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Eine neue Wasserstoffwelt

Geotechnologische, geoökonomische und geopolitische Implikationen für Europa

SWP-Aktuell 2021/A 78, 08.12.2021, 8 Seiten

doi:10.18449/2021A78

Forschungsgebiete

Die weltweiten Implikationen eines Umstiegs auf Wasserstoff sind groß, da dieser sukzessive Öl und Gas als Energieträger zumindest teilweise ersetzen wird und da­durch neue internationale Handelsströme entstehen. Darüber hinaus wird Wasserstoff den Umbau der Industrie mitbestimmen. Hier hat sein Einsatz disruptive Aus­wirkungen, was auch die Wirtschaftsgeographie prägen wird. Die Politik steht vor weitreichenden Grundsatzentscheidungen, die die Konturen der neuen Wasserstoffwelt vorgeben werden. Deutschland und die EU sollten die geoökonomischen und geopolitischen Konsequenzen mitberücksichtigen, wenn sie Weichen stellen.

Die Nutzung von Wasserstoff (H2) ist kein Selbstzweck, sondern dient primär dem Klimaschutz. Bei der Energietransformation wird klimaneutraler H2 eine wichtige Rolle spielen. Wie Studien zeigen, wird dabei ein Großteil der Nachfrage in Deutschland über Importe gedeckt werden müssen. Aber auch die nackten Zahlen des aktuellen Energieverbrauchs in Deutschland von rund 2.500 Terawattstunden (TWh), von denen nur rund 560 TWh auf den Strom entfallen, sprechen eine deutliche Sprache. Denn was heute an chemischer Energie auch über Infrastrukturen wie Gasnetze und ‑speicher, Raffinerien und Tankstellen gebunden ist, stabilisiert und sichert unsere Strom-, Wärme- und Prozessenergieversorgung und muss großteils mit Elektronen ersetzt wer­den. Zwar sind Energieeffizienz, der Aus­bau der Erneuerbaren sowie die Strom­nutzung zu priorisieren, aber nicht zeitlich – vielmehr muss bereits parallel schnellst­möglich klimaneutraler H2 zum Einsatz kommen, um eine baldige Trend­umkehr bei den Treibhausgasemissionen zu erreichen.

Für eine tiefe und rasche Dekarbonisierung und zur Sektorkopplung gilt H2 auch als Speichermedium als unabdingbar. Er wird vor allem in schwer zu dekarbonisierenden Industrien wie Chemie, Stahl, Alu­minium und Zement sowie in der Düngemittelherstellung, der Ölraffination und der Petrochemie genutzt werden. Im Luft-, Schiffs- und Schwerlastverkehr wird mittel­fristig kein Weg am Einsatz von Wasserstoffderivaten vorbeiführen.

Die Internationale Organisation für Erneuerbare Energien (IRENA) hat 2019 beschrieben, wie die Energietransformation eine neue Welt entstehen lässt. Diese Ent­wicklung konkretisiert sich mittlerweile beim Wasserstoff, womit die Frage einer europäischen Positionierung akut wird.

Politische Richtungs­entscheidungen

Gerade beim Umgang mit Wasserstoff gibt es laut Internationaler Energieagentur (IEA) große politische Entscheidungs- und Regu­lierungslücken. Um H2 und seine Derivate sukzessive einsetzen zu können, bedarf es einer Ausweitung der Produktion und einer ähn­lichen Kostendegression wie bei den er­neuerbaren Energien. Noch sind die Diffe­renzen gegenüber fossilen Energieträgern und daraus erzeugtem H2 zu hoch. Die Technologien sind zwar weitgehend verfüg­bar, aber sie müssen skaliert werden, eben­so wie Lieferketten und Geschäftsmodelle aufzubauen sind.

An der Wiege einer Wasserstoffwirtschaft stehen deshalb politische Richtungsentscheidungen, mit denen sich das »Henne-Ei-Problem« in den Griff bekommen lässt. Angebot und Nachfrage müssen aufeinander abgestimmt werden, und die Logistik dazwischen, also Transport und Lagerung, darf kein Flaschenhals sein.

