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Zurück in die Zukunft der Arktis

Die andauernde Relevanz von Rüstungskontrolle

SWP-Aktuell 2024/A 03, 25.01.2024, 8 Seiten

doi:10.18449/2024A03

Forschungsgebiete

Russlands Krieg gegen die Ukraine zeigt keine Zeichen der Entspannung, der strategische Wettbewerb zwischen China und den USA dauert an, und die sich ausweitende mili­tärische Kooperation zwischen China und Russland lässt die Herausforderungen für die internationale Staatenwelt noch wachsen. Die Arktis erscheint in diesem Zusammenhang wie ein Relikt vergangener Zeiten, in denen sie als Hort des Friedens galt. Aber der arktische Exzeptionalismus war schon lange vor dem russischen Angriffskrieg am Ende. Um ein Minimum an Kooperation wiederherzustellen, bedarf es informeller Gespräche, die nach dem Ende des Krieges helfen können, eine Per­spektive aufzuzeigen. Anknüpfungspunkte dafür könnten zwei Projekte bilden, die in der Ver­gangenheit relativ unstrittig waren: die Bergung radioaktiver Überreste des Kalten Krieges und eine Vereinbarung zur Vermeidung unbeabsichtigter Eska­lation auf hoher See (INCSEA). Ein Rückgriff auf alte Ansätze der Rüstungskontrolle könnte in Zukunft wieder Zusammenarbeit in der Arktis eröffnen.

An die Stelle des im Arktischen Rat ver­ankerten Vertrauens ist ein generalisiertes Misstrauen getreten, bei dem schwer erkennbar ist, auf welcher Ebene und mit welchen Mitteln es wieder in konstruktives Engagement umgewandelt werden kann. Russland hat unter seinem Präsidenten Wladimir Putin inzwischen alle verbliebenen Rüstungskontrollabkommen entweder verletzt oder aufgekündigt. Eine vertrauensvolle Kooperation kann es mit Putin nicht mehr geben, und seine aggressive, neoimperialistische Politik wird nach­wirken. Aber auch Russland beklagt – so zynisch dies angesichts fortdauernder Brutalität russischer Kriegsführung und der Verletzungen des Völkerrechts klingen mag – verlorengegangenes Vertrauen.

Die Rückkehr zu einer Arktis als Raum der Zusammenarbeit und Stabilität ist das langfristige Ziel aller Mitglieder des Ark­tischen Rates. Dem dürften auch indi­gene Völker und Beobachterstaaten, darunter Deutschland, zustimmen. Selbst Moskau ist an Stabilität interessiert, um mit Hilfe aus­ländischer Investitionen die Ark­tische Zone der Russischen Föderation als nationale Ressourcenbasis nutzen zu kön­nen und die wachsende Abhängigkeit von China zu reduzieren. Gegenwärtig befindet sich Russ­land jedoch auf Konfrontationskurs gegen­über dem Westen. Ein Ende der Kampfhandlungen in der Ukraine ist während des in vielerlei Hinsicht entscheidenden Jahres 2024 – in dem ein Nato-Gipfel­treffen in Wash­ington und mehrere Wahlen, darun­ter die US-Präsi­dent­schaftswahl, stattfinden – nicht absehbar.

Um aber in Zukunft eine Kooperation überhaupt möglich zu machen, ist es den­noch nützlich, schon heute kritisch über alle Maßnahmen zu reflektieren, die zur Wie­der­herstellung von Vertrau­en in die Absich­ten und Ziele ande­rer arkti­scher Akteure geeignet erscheinen. Dazu sollten die ursprünglichen Ziele und Instru­mente von Rüstungskontrolle über­dacht werden, und es wäre zu überlegen, wie sie im neuen arktischen Sicherheitsumfeld angewandt werden können. Das gilt für das gesamte Spektrum der Rüstungskontrolle, von ver­trauensbildenden Maß­nahmen bis zur Rüs­tungssteuerung von Waffensystemen.

