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Die politischen Kosten europäischer Migrationspolitik in Libyen

Konsolidierung des Internierungssystems, Aufwertung von Gewaltakteuren, Ablehnung durch die libysche Öffentlichkeit

SWP-Aktuell 2025/A 41, 17.09.2025

doi:10.18449/2025A41

Forschungsgebiete

Gemeinsam mit Italien und Griechenland versucht die EU-Kommission, irreguläre Ankünfte von Migranten über Libyen zu reduzieren. Diese Bemühungen kommen zu einem Zeitpunkt, an dem mehrere Komponenten der EU-Migrationspolitik in Libyen als gescheitert gelten müssen. Das gilt besonders für Versuche, die Zustände in den Internierungszentren zu mildern sowie die Lage von Arbeitsmigranten und Geflüch­te­ten im Land insgesamt zu verbessern. Welche Widerstände die europäische Migra­tionspolitik hervorruft, zeigte zuletzt eine Kampagne der libyschen Behörden gegen vermeintliche Bestrebungen der EU, Migranten auf Dauer im Land anzusiedeln. Was bleibt, ist der harte Kern europäischer Politik: Vereinbarungen mit Gewalt­akteuren, um Überfahrten zu verhindern, sowie die Unterstützung für Abfangoperationen auf See und Rückführungen in Herkunftsländer. Diese EU-Politik ist untrennbar mit dem libyschen System willkürlicher Internierung verknüpft, das kriminellen Interessen dient. Europäische Versuche, sich von diesem System zu distanzieren, sind unglaubwürdig und stehen einer Bewertung der politischen Kosten im Wege.

Der moderate Anstieg irregulärer Ankünfte über Libyen in die EU war in den letzten zwei Jahren Anlass für eine rege euro­päi­sche Reisediplomatie, die sich im Som­mer 2025 noch intensivierte. Zwar sind irre­guläre Ankünfte auf anderen Migrationsrouten in die EU in der ersten Hälfte 2025 zurück­gegangen. Doch ein plötzlicher An­stieg der Ankünfte aus Ostlibyen in Kreta sorgte für Beunruhi­gung in Griechenland und bewegte EU-Kom­missionspräsidentin Ursula von der Leyen dazu, den Kommissar für Inneres und Migra­tion Magnus Brunner mit Besuchen in Tripolis und Bengasi zu beauftragen. Im Juli traf Brunner gemeinsam mit griechischen, italienischen und maltesischen Ministern Mitglieder der international an­erkannten Regierung in Tripolis, um här­tere Maßnahmen zur Ver­hinderung von Überfahrten zu fordern – ohne Ergebnis. Die anschließende Visite in Bengasi musste abgebrochen werden. Der faktische Herr­scher der Region, Khalifa Haftar, machte ein offizielles Zusammentreffen der Delega­tion mit seiner – inter­national nicht an­erkannten – Regierung zur Bedingung für eine Audienz. Das lehnte die europäische Delegation ab und musste daraufhin wieder abreisen. Griechenland hat seither Aus­bildungshilfe für Haftar in die Wege gelei­tet und folgt darin dem Bei­spiel Italiens. Die Bereitschaft, Haftar entgegenzukommen, geht aber noch weiter. Ende Juli fing die EU-Marineoperation Irini auf dem Mittel­meer ein Containerschiff ab, das gepanzerte Fahrzeuge nach Bengasi bringen sollte, wie sich bei der Inspektion in einem griechischen Hafen zeigte. Ob­gleich es sich um eine klare Verletzung des Waffen­embargos der Vereinten Nationen (VN) handelte, setz­te die griechische Regierung durch, dass das Schiff seinen Weg nach Libyen fortsetzen konnte. Offenbar befürchtete sie, mit einer Be­schlag­nahme ihre Bemühungen um Migra­tionskooperation zunichte zu machen. Indes gehen die Überfahrten von Ostlibyen nach Kreta weiter, obwohl Haftars Kräfte in der Lage wären, sie zu verhindern.