Die Politik muss entscheiden, ob für sie die Erzeugungsart von H2 – also die »Far­benlehre«, mit der Wasserstoff je nach Ursprung unterschieden wird – oder sein »Treibhausgasgehalt« im Vordergrund steht. Neben Japan und Südkorea fördern die USA einen technologieoffenen Ansatz. Sie defi­nieren für den Hochlauf der nächsten fünf Jahre sauberen Wasserstoff über eine Koh­lenstoffintensität von gleich oder weni­ger als 2 Kilogramm Kohlendioxid-Äquiva­lent pro am Produktionsstandort erzeugtem Kilogramm H2. In Deutschland dagegen liegt der Fokus darauf, grünen Wasserstoff aus erneuerbaren Energien zu nutzen, da nur er im Jahr 2050 noch Teil des nach­haltigen Energiemixes sein kann.

Die Politik setzt auch den Rahmen dafür, wo H2 und seine Derivate eingesetzt wer­den. In der »Merit Order« des Klimaschutzes ist H2 vor allem in energieintensiven Sekto­ren wie der Stahlindustrie ge­setzt. Inwieweit er im Wärmebereich und im Personen­verkehr zum Einsatz kommen soll, ist aus diesem Blickwinkel sehr um­stritten. Zum einen darf über dem Blick auf die gewünschte Tiefe der Dekarbonisierung die Geschwindigkeit von Emissionseinsparungen nicht vernachlässigt werden. Zum anderen ist ein Entwicklungsprozess ohne Zwischenschritte schwer zu realisieren. Da­mit früh die benötigten Mengen etwa für die Stahlindus­trie lieferbereit sind, bedarf es nicht nur der Installation von Produk­tions­anlagen im In- und Ausland, sondern auch einer schnellen Abnahme zunächst kleiner, aber stetig wachsender Mengen, um die Logistikkette dazwischen aufzubauen.

Von der jeweiligen Anwendung wird auch abhängen, ob klimaneutraler H2 bzw. Derivate wie Ammoniak, Methanol oder synthetische Fischer-Tropsch-Produkte zum Einsatz kommen. Einmal etablierte Liefer- und Logistikketten schaffen Markthürden, zugleich aber drohen Vermögenswerte zu stranden, wenn sich andere Nutzungspfade, Logistikketten oder Transportvektoren durchsetzen. Dabei sind die jetzt angenom­menen Kosten ein wichtiger – aber eben nur ein – Gradmesser. Geschwindigkeit und Volumina sind ein anderer. Wer schnell eine gesamte Route etabliert, wird schlicht die Konturen des Marktes prägen.

Zentral ist dabei das Themenfeld Zertifizierung. Über technische Normen und Stan­dards werden Leit­märkte und Technologiepfade definiert sowie Projektdesigns, Ge­schäftsmodelle und Chancen für Partner­länder vorgeprägt.

Außerdem ist politisch auszutarieren, wie viel staatliche Intervention in das Marktgeschehen nötig oder erwünscht ist. Andere Staaten set­zen auf merkantilistische Maßnahmen und etablieren bilaterale Joint Ventures zwi­schen (halb)staatlichen Unter­nehmen über die gesamte Wertschöpfungs­kette, um zügig Infrastrukturen und Logis­tikketten zu schaffen.

Für Deutschland und die EU besteht die Herausforderung, Angebot und Nachfrage unter der bestehenden Binnenmarktregulierung und den Entflechtungsvorgaben zusammenzubringen. Somit stellt sich die Frage, wie sich in dieser Anfangsphase die Prinzipien und Funktionsweisen des euro­päischen Binnenmarktes in einem Wasser­stoffmarkt und einer Wasserstoffunion der EU zügig umsetzen und gleichzeitig Im­porte realisieren lassen.

H2-Wertschöpfungsketten

Wie die Graphik (S. 4) zeigt, kann man H2 entlang eines Farbenspektrums unterscheiden. Grauer Wasserstoff wird auf Basis fos­siler Energien hergestellt. Gelber Wasserstoff geht auf den Strommix eines Landes zurück, roter oder pinker auf Atomstrom. Grüner Wasserstoff entsteht ebenfalls durch das Elektrolyseverfahren, aber mit Strom aus erneuerbaren Energien. Die Lie­ferkette von grünem H2 beginnt in den Ab­baustätten für seltene Metalle und Erden, die für den Bau von Solar- und Windkraftanlagen not­wendig sind. In Deutschland und der EU könnte sich der Strombedarf bis 2050 ver­doppeln, wobei Elektrolyseure möglicherweise 30 bis 40 Prozent der ge­samten Nach­frage ausmachen. Der Markt­hochlauf hängt somit entscheidend von einer preisgünstigen und stabilen Stromversorgung sowie enormen Kapazitäts­zuwachsraten bei Wind- und Sonnenenergie ab. Die gesamte derzeit weltweit instal­lierte Wind- und Solarkapazität wäre erfor­derlich, um den heute global produzierten grauen Wasserstoff durch solchen zu erset­zen, der auf erneuerbarem Strom basie­rt.