Die Arktis: ein Brennpunkt des Klimawandels, politisch ein Raum der Möglichkeiten

Die Arktis taugt gut als Aus­gangs­punkt für inoffizielle Gespräche und schließlich eine Wiederaufnahme diplomatischer Aktivi­täten, denn sie liegt abseits aktueller geo­poli­tischer Brennpunkte der sino-amerika­ni­schen Machtrivalität und ist doch zuneh­mend wichtig für China und die USA. Die beiden Großmächte bilden mit Russland, so der kanadische Politikwissenschaftler Rob Huebert, »a new Arctic strategic triangle environment«, welches das Konfliktpoten­tial in der Ark­tis wesentlich von außerhalb der Region bestimmt.

Die Auswirkungen des Klimawandels und der strategischen Machtkonkurrenz bilden eine toxische Mischung für das Zu­sammenwirken aller arktischen Akteure. Aufgrund der fortschreitenden Erwärmung wird in naher Zukunft ein eisfreier Ark­ti­scher Ozean realistisch – dann wäre der Ozean in den Sommermonaten weniger als 15 Prozent von Meereis bedeckt. Eine solche Ent­wicklung ist nun Mitte der 2030er Jahre möglich, während dies vor einiger Zeit erst für Mitte oder Ende des Jahrhunderts erwar­tet wurde. Wegen dieser dynamischen Ent­wicklung werden Seewege und Ressourcen der Arktis bald besser zugänglich. Schon heute weiten sich zivile und mili­tärische Aktivitäten aus und verschärft sich der Wett­bewerb um Zugang und Ein­fluss in der Arktis. Dadurch entsteht ein Bedarf an Regeln für das Verhalten staat­licher Ak­teu­re, wobei transnationale Bezüge beach­tet und indigene Akteure berücksichtigt wer­den müssen.

Die wachsenden militärischen Aktivi­täten erzeugen einen Bedarf an Rüstungs­kontrolle im ursprünglichen und umfassenden Sinne. Das heißt, sie betrifft alle For­men des militärischen Zusammen­wirkens zwischen potentiellen Gegnern in dem Inter­esse, die Wahrscheinlichkeit eines militärischen Konflikts ebenso zu verringern wie sein Ausmaß und seine Gewalt­tätigkeit, falls er eintritt, sowie die politi­schen und wirtschaftlichen Kosten zu seiner Vorbereitung. Es geht um Mecha­nismen, mit denen sich mittelfristig die anhaltenden Spannungen bewältigen und das Zusammenwirken in der Arktis im gegenseitigen Interesse fried­lich gestalten lassen. Ein gewisses Maß an Kooperation mit Russland ist notwendig, um zum Bei­spiel im Kontext militärischer Übungen etwaige Missverständnisse, Fehleinschätzungen und beid­erseits un­er­wünsch­te Ereig­nisse zu vermeiden, wie es etwa Nor­wegen praktiziert. Lang­fristig ist strategische Stabi­lität die Voraussetzung für eine nachhaltige und wirtschaftliche Nutzung arktischer Seewege und Ressourcen. Die Arktisstaaten werden dazu neue Akteure wie China einbeziehen müssen, wenn im Sinne der US-Arktis­strategie eine »friedliche, stabile, prosperierende und kooperative Arktis« möglich werden soll.

Allerdings hat ein solch konstruktiver Ansatz derzeit weder in Russland noch in vielen Nato-Staaten große Aussicht auf Erfolg. Der Kreml sieht den kollektiven Westen als Gegner und konkrete Verhandlungsbereitschaft als Schwäche. In der Nato hat der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine zwar den inneren Zusammenhalt der Nato gestärkt, doch die Allianz ist nicht einig in der Frage, wie künftig Sicherheit vor Russland gewährleistet werden soll. Nach Auffassung vieler Nato-Staaten kann Russland nur aus einer Posi­tion der Stärke heraus begegnet werden, was zunächst eine umfassende Aufrüstung verlangt. Andere wiederum erachten auch Maß­nahmen zur Risikominderung als sinn­voll, die ein Mindestmaß an Kooperation erfor­dern. Eine klare Richtungsentscheidung ist nicht vor dem Gipfeltreffen in Washington und der US-Präsidentschafts­wahl 2024 zu erwarten.