Diese Kette von Ereignissen gibt Aufschluss über den Stand europäischer Migra­tionspolitik in Libyen. Die schon seit 2017 bestehende Kooperation der EU mit Libyen im Migrationsbereich funktioniert auch an den Ankunftszahlen gemessen immer schlechter. Trotzdem setzen die Europäer jetzt noch verstärkt auf ihre bisherige Stra­tegie, mit Gewaltakteuren wie Haftar und westlibyschen Milizenführern zu kooperieren, um Überfahrten zu verhindern. Damit machen sie sich von Akteuren abhängig, die immer weitreichendere Forderungen stellen. Dass eine relativ geringe Zahl von An­künften in Kreta – nämlich 7.336 in der ersten Hälfte 2025 – eine der­art alar­mierte europäische Reaktion verur­sacht, dürfte Akteure wie Haftar ermutigen, den Preis für ihre Kooperation in die Höhe zu treiben.

Die neuerlichen europäischen Bemühun­gen um Eindämmung der Transit­migration über Libyen bieten Anlass, Funk­tionsweise und Resultate der euro­päischen Migrations­politik im Land zu ana­lysieren. Denn neben den wachsenden For­derungen Haftars gibt es weitere Anzeichen dafür, dass diese Poli­tik an ihre Grenzen gerät. Wenngleich ein Richtungswechsel äußerst unwahrscheinlich ist, da es an alternativen Ansätzen zur Reduzierung der Ankünfte fehlt, tut eine realistische Einschät­zung der politischen Kosten not.

Kooperation mit Gewaltakteuren

Die von Italien angeführte EU-Migrations­kooperation mit Libyen umfasst eine Reihe unterschiedlicher Maßnahmen sowohl Italiens als auch der EU sowie von dieser finanzierte Aktivitäten internationaler Orga­nisationen, deren Wirkungen sich gegen­seitig ergänzen. Ziel ist es, die Zahlen der Menschen, die von Libyen aus über das Mit­telmeer irregulär in die EU kommen, mög­lichst gering zu halten.

Die bekannteste dieser Maßnahmen ist die italienische und europäische Unterstützung für Abfang- und Rettungsoperationen der libyschen Küstenwache. Italien und die EU haben diese mit Dutzenden von Booten und Schiffen aus­gestattet, übernehmen deren Instandsetzung und bilden Angehöri­ge der Küsten­wache aus. Mit europäischer Unterstützung wurde Ende 2017 eine liby­sche Such- und Rettungsregion mit einem Maritime Rescue Coordination Centre (MRCC) in Tripolis eingerichtet. Seither leiten die ita­lienischen und maltesischen Behörden und die EU-Grenz­schutzagentur Frontex – sowie bis 2020 auch die damals aktive EU-Marine­operation Sophia – Koordinaten von Booten vorrangig an das libysche MRCC und die libysche Küs­tenwache weiter, um so Abfang- und Rettungsoperationen zu koordinieren.

Anschließend überstellt die die Küstenwache die von ihr abgefangenen Menschen an Ein­heiten des Department for Countering Illegal Migration (DCIM). Diese Abteilung des In­nen­ministeriums hält die Menschen in Internierungszentren fest, wo sie systematischen Misshandlungen, Folter, Vergewaltigungen, Erpressung und Zwangsarbeit sowie oft katastrophalen hygie­nischen Bedingungen aus­gesetzt sind. Die Internierung ist willkürlich, da es keine Rechtsmittel gegen sie gibt. Zwischen Geflüchteten und ande­ren Migranten wird nicht unterschieden, denn Libyen hat kein Asylsystem und hat die Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet. Auch schwangere Frauen sowie Kinder aller Altersgruppen werden unterschiedslos interniert. DCIM-Einheiten sind meist eng mit einzelnen Milizen ver­knüpft, denen Internierungszentren als Einnahmequelle dienen. Die Geschäfts­modelle reichen von der Unterschlagung der staatlichen Mittel für den Betrieb der Zentren hin zur Freilassung der Gefangenen gegen Bezahlung sowie ihrer Ausbeutung durch Zwangsarbeit oder Zwangsprostitu­tion. In ihrem Abschluss­bericht von 2023 fand die vom VN-Menschenrechtsrat ein­gesetzte Unabhängige Ermittlungskommission für Libyen Grund zur Annahme, dass die systematischen Misshandlungen in staat­lichen Internierungszentren Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellten, zu denen die EU mit ihrer Unterstützung für Abfangoperationen Beihilfe leiste.