Blauer Wasserstoff entsteht aus Erdgas, das dabei freigesetzte CO2 wird abgeschieden, gespeichert oder weiter genutzt. Blau­em und türkisem H2 gehen die Gasindus­trie sowie Lieferketten für Kupfer und Palla­dium voraus, die für Nickelkatalysatoren verwendet werden. Türkiser H2 wird mit Hilfe der Pyrolyse erzeugt, weist aber tech­nologisch einen geringen Reifegrad auf. Aus dem Pyrolyseverfahren, mit dem Erd­gas in klimafreundlichen H2 umgewandelt wird, entsteht fester Kohlenstoff, der als Kuppelprodukt etwa in der erneu­erbaren Energiekette verwendet werden kann.

Pro Kilogramm grüner Wasserstoff wer­den 9 Kilogramm Süßwasser benötigt, für blauen H2 sogar 13 bis 18 Kilogramm. Das kann in ariden Regionen zu Nutzungskonkurrenzen führen oder eine energieintensive Meerwasserentsalzung erfordern (welche die Gesamtkosten allerdings nicht signifikant erhöht). Nahrungsmittelpreise hängen zudem davon ab, inwiefern ammoniak­basierter Dünger – ein Wasserstoffderivat – zu geringen Kosten verfügbar ist. Erst nachdem der H2 hergestellt ist, sind die Liefer- und Wertschöpfungsketten der ein­zelnen Technologierouten identisch. Sie splitten sich jedoch bei der Konvertierung erneut auf (siehe Graphik). Vor allem die Chemieindustrie spielt in der bisherigen Kette eine Rolle, unter anderem bei der Pro­duktion von Katalysatoren, Elektroden und Membranen für Elektrolyseure sowie Poly­meren, Beschichtungen, Kohlefasern und Absorptionsmitteln für die Lagerung sowie den Transport. Gleichzeitig benötigt die Chemiebranche H2 als Grundstoff. Die Stahlindustrie liefert Wasserstoffpipelines, Druckbehälter wie auch grünen Stahl etwa für die Automobilbranche.

Diese Beispiele zeigen die enge Verzahnung der europäischen Schlüsselindustrien beim Einsatz von H2, was dessen Komplexität und ökonomische Tragweite sichtbar macht. Synthetische Rohöle können in Raffinerien zu Kuppelprodukten verarbeitet werden; werden nur Kuppelprodukte im­portiert, hat das auch Auswirkungen auf die Produktpalette und letztlich auf Raffi­neriestandorte hier.

Die einzelnen H2-Routen eröffnen viel­fältige Risiken und Chancen. Einige füh­ren­de Industrieländer wie Deutschland, Groß­britannien und Japan, aber auch Ölexpor­teure wie Saudi-Arabien sehen sich bereits als künftige Leitnationen im Wasserstoff­markt, ob sie nun Schlüsseltechnologien bereitstellen oder klimaneutralen H2 und Derivate exportieren.

Einerseits ermöglicht es die Wasserstoffnutzung dem Importland, neue Energiehandelsströme und Importeurs-Exporteurs-Koalitionen so auszugestalten, dass Energie­sicherheit neu austariert wird. Erneuerbare Energien als wichtigster Input sind geogra­phisch weltweit verfügbar, und Elektrolyseure sind perspektivisch sowohl in Groß­anlagen als auch dezentral nutzbar. Das heißt, dass sich viele Länder weitgehend

Graphik

selbst versorgen können, wenn Land und Wasser verfügbar sowie Technologie und soziale Akzeptanz gegeben sind. Andererseits können energiereiche Länder ihre Wertschöpfung vertiefen und diversifizieren, was hierzulande Kettenreaktionen anstoßen kann. Emissionsreiche und gut transportierbare (Vor-)Produkte lassen sich in sonnen- und windreiche Länder verla­gern. Stahl- und Chemieindustrie sind nicht nur äußerst energieintensiv, sondern unter­liegen auch starkem internationalen Wett­bewerb und weisen eng integrierte Produk­tionsschritte auf. Der »Renewables Pull«-Effekt kann insbesondere bei emissions­reichen und gut handelbaren Produkten dazu führen, dass mehrere Produktionsschritte oder gesamte Produktionscluster verlagert werden. Der Wettbewerb um Vor­stufenprodukte wie Eisenschwamm oder grünes Ammoniak sowie Sorgen über die Liefersicherheit in den diversen Vorketten könnten neue Dynamiken auslösen. Letzt­lich steht die Welt nicht nur vor einer Energietransformation, sondern auch vor einer industriellen Revolution.