Zuvorderst wäre es also notwendig, zu einem gemeinsamen Verständnis zu gelan­gen, wie nach einem Ende des Krieges gegen die Ukraine die künftigen Beziehungen zu Russland gestaltet werden sollen. Die Arktis hat für Russland zentrale Bedeu­tung als Ressourcenbasis und Seeweg sowie als Sicherheitsgarant im Hinblick auf die maritime nukleare Zweitschlagskapazität. Die nordeuropäischen Staaten, aber auch die USA und Kanada stehen ihrerseits vor neuartigen militärischen Bedrohungen, die neue Konzeptionen und Kapazitäten zu hohen Kosten nötig machen. Frühere Kon­zepte wie Krisenstabilität werden durch hyperschallschnelle Waffensysteme frag­würdig, die politische Entscheidungsprozesse noch stärker unter Zeitdruck setzen.

Ziel sollte sein, das in der Arktis entstandene Sicherheitsdilemma zu ent­schärfen, den Aufbau militärischer Fähig­keiten ein­zudämmen und Maßnahmen zur Krisen- und Konfliktprävention einzuleiten. Idea­liter können diese als Bausteine für eine spätere Sicherheitsarchitektur dienen. Ansonsten besteht aufgrund der zunehmen­den Aktivitäten in der Arktis – vom zivilen Schiffsverkehr bis zu militärischen Groß­manövern – die Gefahr, dass eine Situation infolge eines Missverständnisses oder einer Fehlwahrnehmung unbeabsichtigt eska­liert. Deshalb muss ein Dialog über Fragen der militärischen Sicherheit in der Arktis geführt werden.

Auf welcher Ebene könnten die Arktisstaaten einen Dialog wieder aufnehmen?

Trotz der Spannungen im Verhältnis zu Russland findet Kommunikation zwischen den Arktisstaaten weiterhin statt: sowohl auf offizieller Ebene, wie im Rahmen der Vereinten Nationen, als auch bilateral, soweit es vertraglich zur Regelung des Grenzverkehrs, zum Schutz der Fischerei oder zur Aufrechterhaltung von Such- und Rettungsdiensten vereinbart wurde. Auch multilaterale Formate werden nach wie vor genutzt, so durch die Vertragsparteien des Fischerei­­abkommens für die Zentralarktis.

Es gibt aber keinen Sicherheitsdialog mehr, der Moskau einschließt und auf die Arktis ausgerichtet ist. Seit der Krim-Annexion 2014 war Russ­land nicht mehr am Dialog zwischen militä­rischen Befehlshabern der Arktisstaaten (Arctic Chiefs of Defence, ACHOD) und an den jährlichen Treffen der arktischen Sicherheitskräfte (Arctic Security Forces Roundtable, ASFR) beteiligt. Im ASFR-Format sind auch Deutschland, Frankreich, Großbritannien und die Nieder­lande vertreten. Andere Formate wie der Arkti­sche Rat, der Euro-Arktische Barents-Rat oder das Forum der Küstenwachen (Arctic Coast Guard Forum, ACGF) befassen sich nicht mit militärischer Sicherheit. Über die Notwendigkeit, Russ­land wieder in den Dialog einzubeziehen, bestand vor dem Krieg weitgehend Einigkeit unter Experten. Aller­dings gehen in Politik und Wissenschaft die Meinungen auseinan­der, wie dies am besten geschehen sollte.

