gelassen werden will«.256 In der Eurokrise jedenfalls ist Deutschland vor allem aus Sicht derjenigen, die Hilfsprogramme mit harten Auflagen in Anspruch nehmen mussten, sicher nicht »ich-schwach« aufgetreten. Auch dass man als mächtigster Akteur mit ambivalenten Führungserwartungen umgehen muss,257 war ebenso wenig das Alleinproblem wie die Herausforderung, den heimischen Rückhalt für eine solidarische Europolitik zu erhalten und Fehlanreize (»moral hazard«) zu minimieren.
Deutschland war überfordert, weil es alles das weitgehend allein leisten musste. Es hatte gleichgesinnte Länder an seiner »Kreditgeberseite«, aber nicht mit einem Gewicht, wie es nur ein starkes Frankreich hätte liefern können. Die Eurozone kam auch deshalb ins Schlingern, weil von den großen Euroländern nur Deutschland die Rating-Bestnote behielt und als »Stabilitätsanker« (IWF) galt. Das hatte eine Kehrseite: »Frankreichs Schwäche hat Deutschland exponiert und die EU unausgewogen gemacht. Im Ergebnis wurde Frau Merkel zugleich zur widerwilligen Anführerin des Kontinents und zu ihrem Hauptbösewicht.«258
So hing in der Eurokrise zu viel an Deutschland. Das begünstigte medial mitgeschürte Perzeptionen in Deutschland, als »Zahlmeister« ausgenutzt zu werden, denen spiegelbildlich Fremdwahrnehmungen von Berlin als »Zuchtmeister« gegenüberstanden. Beides waren Zerrbilder, die die Krise anheizten und Populisten zugutekamen.
In der Eurokrise hat Deutschland sein Übergewicht robust, aber auch solidarisch eingesetzt. Mehr Macht kann allerdings selbstgefällig und unsensibel machen. Ein Deutschland-Kenner wie Angelo Bolaffi, der sein italienisches Heimatland für seine »administrative Inkompetenz und Korruption« und seine Reformunfähigkeit schonungslos kritisiert, hat Deutschland vorgehalten, »stets unbeugsamer Richter der Verfehlungen anderer, aber nie der eigenen« zu sein.259 Das muss man in dieser Schärfe nicht akzeptieren, aber übergehen sollte man diesen Eindruck gerade deshalb nicht, weil er von einem germanophilen europäischen Mitbürger geäußert wird.
Eine ZEIT-Autorengruppe hat eine Liste von Vorwürfen gegen Deutschland zusammengestellt: zahlreiche, von der Europäischen Kommission angestrengte Vertragsverletzungsverfahren; übermäßige Exportüberschüsse; unabgestimmtes Außerkraftsetzen der europäischen Asylregeln (»Dublin«) im Jahr 2015; auf Berliner Druck gelockerte CO2-Grenzwerte für deutsche Premiumautos; Beschweigen der Ersparnisse für den deutschen Staat durch die EZB-Niedrigzinspolitik; sicherheitspolitische Trittbrettfahrerei.260 Sie ließe sich ergänzen um eine »Energiewende« durch einen Ausstieg aus der Atomenergie, die den Partnern der angestrebten EU-Energieunion nach der Fukushima-Katastrophe im März 2011 als fait accompli verkündet wurde. Oder um die Gasleitung Nord Stream 2, die aus Sicht vor allem ostmitteleuropäischer EU-Mitgliedstaaten sowie der Ukraine immer ein Projekt war, das ihren Interessen schaden könnte, während die Bundesregierung sie lange Zeit als rein kommerzielles Vorhaben einstufte, schließlich aber doch einräumte, dass »natürlich auch politische Faktoren zu berücksichtigen sind«.261
Europa braucht eine ausgewogene Machtverteilung.
Den größten Unmut erregten die deutsche Haltung und Handlung in der Asyl- und Flüchtlingskrise. Für Heinrich August Winkler klang »vieles, was 2015/16 aus Deutschland zu hören war, nach dem Versuch, zumindest auf diesem Gebiet ein deutsches Europa zu schaffen«.262 Die Formulierung ist überzogen, weil damit die deutsche Solidarität unter- und diejenige anderer überschätzt wird. Sie reflektiert aber massive Irritationen bei Deutschlands Partnern über eine Flüchtlingspolitik, deren Kurs als wechselhaft und deren Rhetorik als moralisch überhöht empfunden wurde.
Deutschland kann sich nicht kleiner machen, als es ist. Im EU-Maßstab ist es eine Groß-Macht, an die sich hohe und ambivalente Erwartungen richten. Wenn es, ob tatsächlich oder perzeptiv, Fehler macht oder seine Macht eigennützig einsetzt, hat das in der Regel größere Auswirkungen als bei kleineren Akteuren. Umgekehrt liegen in seiner Macht Chance und Verpflichtung zugleich, die europäische Integration zu prägen.
Deutschland kann das inzwischen tun, ohne sich wie Odysseus durch europäische Selbstfesselung vor Sirenengesängen schützen zu müssen, die es auf autoritäre oder außenpolitische Abwege verführen könnten. Selbstvertrauen darf jedoch nicht mit Selbstvergessenheit einhergehen. Geschichte und Gewicht Deutschlands lassen sich zuverlässig und für seine Nachbarn verträglich am besten in einem größeren, integrativen Europa »aufheben«. Das nationale Interesse daran und die europäische Identität dafür teilt Deutschland mit seinen europäischen Nachbarn.
Da dieses Europa jedoch eine Union ist und auf absehbare Zeit sein wird, in der die primäre Macht und Legitimität bei den Nationalstaaten verbleibt, braucht Europa eine ausgewogene Machtverteilung zwischen seinen Mitgliedstaaten. Das war – auch wegen der Asymmetrie im deutsch-französischen Verhältnis, die der Brexit verschärft – nicht der Fall. Deutschland kann diese endogene Krisenquelle nicht beseitigen, indem es sich selbst schwächt. Aber es hat ein elementares Interesse daran, dass andere wieder stärker werden, und sollte die dafür notwendige nationale Eigenverantwortung durch europäische Solidarität flankieren. Ein »gütiger Hegemon« (»benign hegemon«) zeichnet sich dadurch aus, dass er bereit ist, kurzsichtige Interessen zurückzustellen und in die Stabilisierung des Systems zu investieren, das ihn zu einem Hegemon macht. Ein Hegemon kann Deutschland nicht sein, doch eine »gütige Mitführerschaft« für eine Europäische Union, die Teil seiner Staatsräson ist, kann und muss es übernehmen.263
Die undifferenzierte Union
»In Vielfalt geeint« – seit dem Jahr 2000 ist dies das Motto der EU. Der Zeitpunkt kommt nicht von ungefähr. Nach der Implosion des Sowjetkommunismus und seiner Herrschaftszone war die Erweiterung der (West-)Europäischen Union um die nunmehr unabhängigen Nachbarn jenseits des ehemals Eisernen Vorhangs rasch zu einer Frage des Wann und Wie und nicht mehr des Ob geworden. Ihre Qualifikation als »europäischer Staat« im Sinne von Artikel 49 EUV war unbestreitbar, ihr »Europäertum« hätte manche von ihnen zu Gründungsmitgliedern gemacht, wäre der Vorhang weiter östlich niedergegangen, und ihr Widerstand gegen die kommunistische Herrschaft hatte deren Ende mit herbeigeführt.