Die Unterstützung für die Küstenwache hat es wahrscheinlicher gemacht, dass Migranten bei der Überfahrt abgefangen werden. Hinzu kommen europäische und italienische Maßnahmen, die das Risiko erhöhen, dabei zu ertrinken. Italien hat seit 2018 immer wieder rechtliche Schritte unter­nommen, um private Seenotrettung im Mittelmeer zu erschweren oder zu ver­hindern. Deutschland stellte 2025 die finan­zielle Unterstützung für solche Rettungsoperationen ein. Auf europäischer Ebene wurden die Patrouillen der EU-Marine­operation Sophia 2019 beendet und die Nachfolgeoperation Irini seit 2020 nicht mehr mit der Seenotrettung beauftragt. Das Operationsgebiet von Irini wurde vor die ostlibysche Küste verlegt, damals weitab aller Migrationsrouten. Zudem wird regel­mäßig geprüft, ob ihre Schiffe – wie von manchen behauptet – einen »pull-effect« auf Migration ausüben könnten und das Operationsgebiet entsprechend angepasst werden sollte. Solche Schritte werden damit gerechtfertigt, dass sie dazu beitrügen, die Überfahrten insgesamt und dadurch auch die Zahl der Toten zu verringern. Eine plau­siblere Erklärung ist die Absicht, durch ein höheres Todesrisiko Migranten von der Über­fahrt abzuschrecken. Dieses Risiko ist infolge solcher Maßnahmen stark gestiegen. Gemessen an den versuchten Überfahrten wuchs der Anteil der Toten auf der zen­tra­len Mittelmeerroute zwischen 2017 und 2019 von zwei auf 4,8 Prozent. In abso­luten Zahlen bleibt das zentrale Mittelmeer die weltweit tödlichste Migrationsroute.

Ohne begleitende Maßnahmen an Land hätten jene auf dem Meer jedoch kaum den dann eingetretenen Effekt erzielt. Im Juli 2017 brach die Zahl der Ankünfte aus Libyen abrupt ein und blieb bis 2021 auf niedrigem Niveau (siehe Grafik). Die Ab­fangoperatio­nen der libyschen Küsten­wache waren bei weitem nicht der wich­tig­s­te Grund für diese Entwicklung. Viel­mehr gingen bewaffnete Gruppen in westlibyschen Küstenstädten dazu über, Ab­fahrten zu verhindern. Aus­schlaggebend dafür war die Aussicht, den offiziellen Status als staatliche Sicherheitskräfte und dadurch Gelder zu erhalten sowie inter­nationalen Sanktionen und Strafverfolgung zu ent­gehen. Zusammen mit der damaligen Regie­rung in Tripolis nutzten italienische Regie­rungsvertreter diese Anreizstruktur gezielt gegenüber Anführern bewaffneter Grup­pen.

Die damals für bewaffnete Gruppen geschaffene Anreizstruktur besteht in ihren Grundzügen fort: Migrationsbekämpfung verspricht den Deckmantel staatlicher Legi­timität, internationale Kontakte sowie Mög­lichkeiten zur Selbstbereicherung durch die Ausbeutung von Migranten in Internierungszentren. Allerdings ändert sich dieses Kalkül unter dem stetigen Wandel der innerlibyschen Beziehungen sowie der Ver­handlungsposition libyscher Akteure gegenüber Europa. So hat eine Reihe von Konflikten mit der Regierung in Tripolis dazu geführt, dass bewaffnete Gruppen in westlibyschen Küstenstädten erneut ver­stärkt zur Fazilitation von Migra­tion über­gegangen sind – ein Grund dafür, dass die Ankunftszahlen seit 2022 wieder steigen. Viele Einheiten, deren Geschäftsmodell vor­wiegend darauf beruht, Migranten abzu­fangen und zu internieren, behal­ten einen Fuß im Migrantenschmuggel und verlagern je nach Bedarf den Schwerpunkt zwi­schen den beiden Märkten.