Die scheinbar naheliegendste Lösung ist am wenigsten realistisch: Der Arktische Rat verfügt über einen hohen Grad an Institu­tionalisierung und ist seit mehr als zwei Jahrzehnten erfolgreich aktiv. Sein Mandat auszudehnen böte daher auf den ersten Blick einen einfacheren Weg als ein neues Format zu schaffen. Darüber hinaus ver­sammelt er alle regionalen Hauptakteure. Einer Erweiterung des Mandats auf Fragen der militärischen Sicherheit müssten aber alle jene Mitgliedstaaten zustimmen, die dies früher abgelehnt haben. Ein solcher Konsens ist unwahrscheinlich. In der Ver­gangenheit sprachen sich Islands Premierministerin Katrín Jakobsdóttir und Finn­lands Regierungschef Antti Rinne für eine solche Lösung aus. Jedoch gab es Bedenken, dass dadurch die Zusammenarbeit behin­dert werden könnte. So meinte der frühere norwegische Arktisbeauftragte Bård Ivar Svendsen noch zu Zeiten umfassender Zusammenarbeit, dass der Dialog mit Russ­land im Rat nur deshalb (noch) gut sei, weil dort nicht über Sicherheitspolitik beraten werde. Im Inuit Circumpolar Council (ICC) lehnte es Alaskas ICC-Präsident Jimmy Stotts 2021 ab, sich mit Fragen der Verteidi­gung zu befassen: »Wir wollen nicht, dass unsere Welt durch die Probleme anderer Völker überrannt wird.«

Ein anderer Ansatz liegt im Rückgriff auf bereits etablierte Formate. So wollte Außenminister Sergei Lawrow zu Beginn des russischen Vorsitzes im Arktischen Rat (2021–23) den Dialog zwischen militärischen Befehlshabern der Arktisstaaten reaktivieren. Russlands Arktisbotschafter Kortschunow erklärte in diesem Sinne, den Austausch auf infor­meller Ebene zwischen militärischen Exper­ten der Arktis­staaten wiederaufnehmen zu wollen. Der Krieg hat diesen Ideen ein Ende gesetzt, und der Nato-Beitritt Finnlands und pro­spektiv Schwedens lässt neben bewährten Formaten wie ACHOD und ASFR einen alter­nativen Ansatz für eine Übergangs­phase zweckdienlich erscheinen.

Auch wenn Skepsis angebracht ist, erscheint ein Dialog mit Russland auf infor­meller Expertenebene (Track 2) sinnvoll. Damit lassen sich mögliche Ansätze zur Vertrauensbildung ausloten und darauf aufbauend zu gegebener Zeit auf formeller Ebene (Track 1) offizielle Gespräche ein­leiten. Informelle Gesprä­che sind ein Instru­­ment, um einen reflek­tierten Dialog zwi­schen Akteu­ren anzuregen, die sich im Konflikt befinden, beson­ders wenn Unter­redungen auf offizieller Ebene schwierig oder gar un­möglich sind. In der neuen Nor­malität von Misstrauen und Konkurrenz gilt es, wieder ein Mindestmaß an Stabilität zu schaffen. Ein Dialog von Militärexperten aller acht Arktis­staaten könnte solch ein neues Interim-Format sein und einen Pro­zess ini­tiieren, in dem ver­trauensbildende Maß­nah­men (VBM) erarbeitet werden.

Die SWP hat vor der russischen Invasion 2022 einige Erfahrung mit Track 2 (inoffi­ziell) und Track 1.5 (mit offiziellen Reprä­sentanten) gemacht. Allerdings hat Russ­land eine sehr kleine Expertenlandschaft, die an kritischen Punkten wenig oder keinen Austausch mit oder Einfluss auf die russische Politik hat. Seit Kriegsbeginn hat sich die russische Expertenschaft in mehre­re Lager gespalten: Das erste Lager ist geflo­hen. Das zweite Lager ist in Russland, aber isoliert und bemüht, möglichst un­sichtbar zu sein. Das dritte Lager macht Karriere und hat die offizielle Rhetorik übernommen. Auch wenn der Austausch mit dem zweiten Lager informativ sein könnte, sind die Ex-perten dort sehr gefährdet. Jeder Kontakt mit westlichen Experten und Offiziellen kann zu Strafverfahren führen, die lang­jährige Gefängnisstrafen nach sich ziehen. Es gibt Verhöre an den Grenzen, man wird leicht zum ausländischen Agenten erklärt, und anderes. Außerdem ist bekannt, dass Track-2-Aktivitäten von russischen Geheim­diensten unterwandert wurden. Und selbst in Fällen, in denen Moskau solche Gespräche (wie im Rahmen des langjährigen Streit­kräftedialogs des Bundesverteidigungs­ministeriums und der SWP) genehmigt hat, waren Erfolge spärlich.