Raum, Markt und Technologie – Machtfaktor Wasserstoff

Geopolitik wird traditionell als die Raum­bezogenheit außenpolitischer Prozesse defi­niert. Wenn geographische Gegebenheiten – Lage, Raum, Ressourcen – »in eine poli­tische Rechnung eingesetzt werden, gewin­nen sie geopolitische Bedeutung« (Otto Maull). Davon unterscheidet sich die Geo­ökonomie insofern, als damit die Raum­bezogenheit (außen)wirtschaftspolitischer und energiepolitischer Prozesse verstanden wird. Es geht hier also um die Wechselwirkung zwischen staatlichem wie nichtstaatlichem Handeln auf der einen Seite und der Neuordnung von Wirtschafts- und Energie­räumen entlang von Produktionsnetzwerken und Industrieclustern auf der anderen.

In einer Welt wachsender Konfrontation zwischen Machtblöcken ergänzt Geoökonomie klassische militärische Machtprojektion. Die Geoökonomie speist sich aus dem Wettbewerb um gesamtindustrielle Erzeu­gungs- und Produktionsprozesse und deren Wertschöpfung. Dabei spielen Forschung und Entwicklung, aber auch Logistikketten und Produktionsnetzwerke eine zentrale Rolle. Außerdem kennzeichnet die heutige Geoökonomie eine Konkurrenz unterschiedlicher polit-ökonomischer Systeme: auf der einen Seite liberale westliche, auf der ande­ren Seite merkantilistisch-staatskapitalis­tische autoritäre Systeme.

Mit Blick auf H2 ist bedeutsam, dass der Markthochlauf von Maßnahmen profitieren kann, die merkan­tilistische Züge haben. Dies gilt etwa für das Umlenken öffentlicher Investitionen und staatlicher Beihilfen wie auch die Sicherung von Importen durch bi­laterale Abnahmeverträge. Das Zusammenspiel von Marktkräften und institutionellem Rahmen ist ungleich komplexer als der Rückgriff auf staatsdirigistische Methoden.

Die Herstellung von H2 und seinen Folgeprodukten ist ein technologieintensiver Prozess. Das wirkt auf Wertschöpfungs- und Lieferketten sowie Produktionsnetzwerke zurück. Staaten, Staatsunternehmen und private Firmen konkurrieren hier nicht mehr nur um den Zugang zu Rohstoffen und deren Transportrouten, sondern auch um Leitmärkte, Schlüsselkomponenten, Produktionsprozesse, den Erhalt industrieller Standorte, ein optimales Supply-Chain-Management, Marktanteile und -zugänge sowie Finanz- und Investitionsflüsse.

Geotechnologie wiederum fokussiert darauf, dass sich die Welt entlang von Tech­nologiepfaden organisiert. Bei H2 ist das immanent, denn es gibt unterschiedliche Technologierouten, aber auch Folgeprodukte. Darüber werden Wertschöpfungsketten und ‑cluster sowie Transportvektoren etab­liert. Am Beispiel der Schifffahrt lässt sich dies verdeutlichen; dort können Motoren potentiell mit Ammoniak oder Methanol betrieben werden. Die Entscheidung für eine Liefer- und Anwendungskette hat dann aber exklusive Wirkung in Bezug auf Flot­ten und Routen. Noch viel deutlicher wird diese Wirkung, wenn sich darüber auch Qualitätsstandards, Normen und Leitmärkte definieren. Dies prägt international ver­flochtene Produktionsnetzwerke, die aber ebenfalls exklusiv wirken.