Grafik

Ähnliches gilt für die Entwicklung im von der Haftar-Familie kontrollierten Osten des Landes, der aufgrund seiner geographischen Lage bis 2021 nicht für Überfahrten genutzt wurde. Ab Mitte 2022 kamen plötz­lich tausende Menschen in Italien an, die per Flugzeug nach Ostlibyen gereist und von dort in großen Fischerbooten losgefahren waren – mit maßgeblicher Beteiligung der den Haftars unterstehenden Sicherheits­kräfte. Die italienische Regierung reagierte, indem sie Haftar im Mai 2023 offiziell in Rom empfing und ihm Kooperationsangebote machte. Zugleich drohte ihm negative internationale Aufmerksamkeit nach der Katastrophe von Pylos, bei der im Juni 2023 über 600 Menschen ums Leben kamen, nachdem ihr von Ostlibyen gestartetes Boot gesunken war. Von Juli 2023 an sank schlag­artig die Zahl der Überfahrten aus Ostlibyen nach Italien; 2024 blieb sie vernachlässigbar (siehe Grafik). Italien unterhält seither eine rege Militärkooperation mit Haftars Kräften. Der plötzliche Anstieg der An­künfte aus Ostlibyen in Kreta während der ersten Hälfte 2025 dürfte ebenfalls politisch moti­viert gewesen sein. Wie bereits beschrieben versuchte Haftar auch hier, seine Kontrolle über die Migrationsroute einzusetzen, um sich und seine Parallelregierung inter­natio­nal aufzuwerten.

Mit Blick auf die russische Militärpräsenz in Haftars Gebieten behauptet Italiens Re­gie­­rung schon seit einigen Jahren, hinter den Ankünften aus Libyen stünden gezielte russische Destabilisierungsversuche. Die Befürchtung, dass Russland die Migration über Libyen politisch instrumentalisieren könnte, wird mittlerweile auch in der EU-Kommission geäußert. Indizien für eine solche Instrumentalisierung gibt es bisher nicht. Dagegen ist offensichtlich, dass die Haftar-Familie selbst Migration als Druck­mittel einsetzt und ihre europäischen Gegenüber darauf eingehen.

Mehrgleisige Strategie mit toten Gleisen

Die EU versucht nicht nur Überfahrten zu verhindern, sondern auch Migranten, die sich in Libyen aufhalten, in ihre Herkunftsländer zurückzuführen. Das geschieht vor allem über das Programm »freiwillige huma­nitäre Rückkehr« der Internationalen Orga­nisation für Migration (IOM), das seit 2015 über 100.000 Menschen durchlaufen haben. Auch diese Komponente der EU-Migrationspolitik ist eng mit dem System der Internierungszentren verzahnt, denn je nach Zeitraum machten deren Insassen etwa 40 bis 50 Prozent der IOM-Rückkehrer aus. Von Freiwilligkeit konnte bei ihnen keine Rede sein, zumal sie nur so der Inter­nierung entkommen konnten. Im Umkehrschluss nützen die Internierungszentren dem Ziel der EU-Politik, Migranten zur Rück­kehr zu bewegen und so von der Über­fahrt abzubringen.

Offiziell lehnt die EU die libysche Praxis der willkürlichen Internierung von Migran­ten ab. Seit Beginn der Kooperation 2017 ist es erklärtes Ziel der EU-Politik, Alter­nativen zu diesem System zu schaffen und es zu überwinden. Die Versorgungslage und die hygienischen Zustände in den Internierungs­zentren zu verbessern ist eine zentra­le Kom­ponente europäischer Politik. Sie gilt aber lediglich als Not­lösung, bis es solche Alternativen gibt.