Prinzipiell erfordern Rüstungskontroll- und Transparenzmaßnahmen kein gegen­seitiges Vertrauen, um erfolgreich verhandelt zu werden. Vielmehr sind sie ein Mit­tel, um bei Parteien, die einander miss­trauen, berechenbares Verhalten zu ermög­lichen – und langfristig Vertrauen zu schaffen.

Welche Maßnahmen könnten wieder Vertrauen bilden?

Vertrauen beinhaltet immer ein Maß an Ungewissheit und die Möglichkeit der Ent­täuschung. Es eröffnet aber auch mehr Möglichkeiten des Handelns, weil, wie es der Soziologe Niklas Luhmann formuliert, »im Vertrauen eine wirk­samere Form der Reduktion von Komplexität zur Verfügung steht«. Vertrauensvoll Handelnde sind opti­mistisch auf die Zu­kunft ausgerichtet, die stets eine Vielzahl möglicher und ungewisser Ereignisse ent­hält. Kühl kalkuliert, kön­nen Risiken dadurch nicht beseitigt, aber verkleinert werden. Solche Anhaltspunkte können so laut Luhmann als »Sprungbasis für den Absprung in eine immerhin begrenzte und strukturierte Ungewißheit« (sic) dienen.

Die Bundesregierung setzt sich gemäß ihrer Nationalen Sicherheitsstrategie »für strategische Risikoreduzierung und die Förderung von Berechenbarkeit ein, auch für den Erhalt belastbarer politischer und militärischer Kommunikationskanäle im Nato-Russland-Verhältnis. Wir bleiben offen für gegenseitige Transparenz­maßnahmen, sofern die Voraussetzungen hierfür bestehen«. Dies schließt die Ent­wicklung neuer verhaltensbasierter Ansätze ein, die helfen können, Spannungen zu verringern.

Auf russischer Seite hat Arktisbotschafter Kortschunow 2023 abermals den Wunsch nach um­fassender, militärische Fragen ein­beziehender Kooperation geäußert. Alles könne im Dialog geklärt werden, so dass das Vertrauen gestärkt würde. Trotz solcher Worte wird es angesichts der Folgen des Kriegs schwer sein, einen Dialog zu begin­nen. Die aktuelle russische Politik gibt wenig Hoffnung auf konstruktive Ansätze, zumal Putin eine Politik kalkulierter Ambi­valenz verfolgt. Das darf jedoch nicht daran hindern, sich vorzubereiten und zu über­legen, wie Sicher­­heit und Stabilität in Zukunft gewähr­leistet werden sollen.

Vertrauensbildende Maßnahmen sollen akzeptables und legitimes Verhalten defi­nieren. Sie sollen dazu beitragen, Trans­parenz zu fördern und das Risiko von Fehl­einschätzungen – und damit einer un­gewollten Eskalation – zu reduzieren. Auf diese Weise lässt sich ein gewisses Maß an Krisenstabilität und Vertrauen gegenüber den Absichten der anderen Seite schaffen. Damit ließe sich das Sicherheitsdilemma ab­schwächen.