Gleichwohl standen die Altmitglieder einer Öffnung Richtung Osten unterschiedlich gegenüber; Deutschland etwa war dafür, Frankreich skeptisch. Der Osterweiterung kam deshalb der Umstand zugute, dass es neben dem moralischen und geschichtlich-kulturellen Anspruch auf Zugehörigkeit der prospektiven Mitglieder auch handfeste Interessen der Altmitglieder gab. Diese Motive waren ebenfalls verschieden oder verschieden stark ausgeprägt,264 hatten jedoch einen gemeinsamen Nenner: das Interesse an einer demokratischen und (markt-)wirtschaftlichen Transformation der postkommunistischen Nachbarschaft. Denn eine solche Transformation bot die bestmögliche Vorsorge gegen einen Umbruch mit einem inner- und zwischenstaatlichen Konfliktpotential, dessen Ausbruch Westeuropa nach dem Fall der abschirmenden Mauer nicht unberührt gelassen hätte.265 Das wirksamste Mittel, eine solche Transformation materiell und psychologisch (»Rückkehr nach Europa«) von außen zu fördern, war die Bereitschaft, die EU für die postkommunistischen Nachbarn zu öffnen.
Allen war jedoch bewusst, dass die EU mit einer Öffnung nach Osten erheblich heterogener werden würde. Um ihren Zusammenhalt und ihre Handlungsfähigkeit zu wahren, sollte deshalb die Erweiterung mit einer Vertiefung der EU durch eine Reform ihrer Institutionen und Entscheidungsverfahren einhergehen. Der Anstoß dafür wurde 1997 auf dem Europäischen Rat in Luxemburg gegeben und mündete über den Vertrag von Nizza (2000) und die 2005 abgelehnte »Verfassung« in den Vertrag von Lissabon (2009).
»In Vielfalt geeint« geht nur durch differenzierte Integration.
Vor diesem Hintergrund wurde im Jahr 2000 aus Vorschlägen, die in einem Schülerwettbewerb entstanden waren, als EU-Leitspruch das Motto »In Vielfalt geeint« ausgewählt. Als ein Mittel, dem darin enthaltenen Auftrag gerecht zu werden und zu verhindern, dass mehr Vielfalt zu weniger Einheit führt, galt die differenzierte Integration.
Das Konzept war nicht neu. Die beiden prominentesten Beispiele waren und sind die Währungs- und die Schengenunion – zwei Projekte, die Jahre vor der Osterweiterung beschlossen wurden und an denen nie alle EU-Mitglieder beteiligt waren. Die Herausforderung, auch durch differenzierte Integration in Vielfalt geeint zu bleiben, stellte sich jedoch nach der 2004 erfolgten Erweiterung in einer neuen Dimension, weil die EU auf einen Schlag von 15 auf 25 Mitglieder und damit in einem präzedenzlosen Ausmaß vergrößert wurde. Ist das gelungen oder hat eine – fehlkonstruierte oder fehlpraktizierte – differenzierte Integration die EU-Krise mit herbeigeführt? Und ist sie tatsächlich ein Mittel, die Krisenfestigkeit der EU zu erhöhen?
Differenzierte Integration heißt: Nicht alle Mitgliedstaaten sind auf demselben Stand der Integration, sei es in zeitlicher, räumlicher oder inhaltlicher Hinsicht.266 Zeitliche Differenzierung entspricht einem »Europa der mehreren Geschwindigkeiten«: Alle haben dasselbe Integrationsziel, erreichen es aber nicht zusammen.267 Räumliche Differenzierung wäre ein Europa aus Teilmengen unterschiedlicher Integrationsdichte, also mit Gruppen von Mitgliedstaaten, die nur untereinander auf demselben Integrationsstand sind. In ein solches »Europa der konzentrischen Kreise« passt das Konzept eines »Kerneuropas«, um das herum sich weniger verdichtete Kreise legen. Inhaltliche Differenzierung bedeutet, dass Mitgliedstaaten an einzelnen Integrationsprojekten gar nicht oder nur eingeschränkt teilnehmen. Paradebeispiele sind die Opt-out- und Opt-in-Optionen: Dänemark und Großbritannien haben sich beispielsweise die Nicht-Teilnahme an der Währungsunion ausbedungen und beteiligen sich nur partiell an der Zusammenarbeit im Bereich Justiz und Inneres, können jedoch ihr Mitwirken »auf Antrag« aufstocken. Dem Schengen-Abkommen, das freie Beweglichkeit durch den Wegfall von Personenkontrollen schafft, sind alle EU-Mitglieder bis auf Großbritannien, Irland und Zypern beigetreten. Währungsunion und Schengen-Abkommen sind Beispiele für ein »Europa der variablen Geometrie«: Integrationsziele gelten nicht für alle, so dass Integrationswillige auch ohne Zustimmung aller voranschreiten können.268 Das gilt ebenfalls für die im EU-Vertrag vorgesehene »Verstärkte Zusammenarbeit« (Art. 20) und die »Ständige Strukturierte Zusammenarbeit« in der Gemeinsamen Verteidigungspolitik« (Art. 42 und 46).
Für die Wirklichkeit der Fülle von Beispielen differenzierter Integration269 sind diese Kategorien nicht differenziert genug.270 Zumal durch einen Brexit eine weitere Facette hinzukommen könnte. Denn damit wird erstmals zu entscheiden sein, wie das künftige Verhältnis zwischen der EU und einem vormaligen Mitglied durch bestehende oder neue Formen einer Kooperation oder gar (bei einem »soft Brexit«) einer differenzierten Integration zu gestalten ist.
Exemplarisch und für die EU-Konstruktion und ‑Kohäsion richtungsweisend werfen die Brexit-Verhandlungen die Kernfrage aller Formen differenzierter Integration auf: Wie viel Vielfalt ist möglich, ohne die Einheit zu gefährden? Denn einerseits ist differenzierte Integration ein »effektives Instrument zum Management der europäischen Vielfalt«, wie Funda Tekin schreibt.271 Nicht alle können oder wollen – temporär oder längerfristig – auf demselben Integrationsstand sein, weil sich dafür europäische Identität und nationale Interessen in einer größer und heterogener gewordenen EU nicht ausreichend decken. Würde ein solcher gefordert, wären Regression (Integration auf dem kleinsten Nenner durch Status quo minus) oder Stillstand zu befürchten: Wenn alle auf demselben Niveau sein müssten, könnten die, die weitergehen möchten, von den Unwilligen daran gehindert werden. Differenzierte Integration kann also beidem dienen: der Stabilisierung der Integration für alle und ihrer Dynamisierung durch Teilgruppen.
Sie kann allerdings auch Kehrseiten haben: indem sie das Institutionen- und Entscheidungsgefüge der EU (noch) unübersichtlicher und inkongruent macht;272 indem sie Trittbrettfahrerei und Rosinenpickerei begünstigt; indem sie einzelne oder eine Gruppe marginalisiert und dominiert.273 Im Ergebnis besteht die Gefahr, dass sie Unterschiede vergrößert, den für alle verbindlichen integrativen »Besitzstand« schmälert und den Zusammenhalt aufweicht.