Hinsichtlich Alternativen zur Internierung gab es jedoch seit 2017 keinerlei Fort­schritte. Stattdessen konsolidierte sich das System der Internierung und sein Geflecht finanzieller Inter­essen immer weiter. Zuletzt stellte die Regie­rung in Tripolis der EU ein Vorhaben zur massiven Ausweitung von Internierung und Rückführung vor. Es er­scheint also gänzlich unrealistisch, das Internierungssystem zu überwinden. Daher sind die fort­laufenden Bemühungen um Milderung der Missstände in den Zentren zwiespältig zu bewerten. Aus humanitären Gesichts­punkten sind sie dringend nötig, um akutes Leid zu lindern – auch wenn sie an den struk­turellen Übeln in den Zentren kaum etwas geändert haben. Aus politischer Perspektive müssen sie mittlerweile eher als Versuch gesehen werden, die Fort­dauer dieses Systems für die europäische Öffentlichkeit akzeptabler zu machen. Dafür spricht auch, dass die europäischen Forderungen nach einem Ende der willkür­lichen Internierung in den letzten Jah­ren immer seltener und verhaltener wurden.

Der letzte Pfeiler europäischer Politik ist das Bestreben, die Arbeits- und Lebens­bedingungen von Migran­ten in Libyen ins­gesamt erträglicher zu machen. Dafür wurden seit 2016 umfangreiche Mittel auf­gewendet, etwa um die Versorgung mit Basisdienstleistungen auf Gemeindeebene zu verbessern – mit Schwerpunkt auf Städten entlang der Migrationsrouten. Dass die Projekte nicht nur der libyschen Bevöl­kerung, sondern auch Migranten zugutekommen und so deren Integration fördern sollen, wird den libyschen Projektpartnern gegenüber oft verschwiegen, um auf Sensi­bilitäten Rück­sicht zu nehmen. Hinzu kom­men Anstrengungen auf politischer Ebene, um die Arbeitsmigration wirksamer zu regulieren und Migranten so ein Maß an rechtlichem Schutz zu bieten. Denn Arbeits­migration nach Libyen und Transitmigration über Libyen nach Europa sind nicht klar von­einander zu trennen. Aus europäischer Per­spektive wäre es daher sinnvoll, Arbeits­migranten in Libyen sichere Perspektiven und Transitmigranten Anreize zum Bleiben zu bieten. Offiziell teilt die libysche Seite das Ziel der Regulierung von Arbeitsmigration und kündigt immer wieder Initiativen in diese Richtung an. Tatsächlich aber sind mit unregulierter Migration handfeste Inter­essen verbunden, denn sie erleichtert die Ausbeutung ausländischer Arbeits­kräfte. Folglich wurden auch in diesem Bereich keine nennenswerten Fortschritte erreicht. Diese Zielsetzung europäischer Politik muss ebenfalls als unrealistisch betrachtet wer­den. Das haben zuletzt auch heftige Reak­tio­nen auf die europäische Politik gezeigt.

Kampagnen und Verschwörungstheorien

Es waren eben jene europäischen Bemühun­gen um bessere Integration, die im Frühjahr 2025 in Libyen eine Kampagne gegen Migra­tion und die europäische Migra­tionspolitik auslösten. Anlass war ein Kom­muniqué, das ein Routinetreffen zwischen der IOM-Landesdirektorin und dem Minister für Lokalverwaltung betraf und dem zufolge es in dem Gespräch um (EU-finanzierte) Pro­jekte zum Schutz von Flüchtlingen und den Kapazitätsaufbau in Kommunen ging. In den sozia­len Medien wurde das Kommuniqué indes verzerrt und als Gespräch über die Integration von Migranten in den Kom­munen dargestellt. Daraufhin orchestrierten politische Gegner der Regierung in Tri­polis eine Medienkampagne gegen ein ver­meintliches gemeinsames Vorhaben der Regierung und der EU, Migranten fest in Libyen anzusiedeln und einzubürgern.

Die Regierung wies die Gerüchte über einen solchen Plan nicht etwa zurück, son­dern versuchte zu zeigen, dass sie selbst es sei, die Libyen vor derartigen dunklen aus­ländischen Machen­schaften schütze. Der Innenminister ließ willkürlich Arbeitsmigranten auf der Straße festnehmen und be­tonte zum wie­der­holten Male, Libyen werde niemals die Ansiedlung von Migranten ak­zeptieren. Auf diese Weise suggerierte er, dass es tat­säch­lich Akteure gebe, die dieses Ziel ver­folgen. Vor allem aber ließ der In­landsgeheimdienst die Büros internationa­ler Nicht­regierungsorganisationen schlie­ßen, die für UNHCR und UNICEF EU-finan­zierte Projekte zur Verbesserung der Lage von Migranten durchführten, und verhörte deren libysche Mitarbeiter. Im April 2025 beschuldigte der Inlandsgeheimdienst die Organisationen öffentlich, im Auftrag der EU den Plan einer »Ansiedlung von Migran­ten aus Subsahara-Afrika« voranzutreiben, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Libyen zu zerrütten. Die Arbeit der Orga­nisationen blieb monatelang suspendiert.