Abgrenzungseffekte können auch aus Zertifizierungssystemen und Nachhaltigkeitsstandards resultieren. Ob die H2-Erzeu­gungsroute oder der CO2-Gehalt als Refe­renz bei der Zertifizierung dient und ob Nachhaltigkeitskriterien hohe Anforderungen an Projekte stellen, wirkt sich auf deren Realisierbarkeit und Kostenstrukturen aus, ebenso auf die Marktbeschaffenheit und den potentiellen Teilnehmerkreis. Hier kann es durchaus Zielkonflikte zwischen Industriepolitik und Entwicklungspolitik geben, aber auch zwischen Diversifizierung und schneller Umsetzung von Großprojekten. Man mag mit Blick auf Klimaneutralität gute Argumente für den grünen Wasser­stoff haben, aber die Kehrseite ist eine frühe Beschränkung auf ein »Spielfeld«, was sich vor allem auf Mengen, die Etablierung der Transportlogistik und die beteiligten Partner auswirkt. Letztere müssen bereit sein, sich exklusiv auf dieses begrenzte Spielfeld einzulassen.

Räumliche und zeitliche Diversität

Bei den Energietransformationen einzelner Länder besteht eine Ungleichzeitigkeit, was die anvisierten »Enddaten« für die jeweiligen Klimaziele angeht. Die EU und die USA benennen 2050, China und Russland 2060, Indien 2070. Das bestimmt Geschwindigkeit und Tiefe der Dekarbonisierung erheblich. Bei H2 werden »First Mover« eine zentrale Rolle spielen müssen. Gefragt sind hier vor allem Staaten mit technologischem Know-how und der nötigen Marktgröße für Ska­leneffekte. Der Zeitfaktor ist aber auch von Bedeutung – nicht nur beim Wettlauf gegen die Klimakrise, sondern auch bei dem um Technologien, Märkte und Inves­ti­tionen. Wer hier als Pionier voranschreitet, geht Risiken ein, hat im Erfolgsfall aber auch alle Chancen, Technologien zu expor­tieren und Leitmärkte zu prägen.

Eine entscheidende Frage für Standorte und Wettbewerbsfähigkeit ist, wie schnell klimaneutraler H2 für die Industrie bereit­steht. Letztlich ist die Energietransforma­tion mit dem Umbau oder gar der Disrup­tion von Wirtschaftsstrukturen verbunden. Dabei stellt sich die Frage nach notwen­digen Zwischenschritten im Hochlauf. So wird einerseits diskutiert, ob blauer H2 »lock-in«-Risiken birgt oder Beimischungen in grauem H2 »Verschwendung« eines kost­baren Guts sind, aber andererseits ignoriert, dass es auch eines »phase-in«, sprich einer stufenweisen Einführung bedarf. Im Früh­stadium werden kaum ausreichende Men­gen zur Verfügung stehen oder etwa H2-Cluster sofort über Pipelines verbunden sein.

Die zeitliche Dimension verschränkt und verstärkt sich mit dem Prozess der räum­lichen Differenzierung und einer veränderten Landkarte von Wertschöpfung. Zu­nächst werden sich Wasserstoffinseln (»Hydrogen Valleys«) um Industriecluster herum bilden. Erst der Ausbau der Wasser­stoffinfrastruktur (»Hydrogen Backbone«) schafft die Voraussetzungen für einen ver­netzten regionalen Markt. Die Förder­pro­jekte der Europäischen Kommission von besonderem gemeinschaftlichen Interesse (IPCEI) adressieren das Henne-Ei-Problem an verschiedenen Standorten über unter­schiedliche Wertschöpfungsstufen hinweg.

Ein regionaler Schwerpunkt zeichnet sich im Nordwesten Europas ab, räumlich abgegrenzt durch die Häfen Rostock, Ham­burg, Rotterdam und Antwerpen sowie den Binnenhafen Duisburg. Hier liegt ein indus­trielles Ballungszentrum, das Strom- und Pipelinenetz ist eng geknüpft, und die Häfen sind zentrale Brückenköpfe in der Logistikkette. Damit wird bereits eine geo­graphische und zeitliche Differenzierung der Wasserstoffentwicklung sichtbar – etwa zwischen Nord und Süd in Deutschland sowie zwischen Ost und West in der EU. Insofern ist H2 auch ein Thema für die Kohäsion von Gesellschaften und Volkswirtschaften.

Auf globaler Ebene zeichnen sich neue Wasserstoffräume ab, in denen sich Trans­aktionen verdichten. Dies betrifft vor allem Regionen, in denen Erzeugung und Ver­brauch nahe beieinander liegen können. So werden die Amerikas einen starken – und weitgehend autarken – Pol bilden; sie ver­fügen über Standorte, Land, Technologie­offenheit und Know-how sowie die nötigen Industrien. Ähnliches gilt für China. Für Importeure scheint essentiell, früh Logistik­ketten aufzubauen und an der Ent­stehung eines »Commodity«-Marktes zu arbeiten.