Diese prinzipielle Ambivalenz wäre nur zu vermeiden, wenn auf differenzierte Integration verzichtet würde. Das ist aus den genannten Gründen weder zu erwarten noch zu wünschen. Frank Schimmelfennig ist beizupflichten, wenn er konstatiert: »Die differenzierte Integration ist seit Beginn der 1990er Jahre zu einem konstitutiven Merkmal der europäischen Integration geworden«, denn sie habe sich »im Großen und Ganzen als Schmiermittel des Integrationsfortschritts erwiesen«.274
Deshalb war sie kein endogener Mitverursacher der EU-Krise, auch wenn die »unfertige Währungsunion«, das ehrgeizigste Projekt einer vertieften Teil-Union, als solcher zu betrachten ist. Die Konstruktions- und Politikfehler, die im Umgang mit der Währungsunion begangen wurden, sprechen jedoch nicht gegen das Projekt an sich, das im Gegenteil weiterhin große Vorzüge hat und das gewichtigen Interessen dient.
Die Erfahrung der Währungsunion rät allerdings auch zu einem behutsamen Vorgehen. Nicht ein Zuviel oder Zuwenig an differenzierter Integration hat die Dauerkrise der EU und ihren Beinahe-Kollaps hervorgerufen. Primär waren und sind es tieferliegende exogene Ursachen und endogene Bruchpotentiale. Differenzierte Integration kann beidem entgegenwirken und hat dies auch getan. Gleichwohl ist sie mit Risiken verbunden, die desintegrierend wirken können.
Mehr Integration: Wo möglich mit allen, wo nötig mit weniger.
Die Herausforderung, die Chancen zu nutzen und die Risiken zu minimieren, stellt sich situationsspezifisch jeweils neu und anders. Es gibt jedoch einige allgemeine Maßstäbe für die Beurteilung, ob und in welcher Form differenzierte Integration einen Ausweg aus der EU-Krise bieten kann oder ein Irrweg ist, der die Krise zu verschärfen droht.
■ Zweitbeste Lösung
Präferenz sollte immer der Versuch haben, einen Integrationsschritt mit allen oder zumindest mit Billigung aller zu gehen; umgekehrt sollten Ausnahmen vom gemeinsamen Integrationsstand so temporär und inhaltlich begrenzt wie möglich gehalten werden. Das schlösse weniger Integration durch einen Rücktransfer von Kompetenzen auf die Unionsstaaten nicht aus, wie es das »Szenario 4: Weniger, aber effizienter« im »Weißbuch zur Zukunft Europas« der Europäischen Kommission vorsieht. Geschähe das im Einvernehmen aller, wäre es allerdings keine differenzierte Integration, weil alle auf demselben, wenn auch abgesenkten Integrationsstand verblieben.
Wenn nicht alle auf demselben Integrationsstand sind, ist das nicht per se Desintegration – weder progressiv (Kommissions-»Szenario 3: Wer mehr will, tut mehr«) noch regressiv durch Mitgliedstaaten mit Opt-Outs. Im progressiven Fall kann diese Aussage selbst dann zutreffen, wenn eine Gruppe außerhalb der Verträge ohne Einvernehmen der übrigen EU-Mitglieder handelt.275 Ein Verzicht auf diese Option würde Blockierern in die Hände spielen. Gleichwohl kann sie angesichts konfliktiver Begleiterscheinungen nur die Ultima Ratio sein.
Zweitbeste Lösung heißt deshalb: Differenzierte Integration ist mehr als ein »kleineres Übel«. Sie ist unverzichtbar in einer Union von mehr als zwei Dutzend Nationalstaaten, die keinen Einheitsstaat bilden, sondern ein Gebilde sui generis bleiben wollen, das ihre Vielfalt respektiert.
■ Kein »Europa à la carte«
Differenzierte Integration ist unverzichtbar, aber in zu hohem Maße droht sie die genannten Risiken zu potenzieren und eine desintegrierende Dynamik auszulösen. Ein Europa mit einem schwachen Zentrum, einem schmalen, für alle verbindlichen Integrations- und Regelfundament und »Clubs« mit austauschbarer Mitgliedschaft sowie Ein- und Ausstiegsoption mag zwar nicht nur theoretisch funktionieren; es wäre aber nicht das festgefügte, nach Innen und Außen als Handlungskollektiv auftretende Gebilde, dem differenzierte Integration als »Schmiermittel« dienen soll.
■ »Kerneuropa« bewahren
Stellt man sich die EU als einen Baum vor, bildeten alle Mitgliedstaaten den Stamm, Teilgruppen der differenzierten Integration die Äste. Genährt und im Gleichgewicht gehalten werden Stamm und Äste durch kräftige Wurzeln. Stamm und Wurzeln machen den integrativen Kernbestand der EU aus. Bei den Wurzeln handelt es sich formell um die für alle verbindlichen Normen und Regeln und informell, aber noch wichtiger, um die europäische Identität der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger sowie den »Unionsgeist«, also das Bewusstsein von und die Bereitschaft zu »Einheit in Vielfalt«. Der Stamm besteht aus den Institutionen und Projekten, an denen alle beteiligt sind: den EU-Organen Kommission, Rat, Europäisches Parlament und Europäischer Gerichtshof sowie den EU-Agenturen und als Hauptprojekten dem Binnenmarkt mit seinen vier Freiheiten, dem gemeinsamen Haushalt, weiten Bereiche der Justiz- und Innenpolitik sowie dem gemeinsamen Auftreten gegenüber Dritten vor allem in der Handels-, Außen-, Sicherheits- und Umwelt-/Klimapolitik.
Wurzeln und Stamm sind das integrative Kerneuropa, von dem die Äste der differenzierten Integration zehren. Auch wenn das nicht bedeuten kann, dass differenzierte Integration immer nur mit Billigung aller erfolgen kann – um zu verhindern, dass sie den Zusammenhalt der Gesamt-EU aufweicht und ihrem Zerfasern Vorschub leistet, sollte nachdrücklich versucht werden, Wurzeln und Stamm der EU so weit wie möglich unbeschädigt zu halten.
Das gilt a fortiori für besonders strittige oder weitreichende Projekte. Ein Beispiel für den zweiten Fall ist die Währungsunion. Sie ist nicht mit allen, aber im Konsens aller eingeführt worden. Das war und bleibt richtig. Die bereits ausgeführten und noch auszuführenden Arbeiten am »unfertigen Haus« machen sie zum Segment der EU-Integration mit dem höchsten Verdichtungsgrad. Deshalb sollte die Währungsunion so ausgelegt und gesteuert werden, dass sie im Einklang mit dem Binnenmarkt bleibt, über dessen Ausgestaltung auch die Nicht-Euro-Mitgliedstaaten mitbestimmen.
Das erfordert wegen des Übergewichts der Eurozone Einfühlungsvermögen und sprachliches Fingerspitzengefühl. Aus diesem Grund wird hier der Begriff »Kerneuropa« anders als üblich definiert. In seiner politischen Wirkgeschichte geht er zurück auf ein von Wolfgang Schäuble und Karl Lamers verfasstes Papier der CDU/CSU-Fraktion aus dem Jahr 1994, in dem beide dafür plädierten, »den festen Kern weiter [zu] festigen«.276 Schon damals wurde das mit der kurz zuvor beschlossenen Währungsunion in Verbindung gebracht. Denn gedacht war an »fünf bis sechs Länder«, die als »der harte Kern der Politischen Union« zur Währungsunion gehören würden.
