Die Proteste in Chile, die im Oktober 2019 einsetzten, haben unter anderem eine Verfassungsinitiative nach sich gezogen, die Bürgerinnen und Bürger schon lange gefordert hatten. Nun haben sich auch Regierungs- und Oppositionsparteien darauf geeinigt. Sie soll mit einer Volksabstimmung darüber beginnen, ob eine neue Verfassung gewünscht wird und welches Kollektivorgan sie ausarbeiten soll. Seit dem 26. Februar befindet sich Chile offiziell im Wahlkampf für dieses Referendum. Wegen der Covid-19-Pandemie wurde es vom 26. April auf den 25. Oktober verschoben. Die gegebenenfalls abzuhaltende Wahl des verfassunggebenden Organs soll nun erst am 11. April 2021 stattfinden. Zwar ist noch ungewiss, inwiefern eine neue Verfassung dazu beitragen wird, die soziale, politische und institutionelle Krise zu bewältigen. Dennoch glaubt die große Mehrheit der Bevölkerung, dass sie unabdingbarer Grundstein für einen notwendigen neuen Gesellschaftsvertrag ist.
Die soziale Mobilisierung seit Oktober 2019 offenbarte ein erschütterndes Bild der gesellschaftlichen Verhältnisse in Chile. Nicht nur tiefe Unzufriedenheit, auch starke Ressentiments und große Wut brachen sich Bahn. Der Weckruf (»Chile despertó«) wurde zum Albtraum für die politische Elite. Die andauernden gewaltsamen Ausschreitungen fordern sie weiterhin heraus. Präsident Sebastián Piñera, von 2010–2014 und wieder seit 2018 im Amt, reagierte mit kurzfristigen Zugeständnissen. Noch 2019 nahm er Wechsel in seinem Kabinett vor und kündigte eine »Sozialagenda« an: Künftig sollte mehr Geld in Gesundheits-, Renten- und Bildungssystem fließen. Darüber hinaus suchte Piñera zusammen mit den Regierungs- und Oppositionsparteien einen konstitutionellen Ausweg aus der Krise. Er soll den seit 2011 immer wieder erhobenen Forderungen nach einer neuen Verfassung und den lebhaften Debatten Rechnung tragen, die im Zuge der Proteste in zivilgesellschaftlich organisierten Nachbarschaftstreffen (cabildos und asambleas) stattgefunden hatten. All das verhinderte nicht, dass in einer landesweiten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Activa Ende Februar 2020 rund 81 Prozent der Befragten Piñeras Regierungsführung negativ bewerteten.
Die »Pinochet-Verfassung«
Die aktuelle Verfassung Chiles stammt aus dem Jahr 1980 und damit aus der Zeit der Militärdiktatur, so dass sie häufig als Erbe von General Augusto Pinochet betrachtet wird. Damit mangelte es ihr von vornherein an demokratischer Legitimität (legitimidad de origen). So wurde sie von einer Kommission (Comisión Ortúzar) erarbeitet, die von der Regierung beauftragt war und aus sieben Männern und einer Frau bestand. Ratifiziert wurde sie 11. September 1980 mit 68,5 Prozent der gültigen abgegebenen Stimmen in einem Plebiszit, das freilich unter den Bedingungen einer Autokratie stattfand.
Nach dem Regimewechsel erfuhr der ursprüngliche Text der »Pinochet-Verfassung« unter den Mitte-links-Koalitionsregierungen der Concertación bedeutende demokratisierende Änderungen, vor allem 2005 unter der Präsidentschaft von Ricardo Lagos. Im Zuge von Reformen wurden die sogenannten autoritären Enklaven (also Vorrechte, die bestimmten Akteuren und Organen gewährt wurden und den pluralistischen politischen Wettbewerb einschränkten) Schritt für Schritt weitestgehend abgeschafft. Dennoch gilt diese mehrmals überarbeitete Verfassung mittlerweile weniger als demokratischer Stabilitätsanker denn als Absicherung einer starren Elitendemokratie. Deshalb zementiert sie eher den Status quo, beispielsweise durch die hohen erforderlichen Quoren für Verfassungsreformen und eine Reihe von Gesetzesinitiativen.