Obwohl derlei Anschuldigungen ab­wegig sind, müssen diese Kampagnen ernst genom­men werden. Zum einen ist nicht von der Hand zu weisen, dass es für die EU oberste Priorität hat, die Weiterfahrt von Migranten Rich­tung Europa zu verhindern. Hinzu kom­­men die europäischen Bemühun­gen, die Bleibebedingungen für Migranten in Libyen zu verbessern. Sieht man von der Finanzierung der Rückführungen ab, kann sich aus libyscher Perspektive durchaus das Bild ergeben, dass die EU-Politik die Zahl der Migranten im Land wachsen lässt.

Zum anderen sollten diese Ereignisse nicht als einmalige Überreaktion von Sicher­heitsorganen missverstanden werden. Denn sie beruhen auf einer Sichtweise, die in der libyschen Gesellschaft und bis in die Füh­rungsriegen der Institutionen Konsens ist. Zu dieser Sichtweise gehört erstens die Über­zeugung, dass Libyen kein Einwanderungsland sei. Die Wahrnehmung in der liby­schen Öffentlichkeit, dass die Zahl der Migranten immer mehr zuneh­me, wird daher meist auf die Transitmigration nach Europa zurückgeführt. Dazu gehört die An­sicht, Libyen sei »früher« nur Transitland gewesen, werde jetzt aber immer mehr zum Zielland von Migranten. Die Kampagnen be­feuerten also bereits grassierende Ressentiments.

Die Idee, dass Libyen nur Tran­sitland sei, herrschte schon in der Gaddafi-Ära vor und hält sich hartnäckig bis heute. Daran hat nichts geändert, dass sie den Tat­sachen seit jeher ekla­tant widerspricht. Seit Jahrzehnten ist Libyen in erster Linie Zielland für aus­ländische Arbeitskräfte. Die Transitmigra­tion kam später hinzu, doch Arbeitsmigration ist auch seit 2011 die vorherrschende Art der Migration im Land geblieben. Ohne sie stünde die libysche Wirtschaft still­, da Libyer viele Tätigkeiten meiden. Der Groß­teil dieser Arbeitskräfte kommt aus den Nachbarländern Ägypten, Niger, Sudan und Tschad. Die überwiegende Mehr­heit von ihnen begibt sich nicht auf den Weg nach Europa; nigrische, sudanesische und tscha­dische Staatsbürger machen einen äußerst geringen Anteil an den An­künften von Mig­ranten über Libyen aus. Im Übrigen wird Libyen auch in der europäischen Öffentlich­keit fast ausschließlich als Tran­sitland gese­hen und die große Zahl der Arbeitsmigranten oft als Anlass für irre­führenden Alarmis­mus genommen, dort warteten Hunderttau­sende auf die Gelegenheit zur Überfahrt.

Ob die Zahl der Migranten in Libyen tat­sächlich deutlich steigt, ist ebenso un­gewiss wie die Gründe für einen möglichen An­stieg, nämlich vor allem eine wach­sende Nach­frage des Arbeitsmarkts oder die Verhinderung von Überfahrten nach Europa. Verläss­liche Statistiken zur Anzahl von Migranten gibt es in Libyen nicht. Laut IOM wuchs die Zahl von rund 585.000 im Jahr 2020 auf 859.000 Anfang 2025. Doch dürften die IOM-Zahlen nur einen Teil der Migranten im Land er­fassen. Noch weniger glaub­würdig ist aller­dings die Behauptung des Innen­ministers in Tripolis Emad al-Trabelsi, mitt­lerweile befänden sich 4 Millionen Migranten im Land. Denn die Regierung besitzt keinerlei Kapazitäten für eine Zählung. Solche Aus­sagen geben eher einem all­gemeinen Gefühl Ausdruck, die Zahl der Migranten wüchse maßlos.