Wenn heute von Kerneuropa die Rede ist, dann meint dies zumeist ebenfalls die Gruppe derjenigen, die zur Währungsunion gehören.277 Geschickt ist das weiterhin nicht, da, wie Schäuble kurz nach Erscheinen des Papiers einräumte, »andere sich ausgegrenzt fühlen könnten«.278 Das gilt noch immer, auch wenn es weder so gemeint ist noch jede Empörung über »Ausgrenzung« auf die politische Goldwaage gelegt werden sollte. Die Integrationsdichte der Währungsunion ist in der EU einzigartig, würde sie scheitern, könnte das eine »Kernschmelze« der Gesamt-EU auslösen. In diesem Sinne ist die Währungsunion »Kerneuropa«. Allerdings wird dieser Kern wegen seiner übergroßen Wirtschaftskraft nach einem Brexit so groß sein, dass er keiner mehr ist.
Der Begriff »Kerneuropa« wird deshalb hier ausschließlich für den integrativen Kernbestand der EU benutzt, für das, was sie formell und informell, institutionell und operationell »im Innersten zusammenhält«.
■ Offenheit
Gegen ein partiell verstandenes »Kerneuropa« spricht zudem, dass der Begriff »Kern« leicht mit Abgeschlossenheit assoziiert wird. Offenheit für ein späteres Aufschließen anderer, das betonen auch die Befürworter eines Akteurs »Kerneuropa«, muss jedoch ein Kardinalprinzip jeglicher Form von differenzierter Integration sein. Das heißt freilich nicht beliebige, sondern konditionierte Offenheit, die also von der Erfüllung von Voraussetzungen und der glaubwürdigen Bereitschaft ausgeht, jene dauerhaft auch nach einem Beitritt einzuhalten.
■ Vertragliche Spielräume nutzen
Differenzierte Integration sollte, wann und wo immer möglich, im Rahmen der Verträge erfolgen. Hauptinstrumente sind die »Verstärkte Zusammenarbeit« (Art. 20 EUV) und im Verteidigungsbereich die »Ständige Strukturierte Zusammenarbeit« (Art. 42 [7] und 46 EUV).279 Vertragskonforme differenzierte Integration ist in der Regel nicht oder weniger konfliktiv und sichert die Einbindung der EU-Institutionen.
Differenzierte Integration soll es Teilgruppen erlauben, durch ein intensiveres Zusammenwirken Ziele zu erreichen, die mit allen zugleich nicht erreichbar sind. Auch Mehrheitsentscheidungen und konstruktive Enthaltungen ermöglichen Handeln ohne allgemeinen Konsens. Da damit jedoch keine dauerhafte Vertiefung der Integration für eine Teilgruppe begründet wird, handelt es sich im engeren Sinne nicht um differenzierte Integration.
Gleichwohl gibt es Parallelen. Wie bei differenzierter Integration geht es auch bei Mehrheitsentscheidungen um »Heterogenitätsmanagement«, also darum, der »Vielfalt« Rechnung zu tragen, ohne dass die Einheit leidet. Darin liegt ein potentieller Zielkonflikt, der sich nicht aufheben und häufig situationsspezifisch nur einhegen lässt.
Dennoch war es richtig, dass jene Bereiche, in denen mit einfacher oder qualifizierter (jetzt: 55 Prozent der Mitgliedstaaten und 65 Prozent der EU-Bevölkerung) Mehrheit abgestimmt werden kann, erheblich ausgeweitet worden sind. Das Wissen, überstimmt werden zu können und das Verfahren durch die eigene Zustimmung legitimiert zu haben, kann Konsensbereitschaft fördern.
Grundsätzlich gilt das auch für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU. Bundeskanzlerin Merkel und Außenminister Heiko Maas haben sich dafür ausgesprochen, das Einstimmigkeitsprinzip in diesem Bereich zu lockern.280 In der derzeitigen Verfassung der EU mit unbewältigter Dauerkrise und verhärteten Fronten in der Asyl- und Flüchtlingsfrage hat ein solcher Vorstoß kaum Aussicht auf Erfolg oder müsste mit Zugeständnissen zu prohibitiven Kosten »erkauft« werden.281
Ohne die Möglichkeit, dass »nicht alle immer alles mitmachen«, kann die EU nicht auskommen. Allerdings muss das integrative »Kerneuropa« dabei so weit wie möglich geschont werden. Denn differenzierte Integration ist ein Mittel zum Zweck: Europas Zusammenhalt zu festigen und seine Handlungsfähigkeit auszubauen. Der Zweck kommt ohne sie nicht aus, aber er gebietet, das Mittel so behutsam wie möglich und entschlossen wie nötig einzusetzen.
Krisenverstärker
Im Folgenden werden Faktoren diskutiert, die als Mitauslöser der EU-Krise gelten. Gemäß der eingangs vorgenommenen Klassifizierung handelt es sich nicht um Krisenursachen: Zum einen verblasst ihre Krisenträchtigkeit im Vergleich zu den analysierten exogenen und endogenen Krisenquellen, zum anderen könnte die Annahme, sie seien maßgebliche Mitauslöser der EU-Krise, Auswege suggerieren, die auf Irrwege führen. Deshalb werden sie hier – wenn überhaupt – als Krisenverstärker eingestuft.
Die selbstverständliche Union
In ihrer Karlspreis-Laudatio lobte Bundeskanzlerin Merkel den französischen Präsidenten für sein Gespür, dass »Selbstverständlichkeit das größte Risiko für die europäische Integration, für das europäische Modell darstellt. Vielleicht ist das auch deshalb so, weil es immer weniger Menschen gibt, die uns als Zeitzeugen von den Anfängen Europas berichten können, von dem notwendigen Mut und den notwendigen Kompromissen.«282
Das ist eine richtige Mahnung, jedoch nur eine mit begrenzter Wirkung. Richtig und notwendig ist die Erinnerung daran, dass das vereinte Europa keiner geschichtlichen Gesetzmäßigkeit folgt, sondern einer historischen Konstellation entsprungen ist und nur überleben kann, wenn es – wie eine Nation – vom fortwährenden Wunsch nach Gestaltung des Zusammenlebens getragen wird. Im Unterschied zu den Nationalstaaten ist dieser Wunsch jedoch auf europäischer Ebene wegen des sekundären Charakters der europäischen Identität geringer ausgeprägt. Das erhöht das Risiko, wenn die europäische Integration für durch und durch stabil gehalten wird: Was selbstverständlich ist, wird nicht mehr ausreichend wertgeschätzt, die Versuchung zu Trittbrettfahrerei nimmt zu, die Kompromissbereitschaft ab.
Inwieweit Entscheidungsträger sich davon haben (ver-)leiten und so die Krise eskalieren lassen, dürfte schwer zu bestimmen sein – zumal sie sich dessen nicht bewusst sein mussten. Aber dass der Erfolg der Integration eine solche Kehrseite haben kann, lässt sich nicht ausschließen.