VBM können beispielsweise darin bestehen, Transparenz über militärische Aktivi­täten herzustellen und dazu Empfehlungen des Expertendialogs Nato-Russland auf­zunehmen. So könnten arktische Militärstützpunkte besucht, dann ein Besuchs­regime etabliert und im Weiteren auch Pla­nungen für militärische Übungen offen­gelegt werden. Vertrauliche Vorabinforma­tionen wären geeignet, Fehldeutungen russischer Alarmübungen zu vermeiden. Die Nato könnte wiederum Russland über Manöver multinationaler Verbände informieren. Größere militärische Bewegungen und Übungen könnten einem Informationsregime unterworfen werden.

Darüber hinausgehende vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen (VSBM) basieren auf dem Wiener Dokument über VSBM. Die OSZE hat damit in den 1990er Jahren das weltweit fortschrittlichste Regel­werk für Rüstungskontrolle und Verifika­tion sowie vertrauensbildende Maßnahmen geschaffen. Nun sind viele der Abmachungen entweder suspendiert, oder wichtige Vertragspartner haben sich zu­rückgezogen. Nach Auffassung der OSZE-General­sekre­tärin Helga Maria Schmid bedeute dies jedoch nicht, dass VSBM in Zukunft nicht wieder eine wichtige Rolle spielen werden, und die Instrumente seien ja weiter­hin vorhanden.

Ein neuer Dialog benötigt konstruktive Substanz in Form potentiell geeigneter Kooperationsprojekte. Langfristig gilt es, in beiderseitigem Interesse neue Regeln und am Ende ein multilaterales Regelwerk zu erarbeiten. Zwei Grundbedingungen, so ein Autorenteam der Hessischen Stiftung Frie­dens- und Konfliktforschung, müs­sen für eine wirksame multilaterale Ver­einbarung erfüllt sein: »Die Regeln müssen angemessen gestaltet sein, so dass sie zur Problem­lösung geeignet sind und von den beteiligten Staaten tatsächlich befolgt wer­den.« Die entscheidende Frage lautet demgemäß, wie stark staat­liches inklusive militärisches Handeln durch die Regeln eingeschränkt wird.

Potentielle Kooperationsprojekte

Die älteste VSBM zur Vermeidung unbeabsichtigter Eskalation ist das 1972 zwischen den USA und der Sowjetunion geschlossene INCSEA-Abkommen (Incidents at Sea). Einzelne Nato-Staaten wie Norwegen haben solche Abkommen unter Berücksichtigung neuer technischer Entwick­lungen mit Russ­land fortgeführt. Alle enthalten sehr ähn­liche Bestimmungen, die auf VSBM hinaus­laufen. Ob­wohl es sinnvoll sein kann, bilaterale INCSEA-Abkommen für Staaten mit welt­weit operierenden Seestreitkräften bei­zubehalten, wäre es zielführender, ein Nato-Russland-INCSEA-Abkommen zu schaffen, das für alle verbündeten Schiffe gälte. In der Praxis wäre es für russische Marineoffiziere einfacher, mit einem einzi­gen Satz von Signalen zu arbei­ten als mit zwölf verschiedenen, so das Resümee einer RAND-Studie. Dies entspräche auch Über­legungen, ein ähnliches Abkommen zwischen den USA und China anzustreben.

Weitergehende spezifische Verhaltens­regeln (Arctic Military Code of Conduct) wer­den seit einiger Zeit diskutiert. Ein mög­liches Modell ist das Fischereiabkommen für die Zentralarktis. Es bietet ein Format für Verhandlungen zwischen den Küstenstaaten der Arktis, vier weiteren Ländern, die Fischerei in der Arktis betreiben, und der EU. Ein militärischer Verhaltenskodex könnte neben den Arktisstaaten zudem Länder einschließen, die zu militärischen Operationen in der Arktis fähig sind. Zweck des Kodex wäre, die Kooperation zu för­dern und die Region konfliktfrei zu halten.