Auf die immer lauter ertönende Forderung nach einer völlig neuen Verfassung reagierte Michelle Bachelet (2006–2010 und 2014–2018) in ihrer zweiten Präsidentschaft. Wie im Wahlkampf versprochen, leitete sie einen nationalen, partizipativen und institutionellen Verfassungsprozess ein. Auf allen Ebenen des Staates wurden öffentliche Diskussionsveranstaltungen abgehalten. Deren Ergebnisse wurden in einem Abschlussdokument (Bases Ciudadanas del Proceso Constituyente para una Nueva Constitución) zusammengetragen und systematisiert. Auf dieser Basis erarbeiteten Regierungsangehörige ein Verfassungsprojekt, das Präsidentin Bachelet am 6. März 2018, wenige Tage vor der Amtsübergabe, im Kongress einreichte. Aufgrund des Machtwechsels wurde es jedoch nicht weiterverfolgt. Doch die Proteste Ende 2019 bauten so viel gesellschaftlichen Druck auf, dass auch die Parteien der Mitte-rechts-Regierungskoalition einwilligten, eine vollständig neue Verfassung zu konzipieren.
Mit dieser verknüpfen die Chileninnen und Chilenen diverse Erwartungen. Sie soll den endgültigen Abschied von der »Pinochet-Verfassung« und damit eine neue, uneingeschränkt demokratische Ära einleiten. Zugleich soll sie den Rahmen für eine erneuerte gesellschaftliche und politische Verständigung bieten. Schließlich sollen erweiterte Rechte anerkannt und die ordnungspolitische Grundlage für die Bewältigung der dringendsten Probleme geschaffen werden.
Die überparteiliche Vereinbarung
Am 15. November 2019 unterzeichneten zehn politische Parteien aus Regierung und Opposition (Evópoli, P. Comunes, PDC, PL, PPD, PR, PS, RD, RN, UDI) ein »Übereinkommen für den sozialen Frieden und die neue Verfassung«. Lediglich die Kommunistische Partei und die Mitte-links-Partei FREVS verweigerten sich der Einigung, der gemäß ein Verfassungsprozess initiiert und die Bildung eines begleitenden technischen Ausschusses (Comisión Técnica Asesora del Proceso Constituyente) veranlasst wurde. Rechtskraft erlangten die vereinbarten Punkte durch Kongressbeschlüsse und ein Dekret der Exekutive (Decreto Nr. 2.445 vom 27. Dezember 2019).
Chiles Bürgerinnen und Bürger werden aufgerufen, in einer Volksabstimmung, dem Eingangsplebiszit, zwei Fragen zu beantworten: zum einen, ob sie eine neue Verfassung wünschen, zum anderen, ob diese von einem Gemischten Verfassungskonvent (GVK, Convención Mixta Constitucional) oder einer Verfassunggebenden Versammlung (VV, Convención Constitucional) ausgearbeitet werden soll. Bei jeder Frage obsiegt jeweils die Option, die über 50 Prozent der gültigen Stimmen erhält.
Der Hauptunterschied zwischen den beiden verfassunggebenden Kollektivorganen liegt in deren Zusammensetzung. Der GVK würde aus 172 Mitgliedern bestehen, jeweils zur Hälfte aus Kongressmitgliedern und Bürgerinnen und Bürgern. Erstere werden in einer parlamentarischen Plenarsitzung gewählt, Letztere direkt vom Volk nach den Bestimmungen, die für die Abgeordnetenwahl gelten. Mitglieder des Kongresses, die den Einzug in den GVK schaffen, verlieren ihr Parlamentsmandat nicht, sondern werden lediglich von der Teilnahme an den Ausschuss- und Plenarsitzungen befreit. Die VV würde sich hingegen aus 155 Mitgliedern zusammensetzen, die vom Volk direkt gewählt werden. Für die direkt gewählten Konvents- bzw. Versammlungsmitglieder gilt, dass ihre Tätigkeit in den verfassunggebenden Organen nicht mit ihrem Amt bzw. Mandat vereinbar ist. Auch nach Abschluss ihrer verfassunggebenden Arbeit dürfen sie ein Jahr lang keine Positionen in Politik und Verwaltung übernehmen. Am 4. März 2020 verabschiedete der chilenische Kongress ein zusätzliches Gesetz (Ley Nr. 21.216), das Genderparität für die nichtparlamentarischen, also direkt zu wählenden Kandidatinnen und Kandidaten vorschreibt.