Damit muss jedoch nicht nur die EU leben. Krastev macht darauf aufmerksam, »dass wir manches erst zu schätzen wissen, wenn es nicht mehr da ist«.283 Das kann selbst dann so sein, wenn es um viel geht. Allerdings soll es auch so sein. Denn wenn etwas nicht mehr hinterfragt wird, hat es einen Grad an Stabilität und Legitimität (jedenfalls in einem Verbund von Demokratien) erreicht, der seine Existenz absichert. Das ist mit Blick auf die EU, wie sich gezeigt hat, nur noch bedingt der Fall.
Aus dieser Ambivalenz gibt es kein Entkommen. Wenn die EU-Friedensgemeinschaft besonders für die jüngeren Generationen als selbstverständlich gilt, bezeugt das ihren Erfolg. Sie infrage zu stellen und ihre Brüchigkeit zu beschwören, um die Zustimmung zu und den Zusammenhalt in Europa zu mehren, wäre deshalb töricht und selbstschädigend. Daran zu erinnern, dass der Friede nicht dauerhaft erreicht wird, sondern immer wieder neu zu stiften ist, bleibt gleichwohl richtig. Nur kann und soll es der EU nur begrenzt helfen, weil das impliziert, dass die Friedensgemeinschaft selbstverständlich und also stabil ist.
Die unbedrängte Union
Den Gründungszweck der Nordatlantischen Vertragsorganisation (Nato) hat Lord Ismay, ihr erster Generalsekretär, auf die Trias verdichtet: »die Sowjetunion draußen, die Amerikaner drinnen und die Deutschen unten halten«.284 In modifizierter Form findet sich diese Motivlage auch bei der Ingangsetzung des europäischen Integrationsprozesses. War die Nato das militärische Bollwerk gegen den Sowjetkommunismus, so gehörte die (west-)europäische Vereinigung zum demokratisch-(markt-)wirtschaftlichen Gegenmodell des »Westens«, dessen Überlegenheit Moskau-orientierte Kräfte in Westeuropa einhegte und die Implosion des Kommunismus mit herbeiführte. Die US-Amerikaner beteiligten sich zwar nicht am europäischen Integrationsprozess, aber Ismays Aussage war weniger organisatorisch als politisch gemeint: Die USA sollten, anders als nach dem Ersten Weltkrieg, in und für (West-)Europa engagiert bleiben. Was sie nicht nur taten, indem sie Westeuropa unter ihren militärischen Schutzschirm nahmen; sie wurden zu einem externen Paten, der (West-)Europa Sicherheit bot und seine Vereinigung politisch sowie wirtschaftlich – durch den Marshall-Plan – förderte. Diese Rolle hatte längere Zeit auch einen spezifisch deutschen Bezug: Sicherheit für Europa hieß zugleich Sicherheit vor Deutschland, indem man es in die Nato und ein supranationalisiertes (West-)Europa einband.
Vor diesem Hintergrund wird die EU-Krise auch damit erklärt, dass die EU, mittlerweile unbedrängt durch solche Herausforderungen, an Bindekraft verloren habe: »Ganz offenbar hat das Ende des Kalten Krieges der Integration Europas wichtige Elemente der Sinnstiftung geraubt.«285 Das ist unbestreitbar. Die Frage ist, wie sehr es der EU zu schaffen macht.
Der Wegfall der Ost-West-Konfrontation und die Aufhebung der Teilung Europas waren ein Glücksfall für Frieden und Freiheit, Wohlstand und Selbstbestimmung in ganz Europa. Eine EU, die nur im Schatten von politischer Unfreiheit und wirtschaftlicher Rückständigkeit gedeihen könnte, würde ihr Wertefundament infrage stellen und schwebte in ständiger Gefahr, einen Verlust ihres Antipoden nicht zu überleben.
Dem widerspricht nicht der Umstand, dass die EU von Beginn an auch ein Projekt zur Selbstbehauptung nicht nur mit anderen, sondern auch gegen andere war (einschließlich des amerikanischen »Beschützers«). Das geeinte Europa ist ein Machtmultiplikator (»force multiplier«), es verleiht seinen Mitgliedstaaten kollektiven Einfluss auf andere, den sie individuell oder durch selektive Ad-hoc-Kooperation nicht hätten. Von diesen anderen, seien es staatliche oder nichtstaatliche Akteure, wird Europa herausgefordert, seine Interessen und Werte wo möglich mit ihnen und wo nötig gegen sie zu vertreten. Hinzu kommen akteurunspezifische Bedrängnisse wie der Klimawandel und der Migrationsdruck. Sie einzudämmen kann nur im europäischen Verbund gelingen.
Schon vor Präsident Trump haben die USA ihre europäischen Partner spüren lassen, dass sie die transatlantische Lasten- und Risikoverteilung als unausgewogen empfinden und sich stärker auf Asien und insbesondere China ausrichten. Auch wenn eine Nachfolgerin oder ein Nachfolger weniger rücksichtslos agieren mag – auf die USA als einen (wieder) »gütigen Hegemon« kann sich Europa nicht verlassen. Es muss sich stattdessen stärker auf sich selbst verlassen, also autonomer werden, wenn es die Partnerschaft mit der weiterhin unentbehrlichen Weltmacht bewahren (»die Amerikaner drinnen halten«) und darin seine Interessen und Werte geltend machen will.
Für »Sicherheit vor Deutschland« werden die USA allerdings nicht mehr gebraucht. Die Deutschen müssen nicht mehr durch eine US-dominierte Nato »unten gehalten« werden: Sie haben eine gefestigte Demokratie aufgebaut und sind in jahrzehntelanger Bewährung zu einem verlässlichen und vertrauenswürdigen Partner geworden. Die »deutsche Frage« im herkömmlichen Verständnis stellt sich nicht mehr.286 Was sich stellt, ist die nicht nur deutsche Frage, wie nationale Machtunterschiede und Interessenkonflikte innerhalb Europas in kooperative statt konfrontative Bahnen gelenkt werden können. Die bewährte Antwort darauf ist und bleibt die europäische Integration.
Die EU-Krise mit nachlassenden oder entfallenen Bedrängnissen zu erklären ist deshalb nicht stichhaltig. Vielmehr ist der Befund, dass die europäische Vereinigung einige ihrer Ursprungsimpulse »überlebt« hat, ein weiterer Beleg für ihren Erfolg.
Die orientierungslose Union
»Die Unbestimmtheit der Zielvorstellungen von den Römischen Verträgen bis heute beziehungsweise das Nebeneinander konkreter Vorstellungen mag neben anderen Ursachenfaktoren einer der Gründe für die heutigen Probleme der Europäischen Union sein.«287 Dieser Satz von Gabriele Clemens stimmt in zweifacher Hinsicht. Die faktische Unbestimmtheit kommt in der Präambel des Lissabon-Vertrages zum Ausdruck. Dort geben sich die Unterzeichnerstaaten »entschlossen, den Prozess der Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas […] weiterzuführen«. Wohin dieser Prozess führen soll, wird offengelassen. Es musste offengelassen werden, weil die Mitgliedstaaten sich auf sein Ziel, die sogenannte Finalität, nicht einigen konnten und weiterhin nicht können. Wäre das möglich, und darin liegt der zweite zutreffende Aspekt der zitierten Aussage, könnte es die EU krisenfester machen: Ein Konsens darüber, wohin die Integrationsreise gehen soll, fördert die Bereitschaft, sich auf die Reise einzulassen und dazu beizutragen, das gemeinsame Ziel zu erreichen.288 »Quo vadis Europa« – die Unzahl an Büchern und Artikeln, Tagungen und Reden zu diesem Thema zeugt von der unablässigen Suche nach einer konsensualen Finalität und der Sorge, dass die EU ohne sie nicht auskommen könne.