Ebenso tiefsitzend und weit verbreitet in Libyen sind xenophobe und rassistische Ansichten. Insbesondere Migranten aus Subsahara-Afrika werden als Überträger an­steckender Krankheiten und Verursacher von Kriminalität stigmatisiert. Auch die landläufige Vermutung, dass hinter Migra­tionsbewegungen dunkle Machenschaften ausländischer Akteure stünden, stammt bereits aus der Gaddafi-Ära. Zahlreiche libysche Gesprächspartner erklärten dem Autor über die Jahre hinweg, dass afrikanische Migranten die nötigen Geldsummen für die Reise nach Europa wohl kaum selbst aufbringen könnten und daher ausländische Organisationen hinter der Finanzierung stecken müssten. Die Ängste und verschwörungsideologischen Sichtweisen, die aus den Anschuldigungen des Inlandsgeheimdienstes sprechen, werden also in der Öffentlichkeit allgemein geteilt.

Die mit Transit- und Arbeitsmigration verbundenen materiellen Interessen ein­fluss­reicher libyscher Akteure widersprechen dem Credo dieses Migrationsdiskurses. Libysche Arbeitgeber – von Großunternehmern bis hin zu Privatleuten, die Rei­ni­gungskräfte oder Bauarbeiter beschäftigen – haben Bedarf an Arbeitsmigranten und ziehen informelle, prekäre Arbeitsverhältnisse vor. Sicherheitskräfte, die Migra­tion verhindern sollen, haben sowohl ein Inter­esse daran, Migranten in Libyen festzuhalten, um sie auszubeuten, als auch, die Routen nach Europa zumindest teilweise offen zu halten, um sich genug »Nachschub« an Men­schen zu sichern. Diese Wider­sprüche werden in der Öffentlichkeit kaum thematisiert. Doch sie dürften die Ängste und Ressentiments, die sich im libyschen Migrationsdiskurs äußern, auf absehbare Zeit weiter nähren.

Bilanz

Die Kampagnen gegen Migration und euro­päische Migrationspolitik geben Anlass, eine Bilanz und Schlussfolgerungen aus acht Jahren europäischer Migrationskooperation mit Libyen zu ziehen. Während die Zeichen auf europäischer Seite derzeit auf Intensivierung dieser Kooperation stehen, ist zunächst festzustellen, dass die »weiche­ren« Komponenten dieser Politik auf ganzer Linie gescheitert sind, denn es gibt keinerlei Fortschritte hin zu größerer Sicherheit für ausländische Arbeitskräfte. Nicht nur das: Selbst verhaltene Versuche, auf Fortschritte in dieser Richtung hin­zuwirken, rufen in Libyen empfindliche Reak­tionen hervor. Zudem setzt die EU durch ihre Projekte in diesem Bereich vor allem libysche Mitarbeiter humanitärer Organisationen beträcht­lichen Risiken aus.

Ebenso wenige Fortschritte gibt es mit Blick auf Alternativen zum System will­kürlicher Internierung von Migranten. Im Gegenteil: Die von der EU unterstützten Abfangoperationen im Mittelmeer haben dieses System mit stets ausreichend Gefan­genen versorgt, und die von der EU finan­zierten Aktivitäten humanitärer Organisationen haben es für die Betreiber lukrativer gemacht. An den systematischen Misshandlungen in den Internierungszentren indes hat sich nichts geändert, denn sie sind Teil des erpresserischen Geschäftsmodells. Alles in allem hat die europäische Politik zu dessen Konsolidierung beigetragen.