Parlamentarische und nichtparlamentarische Konvents- und Versammlungsmitglieder werden finanziell unterschiedlich entschädigt. Sie erhalten jeweils weiterhin ihre Abgeordnetendiäten von monatlich 9,3 Millionen chilenischen Pesos (rund 9.850 Euro) bzw. ein Gehalt von monatlich 2,5 Millionen chilenischen Pesos (rund 2.650 Euro).
Eine Reihe einschränkender Vorgaben, die sogar eine Modifikation der geltenden Verfassung hinsichtlich des Reformmechanismus erforderten, wurde bereits am 23. Dezember 2019 per Gesetz (Ley Nr. 21.200) festgelegt. Der GVK bzw. die VV fasst die Beschlüsse mit Zweidrittelmehrheit, ein Quorum, das nicht verändert werden darf. Zudem muss der GVK bzw. die VV die republikanische Staatsform und das demokratische Regime Chiles bewahren sowie die Einhaltung rechtskräftiger Gerichtsurteile und ratifizierter internationaler Verträge garantieren. Die verfassunggebende Arbeit darf eine Dauer von neun Monaten nicht überschreiten, wobei eine einmalige dreimonatige Verlängerung zulässig ist. Der neue Verfassungstext soll 60 Tage nach Fertigstellung durch eine weitere Volksabstimmung, das Ausgangsplebiszit, ratifiziert werden, bei der Wahlpflicht besteht. Die aktuell geltende Verfassung soll durch einen neuen Verfassungstext vollständig ersetzt und damit automatisch außer Kraft gesetzt werden (derogación orgánica). Erfolgt dies nicht, gilt die alte Verfassung weiter.
Trends und Streitpunkte
Laut einer Umfrage von Activa Ende Februar 2020 befürwortet die große Mehrheit der Befragten, dass eine neue Verfassung erarbeitet wird. Die Zustimmung ist jedoch seit November 2019 von 82,3 auf 73,5 Prozent gesunken. 72,3 Prozent der Befragten beabsichtigen, sich am fakultativen, jedoch für die Regierung bindenden Eingangsplebiszit zu beteiligen. Dabei sprechen sie sich klar für eine vollständig direkt gewählte VV (51,2%) statt einen GVK (24,4%) aus.
Die Präferenz der Bevölkerung für eine VV wird mit dem Gleichheitsprinzip erklärt, das ihr zugrunde liegt: Sämtliche Mitglieder werden gemäß Genderparität direkt gewählt und beziehen ein identisches Gehalt. Auch wird der Mangel an Partizipation der Zivilgesellschaft als Argument gegen die Wahl der Konvents- bzw. Versammlungsmitglieder über Parteilisten angeführt, ebenso die fehlende explizite Inklusion benachteiligter gesellschaftlicher Gruppen. Zwar können die (stark diskreditierten) politischen Parteien renommierte Persönlichkeiten bzw. unabhängige Kandidatinnen und Kandidaten in ihre Listen aufnehmen, behalten aber die Organisationshoheit über den Wahlprozess.
Was den Verfassungsinhalt betrifft, ist die Erweiterung sozialer, ökonomischer kultureller und kollektiver Rechte mit Verfassungsrang eine der zentralen, geschichtsträchtigen zivilgesellschaftlichen Forderungen. Vor dem Hintergrund einer äußerst traditionellen, konservativen Kultur mit ausgeprägter Genderungerechtigkeit wird dafür plädiert, Gendergleichheit sowie Anerkennung und Schutz von Minderheiten und ihrer Partizipationsrechte in der Verfassung zu verankern, auch bezogen auf die indigene Bevölkerung (etwa mapuches).