Eng verknüpft damit ist die Suche nach einem Narrativ, der »großen Erzählung von Europa, die den Verstand überzeugt und das Gemüt ergreift und in der sich das Gros der Unionsbürger wiederfindet«.289 Eine ehemalige Bundesverfassungsrichterin hat dieses Ansinnen in Bausch und Bogen zurückgewiesen: »Von der Suche nach einem Narrativ für die EU sollte man ablassen.«290 Ihre »Beweisführung« anhand von fünf Narrativangeboten unterstützt einen solchen Schluss jedoch nicht. Von einer solchen Suche kann und sollte man auch nicht ablassen: Wie jedes politische Projekt braucht auch die europäische Integration eine Begründung, die Loyalität und Legitimität verleiht. Die Europäische Union hat daran noch größeren Bedarf als die sie konstituierenden Nationalstaaten, deren Identität und damit Stabilität tiefere Wurzeln hat als die europäische Einigung.
Gäbe es die »große Erzählung«, hätte sie geholfen zu verhindern, dass Europa an den Rand des Zerfalls geriet, und sie hätte dazu beitragen können, dass Europa aus seiner Dauerkrise kommt. Insofern könnte das Fehlen von Orientierung durch eine einvernehmliche Finalität oder ein einnehmendes Narrativ wenn nicht krisenverursachend, so doch krisenverschärfend gewirkt haben.
Dem lässt sich schwerlich widersprechen. Ein höheres Maß an derartiger Orientierung würde für mehr Zusammenhalt und Zusammenwirken sorgen. Das zu leisten ist vor allem eine politische Führungsaufgabe, wahrzunehmen von EU-Organen wie der Kommission und dem Europäischen Parlament, vor allem aber von den nationalen Regierungen und Parlamenten gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern. Eine einigende Finalität oder ein abgestimmtes Narrativ könnten diese Aufgabe erleichtern, aber nicht ersetzen, denn Europas Vielfalt erfordert Narrative, die nationale Besonderheiten berücksichtigen und auch emotional ansprechen. Ein nachhaltigeres und enthusiastischeres Bekenntnis zu Europa wäre gerade in der Krise vonnöten.
Das lässt sich leichter einfordern als politisch umsetzen. Besonders in der Krise, wenn die finanziellen und politischen Spielräume für Solidarität und Kompromiss enger werden. Aber gerade dann muss sich politische Führung beweisen und aufzeigen, wie Europa seinen Bürgerinnen und Bürgern nützt. Doch nicht nur die politische Führung. Gefordert sind auch andere Teile der Elite, insbesondere die Wirtschaft. Ein demokratisch stabiles Europa mit einem offenen Binnenmarkt und einem einheitlichen und deshalb einflussreichen Auftreten zur Gestaltung internationaler Handels- und Wettbewerbsbedingungen liegt im essentiellen Interesse europäischer Unternehmen. Gemessen daran ist das öffentliche Eintreten auch der deutschen wirtschaftlichen Elite für Europa ungenügend.291
An weiterhin überzeugenden Gründen für ein vereintes Europa mangelt es jedenfalls nicht. Manche, wie das Friedensmotiv, sind glücklicherweise zur Selbstverständlichkeit oder, wie »Sicherheit vor Deutschland«, obsolet geworden. Andere wie das Selbstbehauptungsmotiv bleiben in neuer Form aktuell, weil die alten Bedrängnisse durch andere abgelöst worden sind. Hinzu kommen Sicherheit, Wohlstand und Demokratie als Kernmotive der Integration. Und auch das: Europa als eine »Macht des Guten« in der Welt. Dafür spricht zum einen seine bloße Existenz: Das vereinte Europa demonstriert, dass Krieg und Feindschaft überwindbar sind und dass ein institutionalisiertes Zusammenwirken das Wohlergehen aller fördern kann. Zum anderen wirkt es als ein Akteur, der seine kollektive Macht für eine nachhaltige und kooperative Weltordnung einsetzt. Nicht allzeit konsequent und konsistent, aber darauf zu vertrauen, dass andere ohne Europa dafür sorgen, wäre fahrlässig.
Wenn die EU gleichwohl in eine tiefe Krise geraten ist, hat das exogene und endogene Ursachen, die wirkmächtiger sind als fehlende Finalität und Narrative. Denn beide können nicht wettmachen, was der Union an Rückhalt verlorengeht, wenn ihr Mehrwert, »das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern« (Art. 3, Abs. 1 EUV), von den Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern nicht erkannt und anerkannt wird.
Das macht europäische Narrative nicht überflüssig. Im Gegenteil: Sie sind unverzichtbar. Sie sollen Verstand und Herz ansprechen, indem sie erklären und ergreifen. Das können und sollen Politiker allein nicht leisten. Engagement für Europa kann nicht delegiert werden, sondern geht jeden Unionsbürger an. Gleichwohl haben diejenigen eine besondere Verantwortung und Möglichkeit, für Europa zu werben und zu begeistern, deren Stimme in der Öffentlichkeit besonders gehört wird – sei es per medialer, intellektueller oder künstlerischer Prominenz. Dafür muss und sollte Europa nicht überfrachtet werden. Habermas sieht »ein neues überzeugendes Narrativ« für die EU darin, sie »als entscheidende[n] Schritt auf dem Weg zu einer politisch verfassten Weltgesellschaft [zu] begreifen«.292 Für Schmale liegt »der Zweck der europäischen Einheit im 21. Jahrhundert in der Verteidigung und der Entwicklung der globalen Zivilisation.«293 Das mögen attraktive Utopien sein, ihr für Europa einnehmender und mobilisierender Wert ist jedoch begrenzt.
Die missbrauchte Union
»Wir müssen damit aufhören, uns in den Mitgliedstaaten immer nur selber zu gratulieren, wenn etwas gut läuft, und, wenn wir aber in den Mitgliedstaaten Schwierigkeiten haben, als erstes mit dem Finger auf Brüssel zu zeigen und zu sagen: Brüssel ist schuld.«294 Mit dem »Wir« hat sich die Bundeskanzlerin nicht ausgeschlossen von der Versuchung, die EU als Blitzableiter für Unangenehmes zu missbrauchen.
Ihr wird vielerorts und von vielen immer wieder nachgegeben. Die Kommission beklagt zu Recht, die mangelnde Eigenverantwortung für gemeinsame Beschlüsse habe »bereits Schaden angerichtet. Und die Bürgerinnen und Bürger sind gegen diese offenkundigen Bilder der Uneinigkeit nicht immun.«295 Für Populisten war es Wasser auf ihre Mühlen.296
»Brüssel als Sündenbock« hat die Krise der EU nicht hervorgerufen, aber es hat ihren Ausbruch begünstigt sowie ihre Dauer und Intensität verstärkt. Die Verantwortung dafür liegt zuallererst bei den politischen Führungen der Mitgliedstaaten unter Einschluss der Opposition. Eine Teilverantwortung tragen aber auch Medien, die sich auf Negatives kaprizieren und den Anteil der Mitgliedstaaten daran unterbelichten.