Eine Wiederaufnahme der Ko­ope­ration im nuklearen Kontext betrifft die Überreste des Kalten Krieges in Form versenkter Unterseeboote, Nuklearwaffensysteme sowie Reaktoren und Brennstäbe, die langfristig die fisch­reiche Barentssee und angrenzende See­räume bis nach Norwegen radioaktiv zu verseuchen drohen (weshalb Oslo in der Vergangenheit federführend bei der Beseiti­gung russischer Hinterlassen­schaften im Hohen Norden war). Ein Vor­schlag zu Beginn des russischen Ratsvorsitzes sah vor, zwei Unterseeboote (K‑27 in der Karasee und K‑159 in der Barentssee) mit finanzieller Unterstützung der EU zu bergen, die andernfalls weiter korrodieren und schließ­lich Radio­aktivität freisetzen werden. Einen Vorschlag zur Regelung des Umgangs mit zivi­ler Kernenergie in der Arktis haben russi­sche Forscher mit einem US-Kollegen unter­breitet. Beide Vorschläge knüpfen damit an die erste Kooperation (Arctic Mili­tary Environmental Co­operation) an, die 1996 den Gefahren durch radioaktive Über­reste der russischen Nord­flotte galt und mittelbar zur Gründung des Arktischen Rates verhalf.

Da die radioaktiven Überreste ein grenzüberschreitendes, transnatio­nales Problem darstellen, besteht in Moskau ebenso Inter­esse an ihrer Reduzierung wie in Oslo und anderen nordeuropäischen Hauptstädten. Ähnlich wie die Bekämpfung von Ölverschmutzung oder Such- und Rettungseinsätze sind dies Themen, deren Bedeutung unter Arktisstaaten un­strittig ist und die eine wesentliche Grund­lage für die erfolg­reiche Kooperation in der Arktis bildeten.

Berlin im hohen Norden

Die Arktis fordert Berlin, weil Sicherheit künftig stärker auch an der Nordflanke der Nato gewährleistet werden muss. Neue Maß­nahmen für Rüstungskontrolle bedür­fen zuvorderst der Wiederherstellung von Abschreckung und Verteidigung. Aber Abschreckung funktioniert nur, wenn dahinter eine substantielle Verteidigungsfähigkeit für den Fall steht, dass die Ab­schreckung versagen sollte. Das seit über einem Jahrzehnt aufwachsende Militär­potential Chinas und Russlands muss in seiner Bedeutung für den arktisch-nord­atlantischen Raum berücksichtigt werden, wenn es darum geht, hinlängliche Beiträge zur Bünd­nis­verteidigung festzulegen. Erst auf der Basis eines solchen Lagebildes können erfolg­versprechende Aktivitäten zur Rüstungskontrolle bestimmt werden. Ähnlich wie beim von Bundeskanzler Helmut Schmidt 1977 initiierten Nato-Doppel­beschluss muss die Gleichwertigkeit von Rüstung und Rüstungskontrolle bedacht und nun eine umfangreiche Nach­rüstung geplant, finanziert und umgesetzt werden.

Denn selbst wenn Russland weiter an einem gewissen Maß an Stabilität im arkti­schen Raum interessiert sein sollte, dienen der Krieg in der Ukraine und die andauernde Konfrontation im Verhältnis zu den anderen Arktisstaaten doch zugleich der Regimestabilität. Offen ist daher, ob der Kreml bereit ist, konkrete Maßnahmen zur Stabilisierung der Lage im Sinne von Rüstungskontrolle einzugehen und damit das für Putin nützliche Feindbild zu rela­tivieren, oder ob er beabsichtigt, mittels der eingeleiteten Kriegswirtschaft den Krieg zu gegebener Zeit auszuweiten.

Karte

Atommüll in der Arktis

Quelle: Charles Digges, »War Puts Cleanup of Russia’s Radioactive Wrecks on Ice«, in: Bulletin of the Atomic Scientists, 28.11.2022 (Karte erstellt von Thomas Gaulkin), <https://thebulletin.org/2022/11/war-puts-cleanup-of-russias-radioactive-wrecks-on-ice/>.