Wie ernst es der EU mit den weicheren Komponenten ihrer Migrationspolitik in Libyen war, sei dahingestellt. Fest steht, dass diese Politik nun auf ihren harten Kern reduziert ist: Maßnahmen, die Migranten an der Überfahrt nach Europa hindern sollen. Sie hängen direkt mit dem System willkürlicher Internierung zusammen. Die offizielle europäische Position, man lehne dieses System ab und unterstütze die Suche nach Alternativen, lässt sich nicht aufrechterhalten. Sowohl die Abfangoperationen auf See als auch die Rückführungen durch die IOM sind ohne das Internierungssystem nicht denkbar. Jede Diskussion über die europäische Migrationspolitik in Libyen sollte mit der Anerkennung der Tatsache beginnen, dass sich diese Politik in ihrem Kern auf die Internierungszentren und die Hinnahme der in ihnen begangenen Ver­brechen stützt. Dass von dieser Einsicht in absehbarer Zeit ein Politikwechsel aus­gehen würde, ist unrealistisch angesichts der gegen­wärtigen politischen Mehrheiten sowohl in den Mitgliedstaaten als auch auf europäischer Ebene. Das gilt umso mehr, als sich keine alternativen Ansätze anbieten gegen­über einem Libyen, in dem Gewalt­akteure und kriminelle Netzwerke die Kon­trolle über die staatlichen Institutionen übernom­men haben. Doch ein klarer Blick auf die tatsächliche Funktionsweise euro­päischer Migrationspolitik in Libyen ist nötig, um die politischen Kosten und Kon­sequenzen dieser Politik realistisch ein­zuschätzen.

Zu diesen Konsequenzen zählt die Aufwertung libyscher Gewaltakteure durch die EU und ihre Mitgliedstaaten, die sich zu­gleich in eine wachsende Abhängigkeit von diesen Akteuren begeben. Beson­ders deut­lich wird dies im diplomatischen Umwerben Haftars und in der Unterstützung für ihn trotz seiner langen Liste an Kriegs­verbrechen und seiner Allianz mit Russland – und ob­gleich er die Kontrolle der Migra­tionsrouten offen als Druckmittel einsetzt. Gelingt es Premierminister Dabeiba in Tri­polis, seine eigene Macht weiter zu konsolidieren, dürf­te auch er zu dieser Taktik greifen. Indessen zeigen die wachsenden Ankunftszahlen, dass die Anreizstruktur der Europäer für Migrations­bekämpfung immer weniger greift. Per­spek­tivisch dürfte die bisherige Strategie dazu führen, dass Europas Abhän­gigkeit von liby­schen Gewaltakteuren und die ge­for­derten Gegenleistungen für ihre Koope­ration weiter zunehmen.

Zu den politischen Kosten zählt auch, dass die libysche Öffentlichkeit die europä­ische Migrationspolitik ablehnt. Diese Haltung richtet sich zwar eher gegen eine perzipierte als gegen die tatsächliche EU-Politik und wird von politischen Ak­teuren gezielt geschürt. Doch der faktische Inter­essensgegensatz ist kaum von der Hand zu weisen: Durch die Verhinderung von Über­fahrten werden Migranten in Libyen fest­gehalten, was die Öffentlichkeit als zuneh­mend bedrohlich empfindet. Europas Partner sind dagegen in erster Linie Gewalt­akteure, die materiell von den Abfang­opera­tionen und dem Internierungssystem profi­tieren.

Schließlich sollten die langfristigen Kon­sequenzen dieser Politik für die Glaubwürdigkeit der EU und ihrer Mitgliedstaaten als globaler Akteure nicht unterschätzt wer­den. Die Glaubwürdigkeit leidet, wenn europäische Regierungen – wie oben erläutert – für die Migrationskooperation Verletzungen des VN-Waffenembar­gos ermöglichen. Vor allem aber widerspricht kein Aspekt europäischer Migrations­politik so eklatant dem Anspruch der EU, die Menschenrechte zu respektieren, wie die Nutzung des Internierungssystems als zentralem Stand­bein dieser Politik in Libyen. Wird sie fortgesetzt, dürfte das unweigerlich dazu beitragen, diesen Anspruch selbst zu unterminieren.

Dr. Wolfram Lacher ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten. Der Autor dankt Mark Schrolle für Unterstützung bei der Datenrecherche sowie Nadine Biehler, Raphael Bossong, David Kipp, Isabelle Werenfels und Azadeh Zamirirad für Feedback.

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