Solchen Reflexen liefert Europa nicht selten unwiderstehliche Nahrung. Bananen- und Gurkenkrümmungen sind dankbar ausgeschlachtete, verglichen mit Dauerkrise und Uneinigkeit jedoch harmlose Beispiele. Europa ist seit fast zehn Jahren zu sehr mit Krise, Drangsal (insbesondere in der Eurozone) und Streit statt mit Fortschritt, Aufschwung und Vertrauen assoziiert worden. Das war nicht fabriziert, sondern reflektiert eine bittere Realität. Umso schädlicher, weil krisenverstärkend war es, Versagen zu Hause oder das Mitversagen auf europäischer Ebene auf ein anonymes Brüssel und seine »Eurokraten« zu schieben.
Die krisengeplagte Union
»Nichts ist so erfolgreich wie der Erfolg.« Das gilt auch umgekehrt: Ständiger Misserfolg wird zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung, wenn das Zutrauen in eine Besserung schwindet.
Das könnte auf die europäische Krise zutreffen. Eine Krise strapaziert das Vertrauen der EU-Partner in die Bereitschaft aller, national verantwortlich und europäisch solidarisch zu handeln. Das gilt umso mehr, wenn sie tief ist, anhält und immer wieder Rückschläge auftreten. In diesem Sinne hat die EU-Dauerkrise sich selbst genährt und damit autogen krisenverschärfend gewirkt.
Empfehlungen für die deutsche Europapolitik
Europa hat die schwerste Krise seiner mehr als sechzigjährigen Geschichte überlebt. Ein Zerfall wie zu den Höhepunkten von Euro- und Flüchtlingskrise stellt Anfang 2019 zwar keine akute Bedrohung dar. Ausgestanden ist die Krise aber noch nicht, und selbst ihre erneute Eskalation in ein existentielles »Gefährdetsein« erscheint möglich. Die Bilanz im zehnten Krisenjahr nach dem Ausbruch der »Great Recession«, der auf den Zusammenbruch der Investment-Bank Lehman Brothers im September 2008 datiert, fällt deshalb ambivalent aus.
Auf der Habenseite steht nicht nur, dass ein Kollaps abgewendet werden konnte. Wachstum und Beschäftigung haben zugenommen; in der Eurozone befindet sich kein Land mehr unter einem Rettungsschirm, ihre Architektur ist robuster geworden, die Euromitglieder wie auch die EZB haben erfolgreich ihre Entschlossenheit demonstriert, die Währungsunion zu bewahren; der Migrationsdruck hat nachgelassen, schärft aber weiterhin das Bewusstsein dafür, dass diese Herausforderung nur europäisch-gemeinsam zu bewältigen ist; Europa zeigt Geschlossenheit im Angesicht des Brexits, bietet Präsident Trump in der Handels-, Klima- und Iranpolitik die Stirn, dem russischen Präsidenten Putin in der Krim- und Ukraine-Frage; in einem Schlüsselland wie Frankreich hat ein Präsident mit einer dezidiert pro-europäischen Agenda gegen anti-europäische Populisten gewonnen; die Eurobarometer-Umfragen zeigen, dass die Zustimmung zur EU und zum Euro sich auf hohem Niveau stabilisiert hat.
Auf der Sollseite findet sich jedoch eine lange Liste von krisenträchtigen Herausforderungen und Schwachstellen: der Einbruch des Jahres 2008 hat tiefe wirtschaftliche und soziale Verwerfungen in Form von Arbeitslosigkeit (insbesondere bei jungen Menschen), Verarmung und Verschuldung hinterlassen; die Eurozone hängt noch immer am EZB-Tropf von Niedrigzinsen und Anleihekäufen, die Divergenz ihrer Volkswirtschaften ist weiterhin hoch; durch den Brexit gerät das Verhältnis zwischen Großbritannien und der EU in schweres Fahrwasser; EU-skeptische oder gar ‑feindliche Parteien könnten im nächsten, durch die Wahlen im Mai bestimmten Europäischen Parlament erheblich stärker vertreten sein; eskalierende Handelskonflikte (USA–Europa, USA–China) könnten eine ohnehin sich vollziehende Abschwächung des Wachstums der Weltwirtschaft beschleunigen; der globalisierte Kapitalismus samt Digitalisierung, Künstlicher Intelligenz und »Big Data«-Macht, in dem sich China neben den USA als zweites Kraftzentrum etabliert, stellt das europäische Modell aus Wettbewerbsfähigkeit und Teilhabe auf eine Bewährungsprobe; effektive und solidarische Antworten auf die Regelung von Migration und Flucht stehen aus; nationalistische Kräfte stellen das demokratische Fundament der EU infrage; die transatlantische Entfremdung durch einen irrlichternden US-Präsidenten verschärft die Risiken weltpolitischer Umbrüche im Zuge des Aufstiegs eines autoritären Chinas und eines Russlands, dessen aggressives Auftreten im Unterschied zu China weniger Stärke als wirtschaftlich-technologischer Schwäche geschuldet ist.
Haben- und Sollseiten verweisen auf das Doppelgesicht der europäischen Krise: Europas Bindekräfte waren stark genug, seinen Zerfall abzuwenden, aber nicht stark genug, um zu verhindern, dass es überhaupt so weit kommen konnte. Europa stand, auch nach Einschätzung maßgeblicher Akteure, in den letzten Jahren nicht nur einmal auf der Kippe – und das, obgleich nationale Interessen und globale Herausforderungen, europäische Identität und Bindungen »eigentlich« nur einen einzigen Schluss zulassen: Gäbe es Europas Union nicht schon, sie müsste noch heute geschaffen werden.
Das macht Europas Banalität des Guten aus. Nicht nur, aber gerade für Deutschland. Die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland ist auf eine besondere Weise verknüpft mit dem europäischen Integrationsprozess: Das besiegte und besetzte Deutschland ist durch Integration souverän, demokratisch, wohlhabend und vertrauenswürdig geworden. Zunächst galt das nur für seinen westlichen Teil durch die Aufnahme in die Nato und die Vorläufer der EU. Als die Mauer fiel, hat die »Verwestlichung« und europäische Verankerung der Bundesrepublik die Wiedervereinigung maßgeblich beschleunigt und erleichtert.
Das heutige Deutschland hätte es ohne diese Integration nicht gegeben. Das gilt unverändert. Deutschlands nachbarschaftlicher Frieden und demokratische Stabilität, seine Prosperität und Sicherheit, sein Ansehen und seine Macht sind nach wie vor untrennbar mit der europäischen Integration verbunden. Geschichte und Gewicht Deutschlands lassen sich zuverlässig und für seine Nachbarn verträglich am besten in einem größeren, integrativen Europa »aufheben«.
Das bedeutet: Wenn Europa scheitert, scheitert auch Deutschland. Damit ist nicht ein »Zurück in die Zukunft« nationalistischer Radikalisierung und Rivalitäten gemeint. Aber Deutschlands Wohlergehen wäre massiv gefährdet. Deshalb gilt:
■ Deutschland sollte massiv in Europa investieren
Deutschland muss das nicht tun, weil es am meisten auf die EU angewiesen ist oder am stärksten von ihr profitiert. Zum einen lässt sich das schwerlich nachweisen. Zum anderen gibt es für Europa viele, nicht in allen Ländern identische Motive, und Europa nützt nicht immer allen gleich. Aber erstens sollte Europa nicht auf ein Kosten-Nutzen-Kalkül reduziert werden, und zweitens kann es nur funktionieren, wenn alle an Europas Mehrwert teilhaben.