In der Marinerüstung der Nato-Staaten sind vorrangig umfassende maritime Lage­bilder notwendig, um russische Aktivitäten besser aufklären und verfolgen zu können. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die chine­sisch-russische Zusammenarbeit aufgrund des Murmansk-Abkommens vom April 2023 zwischen Chinas Küstenwache und Russ­lands Grenz­schutz zuneh­men wird. Briti­schen Überlegungen folgend sollte die Zahl der P‑8‑See­fernaufklärer erhöht und die von London vorgeschlagene Zusam­menarbeit zwischen den USA, Großbritannien und Norwegen auf Staaten wie Deutschland und Dänemark ausgeweitet werden.

Ferner muss das Zielbild 2035+ der Deut­schen Marine bald­möglichst umgesetzt werden. Neue Fregatten sollten nicht nur für Ein­sätze im Meereis der Ostsee taugen (F‑126), sondern wie deutsch-norwe­gische Unterseeboote (U212 CD) zur Verwendung in arkti­schen Gewäs­sern befähigt wer­den. Die neuen Fre­gatten vom Typ F‑127 sind für arktische Einsätze geplant. Anzustreben ist das auch für Drohnen zur weiträumigen luftgestützten Überwachung und Aufklärung sowie unbemannte Langstrecken-Unterwasser­fahrzeuge zur Überwachung maritimer kritischer Infrastruktur auf dem Meeres­boden.

Deutschland braucht in der Tat einen »neuen Blick« auf die Arktis, und neue Leitlinien für die deutsche Arktispolitik werden die sicherheitspolitischen Veränderungen berücksichtigen müssen. Die deut­sche Außen­politik scheint von der Hoff­nung getragen, dass Russland irgendwann noch gebraucht werde, und nicht, dass Russland eines Tages weitere Ziele in Euro­pa angreifen könne. Dabei wird zutreffend angenommen, dass russische Aggression gegen baltische Staaten oder in der Barents­seeregion einen Krieg mit der Nato auslösen würde. Aber das erratische und gewalt­verherrlichende Verhalten Putins lässt nicht einmal ausschließen, dass er eine Eskala­tion in der Arktis selbst auslösen könnte.

Das Vertrauen wird nicht zurück­kehren, aber ein gewisses Maß an Zusammen­arbeit in kritischen Fragen muss während des Krieges – soweit nötig – und nach dem Krieg – soweit möglich – fortgesetzt wer­den, auch und gerade in der Arktis. Denn wie in der Klimapolitik gilt: Was in der Arktis geschieht, bleibt nicht in der Arktis. All diese Argumente ändern allerdings nichts daran, dass zuvorderst die Ukraine politisch, wirtschaftlich und militärisch unterstützt werden muss, damit sie den Krieg für sich entscheiden und zu einem demokratischen Mitglied der EU und der Nato werden kann.

Literaturhinweise

Janis Kluge

Russisch-chinesische Wirtschafts­beziehungen. Moskaus Weg in die Abhängigkeit

SWP-Studie 16/2023, Dezember 2023

Sabine Fischer

Diplomatie im Kontext des russischen Überfalls auf die Ukraine. Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln

SWP-Aktuell 56/2023, Oktober 2023

Margarete Klein / Claudia Major

Dauerhafte Sicherheit für die Ukraine. Von Ad-hoc-Unterstützung zu langfristigen Sicherheits­garantien als Nato-Mitglied

SWP-Aktuell 44/2023, Juni 2023

Susan Stewart

Die deutsche Russlandpolitik festigen. Bestehende Ansätze schärfen und Zielkonflikte verdeutlichen

SWP-Aktuell 34/2023, Mai 2023

Michael Paul

Der Kampf um den Nordpol. Die Arktis, der Klimawandel und die Rivalität der Großmächte

Freiburg: Verlag Herder, 2022

Dr. Michael Paul ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2024

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