Fragmentierung und Konnek­tivität

Klimapolitisch besteht bei H2 ein klarer Imperativ für globale Kooperation, damit sich Technologien, Know-how und Produk­tion weltweit schnell voranbringen lassen. Doch räumliche und zeitliche Diversität liegt in der Natur eines Technologie- und Markthochlaufs. In der Anfangsphase ist die Wasserstoffwelt also stark fragmentiert.

Die strategische Rivalität zwischen den USA und China, aber auch der zunehmende geoökonomische Wettbewerb kann dazu führen, dass sich diese Fragmentierung per­petuiert und verhärtet. Hinzu kommen das Ende der liberalen Hegemonie des Westens und die Konkurrenz der Wirtschafts­sys­te­me. Weder bestehen weltweit a priori gleiche Ausgangs- und Wettbewerbsbedingungen, noch wird kooperativ daran gear­beitet, einen funktionierenden Marktplatz nach allgemeingültigen Regeln als »globales Gut« zu schaffen.

H2 spielt zunehmend eine Rolle in kon­kurrierenden Konnektivitätsinitiativen – den US-amerikanischen Projekten »Blue Dot Network« und »Build Back Better World«, Chinas »Neuer Seidenstraße« und Japans »High Quality Infrastructure«. Durch solche Formate entstehen techno-politische und geoökonomische Einflusssphären. Diese wiederum können gerade in der Aufbauphase eines globalen Wasserstoffmarktes früh in physische, infrastrukturelle, regula­torische und finanzielle Fragmentierung münden. Teilhabe und Handel werden determiniert durch technische Normierung sowie Qualitäts- und Sozial-, Nachhaltigkeits- und Governance-Standards. Diese »Software« von Konnektivität prägt die Neu­kartierung von Energieflüssen, Industrien, Transportkorridoren und Pipelines.

Die Konnektivität beim Wasserstoff, also seine Versatilität (flexible Einsetzbarkeit) und Handelbarkeit, hängt einerseits von der Allgemeingültigkeit der Standards, anderer­seits von deren Umsetzbarkeit ab. Da es bis­her an klaren internationalen Festlegungen fehlt, gibt es räumliche und zeitliche Un­wägbarkeiten darüber, wie sich Geltungs­bereiche und Standards entwickeln.

Dabei manifestiert sich die neue regulatorische Konkurrenz insbesondere zwischen den größten Macht- und Marktblöcken, also USA, EU, China und Japan. Diese sind bes­ser als andere positioniert, um als technische und finanzielle Standardsetzer in einer globalen Wasserstoffwirtschaft zu wirken. Je stärker Vorgaben international gültig sind, desto positiver für Handel, Transport und Planbarkeit, und umso schneller wer­den Skaleneffekte erzielt.

Bestehen divergierende Standards, könn­te dies zur Fragmentierung und damit zu einer ineffizienten globalen Wasserstoffwirtschaft führen, die zudem Konkurrenz befeuert. Länder, die es vermögen, auf ihre Wirtschaft zugeschnittene Standards durch­zusetzen, erhalten Vorteile in ihrer Wett­bewerbsfähigkeit. Staaten, die mit ihren Standards scheitern, riskieren negative Folgewirkungen für die ansässigen Firmen. Die geopolitische Großmachtkonfrontation könnte zunehmend bewirken, dass sich Staaten protektionistisch abschot­ten, aus Sicherheitskalkül heraus ein »Re­shoring« verfolgen (also Produktionsstätten ins eigene Land zurückholen) und sich tech­nologische Souveränität zum Ziel setzen, was die Entstehung eines globalen Was­ser­stoffmarktes zusätzlich unterlaufen würde.

Europa in der Wasserstoffwelt

Deutschland und die EU müssen schnell die Weichen stellen, damit Europa die Wasser­stoffwelt als wichtiger Markt mitprägen kann.

Wasserstoffunion und Green Deal. Nach innen ist für die EU der Anspruch von Kohäsion und damit das Leitbild einer Wasserstoff­union zielführend. Entsprechend wichtig sind eine Infrastrukturplanung, die H2, Strom und Gas integriert, sowie der Aufbau von Markt- und Handelsmechanismen.