Deutschland sollte massiv in Europa investieren, weil es sich ein Scheitern Europas nicht leisten kann. Deutschland allein kann Europa nicht krisenfester und zukunftsfähiger machen, alle müssen nationale Verantwortung übernehmen und europäische Solidarität üben. Aber es ist heute das stärkste Land der EU, auf sein Engagement für ein strategisch autonomes Europa kommt es besonders an.297 Dafür müssen Kosten und Risiken eingegangen werden, nicht nur finanziell über einen EU- und Eurozonen-Haushalt, eine gemeinsame Einlagensicherung im Rahmen einer Bankenunion oder eine europäische Abstützung nationaler Arbeitslosenversicherung. Massiv in Europa investieren heißt politisch:
■ Deutschland muss Mitführung übernehmen
Deutschland kann kein Hegemon sein, aber kraft seiner Größe ist es in Europa ein unentbehrlicher Akteur. Der damit verbundenen Bürde kann nicht ausgewichen werden, die darin liegende Chance, Europa und seine weltpolitische Rolle maßgeblich mitzugestalten, sollte genutzt werden. Diese Mitführungsrolle hat drei Kernelemente:
(1) Selektive Mitführung geht nicht
So wie es kein »Europa à la carte« durch Rosinenpickerei geben kann, gibt es auch keine »Mitführung à la carte« durch halbherziges oder gar kein Engagement, wenn dieses zu riskant oder unpopulär erscheint. Das betrifft in erster Linie die deutsche Sicherheits- und Rüstungspolitik. Für eine auch von ihm gewollte Verteidigungsunion wird sich Deutschland bewegen und Unbequemes eingehen müssen. Den US-geführten Gegenschlag als Reaktion auf einen syrischen Chemiewaffeneinsatz im April 2018 hat die Bundesregierung als »erforderlich und angemessen« eingestuft, eine deutsche Beteiligung trotzdem nicht angeboten. Eine solche Inkonsistenz macht Deutschland partnerschaftsunfähig. Das gilt auch für transnationale Rüstungsprojekte wie einen von Frankreich und Deutschland geplanten gemeinsamen Kampfjet, sollte Deutschland kategorisch auf seinen Rüstungsexportrichtlinien bestehen. Mehr verteidigungspolitische Aktion und Integration (auch durch gemeinsame Fähigkeiten und Einheiten) wird zu rein deutschen Bedingungen nicht möglich sein, aber Deutschland kann es sich nicht leisten, in diesem Bereich auf Mitführung zu verzichten. Dies zu erklären und zu vertreten ist eine politische Führungsaufgabe in Deutschland.
(2) Mitführung durch Vorbildlichkeit
Es allen immer recht zu machen ist genauso unmöglich, wie fehlerfrei zu sein. Wer mitführend handelt, muss dies zuweilen robust und mit dem Risiko tun, falsch zu entscheiden. Umso mehr kommt es darauf an, den Interessen und Befindlichkeiten anderer gegenüber sensibel zu bleiben und nach Maßgabe des Kategorischen Imperativs zu führen. Die deutsche Energiewende nach Fukushima 2011 oder die Nord-Stream-2-Gasleitung mögen im legitimen deutschen Interesse liegen; wenn sie auch im europäischen Interesse sein sollen, kann das nicht nur behauptet, sondern muss mit den europäischen Partnern besprochen werden. Nicht mit der Pflicht zum Konsens, aber mit dem Willen zur rechtzeitigen Konsultation und offenen Diskussion.
(3) Frankreich als Schlüsselpartner
Wenn in Europa, wie in der Eurokrise geschehen, zu viel an Deutschland hängt, ist das weder gut für Deutschland noch für Europa. Deutschland kann und will nicht allein führen, es kann nur mit-führen. Der wichtigste Partner dafür ist Frankreich. Kein aktuelles und kein in der Zukunft denkbares größeres Projekt in Europa kommen ohne beide Länder aus. Zusammen haben Deutschland und Frankreich ein Gewicht, das sensibel eingesetzt werden muss. Aber nur mit einem starken Frankreich, das Europa wieder in eine innere Machtbalance bringt, und nur mit einem deutsch-französischen Tandem kann Europa gedeihen.
Dafür müssen Deutschland und Frankreich, so wie sie es sich im »Aachener Vertrag« vom 22. Januar 2019 vorgenommen haben, auch bilateral vorangehen. Sie können dies im Rahmen der EU-Verträge, indem sie durch Vorbild führen: zum Beispiel durch den anvisierten »deutsch-französischen Wirtschaftsraum mit gemeinsamen Regeln«, in dessen Rahmen auch gemeinsame Staatsanleihen als Vorläufer kollektiver Euro-Anleihen aufgelegt werden könnten; durch einen in Bundeskanzleramt und Élysée verankerten deutsch-französischen »Strategierat« zur Steuerung und Förderung ihres bilateralen Zusammenrückens sowie durch eine vertiefte Integration von Streitkräften und den Einsatz gemeinsamer Verbände.
Vor allem Letzteres wird Deutschland auch unbequeme Entscheidungen abverlangen: bei Verteidigungsausgaben, Rüstungsexporten und der Rolle des Militärs in strategischer Außen- und Sicherheitspolitik.
Dem sollte aus zwei Gründen nicht ausgewichen werden. Europäische Autonomie und eine symmetrische transatlantische Partnerschaft erfordern erstens ein Europa, das auch militärisch zu eigenständigem Handeln auf der Grundlage selbstdefinierter Interessen und Bedrohungseinschätzungen in der Lage ist. Aus deutscher Sicht liegt darin zweitens auch eine sicherheitspolitische Rückversicherung: Je weniger verlässlich ein zu erträglichen Bedingungen zu erlangender Beistand der USA wird, desto mehr wächst die Bedeutung eines Partners, dessen Sicherheitsinteressen, wie es im Aachener Vertrag heißt, »untrennbar« mit jenen Deutschlands verbunden sind. Dieses »untrennbar« durch ein breit angelegtes Zusammenrücken und Zusammenwachsen der deutsch-französischen Nachbarn zu unterlegen, ist deshalb nicht zuletzt im sicherheitspolitischen Kerninteresse Deutschlands.298
Abkürzungen
AEUV |
Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union |
BIP |
Bruttoinlandsprodukt |
BMF |
Bundesministerium der Finanzen |
BVerfG |
Bundesverfassungsgericht |
BVerfGE |
Bundesverfassungsgerichtsentscheidung |
COSAC |
Conférence des Organes Parlementaires Spécialisés dans les Affaires de l’Union des Parlements de l’Union Européenne |
EP |
Europäisches Parlament |
ER |
Europäischer Rat |
ESM |
Europäischer Stabilitätsmechanismus |
EU |
Europäische Union |
EuGH |
Europäischer Gerichtshof |
EUV |
EU-Vertrag |
EWF |
Europäischer Währungsfonds |
EWG |
Europäische Wirtschaftsgemeinschaft |
EZB |
Europäische Zentralbank |
FAZ |
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FT |
Financial Times |
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International Monetary Fund |