Die Rolle des Staates, die bisher als rein subsidiär verbrieft ist, soll umdefiniert und um gesellschaftlich relevante sozioökonomische Aufgaben erweitert werden. Dieses Vorgehen würde das Verhältnis zwischen Staat und Markt erheblich verändern: Der Staat gilt heute als von Wirtschaftsinteressen vereinnahmt (state capture), und der Markt bildet den Hauptmechanismus für die Ressourcenallokation, selbst in sozialen Bereichen wie Renten, Gesundheit, Bildung und sozialem Wohnungsbau. Gefordert wird auch, die Politik solle im Hinblick auf ihre Beziehung zur Wirtschaft mehr Transparenz gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern schaffen und ihnen Rechenschaft ablegen (accountability). Mit dem Plädoyer für den Aufbau eines Sozialstaats wird die Hoffnung verbunden, dass die Ungleichheit verringert und die Leitidee der »Bürgerin« gegenüber der des »Konsumenten« aufgewertet wird.
Zu den eher akademischen Debatten gehört der Vorschlag, die hohe erforderliche Mehrheit (quorum supermayoritario) für bestimmte Gesetzestypen zu senken. Sie liegt je nach Fall heute bei zwei Dritteln, drei Fünfteln oder vier Siebteln, verleiht der politischen Minderheit eine Vetomacht und fördert den Reformstau. Zudem steht die »präventive Kontrolle«, die das Verfassungsgericht ausübt, heftig in der Kritik. Aufgrund seiner Zusammensetzung und Kompetenzen gilt es als letztes Bollwerk der rechtskonservativen Minderheiten bei ihrem Bestreben, unerwünschte Reforminitiativen zu vereiteln, die in Kongress und Exekutive Zustimmung finden.
Was die Positionierungen der politischen Parteien angeht, befürworten jene aus dem Mitte-links- und linken Spektrum tendenziell solche Reformen, mit denen sich (Partizipations-) Rechte erweitern lassen und der Staat ausgebaut werden kann. Parteien, die sich rechts der Mitte verorten lassen, neigen zu einer konservativeren Haltung gegenüber dem alten Verfassungstext. Es gibt jedoch auch Konfliktlinien, die quer zu diesen ideologischen Positionen verlaufen, beispielsweise jene, die das Verhältnis zwischen Exekutive und Legislative betreffen. Eine Kontroverse zum Beispiel besteht zwischen Parteien, die Chancen auf die Präsidentschaft haben, und denen, die sich eher als parlamentarische Akteurinnen begreifen.
Chile im regionalen Kontext
Chile ist kurz davor, den Weg zu einer neuen Verfassung zu beschreiten. Erschwert haben ihn veränderungsunwillige Eliten, hohe rechtlich-institutionelle Hürden für Reformen und die Treue zur zwar illegitimen, aber als legal behandelten »Pinochet-Verfassung«. Abschreckend wirkte zudem der vergleichende Blick auf die verfassunggebenden Prozesse in Venezuela (1999), Bolivien (2006/07) und Ecuador (2007/08).
So blieb Chile in den vergangenen drei Dekaden eine Insel konstitutioneller Beharrlichkeit, während in zahlreichen Ländern der Region (etwa Brasilien 1988, Kolumbien 1991, Peru 1993 und Argentinien 1994) substantielle Verfassungsreformen oder neue Verfassungen durch Ad-hoc-Kollektivorgane eingeführt wurden. Außerdem zeichnete sich Chile lange durch politische Stabilität aus, die jedoch zur Starre wurde und 2019 explosionsartig zerbrach.
Veränderte Kostenkalkulationen ermöglichten nun die überparteiliche Vereinbarung über einen Verfassungsprozess. Die Legitimitäts- und Vertrauenskrise, in der Chiles politisches System mittlerweile steckt, ist ohne einen kollektiven Akt, der Gemeinschaft stiftet und eine politische Erneuerung symbolisiert, nicht zu überwinden. Allerdings führt die Sehnsucht in der Gesellschaft nach einem Neubeginn nicht zwingend dazu, dass ein tiefgreifender politischer Wandel auch tatsächlich gewagt wird.
Dr. Claudia Zilla ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Amerika.
Franziska F. N. Schreiber ist Praktikantin in der Forschungsgruppe Amerika.
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doi: 10.18449/2020A23