Die große Herausforderung für die EU besteht darin, den Wasserstoffhochlauf vor dem Hintergrund ihres Marktregimes ähn­lich zügig und zielgerichtet zu betreiben, wie es China, Japan oder die USA unter merkantilistischen und industriepolitischen Vorzeichen tun. Die Kunst wird sein, früh Markt- und Handelsmechanismen zu etab­lieren und ein Geschäftsmodell über die Wertschöpfungskette hinweg zu schaffen.

Die Klimaschutzvorgaben und die höheren CO2-Preise in der EU verschärfen den Anpassungsdruck für die energieintensiven und schwer zu dekarbonisierenden Indus­trien. Inwieweit die EU deren Abwanderung einen Riegel vorschieben kann, wird zum einen von der Wirksamkeit eines CO2-Grenzausgleichsmechanismus abhängen bzw. davon, ob die anderen Länder zeitnah CO2-Preise und ein Emissionshandelssystem einführen. Zum anderen spielt eine Rolle, ob und wie schnell klimaneutraler Wasser­stoff zur Verfügung steht und wie effektiv die Preisdifferenz zum heutigen Input Ener­gie abgefangen wird.

Resilienz und Souveränität. Eine resiliente Versorgung setzt auch ein hohes Maß an Technologiesouveränität voraus. Die Trias der Ziele – Klimaschutz, Industriepolitik und Entwicklungszusammenarbeit – weist zumindest Trade-offs zwischen Standort­sicherung in Deutschland und Wirtschaftskooperation mit dem Ausland auf. Ange­sichts denkbarer Kettenreaktionen hat die Politik eine sensible Güterabwägung zu treffen, in die strategische und sozio-ökono­mische Überlegungen einfließen. Insofern gilt es, eine Balance zwischen Technologie­souveränität und strategischer Verflechtung mit wichtigen Partnerländern auszutarieren und andererseits früh einen globalen Markt zu etablieren. Geopolitisch ist bedeutsam, dass der Wasserstofftransport auch der Lieferkettensicherheit bedarf. Zunehmend stellen sich dabei etwa im Indischen Ozean und im Pazi­fik klassische harte Sicherheitsfragen, die unter anderem freie Schiffswege betref­fen.

Kompatibilität und Leitmarkt. Europa ist derzeit führend in Schlüsseltechnologien wie der Elektrolyse. China aber könnte die­sen Vorsprung wettmachen, indem es seine günstigeren Produktionsbedingungen mit aggressiven Praktiken zur Etablierung eige­ner Standards kombiniert. Europas Stellung wird davon abhängen, inwiefern es Brüssel gelingt, den weiteren Raum der Nachbarschaft über Wasserstoffimporte, kurze Liefer­ketten sowie klimaneutrale Transport- und Logistikkorridore auf die EU auszurichten und dabei Stabilität und nachhaltigen Wohlstand in die benachbarten Regionen zu exportieren.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass schnell die Rahmenbedingungen für den H2-Hochlauf gesetzt werden müssen, vor allem im Rahmen des »Fit for 55«-Pakets der Europäischen Kommission. Erstens sollte Brüssels »Global Gateway«-Initiative H2‑Logistikketten integrieren, die unter anderem Afrika mit der EU verbinden. Zweitens sollte das deutsche Förderinstrument »H2 Global« wie vorgesehen inter­national und europäisch ausgestaltet wer­den, da es die zeitkritischen Themen Markt­mechanismen und Geschäftsmodelle adres­siert und wertvolle »lessons to learn« bieten kann. Drittens ist Zertifizierung ein vor­dringliches Thema – für die ersten Han­delskontrakte, aber auch um europäische Standards international zu setzen oder zumindest Anschlussfähigkeit zu gewährleisten. Viertens brauchen Deutschland und die EU eine »Wasserstoffaußenpolitik«, um eigene klimapolitische und wirtschaftliche Interessen bestmöglich in Einklang mit den verschiedenen Dekarbonisierungspfaden in Partnerländern und den Entwicklungen auf internationalen Energiemärkten zu bringen.

Julian Grinschgl ist Forschungsassistent, Dr. Jacopo Maria Pepe ist Wissenschaftler und Dr. Kirsten Westphal ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Globale Fragen.
Dieses SWP-Aktuell entstand im Rahmen des Projekts »Geopolitik der Energiewende – Wasserstoff«,
das vom Auswärtigen Amt finanziert wird.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2021

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